Experimentelle Sinnmotivation bei Nietzsche: nicht Wahrheit, sondern Bedeutsamkeit

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    152 Experimentelle Method e

    bedrfnis beizulegen: d. h. ob ihr Kraft der berzeugung vom Sinnmeines Handeins zu eigen ist. Das Experiment, welches ich mit einerWeltinterpretation in der Absicht einer Prfung ihrer sinngebendenKraft fr mich durchfhre, kann die FormderWette annehmen. Hierkommt es auf den Einsatz an: der Glaubensgewiheit wird nicht derEinsatz einer einzelnen Sache, eines Dinges, eines Besitzes gerecht,sondern derjenige meiner selbst, meines Lebens. Vermag ichin einerWette mich selbst, mein Glck, mein Lebenals Einsatz fr die Gewiheit eines Glaubens zu bieten, dann hat sich mir durch Experiment gezeigt, da ich des betreffenden Glaubensinhaltes wirklichgewi bin.Es handelt sich dann um einen notwendigen Glauben. Man bringtExperimentieren in Gestalt der Wette zunchst nur mit dem pragmatischen Glauben in Zusammenhang, bei demes nicht um die Gewiheitphilosophischer Stze und um Sinn-notwendigkeit geht: aber derGebrauch des Experimentalverfahrens durch die Wette ist in nochhherem Grade im Bereichdes Glaubens gerechtfertigt: gehtes z. B. umdie Prfung der Annehmbarkeit der Thesedes Weiterlebens nach demTode, so ist es sinnvoll, die berzeugungskraft dieser These fr mich durch das Experiment in der Form einer Frage zu prfen, die ich soanmich stelle: ob ich fr diese Behauptung mein Leben einsetzen knnteoder niche5

    Auch Nietzsche gehtes in seiner Experimentalmethode um die Prfung philosophischer Weltperspektiven in sinnmotivierender Absicht.Das Experiment hat nicht deren theoretische Wahrheit, sondern ihreBedeutsamkei t Angemessenheit und Eignung fr die Erfllungjemeines Sinnbedrfnisses zu erweisen.

    3. Experimentelle Sinnmotivat ion bei Nietzsche:nicht Wahrhei t sondern Bedeutsamkei t

    Auch bei Nietzsche bernimmt das Experimentdes philosophischenDenkens eine entscheidende Rolle im Programm der Selbstmotivation.Er versetzt sich in eine gedankliche Situation, in welcher dem Experiment ein vergleichbarer Stellenwert zukommt wie im Aufbau der kantischen Metaphysik. Bei beiden Denkern wird eine experimentelle Methode gefordert, in welcher jeweils ein Weltentwurf auf seine Bedeutsamkeit und Brauchbarkeit fr die Sinnmotivierungdes Denkens und

    25 Kant, Kritik der reinen Vernunft. 852 (ibidcm S. 534 .

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    - ExptrlminMilt Mtchode l>a Rxperlmtnt derVtrnunft Im Denken Kanta 181ftltht in Jenteltiger Ferne, aondern auf dem Grunde unsere Handlunslltwufltein7.u s u c h e n ~ ~ .

    Auch ein verborgener Weg fhrt zur Einsichtin die Bedeutumkeit. xperimentellen Methode bei Kant: dabei ist zu sagen, da er oft denN1m1n des Experimentes nicht gebraucht, wo von der Sache her Anla wKre. Whrend bisher vom Vernunttexperiment gesprochen wurde,"'lehe diese am Mastab der Einheit mit sich selbst durchfhrt,sewlnnt bei Kant das Experiment des philosophischen Denkens auch in

    dtr Hinsicht Bedeutung, die in die Richtung Nietzsches weist: eine Pereptktlve wird am Mastab ihrer Bedeutsamkeit fr die Erfllungde1llnnbettUrfnisses geprft. Erweist das Experiment ihre Annehmbarkeilwn IIGI.tub"-wrdigkeit, so entsteht Gewiheit: diese ist nicht objekllnr Nondem "subjektiver" Natur.Sie bedeutet nicht Gewiheit einesl a ~ : h v c r h a l t e ssondern Unzweifelbarkeit der Bedeutsamkelt eines Satzefr meine Existenz. Dieser Art von Gewiheit wird die Sprache dadurchatrodn, da sie, um sie zu kennzeichnen, nicht die Wendung ,.Esiatltwif&. d a l ~ " gebraucht: stattdessen sagt sie in diesem Falle:Ich binwin da Damit kennzeichnetsie die "subjektive" Gewiheit des11Cil11ubens ,

    14 Es geht hierbei um die Gewiheit solcher Aussagen,in

    dtne11 nicht ein Sach-verhalt, sondern einSinn

    verhalt ausgesagt wird,lltr Antwort auf die Frage nach dem Wozu und "Weshalb" gibt.Nldu Nachliche, objektive Logik entscheidet hier ber Gltigkeit oderUn"UlliKkeit, sondern das subjektive Bewutsein macht seinen MastabathC nd, an welchemes entscheidet, ob der Inhalt eines "Glaubens" eineht(rirdigende Erfllung des Sinnbedrfnisses zu geben vermag odernldu. Subjektive Gewiheit im Sinn des berzeugtseins grndet sichHidu auf objektive Wahrheit, sondern auf Bedeutsamkeit und AngetntNKI.'nhdt eines Konzepts fr Sinnmotivierung: auf Sinn-notwendigk ~ h .Nicht ein sachlicher Mastab entscheidet in diesem Falle berC H ~ u b w r d i g k e i toder Unglaubwrdigkeit, sondern mein eigener Zu

    tnd ist der Indikator bei der experimentellen Prfung, ob ich vom\lnmmgcbot einer Weltperspektive berzeugt sein kann und darf odernldn.

    l >ic Gewiheit, die einer Weltinterpretation beigemessen werdenk11nn, prfe ich aufGrund eines Experimentes, welches sich daran entchridct, ob ich selbst im Stande bin, ih r Bedeutsamkeit fr mein Sinn-

    11 V t ~ l .auch mein Buch: Das Prinzip Handlung in der PhilosophieKants. Berlin 1978.14 1 \ ~ n t .Kritik der reinen Vernunft B857 (AA Bd. 3, S. 536/37).

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    spektive fr die Verfassung des Handelnden? Erweist sich z. B. diemetaphysische Annahme einer Entsprechung von Vernunft und Wirk-lichkeit, Freiheit und Naturals geeignet, das Sinnbedrfnis des prak-tischen Bewutseins zu befriedigen,so spricht das Experiment fr dieseAnnahme. Dann ist Grund fr berzeugung von dieser Annahme ge-

    geben und die Gewiheit eines Glaubens stellt sich her, derreiner Vernunftglaube heien kann, weil blo reine Vernunftdie Quelle ist, daraus er entspringt.12 Aus diesen uerungen wird

    erkennbar, da die grundstzliche Bedeutung der Experimentalmethodevon Kant in deren Eignung gesehen wird, die Selbstbegrndung einerPhilosophie zu leisten, die sich dem Programm einer sich selbst kriti-sierenden und Einheit mit sich verbrgenden reinen Vernunft ver-schreibt. Denn wenn das Prinzip des Experimentes der Vernunft mitsich selbst den Mastab liefert,an dem Aussagen gemessen werden,dann braucht dieser weder in der Erfahrung nochin der Anschauung(wie in der Mathematik) noch in eingeborenen Ideen (wie in der

    unkritischen Metaphysik) gesucht zu werden. Von derBasis unsererpraktischen, von reiner Vernunft gestellten Aufgaben aus entwerfen wireine Welt von der Art, da sie uns bei der Erfllung dieser AufgabenOrientierung und Sinn zu geben vermag. Sie bewirkt in uns einepraktische Verfassung des berzeugtseins vom Sinn des Einsatzes frdie Verwirklichung unserer Pflichten.

