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StudienabschlussarbeitenFakultät für Geschichts- und
Kunstwissenschaften
Stephan Dahme:
"Den eigenen Garten bebauen..." - Paul KleesIllustrationen zu Voltaires "Candide" als Durchbruch inder Entwicklung seines zeichnerischen Frühwerks
Magisterarbeit, 2006
Gutachter: Christian LenzHubertus Kohle
Fakultät für Geschichts- und KunstwissenschaftenDepartment Kunstwissenschaften
Ludwig-Maximilians-Universität München
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:19-epub-11660-4
„Den eigenen Garten bebauen…“ –
Paul Klees Illustrationen zu Voltaires „Candide“
als Durchbruch in der Entwicklung seines
zeichnerischen Frühwerks
Textteil
Schriftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades
des Magister Artium (M.A.) der philosophischen Fakultät für Geschichts- und
Kunstwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Vorgelegt von Stephan Dahme
München, April 2006
Erstgutachter: Prof. Dr. Christian Lenz
Zweitgutachter: Prof. Dr. Hubertus Kohle
2
Inhaltsverzeichnis
Einführung 4
1. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung 7
2. Künstlerische und terminologische Voraussetzungen 10
2.1. Zu Klees künstlerischer Entwicklung vor den Illustrationen 10
2.2. Illustration: Versuch auf dem „praktischeren Gebiet“ 15
3. Genese: von Voltaires Candide zu Klees „Candideln“ 20
3.1. Voltaires „Candide ou l’Optimisme“ 20
3.1.1. Hintergrund und Inhalt des Romans 20
3.1.2. Sprachliche und stilistische Besonderheiten 24
3.1.3. Kurze Rezeptions- und Illustrationsgeschichte 28
3.2. Klees Auseinandersetzung mit dem Text 30
3.2.1. Die Geschichte des Illustrationsplanes 30
3.2.2. Die Arbeit am Text: Klees Voltaire-Ausgabe von 1897 34
3.2.3. Motivische und inhaltliche Entscheidungen 38
3.3. Zu Technik und Material der Illustrationen 43
4. Marionettenkunst bei Klee –
Zum Stil der Candide-Illustrationen 47
4.1. Stilistische Konstanten im Illustrationszyklus 47
4.1.1. Zur Autonomie des Strichs 47
4.1.2. Die Reduktion der Figur zur Gebärde 56
4.1.3. Zur Entwicklung des Raumes 65
4.2. Zur heterogenen Erscheinung des Zyklus 72
4.3. Zur stilistischen Entsprechung zwischen Klee und Voltaire 80
4.4. Der Zeichner als Linkshänder – ein Phänomen von Einfluss? 86
3
5. Zur Bedeutung der Illustrationen im Frühwerk
des Künstlers: Die „Ausarbeitung des Persönlichen“ 92
5.1. Die wiedergefundene Kontur 92
5.2. Balance zwischen Inhalt und Form 94
5.3. Die Bedeutung der Intuition 98
Resümee 101
Bibliografie 105
4
Einführung
Die Abbildung auf dem Titelblatt der Arbeit zeigt die Illustration Paul Klees zum 17. Kapitel
von Voltaires Candide ou l’Optimisme (siehe auch Abb. 18). Klee hat sie mit folgendem Zitat
aus dem behandelten Textabschnitt versehen: „les deux voyageurs eurent la hardiesse, de
s’abandonner aux flots sous cette voûte“1. Die Zeichnung zeigt die Hauptfigur des Romans,
Candide, und seinen Begleiter Cacambo auf einem Boot inmitten jenes Flusses, dessen
abwechslungsreicher Lauf zwischen fruchtbaren Ufern und hoch aufragenden Felsen sie in das
märchenhafte Land Eldorado führen sollte. Die fast bildparallele Schilderung der Handlung
kommt mit einfachsten Mitteln aus, zeigt aber eine äußerst sensible Charakterisierung der
beiden Reisenden. Der vorn im Bug des Bootes befindliche Candide windet sich wie eine zarte
Pflanze hinauf zu den hohen Felsen des nahen Gewölbes, während Cacambo im hinteren Teil
des Bootes mit seiner linken Hand leicht zurückgelehnt auf der Bootswand aufgestützt ist und
mit der Rechten voll Ruhe und Übersicht das Steuer führt. Kaum lebendiger und anschaulicher
als die Lettern selbst, die den Vorgang beschreiben, scheinen die beiden merkwürdigen, nicht
ohne stillen Witz gegebenen Gestalten vor dem Auge des Betrachters vorüber zu fahren. Die
starke Reduktion aller räumlichen Angaben führt dabei unweigerlich zum Eindruck des
Bühnenhaften, das jeder wirklichen Materialität entbehrt. So ist selbst das Boot transparent auf
die in ihm sitzenden Figuren und beansprucht, obwohl es doch die beiden zu tragen vorgibt,
keinen eigentlichen Raum.
„In einem solchen Blatt“, so schrieb Lothar Lang, sei bereits „der ganze spätere Klee
enthalten“.2 Hier zeige sich – „oft ironisch gefärbt“ – jene „zauberhafte Poesie“, die nach Lang
„fortwährendes Kriterium Kleescher Arbeiten“ sei. Eine ganz ähnliche Aussage findet sich
bereits bei Klees engem Freund und Künstlerkollegen Wassily Kandinsky, der Jahre später über
seine erste Begegnung Ende 1911 mit dem zu jener Zeit an den Illustrationen zum Candide
arbeitenden Klee schrieb:
Mein Nachbar in Schwabing war Paul Klee. Er war damals noch sehr „klein“. Ich kann aber mit berechtigtem Stolz behaupten, dass ich in seinen damaligen ganz kleinen Handzeichnungen (er malte noch nicht) den späteren großen Klee gewittert habe.3
Bald nach Vollendung der Illustrationen bemühten sich Franz Marc, Klees Schweizer Kollege
Hans Arp sowie der Münchner Schriftsteller und Kunstmäzen Alfred Mayer intensiv um eine
Veröffentlichung der Candide-Illustrationen. Besonders Marc drängte und ermutigte Klee nicht
nur immer wieder dazu, sondern sprach selbst schon Ende Juni 1912 in dieser Sache beim
1 Vgl. auch: Voltaire, Candide ou l’Optimisme, Stuttgart 2004, 71. 2 Lang, Lothar, Expressionismus und Buchkunst in Deutschland 1907-1927, Leipzig 1993, 51. 3 Kandinsky, Wassily, Der Blaue Reiter (Rückblick), in: Kandinsky, Wassily, Essays über Kunst und Künstler, hrsg. v. Max Bill, Bern 1963, 133.
5
Münchner Verlag Georg Müller vor, der zwar auf die kürzliche Herausgabe des Faksimile des
1782 erschienenen Klassikers mit Kupferstichen von Daniel Chodowiecki und der Übersetzung
von Wilhelm Christhelf Sigismund Mylius verwies,4 sich aber offenbar eine Ausgabe in
französischer Originalsprache mit den Illustrationen Klees vorstellen konnte. Etwas später
berichtete Klee in seinem Tagebuch nochmals Ähnliches von Alfred Mayer. Er habe sich für
seine „Candides“ so sehr „entflammt“, „dass er sich mit [ihnen] auf den Georg Müller Verlag“
begeben habe, wo man aber ausweichend „gelispelt“ und erneut auf die „Chodowiecki-
Kupfern“ verwiesen habe.5 Die Bemühungen der Freunde rissen jedoch nicht ab. Noch im
gleichen Tagebucheintrag vom Spätherbst 1912 ist zu lesen: „Marc erkennt den Wert der
Candideln, packt sie und bringt sie zu Piper.“6
Einem Brief Marcs, den er Ende 1912 nach seiner Ankunft in Berlin, wo er sich bis Mitte Januar
des folgenden Jahres aufhielt, schrieb, ist allerdings zu entnehmen, dass auch die Bemühungen
um eine Herausgabe bei Reinhardt Piper nicht von Erfolg gekrönt waren. Obwohl Piper als
Verleger damals zu den wichtigsten Anlaufpunkten moderner Künstler und Literaten gehörte
und neben Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst im Mai 1912 auch bereits den
Almanach des Blauen Reiter herausgegeben hatte, lehnte er die Übernahme der Illustrationen
zum Candide ab, weil er mit ihnen „fürchtet geschäftlich auf den Sand zu fahren“7. Als
Alternativen nannte Marc weitere Verlage, wie „Rowohlt in Leipzig, Delphinverlag und
[offenbar abermals an die Idee einer französischen Ausgabe erinnernd] Müller“ und bot Klee
an:
Wenn Sie keine andere Idee noch damit haben oder nicht lieber selbst mit einem von diesen verhandeln wollen, übernehme ich den Versuch, es da oder dort anzubringen, mit Freuden.8
Marcs Überzeugung blieb unmissverständlich: „Es muss herauskommen.“9 Doch sollten trotz
der vielfältigen Unterstützung seiner Kollegen – auch bedingt durch den Ausbruch des ersten
Weltkriegs – noch weitere acht Jahre vergehen, bis die Illustrationen im Juli 1920 schließlich im
Münchner Kurt Wolff Verlag erschienen.
Dies dürfte auch spezifisch verlegerische Gründe gehabt haben. Denn obwohl sich, wie zu
zeigen sein wird, einige wesentliche stilistische Merkmale durch den gesamten Zyklus ziehen,
brachte Klees intensive und über ein Jahr währende Suche nach einem adäquaten künstlerischen
4 Sander schrieb, diese Ausgabe sei bereits 1778 erschienen. Vgl. Sander, Ernst, Nachwort zu: Voltaire, Candid oder Die Beste der Welten, Stuttgart 2002, 118. 5 Klee 1988, Absatz Nr. 914 (der Eintrag muss kurz vor der Eröffnung der Futuristenausstellung in der Münchner Galerie Tannhauser Ende Oktober 1912 geschrieben worden sein). 6 Ebd. (in diesem Zitat liegt auch der Ursprung der in der Überschrift zum vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit aufgenommenen Bezeichnung „Candideln“ für die Candide-Illustrationen Klees) 7 Brief Marcs an Klee vom 11.12.1912, zit. nach: Baumeister, Kathrin, Voltaires Candide-Illustrationen von Paul Klee, Magisterarbeit an der Universität Trier, 1999, 73. 8 Ebd. 9 Ebd.
6
Ausdruck doch unterschiedliche Früchte hervor. So erscheinen die Zeichnungen mal von einer
beispiellosen Spontaneität und Improvisationskraft und mal von sorgfältiger Ausarbeitung
bildhaft anschaulicher Erzählung. Mal ist das Mittel der großzügig expressive, mal der nervöse,
fein zisellierende Strich. Mal sind die Figuren annähernd plastisch gebildet und mal verharren
sie wie körperlose Schatten auf der Fläche. Diese in Teilen auffallende Heterogenität des Zyklus
mag in den Augen der Künstlerkollegen ein besonders lebendiges Zeugnis der kompromisslosen
und ehrlichen künstlerischen Suche Klees gewesen sein, aus dem Blickwinkel der Verleger
stand sie dem Eindruck einer klaren, harmonischen Einheit des Buchganzen und der
ungehinderten Aufnahme des Textes durch den Leser entgegen.
Für den um die Herausarbeitung kardinaler Entwicklungen bemühten Kunsthistoriker aber ist
das auffallende Zögern der Verleger ebenso wie die Begeisterung der Kollegen ein beredtes
Zeugnis für den bedeutenden, sich unter gewissen stilistischen Schwankungen ereignenden
künstlerischen Durchbruch im Frühwerk Klees.10 In der vorliegenden Arbeit soll darum speziell
der Frage nach der Bedeutung der Illustrationen innerhalb des frühen Schaffens Klees
nachgegangen werden. Zunächst soll dabei um ihrer späteren stilistischen Einordnung willen der
künstlerischen Herkunft Klees in angemessener Weise Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hier
soll der Blick sowohl auf seine allgemeine zeichnerische Entwicklung, als auch auf seine
konkrete Auseinandersetzung mit der Aufgabe der Illustration gelenkt werden. Im
anschließenden ersten Hauptteil der Arbeit steht die in einigen Vorgängerarbeiten bereits
ausführlich behandelte direkte bildnerische Antwort Klees auf den Text von Voltaire im
Vordergrund, wobei deutlich werden wird, wie intensiv sich der Künstler auch mit seiner
literarischen Vorgabe auseinandergesetzt hat und wie nah er ihr auf motivischer und inhaltlicher
Ebene im Einzelnen kam.
Im zweiten Hauptteil der Arbeit soll der Fokus explizit auf den Stil der Illustrationen sowie die
Bedingungen und unterschiedlichen Anregungen, unter denen er sich formte, gerichtet werden.
Hier wird die wiederholt diskutierte Frage nach der Bedeutung der Kinderzeichnungen zu
diesem frühen Zeitpunkt im Schaffen Klees behandelt werden. Außerdem wird nach möglichen
Anregungen aus dem Bereich des Marionetten- und Schattentheaters wie nach konkreten
Einflüssen der Werke Alfred Kubins und James Ensors auf die Formfindungen in den
Illustrationen gefragt werden. Eine diesbezügliche Klärung wird in der Auseinandersetzung mit
drei wesentlichen, den Zyklus als Ganzen kennzeichnenden stilistischen Charakteristika
gesucht: die Autonomie des Strichs sowie die stark reduzierte Darstellung der Figuren und des
umgebenden Raumes. Weitere Kapitel zur Untersuchung der besonderen Stilistik der
Illustrationen widmen sich der Frage nach dem angedeuteten heterogenen Erscheinungsbild des
Zyklus, nach der stilistischen Entsprechung zwischen Klee und Voltaire sowie schließlich der
10 Auch Franciscono stellte in diesem Zusammenhang fest: „In the context of Klee’s work as a whole, the Candide drawings are transitional”, Franciscono, Marcel, Paul Klee. His Work and Thought, Chicago 1991, 134.
7
interessanten, bisher jedoch kaum beachteten Frage nach möglichen Auswirkungen der
Linkshändigkeit Klees auf den Stil dieser frühen Zeichnungen.
