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MedR 2000, Heft 1 1 AUFSÄTZE Dieter Hart Evidenz-basierte Medizin und Gesundheitsrecht* Überlegungen zu rechtlichen Konsequenzen der Verwissenschaftlichung der Medizin 1. Evidenz-basierte Medizin 1 und Gesundheitsrecht Man kann Medizinrecht beschreiben als die Gesamtheit der rechtlichen Regeln, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Ausübung der Heilkunde beziehen. Der Begriff ist wei- ter als der des traditionell gebrauchten Arztrechts 2 . Man kann auch in einem mehrfachen Sinn von einem „Integra- tionsbegriff“ sprechen 3 . Versucht man, den Gegenstandsbe- reich genauer zu definieren, liegt folgende Beschreibung nahe: Das Medizinrecht integriert alle rechtlichen Normen, die die Forschung, Entwicklung, Herstellung und Anwen- dung von medizinischen Gütern und Dienstleistungen be- treffen. Der Begriff des Gesundheitsrechts umfaßt den des Medizinrechts und geht wiederum über diesen hinaus, be- zieht also alle rechtlichen Regeln ein, die das Gesundheits- system betreffen, dessen Teil das Medizinsystem ist. Man könnte das Gesundheitsrecht auch als das Rechtsgebiet be- zeichnen, das die individuelle und systemische Versorgung der Bürger mit Gesundheitsgütern und -dienstleistungen regelt. EBM ist eine empirische Methode der Verwissenschaft- lichung der Medizin durch eine Qualitätsrangfestlegung für medizinische Evidenzen 4 . Die Praxis der EBM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der exter- nen Evidenz aus systematischer Forschung. EBM unter- scheidet verschiedene Arten der Evidenz in der Medizin – angefangen bei Meta-Analysen von randomisierten kon- trollierten Studien über einzelne randomisierte kontrollierte Studien, gut geplante nicht randomisierte Studien, Exper- tenwissen aufgrund kasuistischer Beobachtungen (Exper- tengruppen) bis hin zu klinischer Erfahrung („Fachautoritä- ten“) – und statuiert einen Vorrang wissenschaftlicher Evi- denz – geordnet nach dieser Rangskala – vor ärztlicher Er- fahrung oder Intuition oder in anderer Formulierung von „probalistischer vor hermeneutischer Evidenz“ (F. Ger- lach 5 ). EBM sucht also nach der „best available evidence“, ohne allerdings die anderen Arten gering zu schätzen. EBM macht insofern keine „Richtigkeitsvorgaben“ für Behandlungsziele, sondern „Verfahrensvorgaben“ für die Evaluation von medizinischen Erkenntnissen. EBM kann Beiträge zur Qualitätsverbesserung von Behandlungen, zur Verringerung von Über- und Unterversorgung im Gesundheitssystem und zur Gesundheitsökonomie leisten. Die möglichen Auswirkungen der Anwendung von EBM im Gesundheitsrecht sind bisher nach meiner Kenntnis nicht behandelt worden. EBM kann in einigen Feldern des Medizin- und Ge- sundheitsrechts bedeutungsvoll sein oder werden. Die fol- genden Ausführungen sollen einen ersten Überblick über die möglichen Verwendungen von EBM in rechtlichen Zusammenhängen geben, einige Probleme aufzeigen und zielen deshalb insbesondere auf die Bedingungen der Transfor- mation von EBM in professionelle (medizinische) Normen (Medizin als Handlungs- oder Normwissenschaft) und von professionellen Normen in rechtliche Normen. Insofern stehen Prozesse der Normbildung, ihrer Legitimation und der Normanwendung zur Debatte. In beiden Bereichen versuche ich, Chancen und Risiken der medizinischen und recht- lichen Nutzung von EBM zu akzentuieren. Die Bewertun- gen werden aus der Sicht von Prinzipien des Gesundheits- rechts getroffen. 2. Die Anwendung von Normen als medizinische und rechtliche Aufgabe („Regel/Fall- oder Regel/Einzel- Entscheidungs-Problem“) Normwissenschaften – die (auch) handlungsorientierte Medi- zin ist eine Wissenschaft, die Aussagen über gute Behand- lungen macht – stehen vor zwei grundlegenden Proble- men: dem der Normbildung und dem der Normanwen- dung. Die Rechtswissenschaft verfügt über theoretische und praktische Erfahrungen im Umgang mit diesen Proble- men, die für die folgenden Ausführungen nutzbar gemacht werden sollen. EBM enthält eine Klassifikations- und Qualitätsrangskala für Evidenzen. EBM präferiert wissenschaftliche Evidenz. Diese Präferenz verändert den Standardbegriff in der Medi- zin, der sich zusammensetzt aus den Elementen „wissen- schaftliche Erkenntnis (systematisches Wissen)“, „praktische Erfahrung (intuitives Wissen)“ und der Akzeptanz in der Profession 6 . Der medizinische Standardbegriff ist die Umschrei- bung für den Prozeß professioneller Normbildung in der Medizin. Professionelle Normsetzung als Selbstregulierungskompe- tenz resultiert aus der Anerkennung der besonderen Sach- und Fachkunde des freien Berufs: ärztliche Therapiefreiheit als be- Prof. Dr. iur. Dieter Hart, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bremen, Postfach 330440, D-28334 Bremen *) Der Beitrag basiert auf einem Vortrag aus Anlaß eines Symposiums zum 50. Jahrestag der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz „Die Evidenz-basierte Medizin im Lichte der Fakul- täten“ am 16. 10. 1999. 1) Im Folgenden: EBM. 2) Vgl. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnrn. 1 ff., 20 ff.; Deutsch, Medizinrecht, 4. Aufl. 1999, Rdnrn. 1 ff. 3) Siehe Taupitz, ZRP 1997, 161. 4) Guter Überblick bei Antes, Internist 39 (1998), 899–908, mit um- fangreichen Literaturhinweisen; grundlegend Sackett/Richardson/ Rosenberg/Haynes, Evidenzbasierte Medizin, 1999; Raspe, ZaeFQ 90 (1996), 553–562; siehe auch das Schwerpunktheft Evidenz- basierte Medizin der ZaeFQ 93 (1999), Heft 6 (August). 5) Gerlach in einem Vortrag am 23. 10. 1999 bei der Deutschen Ge- sellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin in Dresden. 6) Zum Zusammenhang von rechtlichem und medizinischem Stan- dardbegriff Hart, MedR 1998, 8 ff.; und insgesamt der Tagungs- band Hart (Hrsg.), Ärztliche Leitlinien – Empirie und Recht pro- fessioneller Normsetzung, 1999 (Nomos Verlag; im Erscheinen).