    Seit Kant besteht fr jedes philosophische Denken die Verpflichtung,den experimentellen Charakter eines Weltentwurfes bewutzumachen.Es gilt einzusehen, da dieser nichtobjekt ive Erkenntnis von Dingenan sich bedeuten kann, sondernals der dem Vernunftbedrfnis dienendeEntwurf einer Welt begriffen werden mu, in die ich mich denkend hin-

    einzuversetzen, hineinzudenken (Kant) habe. Wenn man hier vonMetaphysik spricht, so kann diese nur in kritischer, ihren eigenenExperimentalcharakter durchschauender und ihm Rechnung tragenderForm legitimierbar sein. Als experimentelle Theori e , die fr denHaushalt der praktischen Vernunftnotwendig ist, aber keine objek-tiven und dogmatischen Aussagen in eigentlich theoretischer Absichtleisten will und darf, istsie gerechtfertigt, nichtals Theorie von einerWelt, die hinter der sichtbaren steht. Die von der praktischen Ver-nunft entworfene, den Aspekt unserer Pflichten ergnzende Welt ist

    2 AA Bd. 5 S. 126.

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    Uaa F xperiment dor Vernunft m l>enkon Kanu 49

    tivengebrauch zu experimentieren vermag. Dieser Gebrauch besteht inder methodisch gelenkten freien Anwendung von philosophischen Perspektiven. Diese Freiheit zum rational motivierten Perspektivengebrauch ist im Versuch der Revolution der Denkart erffnetworden.

    Whrend im Denken der vorkantischen Metaphysik nicht nur dieInhalte der Wahrhe it ls vom Seienden selbst diktiert aufgefatwurden und das Subjekt sich sogar noch diePerspekt iven, in welchedie seienden Gegenstnde zu rcken sind, vorschreiben lie, entsprichtes der vernderten Denkungsart , diese Perspektiven in einem motivierten und planenden Vorgehen, also frei whlend und gem einerMethode selbst einzusetzen. Die jeweilige Wahl einer Perspektive untersteht einer experimentellen Prfung, derzufolge sie dannls gerechtfertigt hervorgeht, wenn durch diese Perspektive Widersprche in dermetaphysischen Vernunft berwunden werden.

    Auch im Bereich der praktischen Vernunft hat das Experimentalverfahren bei Kant seine Stelle. Auch hier werden Annahmen , Voraussetzungen , Pos tulate jeweils einer Welt gemacht, durch welche diepraktische Vernunft demjenigen, der die von ihr gegebenen Pflichtensoll erfllen knnen, zugleich den Sinn seines Einsatzes fr die Vernunftzwecke bietet: durch diese Weltperspektiven soll in ihm die berzeugung bekrftigt werden, da seine Arbeit fr die Verwirklichung derVernunftzwecke nicht umsonst, sondern da am Ende fr einGelingen gesorgt ist. Der Handelnde mu darauf vertrauen, hoffen undglauben knnen, da die Folgen seines Tuns nicht durch widrige Entwicklungen zunichte gemacht werden: da vielmehr seine Handlungeneinen Beitrag zur Verwirklichung der Herrschaft der Vernunft ber dieWirklichkeit geben knnen. Dazubedarf er des Glaubens an eine vonseiner praktischen Vernunftentworfenen Welt, die so beschaffen ist,da er sich an ihr orientieren und auf ihremGrund Sinn fr sein Han-deln zu finden vermag. Die Annahme dieser Welt ist nicht beliebig undwillkrlich, sondern untersteht der Verpflichtung einer Motivationdurch experimentelle Prfung. Vermag der Handelnde auf Grundder Annahme der Welt, in welcher er die endgltige Herrschaft der Vernunft m Ende denken darf, Vertrauen und Zuversicht fr den Erfolgseines Einsatzes zu fassen, so spricht das Experiment fr das zur Prfung gestellte Weltpostulat.

    Die Frage ist: Welchen Weltcharakter braucht der Handelnde undwelche Folgen hat der Gebrauch der dieser Welt entsprechenden Per-

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    methodisch gezieltem Einsatz Gebrauch macht. Fin det es sich nun,da, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Vernunft stattfinde, beieinerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experiment fr

    die Richtigkeit jener Unterscheidung. '0

    Dieser Versuch, den das metaphysische Denken mit sich selbst im Bereich seiner Aufgaben durchfhrt, soll sich nach Kam auch auf die Stellung ausdehnen, die das erkennende Subjekt seinen Gegenstnden berhaupt gegenber einnimmt.Man solle das Standnehmen etwa der Galilei usw., welche in ihrerWissenschaft Fragen an die Natur im Rahmen eines von ihnen zuvorentworfenen Planes gestellt haben, wenigstens zum Versuchenachahmen. Die neugewonnene Freiheit des metaphysischen Denkenszum Experiment mit sich selbst und seiner eigenen Stand-wahl ist jetztreif fr die Erfllung der Aufforderung: Man versuche (gesp. vVerf.) es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik

    damit besser fortkommen, da wir annehmen, die Gegenstnde mtensich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit derverlangten Mglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die ber Gegenstnde, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. 21

    Was die Gegenstnde angeht, die blo durch Vernunft, und zwarnotwendig gedacht, die aber (so wenigstens wie die Vernunft sie denkt)gar nicht in der Erfahrung gegeben werden knnen, so werden dieVersuche (gesp. v Verf.) sie zu denken (denn denken mssen sie sichdoch lassen) hernach einen herrlichen Probierstein dessen abgeben, waswir als die vernderte Methode der Denkungsart annehmen, da wir

    nmlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sielegen ... Die , vernderte Methode der Denkungsar t : mit dieser Wendung wird nicht der Inhalt einer philosophischen Theorie bezeichnet,sondern diejenige Methode, welche durch einen Wechsel des Standesund seiner Perspektive gewonnen wurde und zugleich die freie Stellung des Denkens bezeichnet, derzufolge es mit dem geziehen Perspek-

    20 XVIII, Anm. (ibidem S 13). Die Aussagen Kants in dieser Vorrede zur Experimentiermethode zeigen, da er ihre Tragweite selbst noch nicht ganz berschaut, indem er sieeinmal als eine Methode skizziert, die fr das Vorfeld des philosophischen Denkens geeignet ist, das andere Mal aber, wie hier an dieser Stelle, in ihr konsequent die fundamentale Methode der Selbstbegrndung des philosophischen Ansatzes sieht.

    21 ibidem XVI, S 12

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    als Hypothee auf, um nur die ersten Versuche gesp. v. Verf.)einer solchen Umnderung, welche allemal hypothetisch sind, bemerkbar zu machen. 1

    Wenn man eine Anwendung der so interpretierten copernicanischen Denkhandlung auf das metaphysische Denken fordert, so ergibtsich, da hier die Vernunft analog wieim Denkbereichdes Astronomenein Experiment mit sich selbst, d. h. mit ihrer eigenen Stand-wahlmacht. Zugleich damit wird auch die dazugehrige Perspektive experimentell geprft und daran gemessen, ob sie den Ansprchen und demMastab der metaphysischen Vernunft gengen kann oder nicht. Das

    Experiment mit diesem Stand und seiner Weltperspektive darf dannalsgelungen gelten, wenn die resultierende philosophische Theorie diemetaphysische Antinomie der Vernunft zu berwinden vermag. DerMastab der experimentellen Prfung, welcher ein philosophischerStandpunkt und dessen Perspektive unterzogen wird, die eine Erkenntnis der philosophischen Gegenstnde und eine Theorie ermglichensollen, besteht in der Einheit der Vernunft mit sich selbst bzw. in derberwindung von Widerstreitsituationen und Konflikten innerhalb derVernunft.

    Als paradigmatisch fr eine berwindung der Vernunftantinomiezitiert Kant meist den Fall des Widerstreits zwischen dem Standpunkt

    der Freiheit und demjenigen derNatur bzw. des Determinismus. DieInteressen beider Standpunkte sollen gerecht bercksichtigt werden:das wird durch eineMethode des philosophischen Denkens angestrebt,der folgend sich der Philosophierende versuchsweise zweier verschiedener Perspektiven bedient, mit deren Hilfe er Gerechtigkeit walten ltund die Einheit der Vernunft mit sich selbst so aus dem Zustand einesSelbstzerwrfnisses wieder herstellt undsie verbrgt, wie die Interessenkonflikte in der Gesellschaftim juridischen Proze durch ein richterliches Urteil bewltigt werden. Richterin Vernunft macht das Experiment, der Einheit der Vernunft durch den Gebrauch solcher Perspektiven so Genge zu tun, wie der Richter der Einheit des Gesetzes

    gengt, indem erin ihm den Mastab fr eine gerechte Entscheidung ineinem Interessenkonflikt sucht. Das Experiment der Vernunft mit sichselbst besteht darin, da das philosophische Subjekt einmal von der Perspektive der Natur, das andere Mal von derjenigen der Freiheit in

    19 XII, Anm. (ibidem). Das Wort: widersinnisch ist in der Bedeutung zu verstehen:gegen den konventionellen Einsatzder Sinne .