Das diesen Betrachtungen folgende, letzte große Kapitel nimmt die Erörterungen über die
künstlerische Herkunft Klees vom Anfang wieder auf und schließt mit dem Versuch einer
Verortung der Illustrationen im Frühwerk des Künstlers den Kreis der Fragestellungen. Hier soll
die allgemeine Bedeutung der in den Zeichnungen zum Candide sichtbar gewordenen
künstlerischen Errungenschaften vor dem Hintergrund der den Illustrationen vorausgegangenen
Entwicklung in den Blick genommen werden. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stehen
zunächst die von Klee im Verlauf der Arbeit an den Illustrationen gefundenen, dem eigenen
künstlerischen Wollen entsprechenden zeichnerischen Mittel, sodann die besondere, über die
intensive Arbeit am Text und seiner künstlerischen Umsetzung erreichte Balance zwischen
Inhalt und Form sowie schließlich die wachsende Bedeutung der Intuition als wesentliche
Quelle der eigenen Schöpferkraft. Abschließend wird in einem knappen Resümee mit den
gewonnenen Erkenntnissen der Versuch einer Würdigung der Illustrationen an der bedeutenden
Schnittstelle zwischen dem frühen, noch suchenden Klee sowie der mit und nach den
Illustrationen einsetzenden Formensprache des reifen, später bekannt gewordenen Klee
unternommen.
1. Zum Stand der gegenwärtigen Forschung
Zwar werden die Illustrationen zu Voltaires Candide ou l’Optimisme in den meisten größeren
Klee-Monografien erwähnt. Innerhalb seines Frühwerks aber stehen sie in der allgemeinen
Wahrnehmung häufig im Schatten des einige Jahre zuvor entstandenen Radierungszyklus der
Inventionen sowie der kurze Zeit später erfolgten wichtigen Tunis-Reise und der auf ihr
entstandenen bedeutenden Aquarelle. Erstmals dezidiert beschäftigte sich Isabelle Fontaine
1971 mit den Illustrationen in einem Aufsatz über die Six études inédites pour „Candide“11, in
dem erste wichtige und grundlegende Überlegungen zur Sprache kommen. Ihr folgte 1975
Christian Geelhaar mit einem Artikel über die Zeichnungen Klees als Bande Dessinée,12 der
jedoch mehr als der Versuch einer Popularisierung des bis dahin weitgehend unbeachteten
Zyklus, denn als eingehende wissenschaftliche Untersuchung desselben anzusehen ist. Ende der
1970er und Anfang der 1980er Jahre erschienen von Katsutoshi Matsuhisa zwei umfangreichere
Aufsätze über Paul Klees Candide-Erlebnis.13 Sie konnten allerdings, obgleich der Titel eine
interessante Arbeit verspricht, von den nachfolgenden Forschungen und auch in dieser Arbeit
11 Fontaine, Isabelle, Six études inédites pour „Candide“, in: Revue de l’Art, Nr. 12, 1971, 86-88. 12 Geelhaar, Christian, Bande Dessinée: Voltaire scénariste, Klee, illustrateur de Candide, in: L’Oeil, Nr. 237, April 1975, 22-27. 13 Matsuhisa, Katsutoshi: Paul Klees Candide-Erlebnis, Teil 1, in: Ehime-Daigaku-Kyoyo-Bu-Kiyo (Forschungsberichte der Universität Ehime, Japan), Nr. 12, 20.12.1979, 201-225 sowie Teil 2, in: ebd., Nr. 24, 20.12.1981, 337-359 (der hier zitierte Titel ist eine Übersetzung aus dem Japanischen).
8
wegen ihrer noch fehlenden Übersetzung aus dem Japanischen bedauerlicherweise nicht
herangezogen werden.
Betrachtet man die weitere Literaturlage, scheint der Versuch einer Heranführung an den
Illustrationszyklus durch Geelhaar vorerst keine Früchte gezeitigt zu haben, da in den folgenden
fast zwei Jahrzehnten das Interesse an den Zeichnungen beinah ganz versiegte. Erst gegen Mitte
der 1990er Jahre wurde eine Generation jüngerer Wissenschaftler erneut auf dieses weitgehend
unbearbeitete Feld abseits von dem sonst „wuchernden Wildwuchs“14 der Klee Literatur
aufmerksam. Möglicherweise könnte dieses neu erwachte Interesse dabei auch auf die von
Marianne Vogel 1992 erschienene Dissertation über Das schriftliche Werk Paul Klees und die
Rolle der Sprache in seinem Denken und in seiner Kunst15 zurückgehen, in dem sie erstmals
eigens auf dessen illustratives Werk einging. Zudem kam es im selben Jahr zu einer Neuausgabe
der Illustrationen Klees im Leipziger Insel Verlag.16 Doch setzte die neuerliche Beschäftigung
mit den Illustrationen nicht im Land ihres Schöpfers, sondern in demjenigen des Autors der
Textvorlage, Voltaire, ein. So erschien 1995 im französischen Angers im Zusammenhang einer
Festschrift der kleine Aufsatz Candide lu par Klee von Albert Petit-Emptaz.17 Die erste
umfangreichere Untersuchung der Candide-Illustrationen wurde 1996 von Sophie Horn in Lyon
als Diplomarbeit vorgelegt.18 Dabei wurden die Zeichnungen Klees weitgehend unabhängig von
ihrer Textvorlage in den Blick genommen und die Frage nach ihrer künstlerischen Qualität in
den Mittelpunkt gestellt. Horns Verdienst ist die eingehende und minutiöse Beschreibung der
einzelnen Zeichnungen sowie die Aufstellung einer anschaulichen Chronologie ihres
Entstehungsprozesses.
Den Recherchen Mona Meisters zu ihrem anlässlich einer Jubiläumsausstellung über Klees
Jenaer Rede 1999 gehaltenen Vortrag Paul Klee – Wort und Bild. Vom illustrativen Werk zum
autonomen Bild19 ist die für die weitere Forschung bedeutende Entdeckung einer französischen
Ausgabe von Voltaires Candide in Klees Nachlass zu verdanken. Die zahlreichen in ihr zu
findenden Anstreichungen Klees wurden noch im selben Jahr von Kathrin Baumeister im
Rahmen ihrer in Trier vorgelegten Magisterarbeit über Klees Candide-Illustrationen20 gründlich
untersucht und transkribiert, allerdings nicht systematisch zum Verständnis der Zeichnungen
herangezogen. Ihrer Arbeit sind dennoch wichtige Anregungen zur allgemeinen
14 Wedekind, Gregor, Von Ameisen, Spinnen und Bienen. Der Catalogue raisonné Paul Klee, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 66, 18./19.03.2000, 84. 15 Vogel, Marianne, Zwischen Wort und Bild. Das schriftliche Werk Paul Klees und die Rolle der Sprache in seinem Denken und in seiner Kunst, München 1992. 16 Voltaire, Candide oder der Optimismus. Mit Zeichnungen von Paul Klee, Leipzig 1992. 17 Petit-Emptaz, Albert S., Candide lu par Klee, in: Travaux sur le XVIIIe siècle 3. Hommage au professeur Jean Roussel, Angers 1995, 21-31. 18 Horn, Sophie, Les illustrations de Candide de Voltaire par Paul Klee, Lizentiatsarbeit an der Universität Lyon, 1995/96. 19 Meister, Mona, Paul Klee – Wort und Bild. Vom illustrativen Werk zum autonomen Bild, in: Ehrmann-Schindlbeck, Anna Maria (Hrsg.), Paul Klee in Jena 1924, Jena 1999, 283-291. 20 Baumeister 1999.
9
Charakterisierung der in den Illustrationen entwickelten Figürlichkeit zu entnehmen. So zog sie
im Anschluss an Lothar Lang erstmals einen ausführlichen Vergleich der Kleeschen Figuren
zum Wesen von Marionetten. Zudem behandelte sie eingehend die Frage des Einflusses von
Kinderzeichnungen auf die Illustrationen.
Der klassischen Frage nach dem formalen und inhaltlichen Zusammenhang zwischen der
textlichen Vorgabe und ihrer bildnerischen Umsetzung ist erstmals Valerie Boban in ihrer 2002
in Zürich verfassten Lizentiatsarbeit systematisch und umfassend nachgegangen.21 In ihrer
Arbeit wird unter Hinzuziehung der in Klees Nachlass gefundenen Voltaire-Ausgabe und ihrer
aufschlussreichen Anstreichungen die intensive Auseinandersetzung Klees mit dem Text und
seine überraschend textnahe Gestaltung der Illustrationen deutlich. Außerdem ist Boban der
Hinweis auf motivische Verwandtschaften zwischen den Illustrationen Klees und jenen des
Franzosen Adrien Moreau vom Ende des 19. Jahrhundert und damit auf die spezielle
Motivgeschichte des Kleeschen Zyklus zu verdanken. Insgesamt ist ihr damit eine für die
weitere Forschung in diesem Gegenstandsbereich Maßstäbe setzende Arbeit gelungen. Sie soll
deswegen auch in den folgenden Untersuchungen verstärkt herangezogen werden.
Zur Betrachtung der für die vorliegende Arbeit zentralen Frage nach der künstlerischen
Entwicklung Klees unter der konkreten Herausforderung der Illustration wurden zahlreiche
Monografien über dessen Leben und Werk im Allgemeinen sowie über einzelne spezielle
Themenbereiche konsultiert. Unter ihnen ist die Dissertation Charles Werner Haxthausens über
Klees künstlerische Entwicklung innerhalb des Frühwerks Paul Klee: the formativ years22 von
1981 ebenso hervorzuheben wie der erste Band der umfangreichen Monografie Jürgen
Glaesemers über die Handzeichnungen Klees von 1973, in welcher wichtige Grundlagen zum
Verständnis des Zeichners Klee gelegt wurden.23 Bei spezielleren Fragestellungen, wie etwa
nach dem Einflusses der Kinderzeichnung auf den Stil der Illustrationen, konnte auf Arbeiten
wie die Dissertation James Smith Pierces über Paul Klee and Primitive Art24 von 1976 oder den
Aufsatz Otto Karl Werkmeisters über Klees „kindliche“ Kunst25 von 1981 zurückgegriffen
werden. Bei der Behandlung der Linkshändigkeit Klees und der Frage ihrer Auswirkungen auf
die Zeichnungen ist die Literaturlage dagegen bislang sehr dürftig. Lediglich der Aufsatz
Richard Jungs Über Zeichnungen linkshändiger Künstler von Leonardo bis Klee26 von 1977
lieferte diesbezüglich erste wichtige Informationen.
21 Boban, Valerie, Bild-Sprache. Paul Klees Illustrationen zu Voltaires Candide, Lizentiatsarbeit, Universität Zürich 2002. 22 Haxthausen, Charles Werner, Paul Klee: the formative years, New York 1981. 23 Glaesemer, Jürgen, Paul Klee. Handzeichnungen I. Kindheit bis 1920, Bern 1973. 24 Pierce, James Smith, Paul Klee and Primitive Art, New York & London 1976. 25 Werkmeister, Otto Karl, Klees „kindliche“ Kunst, in: Werkmeister, Otto Karl, Versuche über Paul Klee, Frankfurt am Main 1981, 124-171. 26 Jung, Richard, Über Zeichnungen linkshändiger Künstler von Leonardo bis Klee: Linkshändermerkmale als Zuschreibungskriterien, in: Springer, Konrad F. (Hrsg.), Semper Attentus. Beiträge für Heinz Götze zum 8. August 1977. Berlin, Heidelberg 1977, 190-218.
10
Für die spezielle Beurteilung der illustrativen Qualitäten der Zeichnungen und ihre Einordnung
in die allgemeine Geschichte der Illustration boten, neben den zu Anfang genannten, mit den
Zeichnungen Klees befassten Arbeiten, die Veröffentlichungen Lothar Langs zur
impressionistischen27 sowie zur expressionistischen Buchkunst28 aus den 1990er Jahren
grundlegende Anhaltspunkte. Für die Vertiefung von Fragen zur Theorie und Terminologie der
Illustration waren indessen die Ausführungen Axel von Criegerns in seinem Buch Vom Text
zum Bild. Wege ästhetischer Bildung29 von 1996 sowie jene Karin von Maurs über die
Tendenzen der Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert30 von 1992 hilfreich. Hauptquellen bei
der Untersuchung der Textvorlage waren schließlich das ausführliche Nachwort des
Herausgebers der Candide-Ausgabe von 2004 in französischer Originalsprache beim Leipziger
Reclamverlag,31 Thomas Baldischwieler, die Abhandlung Fritz-Peter Kirschs über die Epochen
des französischen Romans32 aus dem Jahr 2000 sowie die zu Klassikern der romanistischen
Forschung gewordenen Arbeiten Victor Klemperers33 und Jürgen von Stackelbergs34 über
Voltaire und seine Zeit aus den 1950er und 1970er Jahren.
2. Künstlerische und terminologische Voraussetzungen
2.1. Zu Klees zeichnerischer Entwicklung vor den Illustrationen
Schon im Mai 1903 zog es Klee nach der Lektüre von Emile Zolas L’Œuvre nach Paris. So
heißt es in seinem Tagebuch:
Das geht ja uns an! Wie schrecklich, dies Buch zu erleben und selbst so sehr am Anfang grausiger Möglichkeiten zu stehn. Es wird mir auch so klar, daß mir Paris noch fehlt. Ich sehe es ein. Muss hin.35
Zwei Jahre aber sollten noch vergehen, bis Klee tatsächlich die französische Hauptstadt
besuchte. Es waren die Jahre, in denen er in einsamer Abgeschiedenheit in Bern die Inventionen
27 Lang, Lothar, Impressionismus und Buchkunst in Frankreich und Deutschland, Leipzig 1998. 28 Ders., Expressionismus und Buchkunst in Deutschland 1907-1927, Leipzig 1993. 29 Criegern, Axel von, Vom Text zum Bild. Wege ästhetischer Bildung, Weinheim 1996. 30 Maur, Karin von, Tendenzen der Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert, in: Hernad, Béatrice, Karin von Maur, Papiergesänge. Buchkunst im zwanzigsten Jahrhundert; Künstlerbücher, Malerbücher und Pressendrucke aus der Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek München, Kat. Ausst. Bayerische Staatsbibliothek, 24.09.-19.12.1992, München 1992, 7-51. 31 Baldischwieler, Thomas, Nachwort zu: Voltaire, Candide ou l’Optimisme, Stuttgart 2004, 165-182. 32 Kirsch, Fritz, Peter, Epochen des französischen Romans, Wien 2000. 33 Klemperer, Victor, Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, Bd. 1: Das Jahrhundert Voltaires, Berlin 1954 sowie Voltaire und seine kleinen Romane, Vorwort zu: Voltaire, Sämtliche Romane und Erzählungen in zwei Bänden, Bd. 1, Leipzig 1959, IX-XLI. 34 Stackelberg, Jürgen von, Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München 1970. 35 Klee 1988, Absatz Nr. 505.