Evidenz-basierte Medizin und Gesundheitsrecht

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MedR 2000, Heft 1 1

AU F S Ä T Z E

Dieter Hart

Evidenz-basierte Medizin und Gesundheitsrecht*Überlegungen zu rechtlichen Konsequenzen der Verwissenschaftlichung der Medizin

1. Evidenz-basierte Medizin1 und Gesundheitsrecht

Man kann Medizinrecht beschreiben als die Gesamtheit derrechtlichen Regeln, die sich unmittelbar oder mittelbar aufdie Ausübung der Heilkunde beziehen. Der Begriff ist wei-ter als der des traditionell gebrauchten Arztrechts2. Mankann auch in einem mehrfachen Sinn von einem „Integra-tionsbegriff“ sprechen3. Versucht man, den Gegenstandsbe-reich genauer zu definieren, liegt folgende Beschreibungnahe: Das Medizinrecht integriert alle rechtlichen Normen,die die Forschung, Entwicklung, Herstellung und Anwen-dung von medizinischen Gütern und Dienstleistungen be-treffen. Der Begriff des Gesundheitsrechts umfaßt den desMedizinrechts und geht wiederum über diesen hinaus, be-zieht also alle rechtlichen Regeln ein, die das Gesundheits-system betreffen, dessen Teil das Medizinsystem ist. Mankönnte das Gesundheitsrecht auch als das Rechtsgebiet be-zeichnen, das die individuelle und systemische Versorgungder Bürger mit Gesundheitsgütern und -dienstleistungenregelt.

EBM ist eine empirische Methode der Verwissenschaft-lichung der Medizin durch eine Qualitätsrangfestlegung fürmedizinische Evidenzen4. Die Praxis der EBM bedeutet dieIntegration individueller klinischer Expertise mit der exter-nen Evidenz aus systematischer Forschung. EBM unter-scheidet verschiedene Arten der Evidenz in der Medizin –angefangen bei Meta-Analysen von randomisierten kon-trollierten Studien über einzelne randomisierte kontrollierteStudien, gut geplante nicht randomisierte Studien, Exper-tenwissen aufgrund kasuistischer Beobachtungen (Exper-tengruppen) bis hin zu klinischer Erfahrung („Fachautoritä-ten“) – und statuiert einen Vorrang wissenschaftlicher Evi-denz – geordnet nach dieser Rangskala – vor ärztlicher Er-fahrung oder Intuition oder in anderer Formulierung von„probalistischer vor hermeneutischer Evidenz“ (F. Ger-lach5). EBM sucht also nach der „best available evidence“,ohne allerdings die anderen Arten gering zu schätzen. EBMmacht insofern keine „Richtigkeitsvorgaben“ fürBehandlungsziele, sondern „Verfahrensvorgaben“ für dieEvaluation von medizinischen Erkenntnissen. EBM kannBeiträge zur Qualitätsverbesserung von Behandlungen, zurVerringerung von Über- und Unterversorgung imGesundheitssystem und zur Gesundheitsökonomie leisten.Die möglichen Auswirkungen der Anwendung von EBMim Gesundheitsrecht sind bisher nach meiner Kenntnisnicht behandelt worden.

EBM kann in einigen Feldern des Medizin- und Ge-sundheitsrechts bedeutungsvoll sein oder werden. Die fol-genden Ausführungen sollen einen ersten Überblick überdie möglichen Verwendungen von EBM in rechtlichenZusammenhängen geben, einige Probleme aufzeigen undzielen deshalb insbesondere auf die Bedingungen der Transfor-mation von EBM in professionelle (medizinische) Normen(Medizin als Handlungs- oder Normwissenschaft) und vonprofessionellen Normen in rechtliche Normen. Insofernstehen Prozesse der Normbildung, ihrer Legitimation und der

Normanwendung zur Debatte. In beiden Bereichen versucheich, Chancen und Risiken der medizinischen und recht-lichen Nutzung von EBM zu akzentuieren. Die Bewertun-gen werden aus der Sicht von Prinzipien des Gesundheits-rechts getroffen.

2. Die Anwendung von Normenals medizinische und rechtliche Aufgabe(„Regel/Fall- oder Regel/Einzel-Entscheidungs-Problem“)

Normwissenschaften – die (auch) handlungsorientierte Medi-zin ist eine Wissenschaft, die Aussagen über gute Behand-lungen macht – stehen vor zwei grundlegenden Proble-men: dem der Normbildung und dem der Normanwen-dung. Die Rechtswissenschaft verfügt über theoretischeund praktische Erfahrungen im Umgang mit diesen Proble-men, die für die folgenden Ausführungen nutzbar gemachtwerden sollen.

EBM enthält eine Klassifikations- und Qualitätsrangskalafür Evidenzen. EBM präferiert wissenschaftliche Evidenz.Diese Präferenz verändert den Standardbegriff in der Medi-zin, der sich zusammensetzt aus den Elementen „wissen-schaftliche Erkenntnis (systematisches Wissen)“, „praktischeErfahrung (intuitives Wissen)“ und der Akzeptanz in derProfession6. Der medizinische Standardbegriff ist die Umschrei-bung für den Prozeß professioneller Normbildung in der Medizin.Professionelle Normsetzung als Selbstregulierungskompe-tenz resultiert aus der Anerkennung der besonderen Sach- undFachkunde des freien Berufs: ärztliche Therapiefreiheit als be-

Prof. Dr. iur. Dieter Hart,Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Bremen,Postfach 330440, D-28334 Bremen

*) Der Beitrag basiert auf einem Vortrag aus Anlaß eines Symposiumszum 50. Jahrestag der Akademie der Wissenschaften und Literaturin Mainz „Die Evidenz-basierte Medizin im Lichte der Fakul-täten“ am 16. 10. 1999.