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    Standnehmen so zu whlen, da fr die astronomische Wissenschaft einePerspektive herauskommt, aus welcher eine befriedigende Interpretatio nder Bewegungen der Himmelsk rper folgt. Als befriedigend ist dieresultierende Theorie dann anzusehen, wenn die astronomischenGleichungen ein Hchs tma an Einfachheit zeigen und dadurch optimal

    dem Anspruch der Vernunft auf Erkenntnis kosmischer Gesetze und aufprognostische Mglichkeiten gengen. Das Wagnis des Copernicusbesteht in einer freien Wahl des Standes der Beschreibung der Himmel s-ereignisse. Copernicus hat von der Freiheit des Experimentieren-knnens der astronomischen Vernunft mit sich selbst, mit ihremeigenen Standnehmen Gebrauch gemacht. Dieses Wagnis wurd e um desAnspruches der astronomischen Vernunft auf Erfllung der in ihr selbstangelegten Zweckewillen unternommen. Dieser Anspruch gibt zugleichauch den Mastab fr das Gelingen des Experimentes ab: nach demUrteil der neuzeitlichen Astronomie seit Copernicus ist das copernica-nische Experiment gelungen, es gengt der Forderung der Einfachheitbesser als die vom Stande der Erde aus geleistete Beschreibung desPtolemus.

    s ist darauf aufmerksam zu machen, da der philosophisch relevanteGehalt der copernicanischen Hypothese nicht darin zu sehen ist, dahiermit eine neue astronomische Theorie angeboten wurde: vielmehrsteht im Zentrum des philosophischen Interesses die neuartige Stel-lung, die sich der Astron om selbst im Weltall den Gegen stn denseines Erkennens gegenber gegeben hat. Ihr gem konnte der Astro-nom einen Stand der Beobachtung whlen, der einer experimentellenPrfung unterworfen wird. Die Eigenart dieses Experimentes bestehtdarin, da in ihm nicht theoretische Aussagen ber Naturobjekte ge-prft werden, sondern die vom Astronomen getroffene Wahl des Stan-des beurteilt wird, welcher die neue Weltperspektive und die zu ihrgehrige Theorie begrndet.

    So kann Kant sagen, da die Keplerschen Zentralgesetze der Bewe-gungen der Himmelskrper dem, was Copernicus nur als Hypo-these annahm, ausgemachte Gewiheit verschafft haben und zugleichdie Voraussetzung fr die Newtonsehe Gravitationslehre gegeben habe,welches alles nicht erkannt worden wre, wenn Copernicus es nichtgewagt htte, auf eine widersinnische, aber doch wahre Art die beob-achteten Bewegungen nicht in den Gegenstnden des Himmels, sondernin ihrem Zuschauer zu sucheri. Ich stelle die in der Kritik vorgetra-gene jener Hypothese analogische Umnderung der Denkart auch nur

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    Das Experiment der Vernunft im Denken Kants 45

    Die berzeugung von der Bedeutsamkeit einer Weltperspektive jeweilsfr eine geschichtliche Gegenwart entsteht nicht auf dem Wege einesBeweises, einer theoretischen Ablei tungaus ersten Stzen: ebensowenigdurch Berufung auf bisherige Erfahrung der Weltverhltnisse. Denn ein-zelne Dingeund Verhltnisse innerhalb der Welt sind immer Ergebniseiner Interpretation im Rahmen eines allgemeinen und in einemgewissen Sinne "transzendentalen" Weltentwurfes. Das entwerfendeSubjekt begreift die von ihm gedachte und aufgezeichnete Welt in ihreminhaltlichen Aufbau, etwaals ewige Wiederkehr des Gleichen.Zugleich aber vergegenwrtigtes bei seinem quasi objektiven Weltdenkenauch immer seine eigene S e u n g gegenber dieser Welt und ihrenDingen. Da es sie als Ergebnis seiner eigenen Interpretation begreift,macht es sich in diesem Sinne zum Herrn seiner Welt. Umes mit denWorten Kants zu sagen: es vergegenwrtigt bei seinem Weltentwurfzugleich seine eigene Stellung der Freiheit, diees durch diesen Entwurfdokumentiert. Nietzsche spricht von der gedanklichen "Grundstel-

    lung", die sich das Subjekt in dieser Welt und ihr gegenber gibt.Kant hat in der Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinenVernunft" diese Stellung der Freiheit des Subjekts gegenber der vonihm interpretierten Welt in derWeise bercksichtigt, da er diesem dieMglichkeit gibt, sich zu demjenigen Weltentwurf zu entscheiden, dersich bei der Verwirklichung grundstzlicher Zwecksetzungen des Wil-lens bewhrt: diese Bewhrung geschieht durch ein experimentelles Ver-fahren.

    Um die Situation bei Kant zu verstehen, mag noch einmal auf diekantische Interpretation der Copernicanischen Wendung ein Blick ge-worfen werden. Das astronomische Bewutsein habe, so sagt er, die

    Erfahrung gemacht, daes mit der Erklrung der Himmelsbewegun-gen nicht gut fort wollte", wenn man annahm, da das ganze Sternen-heer sich um den Zuschauer drehe18 Copernicus habe daraufhin ver-sucht , ob es nicht besser gelingen mchte, wenn er den Zuschauersich drehen und dagegen die Sternein Ruhe lie." Der Versuch desCopernicus bestand nach Kant darin, nicht eine andere Hypothese berdie 0 bje k t e des astronomischen Himmels vorzuschlagen.Sein "Wag-nis" habe vielmehr die Bedeutung, da er sich die Freiheit herausgenom-men hat, den Standpunkt der Beschreibung der Ereignisse am Himmeldurch ein Experiment des Denkens mit sich selbst und seinem eigenen

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    Vorr. z. Auf . B d. Kritik der reinen Vernunft. XVI, (AABd. 3, S. 12 .

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    Es ist daran zu erinnern, da die Entscheidung fr eine Weltperspektive wie diejenige der ewigen Wiederkehr in den Augen Nietzsches nurdann gerechtfertigt ist, wenn sie sich in einem Prfungsverfahren be-whr t hat. Nietzsche fhrt die Selbstbegrndung der Philosophie undihrer Anfangsstze auf dem Wege einer experimentellen Methode durch,

    die gem seiner Version der Copernicanischen Wendung als einzigmgliche Begrndungsform in Frage kommt 17 Aber Nietzsche steht auch als Experimentalphilosoph in einer

    Tradition, auf die jetzt die Aufmerksamkeit gelenkt werden mag. Vorallem ist es angemessen, einen Blick auf den Gedanken des Experimentierens der Vernunft mit sich selbst zu werfen, mit dem Kant Ernst ge-macht hat, indem er ihn als Leitmotiv fr eine Methode der Selbstbegrndung der Philosophie begriffen hat.

    2. Das Experiment der Vernunft im Denken Kants

    Im Unterschied zur Einzelwissenschaft, der es auf Aussagen ber Ob -jekte innerhalb der Welt ankommt, geht die Philosophie darauf aus,ber diese Welt selbst und die Stellung zu denken und zu sprechen, diewir uns innerhalb ihrer den Mitsubjekten und den Objekten gegenbergeben. Welt ist nicht , gegeben , sondern Ergebnis eines Entwurfes. Andieser Einsicht Kants hlt auch Nietzsche fest, wenn er betont, da eskein An-sich-Sein gibt und da jede Aussage ber die Dinge derWelt auf Interpretation beruht. In den vorigen Abschnitten wurde vom

    Schaffen einer solchen Interpretation und von der freien souvernenStellung ihr gegenber gesprochen, auf Grund deren das Subjekt, dassich in einer geschichtlichen Gegenwart fr sie entschieden hat, in einer

    andern ber sie hinauszugehen bereit ist.