11
(Abb. 67 und 68) schuf. Als sie im Frühjahr 1905 abgeschlossen waren, drängte es ihn aus der
Stille seines Elternhauses zu neuen Aufgaben hinaus: „Mit meinen Radierungen“, so schrieb er
„habe ich mich ehrlich und wahrhaftig ausgesprochen. Ich will sie nie verleugnen, wenn ich
auch jetzt schon innerlich auf Neues eingestellt bin. Ich kann ja auch nicht wie ein Spezialist im
Gleis bleiben.“ 36 Und wenig später fügte er an gleicher Stelle hinzu: „Der Weg der heraus- und
weiterführt, darf nicht von einem konstruierenden Willen abhängen. Er muss gefunden werden,
auf innerlich-logische Weise.“ 37
Kurz darauf fuhr Klee, zusammen mit seinen ehemaligen Berner Schulfreunden Hans Bloesch
und Louis Moilliet, zum ersten Mal nach Paris. Das Programm der insgesamt vierzehn Tage war
so dicht gefüllt, dass kaum Zeit blieb, über das Gesehene und Erlebte zu reflektieren. Zu den
wichtigsten Eindrücken gehörte aber der Besuch des Musée de Luxembourg, dessen Sammlung
Klee in einem Brief an seinen Vater als „fundamental für die moderne Kunst“38 bezeichnete.
Hier begegnete er Puvis de Chavanne, den er mit seinem Schweizer Landsmann Ferdinand
Hodler in Zusammenhang brachte, sowie Auguste Rodin, Eduard Manet und den großen
Impressionisten Claude Monet, Camille Pissarro, Alfred Sisley sowie Auguste Renoir. Ein
direkter Einfluss aber lässt sich an den Arbeiten jener Zeit noch nicht festmachen, auch wenn
Klee in dem bereits zitierten Brief an den Vater zu Beginn der Reise schrieb: „Wenn es in dem
Stil weitergeht, so kann man etwas mit nach Hause nehmen.“ 39
Was Klee in erster Linie aus Paris mitnahm, war, neben einer allgemeinen Erweiterung des
Gesichtskreises, die in ihrer Bedeutung für sein Schaffen kaum zu überschätzende Erkenntnis,
dass es möglich sei, vor der Natur abstrakt zu werden. Es ist nichts darüber bekannt, wie diese
Erkenntnis genau zustande kam. Tatsache ist aber, dass in den Monaten nach der Rückkehr aus
Frankreich ein Hinterglasbild mit dem Titel Gartenscene, nach der Natur (Abb. 59) entstand,
über das Klee 1919 im Ergänzungsmanuskript seines Tagebuches schrieb: „Mit der Kunst im
Reinen glaubte ich mich, als ich vor der Natur zum ersten Mal einen abstracten Stil anwenden
konnte. Kl. Landschaft hinter Glas.“40 Ein Jahr später, nun schon am Bauhaus, resümierte er
nochmals die damaligen Erfahrungen und stellte euphorisch heraus, dass „ich es erreicht habe,
direct vor der Natur bei meinem Stil zu verharren. Ich kann nun fruchtbar sein. Die Zeit des
schmerzhaftesten und einsamsten Ringens ist vorbei. Ich kann nun auch ins Leben treten“ 41.
Der Weg, der „heraus- und weiterführt“, schien gefunden, die Gefahr des Irrwegs oder gar der
„Fehlgeburt“ 42, derer er sich 1903 bei der Lektüre von Zolás L’Œuvre noch sicher wähnte,
abgewendet.
36 Ebd., Absatz Nr. 632. 37 Ebd. 38 Karte an Hans Klee vom 04.06.1905, zit. nach: Klee, Paul, Briefe an die Familie: 1893-1940, Bd. 1, hrsg. v. Felix Klee, Köln 1979, 506. 39 Ebd. 40 Klee 1988, 495. 41 Ebd., Absatz Nr. 756. 42 Brief an Lily vom 12.07.1903, zit. nach: Klee 1979, 335ff.
12
Manches dafür lag schon länger bereit und wurde nun durch die Erlebnisse in Frankreich in
geduldiger Feinarbeit „entbunden“. So machte Klee während der oft mühsamen Arbeit an den
Inventionen bereits im Juni 1904 eine Entdeckung von großer Tragweite. In einem Brief an
seine spätere Frau Lily Stumpf aus dieser Zeit heißt es:
Die Krisis, an der ich zur Zeit laboriere, ist durchaus nicht unfruchtbar. In meiner Not suchte ich nach Brosamen unter dem Tisch und fand deren eine große Menge. Damit meine ich kleine Ideen, Bewegungen des Aktes, Ausdruckslinien usw., die es nicht zu einer organisch durchgeführten Composition gebracht haben, dann jedoch in skizzenartiger Behandlung einen gewissen Wert repräsentieren können.43
Gemeint war eine Reihe von Zeichnungen, die Figuren in Bewegung locker umreißen oder
lediglich eine Idee von Bewegung festhalten (Abb. 55). Klee selbst brachte sie in
Zusammenhang mit den 1902 in Rom gesehenen „Aktkarikaturen“ Rodins (Abb. 83),44 nach
deren Erlebnis er damals voller Bewunderung in sein Tagebuch geschrieben hatte:
Mit ein paar Blei-Zügen sind Umrisse gezogen, mit einem vollen Pinsel ist in Aquarell ein Fleischton hingesetzt, und mit einer anderen gräulichen Farbe sind etwa noch Gewänder angedeutet. Das ist alles und wirkt einfach monumental.45
Ihrem Vorbild folgend, suchte er nun nach einer adäquaten Technik, um der überraschenden
Wirkung seiner Studien eine gültige Form zu verleihen. Neben der gelegentlichen Verwendung
des Aquarells, durch welche der Einfluss Rodins augenscheinlich wird, ist es vor allem die
Entdeckung der Kaltnadelradierung,46 die auch für die zeichnerische Entwicklung der folgenden
Jahre von Bedeutung war. Sie führte Klee zu einer sparsameren und prägnanteren Bildsprache,
bei der die Umrisslinie zum zentralen Ausdrucksmittel wurde. Mit ihr wurde die
Dreidimensionalität der natürlichen Erscheinungen noch konsequenter als bei Rodin in ein
beinah abstraktes Formenspiel auf der Fläche übersetzt.47
Wie sich nach der Parisreise zeigte, bestanden die hier gefundenen bildnerischen Mittel nun
erstmals auch vor der Natur und ermöglichten in den folgenden Jahren eine fruchtbare Form der
Verbindung von äußerer Anschauung und innerer formschöpferischer Kraft.48 Zwar sollte sich
erst um 1910 ein stabileres Gleichgewicht zwischen diesen Elementen einstellen, das Prinzip
aber war erkannt und wurde zur zentralen Gelenkstelle im zeichnerischen Frühwerk Paul Klees.
1908 heißt es in einem Tagebucheintrag:
43 Brief an Lily vom 11.06.1904, zit. nach: ebd., 427ff. 44 Klee 1988, Absatz Nr. 561 („Die Rodinschen Actskizzen sind ein gutes Beispiel dafür.“). 45 Ebd., Absatz Nr. 397. 46 Brief an Lily vom 11.06.1904, zit. nach: Klee 1979, 427ff. 47 Vgl. Glaesemer 1973, 118; siehe auch: Klee 1988, 520f. Die neue Technik entspricht zudem, wie Glaesemer richtig feststellte, der Forderung Klees nach einer Kunst, „in der mancher linearer Einfall in seiner Ursprünglichkeit gewahrt zur Darstellung kommt“ (ebd., Absatz Nr. 561). 48 Klee unterschied schon im Juni 1903 „zwischen optischer Wissenschaft und formschöpferischen Möglichkeiten“ (ebd., 513).
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[...] an einen Natureindruck nur ganz indirect gebunden, kann ich [...] wieder wagen, das zu gestalten, was die Seele gerade belastet. Erlebnisse zu notieren, die sich selbst in blinder Nacht in Linie umsetzen könnten.49
Das immer neue Ringen um die konkrete Form blieb Klee dabei jedoch keineswegs erspart.
Schon 1907 geriet er mit seiner Kunst erneut in einen Engpass:50 „Meine Linien von 1906/07
waren mein Ureigentum. Aber ich musste sie doch unterbrechen, es drohte ihnen irgendein
Krampf, schließlich gar das Ornament“51. Zu stark war offenbar die Versuchung, ganz den
abstrakten Möglichkeiten der Umrisslinie zu erliegen.
Neben die Auseinandersetzung mit dem Naturvorbild in „naturalistischen Etüden“52 trat seit
Mitte des Jahres 1907 vermehrt auch die konkrete Beschäftigung mit einigen bedeutenden
Künstlern seiner Zeit oder des gerade zu Ende gegangenen 19. Jahrhunderts. Unter ihnen sind
James Ensor und Vincent van Gogh von herausragender Bedeutung. Auf beide machte der
Zeichner und Illustrator Jacques Ernst Sonderegger Klee bereits 1906 aufmerksam. Als dieser
sich nun, wie er selbst schrieb, 1907 in „der Sackgasse des Ornaments“ 53 befand, war es
zunächst vor allem das bewegte „Nebeneinanderliegen der Linien“ in Ensors skurrilen
„graphischen Gebilden“ (Abb. 85), das Klee ein neues „Absatzgebiet für [s]eine Linie“54
verhieß (Abb. 62). Seit Anfang 1908 entstanden zahlreiche Arbeiten mit figürlichen
Darstellungen nach der Art des eigenwilligen Belgiers: die zuletzt strenge Geschlossenheit der
Kontur55 wich einem freieren, neuartigen Nebeneinander locker gesetzter Striche, welche die
Figuren nun auch in ihrem Innern wieder belebten (Abb. 71).56
Mitte desselben Jahres kam der Einfluss des Impressionismus zum Tragen. Schon 1906 machte
Klee Experimente mit einer grafischen Technik, die nah an den Impressionismus und seine
Theorien der Wahrnehmung rührten. Beim Radieren mit der kalten Nadel entdeckte er die
besondere Wirkung, die von zufälligen Kratzern auf einem mit schwarzer Farbe bedeckten
Porzellanteller ausging. Hieraus entwickelte er die Technik der Ritzzeichnung auf geschwärzter
Glasscheibe, in welcher im gleichen Jahr das altmeisterliche Porträt seines Vaters (Abb. 60)
entstand: „Das Mittel ist nicht mehr der schwarze Strich, sondern der weisse. Die helle Energie
auf nächtlichem Grund entspricht sehr schön dem Wort ‚es werde Licht‘. Mit Weiß zu arbeiten
entspricht der Malerei in der Natur.“57
49 Ebd., Absatz Nr. 842. 50 Klee spricht hier sogar von „Sackgasse“ (vgl. ebd.). 51 Ebd., Absatz Nr. 831. 52 Ebd., Absatz Nr. 842. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass in dieser Arbeit fortan der kunstgeschichtliche Begriff „Kontur“ nicht in Unterscheidung zur Alltagssprache als Maskulinum, sondern in Rückgriff auf die Formulierungen bei Walter Koschatzky ebenfalls als Femininum verwendet wird (vgl. Koschatzky, Walter, Die Kunst der Zeichnung. Technik, Geschichte, Meisterwerke. Salzburg und Wien 1980, 256). 56 Vgl. Glaesemer 1973, 138. 57 Klee 1988, Absatz Nr. 632f.
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Zwei Jahre später, im Frühjahr 1908, begegnete Klee in den Ausstellungen zweier Münchner
Kunsthandlungen einer größeren Zahl von Werken van Goghs, deren Erlebnis in ihm zunächst
widersprüchliche Reaktionen hervorrief. So waren Klee das Pathos und die Tragik seiner Person
fremd und beängstigend. Andererseits beurteilte er jene Ausstellungen mit Nachdruck als „zwei
ganz wichtige“58. Nach ihrem Besuch zeichnete er eine Landschaft im Stil van Goghs (Abb. 61)
und widmete sie Sonderegger, der ihn im vorausgegangenen Winter auf die Briefe des
Holländers aufmerksam gemacht hatte. Diese Zeichnung weist hinaus auf eine Phase durchaus
kritischer Aneignung impressionistischer Techniken, die sich mit Unterbrechungen vom
Frühjahr 1909 bis hinein in das Jahr 1911 erstreckte.59 Klee selbst verwendete in diesen Jahren
im Zusammenhang seiner Zeichnungen mehrfach die Begriffe des „Impressionismus“60 oder des
„impressionistischen Stils“61, wobei er mit ihnen „gewisse Auflockerungen“62 im Sinne einer
Fortsetzung der stilistischen Errungenschaften unter dem Einfluss Ensors63 verband, mit dem
entscheidenden Unterschied allerdings, dass er wieder vor die Natur zurückkehrte.
So verschieden die Kunst der Impressionisten auch von jener Ensors sein mochte, die Bilder
und Zeichnungen van Goghs, die für Klee den Ausgangspunkt für die neuerliche Beschäftigung
mit dem Impressionismus bildeten, waren es nicht. Sowohl Ensor als auch van Gogh gingen mit
der Betonung der Linie als „selbständiges bildnerisches Element“64 über den Impressionismus
hinaus, ließen aber dessen Einfluss noch deutlich erkennen (Abb. 86). Im Frühjahr 1911 schrieb
Klee in sein Tagebuch über van Gogh: „Dass es Linie gibt die vom Impressionismus profitiert
und ihn zugleich überwindet, das vermag mich ordentlich zu elektrisieren“65. Was er allgemein
an den Impressionisten schätzte, war vor allem ihre konsequente Loslösung von der Umrisslinie
und damit von der greifbaren Gegenständlichkeit, ohne sich damit jedoch dem natürlichen
Eindruck der Gegenstände zu entziehen. Mit ihrer Technik des suchenden, umspielenden und
umfühlenden Strichs reklamierten sie in ihren Bildern im Gegenteil gerade eine besondere
Treue zur Wahrnehmung der gegebenen Wirklichkeit.