1) Im Folgenden: EBM.2) Vgl. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rdnrn. 1 ff., 20 ff.; Deutsch,

Medizinrecht, 4. Aufl. 1999, Rdnrn. 1 ff.3) Siehe Taupitz, ZRP 1997, 161.4) Guter Überblick bei Antes, Internist 39 (1998), 899–908, mit um-

fangreichen Literaturhinweisen; grundlegend Sackett/Richardson/Rosenberg/Haynes, Evidenzbasierte Medizin, 1999; Raspe, ZaeFQ90 (1996), 553–562; siehe auch das Schwerpunktheft Evidenz-basierte Medizin der ZaeFQ 93 (1999), Heft 6 (August).

5) Gerlach in einem Vortrag am 23. 10. 1999 bei der Deutschen Ge-sellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin in Dresden.

6) Zum Zusammenhang von rechtlichem und medizinischem Stan-dardbegriff Hart, MedR 1998, 8 ff.; und insgesamt der Tagungs-band Hart (Hrsg.), Ärztliche Leitlinien – Empirie und Recht pro-fessioneller Normsetzung, 1999 (Nomos Verlag; im Erscheinen).

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rufliche Handlungsfreiheit (Art. 12 I GG)7. Die Anerken-nung der Therapiefreiheit wiederum basiert auf der All-gemein- und Individualwohlverpflichtung des Berufshan-delns. Deren Erfüllung unterliegt staatlicher Kontrolle.Medizinische Standards sind also prinzipiell selbstgesetzteNormen guter ärztlicher Behandlung.

Bisher ist das Rangverhältnis der verschiedenen Elementedes Standardbegriffs zueinander offen oder unklar. Der Sta-tus der beiden ersten Elemente „wissenschaftliche Erkennt-nis/ärztliche Erfahrung“ scheint von der professionellenAkzeptanz beeinflußt zu werden. Nur solche Daten schei-nen für den medizinischen Standard guter Behandlung be-deutungsvoll zu sein, die professionell akzeptiert sind,wobei unklar ist, ob Akzeptanz Konsens oder Mehrheits-meinung meint.

Die Präferenz für wissenschaftliche Evidenz in EBM prä-zisiert und „schließt“ tendenziell den Standardbegriff: wissen-schaftliche Evidenz gilt kraft ihrer Qualität, verdrängt – wosie vorhanden ist – andere Evidenzen (ärztliche Erfahrung)und Akzeptanz. Wissenschaftliche Evidenz des höchsten Quali-tätsranges gilt kraft ihrer methodischen und sachlichen Validität.Intuitive Evidenz gilt kraft professioneller Akzeptanz.

Damit entstehen unterschiedliche Normqualitäten. Wis-senschaftliche Evidenz zwingt zur Befolgung, über Intui-tion und Erfahrung wird diskutiert. Der Grad der medizini-schen Bindung differiert. Die Aussage muß allerdings diffe-renziert werden. Die Bindung kann nur auf den Wert derEvidenz als Nachweis der Wirkungen einer Behandlung be-zogen werden, nicht aber auf die Zielfestlegung, also dasnormative Element, dessen Einlösung überprüft wurde. Aufwelche Wirksamkeits- (positive Wirkungen im Hinblick aufdie Indikation – z. B. Senkung der Remissionsrate in derOnkologie) oder Nutzenziele (positive Bilanz von Wirk-samkeit und Risiken einer Behandlung oder patientenori-entierte Nutzen im Sinne einer Lebensqualitätsverbesserungoder Lebenszeitverlängerung8) eine Behandlung ausgerich-tet werden soll, wird durch EBM nicht vorgegeben.

Über die Einordnungen und die Begriffsbildung kannman streiten, nicht aber über das Faktum, daß Selbstregu-lierung Normsetzung bedeutet, daß EBM den Normbil-dungsprozeß beeinflußt und daß der Arzt professionellerNormanwender ist oder wird.

EBM beeinflußt also die Normbildung und provoziert oder ver-stärkt ein Normanwendungsproblem in der Medizin. Insofernsteht die Medizin als (auch) Normwissenschaft vor einemähnlichen praktischen Problem wie die Rechtswissenschaft alsNormbildungs- und Normanwendungswissenschaft undwie die Rechtspraxis. Es bestehen Parallelen, aber auch Dif-ferenzen.

a) ParallelenNormen sind allgemeine Aussagen über das Wünschens-werte, das Gesollte. Ihre Anwendung bezieht sich auf indi-viduelle Sachverhalte. Rechtswissenschaftlich ist das derSubsumtionsprozeß. Die Anwendung setzt eine existenteNorm voraus; unter sie wird der Lebenssachverhalt subsu-miert. An die Norm ist der Rechtsanwender gebunden.Normsetzung ist primär Aufgabe der Gesetzgebung. Aber:Normsetzung und Normanwendung sind zwar analytisch,nicht aber immer praktisch zu trennen.