    17 Mit der Behauptung, Nietzsches Philosophieren folge der Methode des Experimentierens, gehe ich ber die Einschtzung des experimentellen Prinzips bei Nietzsche durchHeidegger wie auch durch Lwith hinaus. In ihren Interpretationen wurde zwar derexperimentelle Zug des Denkens Nietzsches deutlich herausgehoben: aber er wurde nichtals methodischer Grundzug Nietzsches dargestellt. Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche,Pfullingen 1961, Bd l, S 37/38: Wenn daher Nietzsche im Untertitel zu seinem Werkschreibt: Versuch einer Umwertung aller Werte, so ist das nicht eine Redensart, umeine Bescheidenheit auszudrcken und anzudeuten, das Vorgelegte sei noch unvollkommen, es meint nicht Ess ay im literarischen Sinne, sondern meint mit klarem Wissen dieGrundhaltung des neuen Fragens aus der Gegenbewegung gegen den Nihilismus. Obereine vage Charakterisierung des Experimentes als Grundhaltun g kommt auch Lwithnicht hinaus.

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    Nietzsches Version der Copernicanischen Wendung 143

    den, deren es ls Sinnrechtfertigung fr sein Denken und Handelnbedarf.

    Wenn Nietzsche in formaler hnlichkeit mit Descartes seineMethode in der Gestalt eines Ich-berichteszur Sprache bringt, sobegreift sich dieses Ich nicht ls Sachwalter und Wortfhrer einer allengemeinsamen und allgemeinen Vernunft wiees bei Descartes der Fall ist.Er bietet keine Methode in dem Sinne eines sicheren , unfehlbarenWeges zu wissenschaftlichen Ergebnissen, der jeder zu folgen vermag,der ber diese allgemeine Vernunft verfgt; vielmehr spricht erls individuelles Ich-Leben, das mit anderen das Bedrfnis nach Sinnmotivation und einer dementsprechenden Weltperspektive gemeinsam hat.Seine Methode des Experimentierens stellt aber nicht einen gemeinsamzu gehenden Weg dar, sondern verlangt von ihm, in individueller, unvertretbarer Weise die Gefahr des V ersuchens und zugleich des Milingens auf sich zu nehmen: er hat seinen gefhrlichen Gang auf demdurch die Experimentalmethode bewiesenen Weg fr sich und zugleichauch fr die andern zu gehen.Das Prinzip dieser Methode ist nichtSicherheit, sondern stellvertretende Meisterung der Unsicherheit. DieRechtfertigungje einer Weltperspektive durch die Methode des Experimentierens fhrt zwar zu einer Gewiheit ber deren Brauchbarkeit undAnnehmbarkeit: aber diese Gewiheit grndet sich nicht auf wissenschaftliches Beweisverfahren.Der Test, an welchem sich entscheidet,obman wirklich an eine bestimmte Weltperspektiveglaubt , ist, wie Kantim Einklang mit Pascal betont hat,dieWette , bei welcher der Einsatznicht irgendein vermittelbaresGut ist, sondern das eigene Leben selbst.Die Methode bietet nicht ein Rezept fr Denkverfahren unter Ausschaltung der Zu-flle: sondern sie leistet die Beschreibung eines Weges,

    den der im Auftrag des Lebens Denkende zu gehen hat. Dem entsprichtder Zuruf Zarathustras: Ich bin ein Gelnder am Strome EureBrcke aber bin ich nicht .

    Jetzt ist es an der Zeit, die Experimentalmethode der Prfung einerWeltperspektive auf Bedeutsamkeit und Eignung fr Sinnmotivationnher ins Auge zu fassen. Es handelt sich dabei im anspruchsvollenSinne des Wortes um eine Methode, mit Hilfe deren Nietzsche seinensystematischen Anfang , das Konzept von der ewigen Wiederkehr zurechtfertigen versucht. Dadurch wird erkennbar, da die Absage an dasCartesische Programm bei Nietzsche nicht zu einem Irrationalismusfhrt, sondern da er dem Cartesischen Denken eine Rationalitt spezi

    fischer Art entgegensetzt.

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    142 Experimentelle Methode

    das Experimentalverfahren einen Weg angibt, auf welchem die Gltigkeit von philosophischen Weltinterpretationen geprft werden soll. DieCartesische Methode dient dem reinen, in die Zuflle der Erfahrung nichtverstrickten Denken, um mit Sicherheit Ergebnisse zu gewinnen und dieGefahr des Irrweges auszuschlieen. Dieses am mathematischen Denkenorientierte Verstndnis von Methode mu schonim Bereich der Naturwissenschaften selbst Kompromisse eingehen: dann nmlich, wenn siesich mit dem experimentellen Verfahren der empirischen Naturwissenschaften, also mit der Methode des Experimentierens verbindet. Hierzwar ist das wissenschaftliche Denken in der von Kant gekennzeichneten Lage, daes in der Rolledes Richters an dieN atur Fragen stellt, iein der Richtungdes vorentworfenen Planes zu antworten hat. Aber dieseAntworten knnen inhaltlich gesehen doch berraschungen bieten, diezuweilen sogar zu einer Umnderung der Fragestellung herausfordern.Gleichwohl istes nur eine Theorie ber Objekte, die hier auf dem Spielesteht und die durch eine andere Theorie leicht zu ersetzen

    Anders istes

    im Bereich derjenigen Methode , in welcher die denkende Vernunft mit sich selbst experimentiert. Das geschieht in demFalle Nietzsches, dessen Methode der Prfung von Weltperspektivendarin besteht, da diese eingehngt werden, um auf ihre Sinn-wirkung auf denjenigen geprft zu werden, der sie handhabt und der sichfr sie entscheidet. Hier steht nicht eine Theorie ber Objekte auf demSpiele, sondernes entscheidet sich, ob der Versuch der philosophischenVernunft, dem Leben eine sinnmotivierende Weltperspektive bereitzustellen, sich als erfolgreich oder erfolglos erweist. Hierbei wirkt sich ein

    I r r tum nicht nur in der Weise aus, da er den bergang zu einer anderen objektiven Theorie notwendig macht, sondern er nimmt die Form

    einer Niederlage des Denkens an, welches das Verlangen und die Erwartungen des Lebens nach einer ihm angemessenen Sinnmotivation nichtadquat zu erfllen vermochte und bei dem Versuche, eine dementsprechende Weltperspektive zu leisten, gescheitert ist. Der experimentellen Prfung von Weltperspektiven ist daher ein grerer Ernst eigentmlich als der Handhabung einer objektiv-wissenschaftlichen Methode. Denn von einem erfolgreichen oder erfolglosen Ausgang derPrfung hngt es ab, ob das Denken dem Leben sichals dienlichdadurch erwiesen hat, daes ihm seine notwendigen Lebensbedingungen in der Form von sinnmotivierenden Weltperspektiven zu bieten vermochte. Das Leben drngt auf Entscheidung in dieser Frage:es will sich

    mit ganzer Kraft und voller Intensitt fr die Weltperspektive entschei-

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    Nietzsches Version der Copernicanischen Wendung 141

    Denken vollzieht. Daran ist festzuhalten, a uch wenn man bemerkt, daDescartes vorn Ich-denke-Bewutsein ausgeht und auf der Sicherheit desSatzes von der Identitt des Ich-denke mit dem Ich-bin die Wissenschaftaufbaut. Ich bin in dieser Situation Sprachrohr und Wortfhrer einesjeden Denkens, d. h. eines allgerneinen Ich; dieses mu bei Handhabungder vorgeschlagenen Methode die Erkenntnisse gewinnen, die demmenschlichen Denken zugnglich sind.