Dies aber schloss, nach der Vorstellung Klees, immer auch das Subjekt des Wahrnehmenden
selbst mit ein. So verstand er „das Fragmentarische, was viele impressionistische Werke haben“,
58 Ebd., Absatz Nr. 816. Bei den beiden Münchner Kunsthandlungen handelte es sich um das Kunsthaus Brakl in der Goethestraße 5 sowie um den Kunstsalon Zimmermann in der Maximilianstraße 38. 59 Klee selbst sprach im Rückblick von den Jahren 1908-1910, was jedoch nicht dem Befund der Zeichnungen entspricht (vgl. Klee 1988, 524). Haxthausen nahm allerdings die hier gebrauchte Einteilung vor. Vgl. Haxthausen, Charles Werner, Klees künstlerisches Verhältnis zu Kandinsky während der Münchner Jahre, in: Zweite, Armin (Hrsg.), Paul Klee. Das Frühwerk 1883-1922, Kat. Ausst. Städtische Galerie im Lenbachhaus, 12.12.1979-02.03.1980, München 1979, 100. 60 Klee 1988, Absatz Nr. 812 und Nr. 894; Briefe an Lily vom 20. März und 9. Juli 1905, zit. nach: Klee 1979, 489 und 513. 61 Klee 1988, 512. 62 Ebd., Absatz Nr. 773. 63 Grohmann zufolge gab Sonderegger Klee im Juli 1909 die Radierung Ensors „Skeletons trying to warm themselves“. Zit. nach: Pierce 1976, 172, Anm. 31 sowie Grohmann, Will, Paul Klee, Genf u. Stuttgart 1954, 50. 64 Klee 1988, Absatz Nr. 842. 65 Ebd., Absatz Nr. 899.
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als „eine Folge der Treue zur Inspiration“ von welcher der Künstler abhänge: „Wo sie aufhört,
ist auch das Werk zu stoppen“66. Auch wenn dies hier ganz auf die Wahrnehmung vor der Natur
bezogen war, ging Klee mit dieser Vorstellung doch weit über den Impressionismus hinaus und
berührte bereits Gebiete des Expressionismus, zu dessen Vätern immer wieder auch van Gogh
und Ensor gezählt werden. Aus der alleinigen Bindung des Impressionisten an den optischen
Eindruck wurde bei Klee allgemein die Forderung nach unbedingter Treue des Künstlers zur
Inspiration. Diese schloss äußere Eindrücke ebenso wie innere Anschauungen ein. Der
suchende, fühlende, fragmentarische Strich schien dabei auch geeignetes Ausdrucksmittel für
Letztere zu sein und für Klee somit das passende Instrument, sein „Urgebiet der psychischen
Improvisation“67 neu zu betreten. Vor diesem Hintergrund war nicht mehr wichtig, was er
zeichnete, ob Dinge der Vorstellung oder der Anschauung, schienen sich jene beiden Welten
doch unter diesen Voraussetzungen mehr und mehr zu verbinden.
Üben ließ sich das Prinzip jedoch besser vor der Natur, da hier die Bilder klarer, der Dialog
zwischen Subjekt und Objekt eindeutiger war68 und die Gefahr des Abgleitens ins allzu
Persönliche geringer: „Neu gestärkt durch meine naturalistischen Etüden darf ich dann wieder
wagen, mein Urgebiet der psychischen Improvisation neu zu betreten.“69 So trat Klee in den
kommenden Jahren wieder verstärkt vor die Natur und experimentierte unter dem einmal
gefundenen Prinzip mit den unterschiedlichsten Techniken, wie dem Schwarzaquarell, dem
Hinterglasbild, der Verbindung von Feder und Tusche in einer Nass in Nass-Technik, der Arbeit
mit Feder und körniger Tusche auf Ingrespapier, ja sogar mit dem Beschneiden und Montieren
der Zeichnungen. Die für Klee in dieser Zeit und dann auch für die Candide-Illustrationen
bestimmende zeichnerische Technik blieb allerdings die einfache Federzeichnung, in der er mit
immer feineren und fragmentarischeren Strichen in einem zunehmend realistischen und
illusionistischen Sinn die Natur abzubilden begann (Abb. 63 und 64). Als Klee die Arbeit an
den Candide-Illustrationen aufnahm, war er darin so fortgeschritten, dass er auch in ihr wieder
die Gefahr des Abgleitens in eine seelenlose, illusionistische Kunst sah. So schrieb er im
Frühjahr 1911 in sein Tagebuch: „Nun brauche ich wieder die Kontur, sie sammle, sie fange die
verflatternden Impressionismen ein. Sie sei Geist über der Natur“70.
2.2. Illustration: Versuch auf dem „praktischeren Gebiet“
Als Klee den Gedanken an die Illustration eines literarischen Werkes hegte, kann von einer
äußerst starken Wiederbelebung der Buchillustration auch in den modernen Strömungen der
66 Ebd., Absatz Nr. 615. 67 Ebd., Absatz Nr. 842. 68 1919 schrieb Klee im Rückblick: „Fühlte mich durch die Natur gesichert“ (ebd., 495). 69 Ebd., Absatz Nr. 842. 70 Ebd., Absatz Nr. 894.
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Zeit gesprochen werden. In der Künstlergeneration der französischen Vormoderne war die
Einheit von Kunst und Literatur wieder Programm. Zwischen Künstlern und Literaten gab es
zahlreiche enge Verbindungen und regen Austausch, wie sich an der Stellung eines Denis
Diderot, Charles Baudelaire oder Emile Zola unter den Künstlern der damaligen Zeit ablesen
lässt. Auch in Deutschland fielen die von Frankreich her kommenden Impulse in den folgenden
Jahrzehnten auf fruchtbaren Boden. Künstler wie Max Liebermann, Max Slevogt und Lovis
Corinth schufen wichtige, vielleicht sogar die seit langem bedeutendsten deutschen
Illustrationswerke. Weitere wesentliche Impulse für ein Wiederaufleben der Buchillustration
kamen aus dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden Jugendstil, der sich als „art
nouveau“ nicht nur der neuerlichen Verbindung von Kunst und Handwerk, sondern auch jener
der verschiedenen Gattungen der Künste verschrieben und damit der bis dahin vorherrschenden
klassizistischen Doktrin Gotthold Ephraim Lessings von der Trennung der Künste und ihrer
Aufgabenfelder entgegengewirkt hatte.
Lessing hatte mit seiner Definition der Aufgaben und Grenzen, die er in seinem Laokoon den
einzelnen Künsten, speziell dem „Zeitgebilde des Dichters und dem Raumgebilde des
[bildenden] Künstlers“71, zuwies, besonders in Deutschland ein vorübergehendes Stagnieren der
Illustration und manche Vorbehalte gegen sie verursacht. Dass auch zu Beginn des 20.
Jahrhunderts Lessings Überlegungen noch weit verbreitet waren, bezeugt Klees eigene lapidare
Erwähnung des Laokoon in seiner Schöpferischen Konfession von 1918/19, in der er schrieb:
In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von räumlicher und zeitlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Hinsehen ist’s doch nur gelehrter Wahn.72
Mit der neuerlichen Hinwendung zur Buchkunst aber stellte sich nun auch wieder die Frage
nach einer sinnvollen und zeitgemäßen Verbindung zwischen den beiden Künsten. Es bedurfte
eines neuen Verständnisses ihrer fruchtbaren Verbindung und gegenseitigen Ergänzung unter
Wahrung und Nutzung ihrer je eigenen Mittel und Möglichkeiten. Dies war nur zu erreichen,
indem beide Gattungen zunächst unabhängig voneinander im vollen Sinne als Kunst wahr- und
ernstgenommen, das heißt, in ihrer inhaltlichen wie in ihrer formalen Dimension in den Blick
genommen wurden. Für die Illustration hieß dies, aus dem Bereich der niederen Gebrauchskunst
herauszutreten, sich als der Literatur ebenbürtig zu verstehen und nicht, wie es August Wilhelm
von Schlegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts verurteilte, lediglich an „ihren äußersten
Gränzen herumzuschleichen“73. Mit dem einfachen Repetieren wurde der Künstler weder den
Anforderungen der textlichen Vorgabe, noch dem Anspruch des eigenen Mediums gerecht. Mit
ihm erschien die Illustration in der Tat als obsolet oder sogar als eine Gefahr im Sinne der Mitte
71 Rodenberg, Julius, zit. nach: Maur 1992, 11. 72 Klee 1995, 62. 73 Zit. nach: Meister 1999, 283, Anm 1.
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des 19. Jahrhunderts geäußerten Befürchtung Gottfried Kellers, „das große Leserpublikum
werde zuletzt das selbständige innere Anschauen poetischer Gestaltung ganz verlernen und
nichts mehr zu sehen imstande sein, wenn nicht ein Holzschnitt daneben gedruckt“74 sei.
Es ging also nicht allein, wie lange üblich, um die treue inhaltliche Wiedergabe der textlichen
Vorgabe, sondern um ein tieferes, schöpferisches Eindringen auch in die sprachkünstlerische
Dimension derselben sowie um eine dem eigenen Medium des Bildes und seinen formalen wie
inhaltlichen Möglichkeiten entsprechende künstlerische Form. Dabei werden die Dimensionen
von Inhalt und Form in den im Begriff der Illustration selbst enthaltenen Bedeutungen des
„illustrare“ und „lustrare“ fassbar.75 Denn während es im „illustrare“ um die Aufgabe einer eher
inhaltlichen Klärung und Erhellung des Textes geht, ist im „lustrare“ die Dimension des
autonom zu denkenden „Schmuckes“ angesprochen.76 Letztere sollte dabei jedoch keineswegs
auf die Funktion einer bloßen „Aus-Schmückung“ verkürzt, sondern in ihrer tieferen Bedeutung
als „Strahlen“ und „Leuchten“ von der je subjektiv empfundenen Wahrheit des Textes her
verstanden werden. Eine solche Auffassung aber gibt auch dem als hässlich oder grotesk
Empfundenen wieder Raum in der Kunst, weil es nach dem Verständnis der Moderne die als
grotesk verstandene Wirklichkeit der condition humaine real beschreibt,77 wie es Franz Kafka
indirekt mit Blick auf die Bilder Pablo Picasso ausdrückte: „Im verzerrten Spiegel der Kunst
erscheint die Wirklichkeit unverzerrt.“78
Wie aber gestaltete sich nun die konkrete Annährung Klees an jenes „praktischere Gebiet“79,
über das er zu Beginn der Arbeit an Voltaires Candide in einem Brieffragment an seine Mutter
schrieb? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er im engeren Sinne lediglich ein – zudem später nie
veröffentlichtes – Illustrationswerk geschaffen. Dennoch ist bereits in den Tagebüchern und
Briefen der ersten Münchner Jahre80 wiederholt die Rede vom „Beruf des Illustrators“, den er
„versuchsweise“81 oder „in Ermangelung einer Rente“82 auszuüben gedachte. Dabei verband er
mit ihm gerade in den frühen Jahren eher die einzelne satirische Zeichnung für die um die
Jahrhundertwende in großer Zahl aufkommenden Zeitschriften wie den Simplicissimus, die
Jugend oder die Zeitschrift Pan. Schon in seiner Schulzeit zeigte er eine ausgesprochene
Neigung zur Satire und Karikatur. Ein Blick in die Schulbücher und -hefte des Gymnasiasten
wird zu einem beredten Zeugnis dafür. Sie enthalten zahllose Randzeichnungen, deren
74 Zit. nach: Criegern 1996, 26. 75 Vgl. ebd., 22f. 76 Diese Unterscheidung entspricht in etwa der Unterscheidung von „formaler“ und „inhaltlicher Assimilation“ bei Boban (Boban 2002, 29ff sowie 37ff). 77 Vgl. Wedekind, Gregor, Die Wirklichkeit des Grotesken: Paul Klee, Hugo Ball und Carl Einstein, in: Pamele Kort [Hrsg.], Grotesk. 130 Jahre Kunst der Frechheit. Kat. Ausst. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 27.03.-09.06.2003, Frankfurt 2003, 41. 78 Zit. nach: Stabenow, Cornelia, Theoreme des Absurden. Zu den Zerrbildern von Michael Langer, in: Klewan, Helmut (Hrsg.), Michael Langer. Sprechblasen- und Zerrbilder 1965-1968, München 1990, 12. 79 Brief an Ida Klee vom Mai 1911, zit. nach: Klee 1979, 765. 80 Gemeint sind die Jahre 1898 bis 1901. 81 Ebd., Absatz Nr. 865. 82 Ebd., Absatz Nr. 137.
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motivische Spannbreite von Kopfstudien, skurrilen Charakterköpfen und physiognomischen
Reihen bis zu flüchtig hingeworfenen Szenerien reicht (Abb. 65). Auch in seinen Briefen finden
sich mitunter freie, rasch und sicher hingeworfene Skizzen, wie etwa jene bekannte Zeichnung,
in der sich Klee selbst im Frühjahr 1900, mit einer großen Bewerbungsmappe unter dem Arm,
auf dem Weg zur Villa Franz von Stucks in der Prinzregentenstraße zeigte und mit einigen
Strichen einen Hund ins Bild setzte, der sich nicht weit entfernt vom Namensschild des
Malerfürsten an der rechten Außenwand der Villa erleichtert (Abb. 66).83
Als Klee im Herbst desselben Jahres in die Akademieklasse des auch dank seiner Illustrationen
in der Jugend bekannt gewordenen Franz von Stuck kam, machte er sich, dem Vorbild seines
Lehrers folgend, an das ihm stets nahe gewähnte Illustrieren und legte die Ergebnisse im
Dezember Stuck zur Begutachtung vor. Dieser bezeichnete die Arbeiten als originell und
empfahl seinem Schüler, „es damit bei der ‚Jugend‘ zu versuchen“ 84. Der Tagebucheintrag, in
dem Klee hiervon berichtete, endet jedoch mit der traurigen Bemerkung: „Die Jugend wollte
dann aber nichts von mir wissen.“85 Kurz darauf brach Klee sein Studium in München ab und
kehrte nach einer längeren Italienreise in das heimatliche Bern zurück, wo er intensiv an einer
Reihe von Radierungen mit satirischen Motiven arbeitete, die unter dem Titel Inventionen
bekannt werden sollten (Abb. 67 und 68)86 und in gewissem Sinne auch illustrative Qualitäten
besitzen. Ihr „literarischer Gehalt“ lässt sich nach Geelhaar „als Unmut und Spott über die
Gesellschaft und als Opposition gegen bourgeoise Konventionen“ lesen.87 In ihrer minutiösen
Modellierung und „fast gotisch expressiven Gestik“88 erinnern sie nicht selten an altdeutsche
Meister oder die italienische Malerei des frühen Cinquecento.89 Mindestens ebenso aber
scheinen sie im Symbolismus und Jugendstil verwurzelt und lassen entfernt an zeitgenössische
Karikaturen denken. Gestik und Mimik werden zu zentralen Ausdrucksträgern ihrer stets im
Mittelpunkt stehenden, oft isolierten Figuren. Im Rückblick schrieb Klee später über die
Inventionen: „Die ersten selbständigen Arbeiten sind im Berner Elternhaus entstanden, figurale
Radierungen, welche später als surrealistische Vorposten bewertet wurden“90.