EBM betrifft prinzipiell den (medizinischen) Normset-zungs-, nicht prinzipiell den Normanwendungsprozeß.EBM legt allerdings nicht selbst die „richtigen“ Normziele für Be-handlungen fest, sondern die Verfahren ihrer Evaluation. Darinsteckt eine Implikation, die transparent sein muß: die Qua-litätsrangskala für Evidenzen – der Vorrang für wissen-schaftliche Evidenz – konzentriert die Normsetzung auf„probabilistische Empirie“, also auf allgemeine statistischeAussagen über die Qualität und Sicherheit von Behandlun-gen, die nicht identisch sein müssen mit der Bewertung für

die individuelle Behandlung. Methodisch stecken darin fol-gende Kernprobleme:

– Die Umsetzung von Studienzielen in allgemeine Be-handlungsziele kann nicht durch eine einfache Übernahmegeschehen. Studienbedingungen und Bedingungen der„Normalbehandlung“ in der Praxis können und werdensich unterscheiden. Deshalb erfordert die Umsetzung eineBewertung, deren Kriterien transparent sein müssen undderen Verfahren harmonisiert sein muß (Normbildungspro-zeß). Dieses Harmonisierungsproblem9 stellt sich insbesondereim Zusammenhang der ärztlichen Leitlinien, einem derwichtigsten Anwendungsfelder für EBM in der ärztlichenPraxis. Der Sache nach geht es zusätzlich um eine Rationa-lisierung und möglicherweise Rationierung des Einsatzesvon Ressourcen des Gesundheitssystems.

– Die Umsetzung aufgrund statistischer Aussagen ge-wonnener allgemeiner Behandlungsziele in individuelle Be-handlungen bedarf ebenfalls transparenter Bewertungskrite-rien. Eine probabilistische Bestimmung des Nutzens undder Risiken von Behandlungen – etwa das Prinzip „indubio abstine“ – kann nicht einfach auf die individuelleBehandlung übertragen werden. Die abstrakte Frage lautet:Wieweit sind Qualitäts- und Sicherheitserwartungen vonPatienten bei der Behandlung zu berücksichtigen, wie sindNutzenziele zu legitimieren – bezogen auf den Einzelfallund überspitzt gefragt: wie unsicher ist sicher genug?(Normanwendungsproblem).

b) DifferenzenOb die medizinische Norm („Standard“) rechtlich gilt, isteine Frage ihrer rechtlichen Anerkennung (Rezeptions- oderTransformationsproblem)10. Diese Frage kann für unterschied-liche Rechtsgebiete je nach deren unterschiedlichenZwecken unterschiedlich beantwortet werden. Eine medi-zinische Norm (Standard der guten Behandlung) kann haf-tungsrechtlich gelten, sozialrechtlich aber modifiziert wer-den, wenn und weil das Sozialrecht nicht nur Qualitäts-sicherungszwecke, sondern auch ökonomische Zwecke(Wirtschaftlichkeit) verfolgt. Insofern steht die Geltungmedizinischer Normen unter dem Vorbehalt bereichsspezi-fischer rechtlicher Transformation. Professionelle Selbstregulie-rung ist nicht identisch mit rechtlicher Regulierung. RechtlicheAnerkennung medizinischer Normen ist rechtliche Norm-bildung – und zwar (auch) als Teil des rechtlichen Norm-anwendungsprozesses, weil der rechtliche Rahmen (Norm:„erforderliche Sorgfalt“; „anerkannter Stand“) in der Ein-zelfallanwendung präzisiert wird. Die rechtlich erforder-liche Sorgfalt setzt die sozialbereichsbezogene Generierungvon Sorgfaltsnormen voraus. In der Regel wird das medi-zinisch Gesollte mit der rechtlich erforderlichen Sorgfalt(Qualität) übereinstimmen. Es erfolgt ein Durchgriff aufden medizinischen Standard11. Die Grenzen der professio-nellen Kompetenz sind aber gleichzeitig die Grenzen derrechtlichen Transformation medizinischer Standards. DieMaßstäbe „guter Patienteninformation“ oder „guter Orga-nisation“ z. B. im Krankenhaus werden nicht durch dieSelbstregulierungskompetenz der Profession gedeckt12;

7) Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte. Eine Unter-suchung zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des ärztlichenBerufsrechts und des Patientenschutzes, 1994.

8) Diese Unterscheidung hat im Hinblick auf die Legitimation derZiele Bedeutung; s. unten, sub 5. c).

9) Dazu unten, sub 4. c).10) Siehe Pitschas, Empirie und Recht professioneller Normsetzung:

Perspektiven der Transformation medizinischer Normsetzung inrechtliche Verbindlichkeit, in: Hart (Hrsg.) (Fn. 6).

11) Laufs, Zur Freiheit des Arztberufs, in: FS f. Deutsch, 1999, S. 625–633, 630 ff.

12) Vgl. Hart, MedR 1999, 47 ff.

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ebensowenig Wirtschaftlichkeitsbewertungen. Sie bedürfenzusätzlicher rechtlicher Legitimation.

Ist die Transformationsfrage beantwortet, stellt sich dieAnwendungsfrage. Ist in diesem Fall die Anwendung derNorm geboten? Die Frage ist methodisch nach dem Sub-sumtionsmodell zu beantworten. Wenn der Fall (Sachver-halt) die Tatbestandsvoraussetzungen (A) erfüllt (Würdi-gung des Sachverhalts als die Merkmale des Tatbestands er-füllend), dann gilt die Rechtsfolge (B). Weil der Sachver-halt mit den Tatbestandsvoraussetzungen übereinstimmt,gilt B. Dieses einfache Modell „verdeckt“ komplexe Be-wertungsprozesse. A und B können komplex sein und Dif-ferenzierungen vorsehen. Zusätzlich muß der Sachverhalt„konstruiert“ werden. Beides eröffnet Handlungsspiel-räume für den Anwender der Norm – medizinisch wierechtlich (z. B.: Handlungskorridore der ärztlichen Leit-linien). „Gute Behandlung“ und „erforderliche Sorgfalt“sind insofern präzisierungsbedürftig.

EBM verringert die Handlungsspielräume auf der Ebenevon A und B, schließt sie aber nicht aus. Ein- und Aus-schlußkriterien für randomisierte kontrollierte Studien re-präsentieren nicht immer die ärztliche Praxis. Nutzen/Risiko-Bewertungen medizinischer Behandlungen sindnicht nur allgemein, sondern auch einzelfallbezogen kom-plex. EBM präzisiert die Norm, erleichtert damit dieNormanwendung in der Medizin und rationalisiert sie imRecht durch Erkenntnisgewinn über die Normzwecke. DieVerwissenschaftlichung des Normbildungsprozesses in der Medizinverursacht eine Verwissenschaftlichung des rechtlichen Normbil-dungs- und -anwendungsprozesses und seine Qualitätssicherung.