    Aus diesem Grunde betont Descartes, er habe sich nie eingebildet,ber einen Verstand zu verfgen, der ber das Niveau des gewhnlichen Schlages hinausragt. Im brigen sei das Vermgen richtig zuurteilen und das Wahre vorn Falschen zu unterscheiden, dieser eigentlich sogenannte gesunde Verstand oder die Vernunft, von Natur in allenMenschen gleich , und die Verschiedenheit unserer Meinungen beruh enicht darin, da die einen mehr Vernunft haben als die andern, sondernlediglich darin, da unsere Gedanken verschiedene Wege gehen und wirnicht alle dieselben Dinge betrachte n 1'

    Zwar betont Descartes, da er seine Methode nicht ex cathedra verbindlich machen will: aber. er entwickelt sie aus den Voraussetzungeneiner allgerneinen Vernunft und versucht sie fr jeden so zwingend zumachen, da er auf Grund eigener Oberzeugung durch den Weg desZweifels hindurch zur Gewiheit zu finden vermag. Descartes geht ausvorn Menschen von gesundem Verstande , also von einem Durchschnittsverstande. Er uert die Absicht, das bisher Gelernte und Geglaubte durch das Filter des Zweifels zu lutern und entweder Neuesandie Stelle des Alten zu setzen oder das Alte wieder einzusetzen, wenn es

    gerechtfertigt worden ist. Dieses kann nur vorn Ich denke selbst geleistet werden: Meine Absicht hat sich nie weiter erstreckt, als auf denVersuch, meine eigenen Gedanken zu reformieren und auf einemGrunde aufzubauen, der ganz in mir l iegt . 16

    Wenn im Blick auf das Experimentalverfahren Nietzsches daraufinsistiert wird, da es sich dabei um eine Methode handle, so wirdzwar einerseits an einen Zusammenhang mit dem methodischen DenkenDescartes gedacht, andererseits aber zugleich auch der grundlegendeUnterschied in der Auffassung des Stellenwertes und der Leistung derMethode nicht bersehen. Die Gerneinsamkeit besteht darin, da auch

    15 Abhandlung ber die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, aus: Rene Descartes' Hauptschriften zur Grundlegungseiner Philosophie, bers. von Kuno Fischer, Neudruck Heidelberg 1930, S 3.

    16

    ibidemS 15

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    140 Experimentelle Methode

    Zweifel Rechnung trgt. Der Glaube an die Vernunft war die letzte Fessel fr solche Denker, die auf dem Wege der Befreiung am weitestenvorangeschritten waren. Auch er mu selbst unter die Kritik genommenund dem Zweifel ausgesetzt werden.

    n diesen Gedankengngen zeigt sich ein bisher kaum beachteter Weg

    des Denkens von Nietzsche zur Umwertung der Werte. Er fhrt berdie Radikalisierung des Cartesischen Zweifels und eine dabei vollzogeneUmwendung von der Orientierung an Vernunft und Bewutsein zueiner Einsetzung von Leib, Leben, Affektwelt in die Stelle der magebenden und tonangebenden Realitten. Die Umwertung der Werte istauf diese Weise als Radikalisierung der Freiheit und des Zweifels in einerCopernicanischen Wendung zu verstehen. Dieser Wendung entsprichtein Wandel in der Einschtzung des Gltigkeitscharakters philosophischer Grundaussagen und Weltperspektiven. Sie werden nicht alstheoretisch objektive, wahre Aussagen gewertet, vielmehr wird ihrCharakter der Angemessenheit und Eignung fr Sinnmotivation als

    berzeugungsbildend, einen Glauben rechtfertigend und in diesemSinne Wahrheit prsentierend erachtet. Da aber philosophische Aussagen ber die Welt auch dann eine objektive Intention haben, wenn sienur auf Grund ihrer Bedeutsamkeit fr Sinnmotivation in Fragekommen, macht Nietzsche von einer seiner Copernicanischen Wendun gentsprechenden Hermeneutik Gebrauch: seinen Deutungsregeln gemsind Wrter wie Wahrheit, Irrtum, Schein, Gewiheit von dem beidieser Wendung erreichten Stand der Sinnmotivation aus, der zugleichauch derjenige der Umwertung der Werte ist, zu deuten.

    Noch ist darauf einzugehen, da das Prinzip Methode durch dieVerwandlung, die Nietzsche als Radikalisierung des Cartesischen Zwei

    fels begreift und die zum Gedanken des Experimentierverfahrens fhrt,zugleich eine Vernderung der Stellung bedeutet, die der sie Hand-habende ihr gegenber einnimmt. Bei Descartes spielt sie die Rolle einesmitteilbaren und lehrbaren Verfahrens, dessen sich der Erkennendezwecks Sicherheit, Allgemeingltigkeit und Notwendigkeit der Er-kenntnis-ergebnisse zu bedienen hat. Der Erkennende, das ist jeder,der sich zu dieser Methode passende Erkenntnisziele setzt. Die Methodegibt ihm die Schritte und ihre Reihenfolge an, die das die Sache begrifflich auszuarbeitende Denken zu gehen hat. Das Individuum selbst tritthier hinter der objektiven Logik der allgemeinen wissenschaftlichenVernunft zurck und stellt sich als solches auerhalb der Bewegung, die

    sein auf die Sache gerichtetes und diese begrifflich aufarbeitendes

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    Nietzsches Version der Copernicanischen Wendung 139

    Denkart einen Satz auf seine Wah rhe it im Sinne objektiver Gltigkeithin beurteilt, wird er nach der Umkehrung darauf hin betrachtet, welcheRolle er bei der Sinnmotivation fr das Subjekt zu spielen vermag: einquasi objektiver Bezug, der ihm immer eignet, wird von da aus gesehenls blo sche in-bar deklariert werden mssen. Der bei der Umkehr

    gewonnene Stand macht von einem Denken und einer Sprache Gebrauch, deren Urteile und Stze auf eine objektive Beschaffenheit einerWelt hinzuweisen scheinen. Dieser objektive Schein ist, wenn er lssolcher durchschaut ist, fr das Leben insofern unentbehrlich, ls er esdiesem ermglicht, sich in einer quasi objektiven Welt einzurichtenund n ihr auszurichten. Stze ber diese Welt, die jeweils zu meinemWillenscharakter passen mu, sind scheinbar objektive Aussagen undmssen den Stellenwert dieser Scheinbarkeit behaupten, um ihre Aufgabe der Sinnmotivation durch Einrichtung und Ausrichtung in einerquasi objektiven Welt erfllen zu knnen.

    Nietzsche knnte diese Umkehrung auch ls seine Copernicani

    sehe Wendung bezeichnen, sofern sich die Bedeutung der philosophischen Stze nicht mehr um die Objekte dreht, sondern dem Sinnbedrfnis des subjektiven Denkens und Wollens dient. Damit steht imZusammenhang, da jetzt zwischen Vernunft und Leben eine Umwertung erfolgt. Whrend in der traditionellen Philosophie das Bew utsein ls Wertausgangspunkt gilt und ls Mastab fr die Bewertungauch des Leiblichen, was eine Erniedrigung des Lebens und seines Bedrfnisses nach Machtsteigerung

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    138 Experimentelle Methode

    man an sie den falschen Anspruch theoretischer Gegenstandswahrheitstellt. Nietzsche macht gelegentlich von einer sprachlichenTechnikGebrauch, in welcher und durch welche er den Mastab derBe-whrung statt der Wahrheit dadurch betont, da er die ihm anheim zu stellende Weltperspektiveals eine Art von Irrtum deklariert.

    Hierfr mag folgender Satzals Beleg angefhrt werden, durch den mansich freilich nicht zu einer einseitig biologistischen Auslegung verleitenlassen mge: ,Wahrheit': das bezeichnet innerhalb meiner Denkweisenicht notw.endig einen Gegensatz zum Irrtum, sondernin den grundstzlichsten Fllen nur eine Stellung verschiedener Irrtmer zueinander: etwa da der eine lter, tieferals der andere ist, vielleicht sogarunausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer Art nichtohneleben knnte; whrend andere Irrtmer uns nicht dergestaltals Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen ,Tyrannen', beseitigt und , widerlegt' werden knnen.n

    Unsere berzeugung von der Gltigkeit philosophischer Erkenntnis

    kommt nicht dadurch zustande, weil sie sichals wahr im Sinnetheoretischer Wahrheit erwiesen hat, sondern sie wirdals wahr imSinne der Bewhrung fr das Konzept der Sinnmotivation akzeptiert,weil sie sich in einer geschichtlichen Gegenwart fr einen bestimmtenWillenscharakterals einer geeigneten Weltperspektive zugehrig erwiesen hat. Dieser Erweis geschieht auf dem Wegedes gedanklichen Experimentes.