Nach seiner Übersiedlung von Bern nach München unternahm Klee im Herbst 1906 einen
weiteren Versuch, seine Zeichnungen in einem der einschlägigen Münchner Blätter zu
veröffentlichen. Er wandte sich an die Redaktion des „Simplicissimus“, weil er glaubte, eine
gewisse Verwandtschaft seiner Arbeiten zu den Zeichnungen des für ihn arbeitenden Jules
83 Brief an Hans Klee vom 20.04.1900, zit. nach: Klee 1979, 91. 84 Klee 1988, Absatz Nr. 122. 85 Ebd. 86 1906 in einem Sammelrahmen auf der Münchner Secession ausgestellt. 87 Geelhaar, Christian, Paul Klee. Leben und Werk, Köln 1990, 16. 88 Haftmann, Werner, Paul Klee. Wege bildnerischen Denkens, München 1950, 24. 89 Klee selbst brachte diese Arbeiten mit dem Werk Antonio Pisanellos (1395-1455) in Zusammenhang. Vgl. Haftmann 1950, 20. 90 Zit. nach: Giedion-Welcker, Carola, Klee, Reinbek 1961, 22.
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Pascin (Abb. 84) festzustellen.91 Mit der erneuten Ablehnung aber kam auch die Empfehlung,
sich dem Charakter des Blattes mehr „anzupassen“92. Klee folgte diesem Rat nicht. Stattdessen
erschien wenig später eine farbige satirische Zeichnung von ihm in der neu gegründeten Berner
Zeitschrift Grüner Heinrich, zu der ihm sein alter Schulfreund Hans Bloesch, der selbst
gelegentlich für die Zeitschrift arbeitete, den Zugang ermöglichte. Derselbe Bloesch war es
schließlich auch, der ein Jahr später mit dem ersten wirklichen Illustrationsprojekt an Klee
herantrat: die Illustration seines satirischen Versepos Der Musterbürger von 1908/09, die
allerdings trotz mancher Bemühungen nie veröffentlicht wurden (Abb. 69-71).93
In diesem Epos geht es um den selbstzufriedenen Lebens- und Müßiggang des Schweizer
Beamten als eines Musterbürgers, dessen Lebensspanne in zwölf Strophen anhand der Monate
eines Jahres durchlaufen wird. Vom engen Korsett einer stringent fortlaufenden Handlung weit
entfernt, lässt das in Reimform geschriebene Werk dem Illustrator erheblichen Spielraum für die
bildhafte Umsetzung und liefert ihm doch zugleich durch zahlreiche Anspielungen eine ganze
Reihe motivischer Anregungen. Entsprechend spiegelt sich in Klees Zeichnungen eine
Mischung aus freiem, spielerischem Umgang mit selbstständigen künstlerischen Lösungen und
konzentrierter Arbeit am Text. Stilistisch sind die sieben Zeichnungen dabei nicht so weit
voneinander entfernt, wie es Okuda und Sorg behaupteten.94 Nur die dem Text als „Motto“
vorangestellte Darstellung einer satirische[n] Muse hebt sich vom Stil der übrigen Zeichnungen
ab, was jedoch aufgrund ihrer formal wie inhaltlich herausgehobenen Stellung innerhalb des
Zyklus nicht als Bruch empfunden werden muss (Abb. 69). In ihr zeigt sich die Linie klarer und
geistiger, die Physiognomie noch weniger an der menschlichen orientiert, als bei den folgenden
Illustrationen und lässt noch einmal Erinnerungen an den „strengen Stil“ der Inventionen wach
werden.
Lediglich auf der inhaltlichen Ebene, bei der Wahl und Umsetzung des Motivs, zeigen sich, wie
auch Okuda und Sorg hervorhoben, deutlichere Unterschiede.95 Dies hing wohl damit
zusammen, dass Klee teilweise auf ältere Arbeiten zurückgriff und so mitunter zu einem
inhaltlichen Spagat gezwungen war.96 Zudem erscheint die textliche Vorgabe über weite
Strecken als „Kind des Augenblicks“97 und damit keineswegs homogen. Offenbar war Bloesch
der Eindruck satirischer Frische und Unmittelbarkeit wichtiger als eine vollendete stilistische
91 Klee 1988, Absatz Nr. 779. (Hierin wurde er auch von Sonderegger bestätigt. Vgl. Ebd., Absatz Nr. 773). 92 Ebd., 497. 93 Hierzu ausführlich: Sorg, Reto und Osamu Okuda, Die satirische Muse. Paul Klee, Hans Bloesch und das Editionsprojekt „Der Musterbürger“. Zürich 2005. 94 Okuda, Osamu und Sorg, Reto, „Der Schönheit diene ich durch Zeichnungen ihrer Feinde“ – Das Musterbürger-Projekt von Hans Blösch und Paul Klee, in: Mettauer, Adrian, u.a. (Hrsg.) Berner Almanach Literatur, Bern 1998, 391. In ihrer Folge auch: Aichele, K. Porter, Paul Klee’s Pictorical writing. New York 2002, 22. 95 Okuda u. Sorg, 1998, 391. 96 Vgl.: „Ein Junge wird gezüchtigt“ von 1906 (11), in: Okuda u. Sorg 1998, 389. 97 Ebd., 381.
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Einheit.98 Diese Unmittelbarkeit aber bleiben zu einem großen Teil die Zeichnungen Klees
schuldig, die in ihrem oft beißenden „Zynismus“, wie Glaesemer schrieb, den Text „bei
weitem“99 überfordern. Klee selbst bestätigte diese Aussage indirekt, wenn er mit der
Zusendung der Arbeiten an Bloesch gestand:
Wenn sich in ihnen meine Persönl.kt. zu weit hervorgewagt hat (und das hat sie gethan, ich weiss es selbst am besten), so bitte ich um Entschuldigung. Man wird mich dafür steinigen dort zwischen Süden u. Norden.100
Auch der Verzicht des Künstlers auf eine Aufnahme jener Zeichnungen in den Oeuvre-Katalog
kann ein Hinweis darauf sein, dass er von ihnen nicht gänzlich überzeugt gewesen ist.101
Dennoch stellen die Zeichnungen zum Musterbürger als erste konkrete Zeugnisse einer
Auseinandersetzung mit der Herausforderung der Illustration einen wichtigen Baustein in der
Vorgeschichte der Candide-Illustrationen dar. Immerhin kam Klee noch im selben Jahr 1909,
nach der Vollendung der Illustrationen zu Bloeschs Musterbürger, erstmals der Gedanke an die
Illustration des Candide.
3. Genese: von Voltaires Candide zu Klees „Candideln“
3.1. Voltaires „Candide ou l’Optimisme“
3.1.1. Hintergrund und Inhalt des Romans
Wie kaum ein anderer Autor seiner Zeit steht Voltaire heute allgemein für die europäische
Aufklärung.102 Dennoch ist sein konkretes Werk zu großen Teilen in Vergessenheit geraten.
Eine der wenigen Ausnahmen bildet sein 1759 anonym erschienener Roman Candide ou
l’Optimisme, der in seiner Verbindung aus Philosophie, Geschichte und Dichtung das
berühmteste Beispiel der von Voltaire geschaffenen neuen literarischen Gattung des conte
philosphique darstellt.103 Alle Gebiete des Lebens drangen hier mit ihren Fragen in die
Philosophie und diese wiederum wurde anschaulich in den Erzählungen, die mit ihrer knappen,
brillanten Sprache und zugleich freimütigen Offenherzigkeit bis heute zu faszinieren
98 Ebd., 384. 99 Vgl. Glaesemer 1973, 178. 100 Postkarte an Bloesch vom 27.01.1909, zit. nach: Okuda u. Sorg, 1998, 382. 101 Hier ist allerdings anzumerken, dass sich die Zeichnungen zu der Zeit, als Klee den Oeuvre-Katalog anzulegen begann, bei Bloesch befanden und damit nicht zu seiner unmittelbaren Verfügung standen. Insofern waren es auch äußere Gründe, die ihn zu diesem Verzicht zwangen. 102 Vgl. Goethe sprach von Voltaire als dem „der Nation gemäßeste[n] Schriftsteller“, zit. nach: Klemperer 1954, 11. 103 Vgl. ebd., 33.
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verstehen.104 Mit ihnen wurde Voltaire zum Dolmetscher der Fragen und Bedürfnisse nicht
allein der Menschen seiner Zeit und seines Landes, sondern auch der nachfolgenden
Generationen von Lesern zahlreicher Übersetzungen: „Das Ganze ist so lebendig, als wäre es
gestern geschrieben, und in seinem Ideengehalt paßt es zeitlos in jede Zeit.“105
Der Roman entstand unter dem Eindruck des verheerenden Erdbebens von 1755 in Lissabon
sowie des Siebenjährigen Krieges, durch die in einer ganzen Generation erneut die drängende
Frage nach dem Sinn des menschlichen Leids und der Herkunft des Bösen in der Welt
aufgeworfen wurde.106 Voltaire, der einige Jahre den Lehren des deutschen Philosophen
Gottfried Wilhelm Leibniz angehangen hatte, wandte sich in seinem Roman nun entschieden
gegen dessen optimistische Philosophie von der jeweils existierenden als der „besten aller
Welten“107. Im oft mehr tragischen als abenteuerlichen Schicksal seines Protagonisten mit dem
sprechenden Namen Candide und jenem der übrigen Figuren konfrontierte er die Lehren
Leibniz’ in der Verkörperung des Lehrers Pangloss erbarmungslos mit einer Realität voller
Schrecknisse und Widersprüche und setzte sie so dem offenen Spott des Lesers aus.108 Seinen
außergewöhnlichen Reiz erhält die Erzählung aus der besonderen Spannung zwischen der
endlos erscheinenden Litanei aller nur möglichen, die einzelnen Figuren des Romans ereilenden
Unglücke und Candides trotzig heiterem „Refrain“ zur Verteidigung der Lehre des geschätzten
Pangloss von der „meilleur de mondes possibles“.109
Candide ist Gerüchten zufolge der uneheliche Sohn der Schwester des Barons von „Thunder ten
tronckh“110, einem imaginären westfälischen Schloss, das Voltaire zum Ausgangspunkt seines
Romans machte. Auf ihm wächst der junge Candide trotz seiner illegitimen Herkunft in
scheinbarer Eintracht mit den übrigen Bewohnern auf: dem Baron und der Baronesse, deren
Tochter Cunégonde, ihrem Bruder, der Kammerzofe Pâquette sowie dem Haus- und Hoflehrer
Pangloss111, dessen auf Leibniz rekurrierende philosophische Reden von der „raison
suffisante“112 und der „meilleur de mondes possibles“113, in der es kein „effet sans cause“114
gibt, den arglosen aber verständigen Candide in ihren Bann ziehen. Das keusche Erwachen der
Liebe Candides zur siebzehnjährigen Cunégonde bereitet der Idylle jedoch ein jähes Ende.
104 Stackelberg 1970, 372. 105 Klemperer 1959, XXVII. 106 Schon kurz nach dem Erdbeben vom 01.11.1755 schrieb Voltaire in unmittelbarer Reaktion sein Aufsehen erregendes „Poème sur le désastre de Lisbonne“ (Baldischwieler 2004, 173). 107 Leitmotiv des 1710 erschienenen zweibändigen „Essai de Théodicée“ von Leibniz. 108 Meister schrieb bereits in ihrer Arbeit, dass die Figuren Voltaires „Mindestidentitäten“ darstellten, „unterschiedliche Typen“, deren Funktion darin bestehe, „sich an der Welt, so wie sie ist, zu reiben.“ (Meister 1999, 285). 109 Vgl. Aichele 2002, 25. 110 Der erfundene Name des Schlosse wurde wie jener des nächstgelegenen Ortes „Waldberghoff-Trarbk-Dickdorff“ allgemein als Anspielung auf die deutsche Sprache mit ihren harten Konsonanten verstanden. 111 Der Name bedeutet auf Griechisch soviel wie „Allesdeuter“ und ist wie seine wiederkehrenden Reden eine Parodie auf Leibniz und seine Philosophie. 112 Ebd., 6. 113 Jeweils Zitate aus dem in Anm. 105 genannten „Essai de Théodicée“. 114 Ebd., 5.
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Nachdem Cunégonde den Hauslehrer Pangloss im Garten des Schlosses zufällig dabei
beobachtet, wie er hinter schützendem Gebüsch der hübschen und ‚gelehrigen‘ Kammerzofe
Paquette eine praktische „leçon de physique expérimental“115 erteilt, ist sie versucht, „les effets
et les cause“116 der zufälligen Beobachtung auch ihrerseits auszuprobieren, wobei ihr der junge,
sie verehrende Candide gerade recht kommt.
Hinter einem Wandschirm aber werden beide in flagranti vom strengen Baron entdeckt, der nun
die zu erwartende Entscheidung trifft: Candide wird „à grands coups de pied dans le derrière“117
aus dem westfälischen Kleinod wie aus einem „paradis terrestre“118 vertrieben. Nun folgt eine
Art Odyssee des Haupthelden durch die ganze damalige alte und neue Welt, deren einziges Ziel
letztlich die Wiederbegegnung mit Cunégonde ist, die nach der Erstürmung ihres Schlosses
durch die Bulgaren nicht weniger durch Misshandlung und Verschleppung gebeutelt wird als
Candide auf seiner halsbrecherischen Reise. Dieser wird zunächst zum Dienst in eben jenem
bulgarischen Heer verpflichtet (Kap. 2), unter dem es zur Eroberung und Plünderung des
Schlosses von Thunder ten Tronckh gekommen war. Nach seinem Versuch zu desertieren
entgeht er nur knapp der Exekution (Kap. 3). Nach einem zweiten, geglückten Fluchtversuch
gelangt er schließlich nach Holland, wo er seinem alten Lehrer Pangloss wiederbegegnet, der
ihm von der Zerstörung des alten Schlosses sowie dem Schicksal Cunégondes berichtet und ihn
damit in tiefe Trauer und Scham versetzt (Kap. 4).