Diese grundsätzlich positive Aussage soll im folgendenunter den Aspekten „Chancen und Risiken von EBM inMedizin und Recht“ an einigen Fragenkomplexen be-leuchtet werden (4.), nachdem zuvor Hinweise auf paralleleQualitätsrangskalen in einigen einschlägigen Rechtsgebie-gen gegeben werden (3.).

3. Die betroffenen Gebiete: Haftungsrecht, Sozialrecht, Arzneimittelrecht und Berufsrecht

Die geschilderten Befunde betreffen prinzipiell alle Gebie-te des Medizin- und Gesundheitsrechts. Das liegt für denBereich des Arzneimittelrechts auf der Hand, weil dort fürdie Arzneimittelzulassung prinzipiell die (zweit-)höchsteEvidenzklasse, nämlich doppelblinde klinische Prüfungenhinsichtlich der Einlösung des Arzneimittelsicherheitsziels(positive Wirksamkeits/Risiko-Bilanz) kraft Gesetzes ver-langt werden (§ 22 II AMG). Ärztliche Erfahrung (syste-matisiert) als Mittel des Nachweises von Wirksamkeit undUnbedenklichkeit ist nur ausnahmsweise – und zwar beibekannten Wirkstoffen – zugelassen (§ 22 III AMG). DasRegel/Ausnahme-Verhältnis existiert seit der europäischenHarmonisierung des Arzneimittelrechts und seiner Umset-zung in das nationale AMG (1965/1976)13. EBM ist alsQualitätsrangskala und Präferenzsystem insofern gesetzlichrezipiert. Für die anderen Rechtsgebiete scheint EBM eineneue Herausforderung darzustellen. Wie sub 2. dargelegt,ist die Transformationsfrage – auch – im Rahmen desRechtsanwendungsprozesses jedenfalls im Haftungsrecht be-antwortbar. Im Produkt- und Dienstleistungshaftungsrechtgilt prinzipiell der jeweilige Stand von Wissenschaft undTechnik als Maßstab der Fehlerfreiheit und erforderlichenSorgfalt14. EBM bestimmt den medizinischen und damitprinzipiell den rechtlichen Standard; haftungsrechtlich sindin absteigender Linie die Evidenz der höchsten Klasse usw.standardbestimmend. Der Sache nach entspräche das derarzneimittelgesetzlichen Wertung. Im Sozialrecht (Rechtder gesetzlichen Krankenversicherung) erleben wir gegen-wärtig den Versuch, die Prinzipien von EBM an verschie-denen Stellen im Rahmen der Reform der gesetzlichen

Krankenversicherung durch Gesetz zu rezipieren („GKV-Gesundheitsreform 2000“15). Ärztliche Leitlinien einerbestimmten methodischen und sachlichen Qualität(BÄK/KBV) – das heißt solche, die (auch) den Anforde-rungen von EBM genügen – müssen nach dem Fraktions-Entwurf „GKV-Gesundheitsreform 2000“ sowohl im ver-tragsärztlichen wie im Krankenhausbereich befolgt wer-den. Würde der Entwurf Gesetz, hätte der Gesetzgeber dierechtliche Verbindlichkeit von EBM-basierten Leitlinienfestgesetzt16. Auch dies entspräche dem arzneimittelgesetz-lichen Regel/Ausnahme-Verhältnis von wissenschaftlicherErkenntnis und ärztlicher Erfahrung. Eine solche Interpre-tation wäre unter geltendem Recht in § 2 I 3 SGB Vdurchaus möglich, ist aber durch das Normkonkretisie-rungskonzept des BSG jedenfalls für den vertragsärztlichenBereich unter den Vorbehalt einer entsprechenden Ent-scheidung des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen ge-stellt17.

Zusammenfassend kann man sagen, daß das Qualitäts-rangverhältnis für Evidenzen als Prinzip früh durch denGesetzgeber in das Arzneimittelrecht eingeführt wurde,aber auch in anderen Rechtsgebieten gilt oder auf demWege der Rezeption ist. Die Prinzipien von EBM sind alsoals Rechtsprinzipien nicht neu. Allerdings heißt das nicht,daß andere Arten der Evidenz immer ausgeschlossen wären.Beispielsweise unter dem Aspekt der Wissenschaftsfreiheitsind z. B. für die besonderen Therapierichtungen im AMGund auch im SGB V andere Arten der Evidenz („Intui-tion“, ärztliche Erfahrung) rechtlich unter bestimmten Vor-aussetzungen zu akzeptieren. Pointiert gesprochen: EBMgilt in den genannten rechtlichen Zusammenhängen alsVorrangprinzip für wissenschaftliche Evidenz, nicht aber alsAusschlußprinzip für andere Evidenzen.

4. Chancen und mögliche Leistungen von EBM

Im folgenden soll auf positive Effekte von EBM in denProzessen der Normbildung und -anwendung sowohl inder Medizin wie im Recht hingewiesen werden.

a) „Zwang“ zur Kommunikation über NormbildungenEiner der nicht zu unterschätzenden möglichen positivenEffekte von EBM besteht in dem innermedizinischenZwang zur Kommunikation über das Ziel und die Qualitätvon Behandlungen, ihre Alternativen und ihre Ergebnisse.Der Diskurs über die beste Begründung eines medizini-schen Standards guter Behandlung wird durch EBM ange-regt. Eine innerprofessionelle Kontrolle des Üblichen vordem Hintergrund der bestmöglichen Evidenz vermag zueinem erheblichen prozeduralen und sachlichen Transpa-renz- und Begründungsgewinn beizutragen. Dieser ist mittel-bar auch für rechtliche Transformationsentscheidungennützlich.

13) Vgl. insgesamt Hart/Reich, Integration und Recht des europäi-schen Arzneimittelmarktes, 1990, bes. Rdnrn. 4 ff.