    Fr ein Denken, welches die berzeugung von philosophischer Gltigkeit nicht auf theoretische Wahrhe it , sondern auf BewhrungimProgramm der Sinn-motivation grndet, besteht Veranlassung, nichtimSinn des Entweder/Oder strikt zwischen wahr und falsch zu unterschei

    den, sondern von Graden der Geltung des Seins und auch desScheins zu reden. Auch in Betreff der ,unmittelbaren Gewiheit' sindwir nicht mehr so leicht zu befriedigen: wir finden ,Realitt' und,Schein' noch nicht im Gegensatz, wir wrden vielmehr vonGradendes Seins- und. vielleicht noch lieber vonGraden des Scheins- redenund jene ,unmittelbare Gewiheit' (z.B. darber, da wir denken undda folglich Denken Realitt habe) immer noch mit dem Zweifel durchsuern, welchen Grad dieses Sein hat. . . 14 Nietzsche spricht von einer

    Umkehrung in der Auslegung von Stzen: whrend die theoretische

    13 W.z.M. Aph., 535 (XVI, S. 46 .14

    XIII, S. 52.

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    i

    136 Experimentelle Methode

    der Wendung zum radikalen Zweifel im Banne des traditionellenWahrheitsanspruches denkende und handelnde Intellekt tauft "seinfreiestes und strkstes Vermgen und Knnen", das des bersichtlich-und-Durchsichtigmachens der Dinge mit dem Namen fr das Hchste,das er kennt: er benennt es als , wahr". Aber der Stand des noch radika

    leren Zweifels spricht eine andere Sprache: er hat den Sprachgebrauch,der mit dem Worte wahr umgeht, entlarvt und wird jetzt im Sinneseiner "Wahrheit" von der Eignung, Angemessenheit und Brauchbarkeit einer Weltperspektive fr Sinnmotivation sprechen. Der Kritikerder Wahrheitsideologie des rationalistischen Denkens wird im Zugeeiner Sinn-erklrung sagen, da die hchsten Grade in der Leistung"einer Weltperspektive den Glauben an deren "Wahrheit" erwecken 8

    In der spter (1886) geschriebenen Vorrede zur "Morgenrte"charakterisiert Nietzsche seine seinerzeitige Absicht, auch noch diemoralischen Voraussetzungen, unter denen die neuzeitliche Erkenntniskritik seit Descartes gedacht hat, einer Kritik zu unterwerfen und sie zu

    hinterfragen in der Weise, da man in diesem Buche einen Unterirdischen" an der Arbeit" finde, "ei nen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden". 9 Jetzt, in der spten Phase seines Denkens, ist er von dieserfrhen Arbeit des Grabens unter der Erde an die Oberflche zurckgekommen. "Damals unternahm ich etwas, das nicht jedermanns Sachesein drfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich beganneine altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wirPhilosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grundezu bauen pflegten,- immer wieder, obwohl jedes Gebude bisher einstrzte: ich begann unser Vertrauen zur Mora zu untergraben "

    Wenn man die Frage stellt, was Nietzsche hier und auch anderwrts

    unter Moral versteht, so ergibt sich aus dem Text seiner Vorrede eineAntwort, in welcher er den Bedeutungshorizont dieses Begriffes berden Bereich des "Moralischen" im engeren Sinne einer Werteordnungdes Verhaltens und Handeins hinaus so ausweitet, da auch die Wertungen noch ein :,eholt werden, die Erkennen und Erkenntnistheorie bestimmen. Gemeint ist diejenige normative Basis, die durch Namen wievernnftige "Gewiheit", "Wahrheit" bezeichnet wird. Nietzsche beruft sich hier ausdrcklich auf Kant, wenn er die Verbindlichkeit des

    Wissenschaftsstandard, der fr den Pragmatisten magebend ist, selbst wieder zum Gegenstand des radikalen Zweifels macht.

    8 ibidem.9 M. (III, S. 3 .

    .II.

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    Nietzsches Version der Copernicanischen Wendung 137

    Erkennenden gegenber dem Anspruch der"Wahrheit" unter einemoralische Perspektive stellt. Weil Kant als Pessimist vonGrund aufGeschichteund Natur als unvernnftig angesehen habe, deshalb habe eres "nt ig gehabt" , sie in seiner Erkenntnistheorieund Metaphysikauf die Sprache der Vernunft, d.i der Moral zu bringen. Zu dieser Erkenntnis sei er, so sagt Nietzsche, durch die"Tapferkeit" seines Argwohns und seines Untergrabens gekommen:"das Vertrauen auf dieVernunft, mit dem die Gltigkeit dieser Urteile stehtund fllt, ist, alsVertrauen, ein moral i s c hes Phnomen . . . 10 Die gedankliche Situation, die Nietzscheals diejenige seiner damaligen Arbeit desUntergrabens kennzeichnet,wird von ihm demnach selbst als Ergebn i s derGeschichte des pessimistischenDenkens deklariert, in der Kant eineSchlsselrolle spielt. Nietzsche legt sich seine eigene Situation inderWeise zurecht, da er die Gedankenlinie des Pessimismus biszur Radikalitt der K ritikund damit bis zum Umschlag in ein Mitrauen gegenber der Vernunft fortfhrt. Er gibt seinem Bewutsein Ausdruck,selbst den letzten Schritt nochzu tun, der fr den deutschen Pessimismusnoch brigbleibt1 Sein Buch stellt"in der Tat einen Widerspruchdarund frchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekndigt- warum doch?Aus Moral i t t Oder wie sollen wir's heien,was sich ini hm- in u n s begibt? Die ,,Moral", die in Kants Vernunftkritik bestimmend war, findet auch imDenken Nietzsches lebendigeGestalt: "hier, wenn irgendworin, sind auch wir nochMenschen desGewissens: da wir nmlich nicht wieder zurckwollen in Das, wasuns als berlebt und morsch gilt, in irgend etwas , Unglaubwrdiges',heie es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nchstenliebe;da wir uns keine Lgenbrckenzu alten Idealen gestatten. . . 2

    Was in der traditionellen Philosophie"Wahrheit" genannt wird, istim e igen t l i chen Sinne genommen Eignungund Notwendigkeit einerWeltperspektive fr Sinnmotivation. Als"wahr" im Sinne Nietzschesdarf dann diejenige Weltperspektive bezeichnet werden, welche sich beider Erfllung der Aufgabe der Sinnmotivation besser be-whrt alseine andere. N ietzschenennt den bergang, den er ber den ihmnochungengend dn kenden Cartesischen Zweifel hinaus vollzogen hat, gelegentlich"zweite Aufklrung . Im Denken und Sprechen dieser"Aufklrung erfat, ist jede Weltperspektive als solche ein"Irrtum", wenn

    10 ibidem S 8ibidem S 8

    12 ibidem S 8/9.

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    der Wendung zum radikalen Zweifel im Banne des traditionellenWahrheitsanspruches denkende und handelnde Intellekt tauft "seinfreiestes und strkstes Vermgen und Knnen'', das des Obersichtlich-und-Durchsichtigmachens der Dinge mit dem Namen fr das Hchste,das er kennt: er benennt es als wahr . Aber der Stand des noch radikaleren Zweifels spricht eine andere Sprache: er hat den Sprachgebrauch,der mit dem Worte wahr umgeht, entlarvt und wird jetzt im Sinneseiner "Wahrheit" von der Eignung, Angemessenheit und Brauchbarkeit einer Weltperspektive fr Sinnmotivation sprechen. Der Kritikerder Wahrheitsideologie des rationalistischen Denkens wird im Zugeeiner Sinn-erklrung sagen, da die hchsten Grade in der Leistung"einer Weltperspektive den Glauben an deren "Wahrheit" erwecken".