Zusammen mit Pangloss und dem Wiedertäufer Jacques, gelangt Candide nach Lissabon und
erlebt dort jenes historische Erdbeben von 1755 (Kap. 5) und ein darauf folgendes Autodafé,
dem Pangloss zum Opfer fällt (Kap. 6). Der Bestürzung über den vermeintlichen Tod seines
Lehrers weicht jedoch überschwängliche Freude, als er kurz darauf der todgeglaubten
Cunégonde begegnet (Kap. 7 und 8). Als aber deren Liebhaber, der Jude Issacar sowie der
Großinquisitor, hinzukommen und ihres Nebenbuhlers gewahr werden, wird der arglose
Candide unter Bedrängnis zum Mörder und zwingt damit sich, Cunégonde und deren alte
Dienerin erneut zur Flucht, die sie über Cadiz in die neue Welt nach Buenos Aires führt (Kap. 9
und 10). Durch den dortigen Gouverneur werden die drei wieder getrennt (Kap. 13). Candide
gelangt dabei mit Cacambo, seinem neuen Gefährten aus Cadiz, zu den Jesuiten nach Paraguay.
Hier begegnet er in der Person des Kommandanten einer ihrer Reduktionen dem ebenfalls
todgeglaubten Bruder Cunégondes. Als dieser aber von den Heiratsplänen Candides erfährt,
kommt es zum Streit, an dessen Ende Candide – erneut unter Notwehr – seinen künftigen
Schwager ersticht (Kap. 14). Auf der Flucht geraten Candide und Cacambo in eine Horde von
Kannibalen, der sie nur mit Mühe entkommen (Kap. 16).
115 Ebd., 6. 116 Ebd. 117 Ebd., 7. 118 Ebd.
23
Schließlich gelangen sie in das märchenhafte Land „Eldorado“, in dem Candide nun endlich
jene „meilleur de mondes possibles“ zu erkennen glaubt, von der sein Lehrer Pangloss stets
sprach (Kap 17 und 18). Doch die Abwesenheit Cunégondes treibt Candide auch von hier
wieder fort. Gemeinsam mit Cacambo verlässt er es und kehrt, mit kostbaren Schätzen beladen,
nach Buenos Aires zurück. Hier soll der gewitztere Cacambo Cunégonde aus den Händen des
Gouverneurs freikaufen, während Candide die Reise zurück nach Europa antritt (Kap. 19).
Diese Reise in die alte Welt, auf der ihn der mittellose Philosoph Martin begleitet – in seiner
pessimistischen Grundeinstellung ein Gegenpol zu Pangloss –, wurde von Voltaire nur noch
beiläufig behandelt (Kap. 20ff). Weniger die Fahrt selbst, als die durch sie ausgelösten
philosophischen Überlegungen und Streitgespräche stehen jetzt im Vordergrund: von der
zwielichtigen Tischgesellschaft der Marquise de Parolignac in Paris (Kap. 22), der Begegnung
mit dem Mönchsbruder Giroflée und seiner weiblichen Begleitung, die sich als die ehemalige
Kammerzofe Paquette herausstellt (Kap. 24), über den Besuch beim reichen Senator
Pococuranté (Kap. 25) bis hin zum Abendessen mit den sechs entthronten Königen in Venedig
(Kap. 26).119
In den letzten Kapiteln spitzt sich sowohl die Handlung des Romans, als auch seine
philosophische Aussage auf eine letzte Lösung hin zu. Als Candide von Cacambo erfährt, dass
sich Cunégonde als Sklavin in der Nähe von Konstantinopel aufhält, nimmt er mit ihm und
Martin das nächste Schiff dorthin und stellt unterwegs überrascht fest, dass auf ihm der alte
Lehrer Pangloss und der junge Baron als Galeerensklaven dienen (Kap. 27). Sie werden, wie
später Cunégonde und deren alte Dienerin, von Candide freigekauft (Kap. 28 und 29). Obwohl
Cunégonde durch zahlreiche Schicksalsschläge ihre einstige Schönheit verloren hat, nimmt sie
Candide zur Frau und findet mit ihr, der Alten, Pangloss, Martin und Cacambo die „meilleur de
mondes possibles“ auf einer kleinen Zitronen- und Pistazienfarm nahe Konstantinopel. Hier
folgen sie dem Beispiel eines greisen Bauern, der sich damit begnügt, „d’envoyer vendre les
fruits du jardin, que je cultive“120 und entsagen schließlich aller Versuche einer philosophischen
Erklärung der Welt und des Übels in ihr (Kap. 30). So erwidert Candide die letzte große Rede
seines trotz allem unverbesserlichen Lehrers Pangloss121 mit dem sprichwörtlich gewordenen
Satz: „Cela est bien dit [...], mais il faut cultiver notre jardin.“122
119 Einige dieser Episoden, wie der Aufenthalt in Frankreich, wurden von Voltaire erst nachträglich eingeschoben. 120 Ebd., 147f. 121 Im vierten Kapitel heißt es: „Pangloss, dans la cure, ne perdit qu’un œil et une oreille“ und am Ende desselben Kapitels ist die Rede vom „docteur borgne“ (ebd., 19f). 122 Voltaire 2004, 150.
24
3.1.2. Sprachliche und stilistische Besonderheiten
In seiner Voltaire-Biografie schrieb Jean Orieux in den Ausführungen zum Candide vom
„unübertrefflichen Meisterwerk [...] einer schon tausendjährigen Sprache, die ihren Höhepunkt
erreicht hat und nun ein paar Seiten lang Atem schöpft, bevor sie wieder absinkt“123. Mit einer
Reihe anderer Biografen ist Orieux sich darin einig, dass die Originalität Voltaires nicht zuerst
in der Tiefe oder Neuartigkeit seines Denkens, sondern in der knappen und kristallklaren
Sprache lag,124 mit der er dem Geist einer ganzen Nation und Epoche Ausdruck verlieh. Trotz
aller Verspottungen der französischen Gesellschaft stand Voltaire dabei ganz in der Tradition
des „alten, echt französischen […] bon sens“125. Wie das Jahrhundert, indem er lebte, war er von
den beiden großen gegensätzlichen Strömungen des Rokoko und der Aufklärung geprägt, die
sich in seinem Werk auf originelle Weise „ineinanderschlingen“126. Die immer neuen, den Leser
ohne Vorbereitung überraschenden Erlebnisse und Unglücksfälle sowie deren witzige und
geistreiche Kommentierungen reihen sich nach Stackelberg in „freier doch wohl disziplinierter
Phantastik […] wie Rokokoornamentik“127 aneinander.
Anders als dort aber gefiel sich Voltaire nicht in allzu gekünstelter und weit schweifender
Sprache. Vielmehr verzichtete er bewusst auf die Ausführung aller für die eigentliche Handlung
nicht unmittelbar bedeutsamen Erzählelemente und ermöglichte so deren ungewöhnlich zügiges
Voranschreiten.128 Die bisweilen noch gegenwärtige, kunstvoll geschwungene Sprache des
Rokoko erhielt so eine freie, heitere und vor allem parodistische Note. Die äußerst kurzweiligen
Episoden des Romans gleichen „reizvollen Miniaturbildchen“129 der Epoche. In ihren Figuren
wurden, ähnlich wie bei der commedia dell’arte, bestimmte Typen der Gesellschaft karikiert
und damit der Eindruck eines burlesken Spiels aus Wirklichkeit und Phantasie erzeugt. Obwohl
angesichts der „fürchterlichsten Schicksalsschläge“, die Voltaire im Candide mit „geradezu
mechanischer Präzision […] auf alle Beteiligten“130 niederprasseln ließ, beim Leser eigentlich
Entsetzen zu erwarten ist, tritt doch das Gegenteil ein. Sie lösen einen Schrecken aus, der auf
halbem Wege im Lachen erstickt: „Wir lachen mit Voltaire und schütteln etwas von unserer
Erdenlast ab“131.
123 Orieux, Jean, Das Leben des Voltaire, Frankfurt 1968, Bd. 2, 183. 124 Vgl. Stackelberg 1970, 372; Schick, Ursula, Zur Erzähltechnik in Voltaires „Contes“, München 1968, 14. 125 Stackelberg 1970, 371. 126 Klemperer 1959, XXIX. 127 Stackelberg 1970, 372. 128 Vgl. Orieux 1968, 182. 129 Stackelberg 1970, 371. 130 Baldischwieler 2004, 178. 131 Ebd. Schon für Voltaires Zeitgenossen Johann Heinrich Mersch stellte sich beim Lesen des Candide „behagliches Lachen“ ein, „weil nichts dabey ins Gedränge kommt, was dem Menschen lieb und ehrwürdig ist, sondern es ist bloß Larve, Caricatur, worüber man lacht“. Zit. nach: Krebs, Roland, „Schmähschrift wider die weiseste Vorsehung“ oder „Lieblingsbuch aller Leute von Verstand“? Zur
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Voltaires besondere Verbindung aus Dramatik und Leichtigkeit des Erzählens lässt
unweigerlich an das Theater denken. Hier zeigt sich die Prägung seiner überwiegenden
Tätigkeit als Dramatiker in den Jahrzehnten zuvor. Für Klemperer blieb er deswegen auch in
seinen spät entstandenen kleinen Romanen wie dem Candide letztlich ein „auf Bühnenwirkung
bedachter Theatraliker“132. Ihre außergewöhnliche Kürze und Prägnanz, die agile Lebendigkeit
ihrer kaum noch realen Figuren133 sowie die „beweglichen, sprühenden Prosa-Dialoge“134
erscheinen als unverkennbares Erbe dieser Beschäftigung. Besonders nah sind Voltaires contes
philosophiques vor allem dem seinerzeit populären Puppen- oder Marionettentheater, für das er
selbst während seiner Jahre in Cirey135 auf dem Schloss der Marquise de Châtelet begeistert
Verse geschrieben hatte.136 Hier verband sich auf spielerische Weise die Kleinkunst des Rokoko
mit den aufklärerischen Tendenzen der neuen Zeit.137 Im Unterschied zum klassischen Theater
zeigte das Marionettentheater zudem eine gewisse Neigung zur epischen Form und kam damit
den Romanen Voltaires von der Richtung des Theaters her entgegen.
Typisch für das Marionettentheater sind dabei die dicht aufeinander folgenden, oft durch das
wiederkehrende „Es geschieht“138 untereinander verbundenen, kurzen Szenen. Sie spiegeln sich
auch im episodischen Charakter der kleinen Romane Voltaires, in welchen die Figuren in immer
neue Abenteuer gestürzt werden, ohne dass je ganz eine „geschlossene Szene“139 entworfen
wird. Oft ist das Ende einer vorausgegangenen Geschichte immer schon der Auftakt zu einer
neuen.140 Die Figuren erscheinen dazwischen wie rastlos und können bei dem ihnen auferlegten
Programm kaum Menschen aus Fleisch und Blut sein. Ihre Realität ist einzig die der Poesie,
weswegen die in ihrem Zusammenhang immer wieder aufkommende Assoziation von
Marionetten kaum verwundert.141 Klemperer schrieb in diesem Sinne allgemein über Voltaires
kleine Romane:
Die Helden des bunten Romangeschehens aber sind bei Voltaire häufig und jedes Mal die längste Zeit ganz offenkundig keine beseelten Wesen, an denen man
Rezeption des „Candide“ in Deutschland, in: „Pardon, mon cher Voltaire“. Drei Essays zu Voltaire in Deutschland, Göttingen 1996, 101. 132 Klemperer 1959, XII. 133 Sareil schrieb: „Candide vit mais dans l’abstraction.“ (Sareil, Jean, Essai sur Candide, Genf 1967, 93). 134 Klemperer 1954, 36. 135 Das an der französisch-lothringischen Grenze befindliche Cirey war zwischen 1734 und dem Todesjahr der Marquise de Châtelet, 1749, das Hauptdomizil Voltaires. 136 Vgl. Dorst, Tankred, Marionetten, München 1957, 38. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts galt das Marionettentheater als die „Mode des Tages“. Vgl. ebd. (in Deutschland etwas später beispielsweise in dem von Kleist Anfang des 19. Jahrhunderts geschriebenen Essay “Über das Marionettentheater”). 137 Bei William F. Bottiglia war vom 18. Jahrhundert als dem „Goldenen Zeitalter der Marionette“ die Rede (Bottiglia, William F., Voltaire’s Candide: Analysis of a Classic, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century. Bd. VII, Oxford 1959, 76). 138 Vgl. Dorst 1957, 54. 139 Vgl. Meister 1999, 285. 140 Vgl. Boban 2002, 16. 141 Vgl. Dorst 1957, 41, Bottiglia 1959, 74ff; Baldischwieler 2004, 178, auch von Aichele so charakterisiert. Letzterer sprach von „puppets set in motion by the author’s ironic intentions“. (Aichele 2002, 25).
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Herzensanteil nimmt, sondern Marionetten, deren drollige Bewegungen im Leiden und Sterben nicht anders als im heiteren Genießen allein den Intellekt unterhalten. Doch dann geschieht es unvermutet, daß sich die Puppen mit einemmal in Menschen verwandeln und wirklich rühren; man erwärmt sich für sie, und schon sind sie wieder zu Marionetten zurückverwandelt. In solchem ständigen Wechsel von Puppe zu Mensch und Mensch zu Puppe, von Kälte zu Wärme und neuer Kälte, in diesem ständigen Wechselbad aus Spiel und Ernst liegt die absolute Eigenart der kleinen Romane beschlossen.142
Im Candide als dem berühmtesten dieser Romane ist aber nun nach Klemperer auch die
„Marionettenkunst Voltaires aufs großartigste entfaltet“143. Was bei Voltaire jedoch so leicht
und unbeschwert wirkt, war – ähnlich, wie später bei Klee – Ergebnis langer und intensiver
Arbeit. Voltaire selbst hat gern mit der Legende kokettiert, seinen Candide in nur drei Tagen
geschrieben zu haben.144 Heute aber geht man davon aus, dass er den 1759 erschienenen Roman
bereits 1757 begonnen und in den folgenden beiden Jahren immer wieder verschiedene
Versionen mit seinen Freunden besprochen hat.145 Die ihn kennzeichnende besondere Kürze
und ironische Verdichtung – Dominanten des Voltairischen Stils – sind also „nicht geniale
Zufallsprodukte, sondern Ergebnis eines bewussten Formwillens, der sich in langwierigen
Überarbeitungen ausdrückte“146.