14) Vgl. Brüggemeier, Prinzipien des Haftungsrechts, 1999, bes. S. 62 ff.,79 ff.; Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 1995, Rdnr. 73; Laufs(Fn. 2), Rdnrn. 470 ff., bes. dortige Fn. 15; Mertens, in: MüKo/BGB, Bd. 5, 3. Aufl. 1997, § 823, Rdnrn. 27 ff., 282 ff., 367,370.

15) Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichenKrankenversicherung ab dem Jahr 2000, BT-Dr. 14/1245 v. 23. 6.1999.

16) Fragen der Verfassungsmäßigkeit der verschiedenen Modellewerden nicht erörtert.

17) Dazu Engelmann, Das Rechtskonkretisierungskonzept des SGB Vund seine dogmatische Einordnung durch das Bundessozialgericht,in: Hart (Hrsg.) (Fn. 6); Francke, Leitlinien ärztlichen Handelnsund Sozialrecht, ebd.

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b) EBM und professionelle Normsetzung durch LeitlinienEBM ist eine wichtige Voraussetzung der Funktionsfähig-keit und Qualitätssicherung des Instruments der ärztlichenLeitlinien18. Diese Leitlinien sind wahrscheinlich eines derpraktisch wichtigsten Instrumente der Qualitätssicherungärztlicher Behandlungen und der Implementation wissen-schaftlicher Erkenntnis in die ärztliche Praxis, wenn es auchin dieser Einschätzung Bewertungsunterschiede gibt19. DasClearingverfahren der Leitlinienerstellung20, das die Ar-beitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen MedizinischenFachgesellschaften (AWMF), die Bundesärztekammer unddie Kassenärztliche Bundesvereinigung verabredet haben,erscheint als ein Rahmen, innerhalb dessen eine Harmonisie-rung der verfahrensmäßigen und sachlichen Kriterien derLeitlinienerstellung auf der Basis von EBM erfolgreich um-gesetzt werden kann. Solchermaßen zustandegekommene(harmonisierte) und zertifizierte evidenz-basierte ärztlicheLeitlinien beseitigten die bisher zwischen den veröffentlich-ten Leitlinien einzelner Fachgesellschaften bestehenden undwohl erheblichen Qualitätsunterschiede. Sie könnten einenwichtigen Beitrag zur Implementation wissenschaftlicherErkenntnis in praktisches Handeln leisten. Evidenz-basierteLeitlinien schafften aus der Sicht aller betroffenen Rechts-gebiete wichtige rechtliche Rezeptionsvoraussetzungen unddamit die Chance, auch die erforderlichen rechtlichen Be-wertungen zu harmonisieren, zu rationalisieren und fürTransparenz der Entscheidungsbedingungen zu sorgen.

Auch solchermaßen harmonisierte Leitlinien entheben aber nichtvom Normanwendungsproblem. EBM verringert wohl denUmfang der Handlungskorridore (Normgenerierung), nichtaber beseitigt EBM das Anwendungsproblem insgesamt.Die Umsetzung von allgemeinen Normen in Einzelent-scheidungen bleibt als Aufgabe und als Problem. Und andieser Stelle ist der Rückgriff auf ärztliche Erfahrung unver-zichtbar.

c) Qualitätssicherung in Medizin und RechtEBM ist eine wichtige Voraussetzung für die Qualitäts-sicherung durch Transparenzsteigerung und Rationalisie-rung in Medizin und Recht. Die Berücksichtigung vonEBM bei der Erstellung von ärztlichen Leitlinien schafftüberhaupt erst die Basis für gesicherte Qualitätsaussagenund entsprechende Implementationen21. Auch im Bereichder Arzneimittelzulassung und -therapie können sich wichtigeneue Anwendungsfelder beispielsweise dadurch ergeben,daß Wirksamkeits- und Nutzenaussagen aufgrund vonEBM in Bezug gesetzt werden können und der Vergleichzwischen der Wirksamkeit des Produkts und dem Nutzender Therapie auf eine neue „harte“ Informationsbasis ge-stellt werden kann22. Schönhöfer formuliert:

„Mit diesem Instrumentarium (EBM) läßt sich die Zahlder Patienten beschreiben, die zur Erreichung des Thera-pieziels behandelt werden müssen oder bei denen im Rah-men der Behandlung das Auftreten eines Schadensereignis-ses zu erwarten ist. Solche Zahlen können dann für dieRisiko/Nutzen-Abwägung der therapeutischen Strategienund für deren Kosten genutzt werden. Damit werden the-rapeutische Strategien aus dem Dunstkreis der manipulati-ven Expertenmeinungen und diffusen klinischen Erfahrun-gen herausgehoben und hinsichtlich Dimensionen vonNutzen und Kosten beschreibbar. Rationalität und Qualitätder Therapie-Entscheidungen werden nachvollziehbar.“

d) Rationalisierung von rechtlichen Kommunikations-und EntscheidungsprozessenEBM stellt auch die rechtlichen Kommunikations- undEntscheidungsprozesse auf eine verläßlichere Basis und„rationalisiert“ die „Intuition“ auch der Rechtsanwenderund ihrer Gehilfen. EBM schafft das Material, auf dessenBasis informierte, abgeschätzte und bewertende Entschei-

dungen zustande kommen können. Damit wird der ge-samte Prozeß der Kommunikation und Entscheidungsfin-dung sowohl auf der Ebene der Normbildung wie derNormanwendung für Recht und Rechtsanwender ersttransparent und nachvollziehbar. Als Beispiel sei die ge-richtliche Plausibilitätskontrolle von Sachverständigengut-achten im Arzthaftpflichtprozeß genannt23. Die wissen-schaftliche Aufbereitung des vorliegenden medizinischenErkenntnismaterials gewährt die Möglichkeit informativerNachfragen und erleichtert die Plausibilitätskontrolle. EBMkann insofern auch die Qualität der Rechtsanwendung verbessern.