    In der spter (1886) geschriebenen Vorrede zur "Morgenrte"charakterisiert Nietzsche seine seinerzeitige Absicht, auch noch diemoralischen Voraussetzungen, unter denen die neuzeitliche Erkenntniskritik seit Descartes gedacht hat, einer Kritik zu unterwerfen und sie zuhinterfragen in der Weise, da man in diesem Buche einen Unterirdischen" an der Arbeit" finde, "einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden". 9 Jetz t, in der spten Phase seines Denkens, ist er von dieserfrhen Arbeit des Grabens unter der Erde an die Oberflche zurckgekommen. "Damals unternahm ich etwas, das nicht jedermanns Sachesein drfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich beganneine altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wirPhilosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grundezu bauen pflegten, - immer wieder, obwohl jedes Gebude bisher einstrzte: ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben "

    Wenn man die Frage stellt, was Nietzsche hier und auch anderwrts

    unterMoral

    versteht, so ergibt sich aus dem Text seiner Vorrede eineAntwort, in welcher er den Bedeutungshorizont dieses Begriffes berden Bereich des "Moralischen" im engeren Sinne einer Werteordnungdes Verhaltens und Handeins hinaus so ausweitet, da auch die Wertungen noch einbeholt werden, die Erkennen und Erkenntnistheorie bestimmen. Gemeint ist diejenige normative Basis, die durch Namen wievernnftige "Gewiheit", "Wahrheit" bezeichnet wird. Nietzsche beruft sich hier ausdrcklich auf Kant, wenn er die Verbindlichkeit des

    Wissenschaftsstandard, der fr den Pragmatisten magebend ist, selbst wieder zum Gegenstand des radikalen Zweifels macht.

    8 ibidem.9

    M. (III, S. 3 .

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    Nietzsches Version der Copernicanischen Wendung 135

    gegenber der Vernunft? Warum soll die wahre Welt die gute sein?Warum soll man nicht eine Welt des Scheins,des Wechsels, des Widerspruchs, des Kampfes verlangen? Einemit Kraft berladene undspielende Art Wesen wrde gerade dieAffekte, die Unvernunft undden Wechsel in eudmonistischemSinnegutheien, samt ihren Konsequenzen Gefahr, Kontrast, Zu-Grunde-gehen u.s. w.. 5 Dieses:

    Warum ist Stichwort fr die Um-stellungin der Einschtzung derRolle der philosophischen Grundaussagen und fr die Wahl der Weltperspektive. Jetzt wird den Grundaussagen, in denen diese Perspektivezum Ausdruck kommt, die Rolle bertragen, eine magebende Funktionfr die Sinngebung zu bernehmen, deren ein Willen zurMacht in seinergeschichtlichen Epocheals Existenzbedingung bedarf.

    Ein bestimmt gearteter Wille zur Macht bedarf einer ihm angemessenen Weltperspektive. Ihr eignet nach Nietzsches kritischer Analyse derGrund-stze des Descartes nicht Wahrheit , sondernsie mu sich alssinnotwendig erweisen und damit dem Kriterium der Bedeutsamkeit frdas Leb en gengen. Zu Descartes' Zeiten war die von ihm vertretenemechanistische Welthypothese dem Kriterium der Bedeutsamkeit angemessen, da der damalige magebende Wille auf logische Bestimmtheit,Durchsichtigkeitals Kriterium der Wahrheit ausging. Die entlarvendeAnalyse Nietzsches ergibt, da die mechanistische Welthypothesedeshalb als wahr angesprochen wurde, weil sie dem Denk- und Weltcharakter seiner Zeitam meisten das Gefhl von Macht und Sicherheit gab und deren Sinnbedrfnis optimal erfllte. Darauf ist auch dieberzeugungskraft dieser Hypothese zurckzufhren . Das der mechanistischen Weltinterpretation nachgesagte Prdikat: Wahrheit wirdvon der kritischen Analyse Nietzsches in seiner eigentlichen

    Bedeutung als bevorzugt, geschtzt -sein diagnostiziert'. Der von5 W z M. Aph. 576,578 (XVI, S 72/73).6 vgl. W z. M. Aph.436 (XV, S 466): Auch Descartes hatte einen Begriff davon, da

    in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welchean einen guten Gott alsSchpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsere Sinnesurteileverb rg t Da das Denken gar ein Ma des Wirklichen sei, da,was nicht gedachtwerden kann,nichtist, - is t ein plumpes non plus ultra einer moralistischen Vertrauensseligkeit (auf ein essentielles Wahrheits-Prinzipm Grunde der Dinge) Auch inW. z. M Aph. 471 meldet Nietzsche sein radikales Zweifelsprinzip gegen die Treuherzigkeit und Biedermanns-Voraussetzung, die Nachwirkungdes Glaubensan die gttlicheWahrhaftigkeit an, welchedie moralische Form annehme, da die menschliche Vernunftim Grunde Recht behalte undGott als Schpfer der Dinge gedachtsei (XVI, S 5).

    W z. M Aph. 533 (XVI, S 45). Es mag hier betont werden, da der Standpunkt

    Nietzsches deshalb nichtals pragmatist isch bezeichnet werden darf, weil er gerade den

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    134 Experimentelle Methode

    sophischen Wissens eine andere Situation,als sie in der Tradition seitAristoteles gegeben war. Nach dem aristotelischen Wissenschaftsidealging man von ersten prinzipiellen Stzen aus, um darauf ein theore-tisches System aufzubauen. ei Descartes nahm dieses Modell wissen-schaftlichen Verfahrens die Form an, da er von der in der Rolle desabsolut sicheren Satzes auftretenden Aussage ber die Identitt von egosum und ego cogito ausging, um von da aus auf dem Wege ber Gott zurAuenwelt fortzuschreiten.

    Radikalisiert manim Sinne Nietzsches den Cartesischen Zweifel, sobleibt der von der Vernunft angebotene Mastab der notwendigenGltigkeit der ersten Stze vom Zweifel nicht verschont, ebenso wie derAnspruch auf ihre Wahrhei t . Jetzt ist der Mastab aller Mastbe frGltigkeit, Annehmbarkeit und Glaubhaftigkeit von Stzen ein anderergeworden: er besteht in dem Sinnbedrfnis des Willens einer histo-rischen Gegenwart nach dem richtigen Weltentwurf. Als Methodeder Auffindung dieses Entwurfes wird diedes Ex p er m e n t es desphilosophischen Denkens mit sich selbst gewhlt. Als rich tig erweistsich der Weltentwurf gem seiner Fhigkeit, dem Willen einer be-stimmten historischen Gegenwart die Weltperspektive zur Verfgung zustellen, die diesem die ihm notwendige Sinnmotivation fr die Verwirk-lichung seiner Zwecke zu bieten vermag.

    Die experimentalphilosophische Wendungin der Auffassung derRolle der philosophischen Grundstze ber die Interpretation der Weltfordert den bergang von der Methode der Begrndung einer Philo-sophie durch erste wahre Stze zu derjenigen experimenteller Prfungund Rechtfertigung philosophischer Grundannahmen. DieseWen-dung motiviert Nietzsche in einer Auseinandersetzung mit Descartesund in einer Radikalisierung des Cartesischen Zweifels, durch welchedem denkenden Subjekt das Recht versagt wird, einen ArchimedischenPunkt in der Welt der Wahrheit zu suchen. Der Cartesische Anspruchauf Wahrheit und wissenschaftliche Sicherheit wird entlarvt: Descartesmoralisiere das Dasein, ohne sich darber Rechenschaft zu geben.

    Die von ihm begrndete Erkenntnistheorie sei abhngig von einervorherigen Entscheidung ber den moralischen Charakterdes Daseins.Der moralische Grundzug dieser Weltinterpretation zeige sich darin,da die wahre Welt die gute sein solle: da die Scheinbarkeit, derWechsel, der Widerspruch, der Kampf unmoralisch seien. Auf solcheMoralisierungen von Erkenntnis und Welt ist der Cartesische Zweifel

    noch einmal anzuwenden und zu fragen: Warum nicht Mitrauen

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    Nietzsches Version der Copernicanischen Wendung 33

    radikal genug, um das Denken wahrhaft freimachen zu knnen 2 Des-cartes ist mir nicht radikal genug. Bei seinem Verlangen, Sicheres zuhaben und ,ich will nicht betrogen werden' tut es not zu fragen, ,warumnicht?' Kurz, moralische Vorurteile (oder Ntzlichkeits-Grnde) zuGunstender Gewiheit gegen Schein und Ungewiheit. 0 Descartes legtden Mastab der Klarheit und Deutlichkeit zugrunde; an ihm fhrt ereine Prfung der Stze auf ihre Wissenschaftlichkeit und Wahrheitdurch. Sein Glaube an die mastbliche Rolle rationaler Sicherheitund Gewiheit ist so fest, da er vom Zweifel nicht erreicht wird. Es istder Glaube der neuzeitlich-wissenschaftlichen Vernunft an sich selbst,auf deren Boden sie ihrem Einsatz fr die Arbeit an der Verwirklichungder theoretischen und praktischen Zwecke Sinn zu geben vermag.Nietzsche entlarvt als eigentlichenW ortfhrerdes Wahrheitsanspruchesden Willen zur Macht und sieht den Grundsatz Descartes' nicht alsAusdruck des Wahrheitswillens, sondern des Willens zur Macht an. WirHeutigen stehe n anders zur ,Gewihei t' . Das Glck der groen Ent

    deckerim

    Streben nach Gewiheitknnte

    sich jetzt indas

    Glck verwandeln, berall die Ungewiheit und das Wagnis nachzuweisen. 4

    Wir Heutigen sind die im Zeitalter des Positivismus Lebenden.Damit ist auch schon das Programm des philosophischen Experimen

    tierens berhrt: sofern philosophischen Aussagen nicht die Rolle angewiesen wird, die Wahrheit auszusprechen und mit Sicherheit behauptet zu werden, besteht auch fr die Wissenschaftslehre des philo-