Durch die häufige Verwendung betonter Verbalsätze mit immer wieder eingeflochtener
wörtlicher Rede, den beinah vollständigen Verzicht auf logisch bindende Konjunktionen und
Relativsätze147 sowie die mit den handelnden Personen teilweise überraschend wechselnden
Zeitformen erreichte Voltaire bereits auf rein formaler Ebene die von ihm beabsichtigte und für
seine kleinen Romane typische Beschleunigung des Rhythmus. Mit Eleganz und scheinbar
spielerischer Leichtigkeit bediente sich Voltaire zudem verschiedener rhetorischer Stilmittel.
Besonders herausgehoben werden sollen hier jene Mittel, welche die besondere, den satirischen
Roman kennzeichnende Spannung zwischen Empathie und Distanz beim Leser bewirken. Zu
ihnen gehören die in ihrer Anlage zum Pathos tendierenden Stilmittel der Hyperbel und der
Accumulatio, bei denen die beabsichtigte Aussage durch Steigerung im Wortsinn oder durch
Massierung in gezielter Aneinanderreihung gleichbedeutender Wort- oder Sinngruppen
verstärkt wird. Voltaire führte diese Mittel dabei so weit, dass seinem Leser der fiktive
Charakter der Erzählung von Beginn an bewusst ist. Ein anschauliches Beispiel hierfür stellt die
später auch von Klee aufgenommene Stelle mit der Charakterisierung des Pangloss am Ende des
dritten Kapitels dar, wo ihm Candide als Bettler in Holland begegnet:
142 Klemperer 1959, XXXI. 143 Ebd., XXXVI. 144 Sander 2002, 115. 145 Ebd. 146 Schick 1968, 14. 147 Stackelberg 1970, 372.
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Le lendemain, en se promenant, il rencontra un gueux tout couvert de pustules, les yeux morts, le bout du nez rongé, la bouche de travers, les dents noires, et parlant de la gorge, tourmenté d’une toux violente et crachant une dent à chaque effort.148
Hier ist die von Voltaire vorgenommene Reihung derart lang, dass sie in der deutschen
Übersetzung durch Ilse Lehmann in drei eigenständige Sätze getrennt, damit allerdings auch die
von Voltaire beabsichtigte Wirkung gemindert wurde.149 Weitere wichtige Stilmittel sind die
das Pathos ins Gegenteil wendenden Stilfiguren des Bathos und der Antiphrasis, bei welchen
durch den sinnhaften oder äußeren Umschlag vom Erhabenen ins Banale oder aber durch einen
offenkundigen Widerspruch zwischen dem Inhalt und der Art und Weise seiner Formulierung
ebenfalls Distanz geschaffen wird. Ersteres findet sich etwa im 13. Kapitel, wo Cunégondes alte
Dienerin dieser zuredet, das Ersuch des Statthalters von Buenos Aires, „Don Fernando d’Ibera y
Figuera y Mascarenes y Lampurdos y Suza“150, um ihre Hand anzunehmen und dies damit
begründet, dass sie die Frau des „plus grand seigneur de l’Amérique méridionale“ werden könne
und zudem eines Mannes, „qui a une très belle moustache“.151 Der Stilfigur der Antiphrasis
bediente sich Voltaire dagegen unter anderem im 23. Kapitel, wo Candide und Martin auf ihrer
Reise zurück nach Europa vor der Küste von Portsmouth die von einer großen Menschenmenge
verfolgte Exekution eines englischen Kapitäns beobachten, über die es im Roman heißt: „[…]
quatre soldats, postés vis-à-vis de cet homme, lui tirèrent chacun trois balles dans le crâne le
plus paisiblement du monde, et toute l’assemblée s’en retourna extrêmement statisfaite“.152
Darüber hinaus bediente sich Voltaire gern der Parodie, die eine ähnliche Spannung zwischen
Bestätigung und Spott und damit erneut ironischen Abstand erzeugt. Dabei wurden von ihm
Konventionen der Gesellschaft ebenso wie solche der Kunst und Literatur parodiert. So stellt die
Gattung von Voltaires kleinen Romanen insgesamt eine Parodie des seinerzeit populären,
langatmigen Abenteuerromans dar. Neben ihm finden sich im Candide jedoch auch
Anspielungen auf den spanischen Schelmenroman, wie Miguel de Cervantes berühmten Don
Quijote, oder auf die Mode des Märchens, wie sie etwa in Jonathan Swifts nur wenige Jahre
zuvor erschienenem phantastischen Roman Gulliver’s travels und mehr noch in den seinerzeit
äußerst beliebten Märchen aus 1001 Nacht zu finden waren. Auch die Art und Weise der
Auseinandersetzung Voltaires mit den Leibnizschen Ideen, die den Roman wie ein roter Faden
durchzieht, geschieht meist in der Form der Parodie, wovon allein der Titel ein beredtes Zeugnis
gibt. Auf all diese Vorlagen griff Voltaire frei zurück und erreichte mit ihrer Hilfe jenes teils
groteske, teils burleske Zerrbild der Wirklichkeit, in welchem die scheinbar körperlosen Figuren
wie Karikaturen oder eben wie Marionetten und die erzählten Ereignisse und Handlungen so
148 Voltaire 2004, 15. 149 Vgl. Voltaire, Candide oder der Optimismus, Leipzig 1992, 21. 150 Auch der Name des Statthalters ist ein schönes Beispiel für das Stilmittel der Accumulatio und seiner Steigerung ins Lächerliche. 151 Voltaire 2004, 54. 152 Ebd., 112.
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unwirklich erscheinen, dass sie zwangsläufig die Assoziation des Theaters und der Bühne
wecken:
Der philosophisch unbelastete Candide, sein optimistischer Freund, sein pessimistischer Freund, seine Geliebte, ihr adelsstolzer Bruder: alle sind sie Puppen, sie können das grässlichste Unheil erleiden, die scheußlichsten Verstümmelungen, sie können zu Tode kommen, und doch stehen sie immer wieder auf, einigermaßen ramponiert, aber imstande weiterzuleben und sogar – darauf kommt es an – mit einem gewissen Lebensgenuß.153
3.1.3. Kurze Rezeptions- und Illustrationsgeschichte
Wie bei zahlreichen anderen seiner Werke ließ Voltaire den Roman, wie damals bei kritischen
Schriften üblich, anonym erscheinen und dichtete ihn gemäß seinem Inhalt einem unbekannten
Deutschen an. So heißt es in seinem Untertitel lediglich:
Traduit de l’allemande de M. le doctor Ralph, avec les additions qu’on a trouvées dans la poche du docteur, lorsqu’il mourut à Minden, l’an de grâce 1759.154
Doch gab es hinsichtlich der Autorschaft schon zu Beginn kaum Zweifel. In Genf, Paris,
Leipzig und Rom wurde die „Schmähschrift wider die weiseste Vorsehung“155 bald nach
Erscheinen verboten, damit jedoch entscheidend die Nachfrage nach ihr angekurbelt. Der
Roman erschien am 22. Februar 1759 in einer für damalige Verhältnisse bereits hohen, einen
sehr guten Verkauf erwartenden Auflage von 2000 Exemplaren in Genf. Zudem wurde
innerhalb weniger Tage die Buchvorlage nach Paris und Amsterdam verschickt, sodass das
Buch auch hier in Auflagen von 1000 sowie 200 Exemplaren verkauft werden konnte. Auch
nach London und Brüssel kamen binnen kürzester Zeit Exemplare des Buches. Von Voltaire
war aus strategischen Gründen eine nahezu gleichzeitige Veröffentlichung anvisiert worden.
Und tatsächlich verbreitete sich das Buch von diesen Zentren aus innerhalb weniger Wochen in
ganz Europa. Bis Anfang März wurden trotz der raschen Verurteilung in Paris bereits über 6000
und in ganz Europa etwa 20 000 Exemplare verkauft. Als der Vatikan 1762 das Buch auf den
Index setzte, galt es bereits als Klassiker. In den drei folgenden Jahrzehnten bis 1789 erlebte es
ganze 48 Auflagen. Neben Rousseaus La nouvelle Hélöise gehört es zu den bekanntesten und
meistgelesensten Büchern des 18. Jahrhunderts.156
Ein Blick in die Geschichte der Illustration des Candide zeigt, dass dabei zunächst die oben
erwähnte Dimension des „lustrare“ im Vordergrund stand. Die ersten Illustrationen erschienen
153 Ebd., XXXVII. 154 Zit. nach: Voltaire 2004, 3. 155 Zit. nach: Krebs 1996, 91. 156 Der gesamte Abschnitt über die Auflagen und ihre Höhe ist Pearsons Studien entnommen: Pearson, Roger, The Fabels of Reason. A Study of Voltaire’s ,Contes Philosophique’, New York 1993.
29
1778 von Chodowiecki (1726-1801) und wurden, zusammen mit der Übersetzung von Mylius,
in Deutschland ein großer Erfolg (Abb. 31). Dabei mochte den Leser die ungleiche Verteilung
der nur wenigen „matten“157 Stiche zunächst verwundern. Ihr verhalten komischer und mitunter
theatralischer Charakter aber kam dem Roman bedeutend näher, als die meisten späteren
Illustrationen. Auch die etwa zeitgleich entstandenen Stiche Charles Monnets (1732-1816)
atmen noch den Geist des Rokoko, ohne ihn, wie bei Voltaire, kritisch zu reflektieren oder gar
zu parodieren (Abb. 32). Die ein Jahrzehnt darauf erschienenen Illustrationen Jean-Michel
Moreaus, genannt Moreau-le-Jeune (1741-1814), standen dagegen schon unter dem Einfluss des
Klassizismus sowie teilweise der frühen Romantik (Abb. 33). Ihre Figuren bewegen sich mit
leichter Theatralik in oft kulissenhaftem Raum. Obwohl sie darin Voltaires Vorlage nahe
kommen, fehlt ihnen doch ganz deren Witz und Ironie.
Nach Moreau-le-Jeune folgten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder mehrere
neue Illustrationszyklen französischer Künstler, von denen die 1893 erschienenen Holzstiche
und Radierungen nach Aquarellen des französischen Genremalers Adrien Moreau die größte
Bekanntheit erlangten (Abb. 34-38). Sie waren, wie noch zu zeigen sein wird, auch für Klee und
seine motivische Annäherung an Voltaires Text von Bedeutung. Als reines Erzählwerk im
historisierenden Stil geben sie zwar den Inhalt treu wieder, ignorieren aber ebenfalls weitgehend
die für Voltaire charakteristische Ironie und Theatralik. Obwohl Klee sich von ihnen, wie Boban
plausibel nachweist, in motivischer Hinsicht anregen ließ, handelt es sich hinsichtlich des
Charakters bei den Arbeiten Klees und denen Moreaus, wie Ersterer selbst sagen würden, doch
um „entfernte Welten“158. Mit seinen Arbeiten zum Candide schlug Klee ein neues Kapitel in
dessen Illustrationsgeschichte auf und versuchte erstmals konsequent auch dem besonderen
sprachlich künstlerischen Charakter der Dichtung Voltaires gerecht zu werden, wie es Jean
Sareil offenbar ohne Wissen um dessen Zeichnungen noch 1967 forderte:
Pour ma part, j’ignore comment je représenterais ces personnages si j’en avais l’habilité, mais je sais bien que tous les dessins que j’ai vus m’ont toujours déçu par leur matérialisation même. Candide vit mais dans l’abstraction ; on ne saurait le reproduire, il faudrait le recréer.159
157 Sander 2002, 118. 158 Klee nutzte diese Formulierung, um sich gegen oberflächliche Vorwürfe der Primitivität und der Kindlichkeit seiner Arbeiten zu wehren (zit. nach: Werkmeister 1981, 124). 159 Sareil 1967, 93.
30
3.2. Klees Auseinandersetzung mit dem Text
3.2.1. Die Geschichte des Illustrationsplanes
Bereits Ende 1905 erwähnte Klee Voltaires Candide in einem Brief aus Bern an seine spätere
Frau Lily in München. Hier heißt es, dass ihm die Lektüre des Romans vom befreundeten Sohn
eines Berner Universitätsprofessors, Heinz Lotmar, empfohlen worden sei, zu dessen Familie
ein für Klee offenbar sehr inspirierender Kontakt bestand.160 Bald darauf muss Klee sich die
Anregung des Freundes zu Herzen und den Roman zur Hand genommen haben. Denn schon
Anfang des Jahres 1906 beschrieb er Lily in einem weiteren Brief seine ersten konkreten
Eindrücke von dessen Lektüre:
[…] angefangen „Candide“ von Voltaire, herrlich zu lesen, ein ganz überragender Geist, wunderbare Sprache, einfach, gescheidt, witzige Combinationen, höchster Geist! Es ist ein abenteuerlicher, satirischer Roman. So bald ich wieder einige ruhige Stunden habe, so zwischen 11 und 1 Uhr, vielleicht heute schon, lese ich weiter. Es ist auch nicht so lang. Das wäre auch etwas für Dich!161
Diesen knappen, begeisterten Sätzen sind bereits elementare Beobachtungen zu entnehmen, die
für Klees weitere Beschäftigung mit dem Roman und schließlich auch für den Wunsch zu
dessen Illustration von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Seine emphatische
Charakterisierung betrifft dabei vor allem den Geist und die Sprache des Romans, womit Klee
sehr schnell und sicher zu erkennen scheint, worin in erster Linie das Wesen des Voltairischen
Genies bestand. Zugleich steckte Klee in seiner Aussage über das Werk auch den
gestalterischen Rahmen ab, in welchem sich Voltaire bewegte: die eigenwillige, höchst reizvolle
Verbindung aus Einfachheit, Klarheit und Schlichtheit auf der einen sowie funkensprühender
Gescheitheit und Witzigkeit auf der anderen Seite. Sie wird Klee noch oftmals beschäftigen und
auch ihren Niederschlag in seinen Arbeiten zum Candide finden. In seinem Tagebuch hielt er
im Januar 1906 fest: „Gelesen habe ich auch und zwar ein einzigartiges Buch: Candide von
Voltaire. Drei Ausrufezeichen.“162 Noch zweimal ging Klee in seinen Briefen an Lily aus dieser
Zeit auf die Lektüre des Candide ein und legte ihr den Roman als „eines der markantesten
Werke der Weltliteratur“163 ans Herz.