5. Mögliche Risiken von EBM

Im folgenden soll auf mögliche riskante Effekte von EBM imZusammenhang der Normbildung und -anwendung so-wohl in der Medizin wie im Recht aufmerksam gemachtwerden.

a) Ärztliche Therapiefreiheit, medizinische Qualität und RechtEBM schränkt faktisch die ärztliche Therapiefreiheit einund verstärkt die Rolle des Arztes als Normanwender.Diese Aussage bezieht sich allerdings auf einen umgangs-sprachlich gebrauchten Begriff von Therapiefreiheit, dermit dem verfassungsrechtlichen Begriff der Therapiefreiheitals Berufsausübungsfreiheit nicht übereinstimmt. Thera-piefreiheit besteht nur in den Grenzen zulässig berufsaus-übungsbeschränkender rechtlicher Normen24. Insofernkann man sagen, daß EBM einen Beitrag dazu leistet, dieärztliche Therapiefreiheit auf eine veränderte und (haf-tungs- und sozial-)rechtlich geforderte Basis zu stellen.

b) Arzt als Normanwender statt Kommunikationspartner?Dieser Aspekt – auf den hier nur hingewiesen werden kann – bedarf sicherlich einer vertieften Analyse. Der Sachenach wird damit ein Problem der Arzt/Patient-Kommuni-kation thematisiert. Beeinträchtigt EBM, beeinträchtigt dieNormanwendungsaufgabe – z. B. durch EBM-gestützteärztliche Leitlinien – den Arzt in seiner Kommunikations-fähigkeit? Offenbar bestehen solche Befürchtungen. Siewerden geäußert insbesondere bezüglich des vertragsärzt-lichen Bereichs. Regulierungshypertrophie z. B. durchLeitlinien ist ein Stichwort25. Der Sache nach handelt essich um die Wiederholung des Therapiefreiheitsargumentsauf der individuellen Ebene der Arzt/Patient-Beziehung.M. E. ermöglicht EBM eine qualitativ hochwertige Patien-

18) Insgesamt Hart (Hrsg.) (Fn. 6).19) Vgl. z. B. Laufs (Fn. 11), S. 625, bes. 631 f.; Ulsenheimer, BayÄBl.

1998, 51 ff.20) Siehe die Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizini-

schen Versorgung, Beschlüsse der Vorstände von Bundesärzte-kammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung v. Juni 1997,DÄBl. 1997, A-2154–2155 (1999 ist zwischen den genannten In-stitutionen eine Vereinbarung zustande gekommen); Lauterbach/Lubecki/Oesingmann/Ollenschläger/Straub, Konzept eines Clearing-verfahrens für Leitlinien in Deutschland, ZaeFQ 91 (1997), 283 ff.

21) Ollenschläger/Oesingmann/Thomeczek/Kolkmann, Die „Leitlinie fürLeitlinien“ der Bundesärztekammer und der KassenärztlichenBundesvereinigung, in: Hart (Hrsg.) (Fn. 6).

22) Schönhöfer, Zur Qualität und Wirksamkeit von Arzneimitteln,Vortrag auf der Pharma-Fachtagung 1999, FORUM am 13. 10.1999 (noch unveröffentlicht).

23) Vgl. Rumler=Detzel, VersR 1999, 1209, bes. 1211 f.; aus dem„Leitlinien können … eine Hilfe geben“ würde mindestens dannein „Leitlinien müssen vom Sachverständigen beachtet werden“.

24) Grundlegend Francke (Fn. 7); partiell anders Laufs (Fn. 11), S. 625,bes. 627 f.; aus medizinischer Sicht Muir Gray, ZaeFQ 93 (1999),392 ff.

25) Laufs (Fn. 11), S. 625, 630 ff.; Ulsenheimer, Frauenarzt 39 (1998),1540 ff.

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Hart, Evidenz-basierte Medizin und Gesundheitsrecht MedR 2000, Heft 1 5

teninformation (therapeutische und Selbstbestimmungsauf-klärung) über die Erkrankung, ihre Behandlung und mög-liche Alternativen. EBM bzw. evidenz-basierte Leitlinienschaffen das – natürlich durch den Arzt zu übersetzende –Material der Patienteninformation. Auf der Basis der evi-denzbezogenen Information bleiben die ärztliche und dieEntscheidungsfreiheit des Patienten erhalten, wobei die Be-wertungskriterien für Behandlungen bei beiden nicht über-einstimmen müssen – der Patient kann sich auch andersentscheiden26, und er wird seine Entscheidung in der Regelin der Kommunikation mit dem Arzt treffen27. EBM störtnicht die Kommunikation, sondern kann ihren Informa-tionswert erhöhen.

c) EBM und patientenorientierte Medizin:Wissenschaft und PatientenselbstbestimmungEin bisher wenig behandeltes Problem ist die Einbeziehungvon Patienten oder Versicherten in den Kommunikationsprozeßder Normgenerierung28. EBM macht allgemeine Aussagen zuWirkungen, speziell zur Wirksamkeit und zu Risiken vonBehandlungen, möglicherweise zum Nutzen in der obengenannten zweiten Begriffsbedeutung. EBM ist experten-,nicht laienorientiert und setzt in erster Linie auf medizinischeKompetenz. Diese findet ihre Grenzen, wo es um eine Ent-scheidung über den Nutzen von Behandlungen für Patien-ten geht – Nutzenaspekt von Behandlungen: Verbesserungder Lebensqualität; Verlängerung der Lebenszeit. Hier istdie individuelle Information von Patienten nicht zu-reichend, sondern es bedarf zur Legitimation von Nutzen-zielen auch der kollektiven Beteiligung von Patienten an derKommunikation über sie (demokratischer Aspekt derNormbildung). Die outcomes einer Behandlung bedingenhäufig die Mitwirkung des Patienten. Auf kollektiver Ebene hängen die Legitimation von Nutzenzielen, ihre Akzep-tabilität und Akzeptanz von der Beteiligung von Patienten ander Kommunikation – nicht notwendig an der Entschei-dung – über ihre Setzung ab. Das ist der Sache nach – abersicherlich diskussionsbedürftig – das Postulat der Berück-sichtigung der Betroffenenperspektive im Prozeß derNormbildung29.