    2 vgl. ibidem und XV, S 5: ,Es mu besser gezweifelt werden als Descartes ' Wir finden das Umgekehrte, die Gegenbewegung gegen die absolute Autoritt der Gttin ,Vernunft' berall, wo es tiefere Menschen gibt. Fanatische Logiker brachten es zu Wege, dadie Welt eine Tuschung ist; und da nur im Denken der Weg zum ,Sein', zum ,Unbedingten' gegeben sei. Vgl. auch ibidem S 7, wo erklrt wird, da fr den, welcher auf allediese Fragen schon fertig e GI a u b e n s st z e (gesp. v Verf.) mitbringt, die cartesischeVorsicht keinen Sinn mehr habe, weil sie zu spt komme. Descartes redet ber das Sein,aber ohne vorher die Legitimation des Gewiheitsanspruches des vernnftigen Bewutseins zu prfen. Vorhe r mte die Frage vom Wert der Logik entschieden sein. Sei nheit fr Descartes: von der Vernunft erkannt und konstruiert sein. Nach Lwiths Aussage glaubt Descartes an das wissenschaftliche Wissen, er sehe aber nicht, wie Nietzsche,das unverhllte, wahre Gesicht der hchsten Art des lebendigen Seins . (Lwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin 1935, S 124). DieseSprache, die fr die Charakterisierung der Denkweise eines Propheten passen wrde, istdem Denkstil Nietzsches nicht adquat. Nietzsche beansprucht nicht mit Pathos einehchste Art von Wahrheit , sondern behauptet Freiheit und Souvernitt gegenberGlaubensinhalten, ber die er Herr sein will, statt von ihnen beherrscht zu werden.

    3 XIII, S.56.1

    XIII, S 56

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    132 Experimentelle Meth ode

    fr seinen jasagenden Willen hat, wird demgem nichtals Zwang erfahren, sondern bewut mit methodischer Einsicht in die Bedeutsamkeitdieser Perspektive vollzogen. Die Methodedes Experimentierens sollden Weg zur Auffindung der sinnotwendigen Weltperspektive zeigen.Nur derjenige Entwicklungsstand des sich befreienden, auf Gewinn vonMacht im Sinne der ber-legenheit ausgehenden Denkens ist dieserMethode gewachsen, der sich von allen Glaubensverbindlichkeiten losgesagt hat, zu denen sogar auch diejenige gegenber der "Vernunft" undihrem Gewiheitsanspruch gehrt.

    Der Denkcharakter souverner Leichtigkeit und freier Verfgungber Weltperspektiven ist einmethodisches lmplikat fr den jasagenden Willen, der den Gedanken der ewigen Wiederkehr auf seine Sinn-bedeutsamkeit prft. Nach Karl Lwith hat Nietzsche auf dem Gipfelder Moderne diese Vorsokratische Lehre wiederholt. Hier ist nachder Bedeutung von modern zu fragen. Grundzug des modernen europischen Menschen ist derjenige der Freiheit. Nietzsche weist sich selbstin der Geschichte des "freien, immer freier werdenden Geistes" einenfortgeschrittenen Standort an1 Diese Freiheit tritt ihm vor allem in derDevise des methodischen Zweifels des Descartes entgegen. Dessen Prinzip ist es, nichts anzuerkennen oder zu bernehmen, nichts zu"glauben" als das, dessen ich selbst gewi geworden bin.Nur solcheStze verdienenes z. B., als wahr anerkannt zu werden,an denen ichdenselben Grad von Klarheit und Deutlichkeit festzustellen vermag, wieer dem allergewissesten Satz von der Identittdes ego cogito mit demego sum eignet. Dieim Programmdes Zweifels zur Geltung gebrachteFreiheit besteht in der dem Selbstdenken verpflichteten Weigerung, sichnicht zum Gefangenen unkoutrollierter Vorurteile, eines tradiertenGlaubens zu machen: der Zweifelnde besteht darauf, auf dem Wegekritischer Prfung und selbstndig vollzogener Rechtfertigung zumStand der berzeugung zu gelangen. Als Mastab der Kritik gilt Descartes die wissenschaftliche Gewiheit, d. h. die klare und deutliche Bedeutung der Wrter, Begriffe und Stze.

    Descartes hat dem Denken Rckenfreiheit dadurch verschafft, da eres aus den Fesseln unkoutrollierter Glaubensansprche befreit hat. Aberin den Augen Nietzsches war der cartesische Zweifel immer noch nicht

    1. Wie gut nimmt sich Leibnizund Ablard, Montaigne, Descartesund Pascal aus Die

    geschmeidige Verwegenheitsolcher Geister zuse hen ist ein Genu. . . (XIII, S 310/311).

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    III. Kapitel

    SELBSTBEGRNDUNG DER PHILOSOPHIE DURCHEXPERIMENTELLE METHODE:

    DAS PROBLEM DER METHODE BERHAUPT

    1 Radikalisierung des Cartesischen Zweifels undNietzsches Version der Coperni< anischen Wendung:Die Umkehrung in der b h n g i ~ e i tvon Wahrheit undBedeutsamkeit.

    Als Pole, in deren Spannungsfeld Nietzsche denkt, wurden bisher vorallem diejenigen vonNatur und Freiheit sowie von Konzentration undAusweitung in den Blick genommen. Jetzt soll eine weitere PolarittzurSprache kommen: der Wortfhrer einer Weltperspektive trgt einerseitsdie Zgedes Ernstes und der Sorge fr die Zukunft, andererseits zeigt erden Zug der Heiterkeit und Gelassenheit, sofern er sichls Herr jedesGlaubensinhaltes versteht und ber Weltperspektiven souvern zu verfgen vermag. Auf der einen Seite steht der Geist der Schwere,whrend auf der andern tnzerische Leichtigkeit die Devise ist. Derschwere Ernst eignet demjenigen, der in der brgerlichen GesellschaftVerantwortung bernommen und Pflichten zu erfllen hat, whrend. indessen Heiterkeit und Leichtigkeit Zgedes Philosophen unddes Knstlers sind. Einerseits wei sich Nietzsche der Verantwortung bei derberwindung des Nihilismus verpflichtet, andererseits versteht er sichls freier Geist , dem zugleich die Leichtigkeitdes Hinwegtanzens

    ber beengende Grenzen eigentmlich ist. Er stellt sichin die Nhe derfranzsischen Aufklrer, zu denen er Descartes zhlt, deren ironisch-rationale, helle und klare Sprache souverne Distanz gegenber demGeist der Schwere anzeigt. Er bekennt sich zur frhlichen Wissenschaftund entflieht dem dsteren Ernst des Fanatikers, des Propheten oderDogmatikers.

    Von Nietzsche us gesehen sind diein der bisherigen Geschichte derPhilosophie vollzogenen Akte der Wahlje einer Weltperspektive ohnemethodische Bewutheit erfolgt.Er nimmt fr sich einen Reflexionsstand der Freiheit der Verfgung ber Perspektivenin Anspruch. DieSinn-notwendigkeit, die eine Weltperspektive ls Lebensbedingung