Von erheblicher „Sprengkraft“ scheint mir aus gesund-heits- und medizinrechtlicher Sicht das oben gekennzeich-nete Normanwendungsproblem zu sein. Wenn EBM probabi-listische Evidenz als Grundlage ärztlicher Behandlungs-ziele begünstigt, stellt sich medizinisch und rechtlich dieFrage nach der Berücksichtigung individueller Behand-lungs- und Sicherheitserwartungen von Patienten. Kanneine statistisch gut belegte Erwartung, wonach nur in 2 % der Fälle Kopfschmerzen Anzeichen für eine gravie-rende Gehirnerkrankung sind, das Hinausschieben oder die Abstinenz von individueller Diagnostik legitimierenoder – allgemeiner gesprochen – ist „in dubio abstine“ alsevidenz-basiertes Prinzip gleichzeitig ein individuelles Behandlungsprinzip?30 Rechtlich – haftungs- und sozial-rechtlich – wird eine individuelle Behandlung des Patien-ten geschuldet, und deshalb sind individuelle Abwägungs-entscheidungen erforderlich. In diese Entscheidung gehen selbstverständlich die abstrakten (EBM-gestützten)Nutzen/Risiko-Erwägungen ein, aber sie werden ge-brochen durch die Bewertung individueller Präferenzen. Es steht insofern ein Prinzipienkonflikt der Normanwen-dungskriterien zur Debatte, der von erheblichen Impli-kationen ist und eine gründlichere Erörterung erfordert.Aber er markiert ein zentrales Konfliktfeld innerhalb und zwischen Medizin und Recht, an dem EBM beteiligt ist. ImHinblick auf die Nutzung von EBM für gesundheitsökono-mische Bewertungen31 geht es der Sache nach um die Legi-timation von Rationierungsentscheidungen im Gesund-heitssystem.

d) Beschränkung von medizinischen Möglichkeiten:EBM und InnovationEBM zielt eher auf die rasche Durchsetzung positiver Er-gebnisse wissenschaftlicher Evidenz. Daß die wissenschaft-lichen – methodischen wie sachlichen – Anforderungen andie Qualität von Erkenntnissen eine innovationshemmendeWirkung haben können, indem sie die „Erprobungsbereit-schaft“ der Medizin beeinträchtigen, scheint eher unwahr-scheinlich. Sicherlich steigert EBM die Anforderungen anmedizinische Innovationen und schränkt damit den Inno-vationsbegriff ein. Die Hypothesengenerierung für Neue-rungen in der Heilkunde kommt meist entweder aus derGrundlagenforschung oder aus individuellen Heilversuchen.Das Konzept EBM hält früher zur systematischen heilver-suchenden Erprobung an und kann dadurch Neuerungenbefördern. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß eine„sozialrechtliche Zulassung“ neuer Behandlungsmethodenauf der Basis nur von EBM (durch den Bundesausschuß) zuanderen Effekten in der Gesundheitsversorgung führenkönnte.

6. Bewertung

EBM ist als eine Methode der Verwissenschaftlichung derMedizin sowohl für den Bereich professioneller Normset-zung und Normanwendung als auch für die Transforma-tion solcher Normen in rechtliche Geltung relevant. Zweigrundlegende Probleme sollen nochmals hervorgehobenwerden. Das eine betrifft die Normsetzung: Die Vorzugs-regel für wissenschaftliche Evidenz verengt tendenziell denmedizinischen Standardbegriff. Sie zwingt zur Kommunika-tion über Normziele und ihre Legitimation in Medizin undRecht. Das andere betrifft die Normanwendungsebene: Wis-senschaftliche Evidenz bedarf in der „Fallanwendung“ der„Übersetzung“. Wissenschaftliche Evidenz vermittelt stati-stische Aussagen unter Studienbedingungen; die Behand-lung individueller Patienten erfordert neben einer abstrak-ten („probabilistischen“) eine konkret-situative Nutzen/Risiko-Abwägung. Ärztliche Leitlinien sind eher erstererverpflichtet; das Haftungsrecht eindeutig letzterer, dasSozialrecht steht zwischen beiden. EBM prononziert denKonflikt; Recht hat keine „einfache“ oder „sichere“ Lösung parat,sondern muß sie bereichsbezogen erarbeiten.

26) „Recht auf medizinisch unvernünftige Entscheidungen“; vgl.Francke (Fn. 6), S. 175; Giesen (Fn. 14), Rdnrn. 200 ff., bes. 207;Francke/Hart, Patienteninformation und ärztliche Verantwortung,1987, S. 96.

27) Vgl. als ein Beispiel solcher Information und ihrer WirkungenWolf/Nasser/Schorling, The impact of informed consent on patientinterest in prostate-specific antigen screening, berichtet in Evi-dence-Based Medicine – Deutsche Ausgabe 1 (1997), S. 13, miteinem kritischen Kommentar von McGinn.

28) Überblick bei Hart, Patientenrechte und Bürgerbeteiligung imGesundheitswesen, FORUM (Deutsche Krebsgesellschaft)9/1999 (erscheint im November).

29) Zu diesem Komplex Badura/Hart/Schellschmidt, Bürgerorientie-rung des Gesundheitswesens – Selbstbestimmung, Schutz, Beteili-gung, 1999, S. 52 ff., 118 ff., 182 ff., 259 ff., 406 ff.

30) Dieses Prinzip wird z. B. der Leitlinie der DEGAM „Brennenbeim Wasserlassen“, 1999, zugrundegelegt.

31) Dazu das oben, sub 4. c), genannte Beispiel von Schönhöfer undim Zusammenhang der Leitlinien Glaeske, ZaeFQ 93 (1999), 421ff.; und Lauterbach, ZaeFQ 91 (1997), 277–282; ders., ZaeFQ 92(1998), 99–105.