Danach aber verstummte die Rede Klees zum Thema Voltaire und Candide in seinen
schriftlichen Zeugnissen für gut dreieinhalb Jahre. Erst gegen Ende des Jahres 1909 war es der
Gedanke an die Illustration, der ihm die Sprache des Franzosen wieder ins Gedächtnis und den
Candide ins Visier seiner konkreten künstlerischen Pläne rief:
160 Brief an Lily vom 01.12.1905, zit. nach: Klee 1979, 555. 161 Karte an Lily vom 13.01.1906, zit. nach: ebd., 571. 162 Klee 1988, Absatz Nr. 743. 163 Brief an Lily vom 31.01.1906, zit. nach: Klee 1979, 582.
31
Illustrationsplan: Candide von Voltaire ergibt bei seinem gedrängten Reichtum eine Unzahl von Illustrationsanreizen, Sonderegger rät mehr für die sentimentale Reise [Laurence Sterne: A sentimental Journey, Anm. d. Verfassers] zu, die ich infolgedessen lese, und gewiss mit grosser Freude. Weniger Illustrationsversuchungen machen den Nachteil zwar a. nicht aus, den ich diesem Werk als Illustrator, der ich nun einmal versuchsweise werden will, zuerkenne. Es ist an Candide ein Höheres was mich anzieht, der kostbar-sparsam-treffende Ausdruck der Sprache des Franzosen.164
Erneut war es vor allem die besondere Sprache, welche die Wahl seiner Illustrationspläne auf
Voltaires Candide lenkte. Und wieder nahm er eine ganz ähnliche Charakterisierung derselben
vor. Hatte er 1906 von „Einfachheit“ einerseits und „höchste[m] Geist“ andererseits gesprochen,
so fasste er den darin liegenden Spannungsbogen nun in dem eigenen begrifflichen Konstrukt
des „kostbar-sparsam-treffende[n] Ausdruck[s]“, durch den sich der Candide etwa von
Laurence Sternes Sentimental Journey unterschied. Auf inhaltlicher Ebene entsprach Klees
damaliger Herausstellung „witzige[r] Combinationen“ nun die Bemerkung vom „gedrängten
Reichtum“ des Romans, der eine „Unzahl von Illustrationsanreizen“ barg. Dass für Klee
seinerzeit die Beschäftigung mit Voltaire wirklich aktuell war, zeigt sich auch in den ihm von
Sonderegger im Dezember übereigneten zwei Bänden mit weiteren Schriften Voltaires.165 Hier
merkte Boban mit Recht an, dass ein solches Geschenk von Seiten Sondereggers, der ihm noch
wenige Wochen zuvor zu Sternes Sentimental Journey geraten hatte, eine gewisse
Entschlossenheit Klees bei der Umsetzung seines Plans zur Illustration des Candide verrät.166
Und so wurde auch von Wilhelm Hausenstein nicht ausgeschlossen, dass Klee bereits 1909 mit
der Arbeit an den Illustrationen begonnen hat.167 Da sich jedoch keine Werke aus dieser Zeit im
Oeuvre-Katalog finden lassen, muss jenen frühen Arbeiten später die Aufnahme in diesen
verweigert worden sein.168 Eine gewisse Unzufriedenheit, die als Grund hierfür in Frage
kommen könnte, ist zumindest einem Tagebucheintrag vom Frühjahr 1911 zu entnehmen, in
dem es heißt, dass zunächst „für Candide wenig heraussprang, ausser Mühen und Mühen“169.
Dieser wohl bei der Revision des dritten Bandes der Tagebücher zu Beginn der 1920er Jahre
auch veränderte Tagebucheintrag, dem offenbar Notizen oder Erinnerungen Klees aus mehreren
Monaten bis Ende Mai 1911 zugrunde lagen, stellt einen ersten, feststehenden terminus ante
164 Klee 1988, Absatz Nr. 865. 165 Voltaire, Oeuvres complètes de Voltaire. Romans, Tombe II, Chez J. Esneaux, Paris MDCCXXII. Voltaire, Pièces inédites de Voltaire. Imprimées d’après les manuscrits originaux pour faire suit aux differentes éditions publiées jusqu’à ce jour, l’imprimerie de P. Didot l’ainé, Paris MDCCCXX. Siehe: Boban 2002, 48. 166 Vgl. ebd. 167 Hausenstein, Kairouan, 80, zit. nach: Haxthausen 1981, 326. Pasquali ging sogar davon aus, dass Klee die Arbeit an den Illustrationen bereits 1906 begonnen hat: „iniziato fin dal 1906, e sempre ripreso e messo daparte, perché non si era ancora mai sentito abbastanza maturo“ (Pasquali, Marilena, Klee e l’editoria d’arte: volumi illustrati e riviste, in: Pasquali, Marilena [Hrsg.], Paul Klee. Figura e metamorfosi, Kat. Ausst. Bologna Museo Morandi, 25.11.2000-04.03.2001, Bologna 2000, 231). 168 Vgl. Haxthausen 1981, 326. 169 Klee 1988, Absatz Nr. 897.
32
quem für den eigentlichen Beginn der Illustrationsarbeit dar. In ihm schilderte Klee zudem
manche Hintergründe über die näheren Umstände der Arbeit und lieferte bereits erste, noch
genauer zu erörternde Versuche einer Wertung und Würdigung der Illustrationen:
Aus einer gewissen Depression heraus, die sich im Hinblick auf äusseren „Erfolg“ einstellen wollte schüttelte ich mich gewaltig. Ich musste mich schütteln, weil mir für ein De profundis das jammervolle Abführungsorgan fehlt. Vater Voltaire gefiel das, er jammerte ja auch nie, und gab mir einen Wink. Gleich war ich zur Stelle und machte mich jetzt sogleich an die Illustrationen von Candide. Ich fand auf seinen Wegen manches verlegte Gewicht, was früher zu meiner Balance nötig, an seinem Ort war, vielleicht fand ich überhaupt mein eigentliches Ich jetzt wieder – doch hierüber schwanken immer noch die Meinungen in mir. Daneben liefen zunächst Vermittlungsversuche mit der Aussenwelt 1911/41, 1911/42/43 etc. aber dann intermittierten die Wissenschaften, während zunächst für Candide wenig heraussprang, ausser Mühen und Mühen. Bis dann im wunderschönen MM auch hier eine Art Frühling zu erwachen begann. Die Arbeit kam mit dem ersehnten Gleichmass ins Rücken. Eigentlich wollte ich noch vieles Schöne sagen, aber gegen Fanfaren bin und bleibe ich abergläubisch.170
Insbesondere der letzte Abschnitt des Eintrags gibt einige Anhaltspunkte für einen ungefähren
zeitlichen Rahmen für den Beginn der Arbeiten an den Illustrationen. So dürfte mit dem Kürzel
MM, wie Kersten annahm, der Monat Mai des Jahres 1911 gemeint gewesen sein.171 Den
Aussagen Klees zufolge aber muss es auch eine Zeit der Beschäftigung mit den Illustrationen
vor jenem MM gegeben haben, in dem die Arbeit „mit dem ersehnten Gleichmass ins Rücken“
kam. Daraus ergibt sich ein Beginn spätestens im April dieses Jahres, wie in der Forschung im
Allgemeinen angenommen.172 Einen terminus post quem liefert indes Klees Erwähnung der
parallel zu den ersten Illustrationsversuchen laufenden „Vermittlungsversuche mit der
Aussenwelt“. Versteht man diese nämlich als Andeutung der Begegnungen mit Alfred Kubin
seit dessen Besuch bei Klee im Januar 1911 und der sich aus ihnen offenbar noch im Laufe der
ersten Hälfte desselben Jahres ergebenden weiteren Kontakte zur jungen Münchner Kunstszene,
so dürfte ein Beginn der eigentlichen Arbeit an den Illustrationen nicht vor Februar 1911
anzusetzen sein.173
Vergleicht man nun die Äußerungen Klees aus dem Tagebuch mit dem Befund im Oeuvre-
Katalog, fällt eine geradezu verblüffende Übereinstimmung auf. Die erste, dort als solche
170 Klee 1988, Absatz Nr. 897, Anm.: Redaktion des dritten Bandes der Tagebücher nicht vor Herbst 1921 (vgl. Kersten, Wolfgang, Nachwort in: Paul Klee. Tagebücher 1898-1918. Textkritische Neuedition, hrsg. v. der Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, bearb. v. Wolfgang Kersten, Stuttgart u. Teufen 1988, 589). 171 Kersten, Wolfgang, Paul Klees Beziehung zum „Blauen Reiter“, in: Der Blaue Reiter, Kat. Ausst., Kunstmuseum Bern (Hrsg.), Bern 1987, 264. 172 Vgl. Boban 2002, 48. 173 Auch Glaesemer schrieb, Klee habe im Januar 1911, zur Zeit des Besuchs Kubins bei ihm, „mit der eigentlichen Arbeit an der Illustrationen noch nicht begonnen“ (Glaesemer, Jürgen, Paul Klee’s persönliche und künstlerische Begegnung mit Alfred Kubin, in: Zweite, Armin (Hrsg.), Paul Klee. Das Frühwerk 1883-1922, Kat. Ausst. Städtische Galerie im Lenbachhaus, 12.12.1979-02.03.1980, München 1979, 65).
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bezeichnete Arbeit zum Candide ist jene mit der Werknummer 39 des Jahres 1911 (Abb. 42).
Mit den Nummern 41 bis 43 folgen nun die von Klee im Tagebuch im Zusammenhang der
„Vermittlungsversuche mit der Aussenwelt“ genannten Arbeiten. Mit nur einer Auslassung
folgen erneut zwei Arbeiten zum Candide und auf diese eine Reihe von Skizzen und Übungen
zu Pferden und Pferderennen (Abb. 44), die mit dem von Klee so bezeichneten Intermezzo der
„Wissenschaften“174 in Verbindung gebracht werden könnten. Nach ihnen finden sich
schließlich Arbeiten aus jener Phase der intensiven und fruchtbaren Auseinandersetzung im
MM. Zuvor aber ist auch dem Katalog zufolge für den Candide, wie Klee in seinem Tagebuch
schrieb, relativ wenig „herausgesprungen“. Nur drei von insgesamt 14 Zeichnungen vor dem
Mai 1911 stehen im Zusammenhang mit den Illustrationen. Die Beobachtungen bezüglich der
Übereinstimmungen zwischen dem aus der Rückschau zusammenfassenden Tagebucheintrag
und dem Befund des Oeuvre-Katalogs, legen die Vermutung nahe, dass Klee Anfang der 1920er
Jahre bei der Revision seines Tagebuches offenbar den Oeuvre-Katalog als Erinnerungsstütze
zur Hand genommen hat. Geht man nun von einer gleichmäßigen künstlerischen Produktion
zwischen den Monaten Januar und April aus, so dürfte die Zeichnung mit der Werknummer 39
ungefähr in die Zeit von Ende März oder Anfang April fallen, hier also in etwa der Beginn der
Arbeit an den Illustrationen gelegen haben. Als diese Arbeit im Mai 1911 „ins Rücken“ kam,
entstand das bereits allgemein im Zusammenhang von Klees Arbeit als Illustrator erwähnte
Fragment eines Briefes an seine Mutter:
Gegenwärtig arbeite ich an der Illustration eines berühmten Romans, kein Auftrag leider, aber ich will einmal eine Probe ablegen auf dem etwas praktischeren Gebiet.175
Zwar wird aus dem Zitat und auch dem übrigen Brieffragment nicht ersichtlich, um welchen
Roman es sich hier handelt. Da jedoch zu dieser Zeit in keiner der Schriften Klees von einem
anderen Illustrationsprojekt, als jenem zu Voltaires Candide die Rede ist, darf davon
ausgegangen werden, dass Klee hier die Arbeit an den Candide-Illustrationen meinte. Anders
als in den zuvor zitierten Äußerungen zu seiner Arbeit an Voltaires Candide standen in jenem
Fragment die Rechtfertigung des eigenen Berufes vor den Eltern und die Bekräftigung seiner
Mühen um ein finanzielles Auskommen im Vordergrund.176
Auch über den Abschluss der Arbeit an den Illustrationen bleibt zunächst Ungewissheit. Eine
erste diesbezügliche Andeutung findet sich in einem Brief an Kubin vom 19. Mai 1912, in dem
Klee seine Eindrücke von der gemeinsamen Reise mit seiner Frau nach Paris vom 2. bis 18.
174 Hier handelt es sich wohl um die Beschäftigung Klees mit der Fotografie, insbesondere mit den wissenschaftlichen Aufnahmen Muybridges und mit deren Umsetzung mit den Mitteln der bildenden Kunst. Ihr Einfluss auf die Candide-Illustrationen wurde an mehreren Stellen hervorgehoben (Vgl. Werkmeister 1981, 138; Boban 2002, 73ff). 175 Brief an Ida Klee vom Mai 1911, zit. nach: Klee 1979, 765. 176 Vgl. Glaesemer 1973, 178.
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April desselben Jahres schilderte und in Zusammenhang mit der eigenen künstlerischen
Entwicklung brachte:
Von Paris habe ich allerdings allerlei starke Eindrücke mitgebracht. So sehr ich die neuesten Bestrebungen auch gerade da schätzen lernte, sehe ich doch ein, daß ich weniger forschen, und noch mehr an die Ausarbeitung des Persönlichen gehen sollte. Meine Candide Illustrationen erscheinen mir z. Zt. als Basis zu solchen Bestrebungen sehr geeignet. Doch keine Worte, sondern Beweise, besonders ihnen gegenüber!177
Hier sprach Klee bereits mit einem gewissen Abstand von seinen Illustrationen, was ihren
Abschluss nahe legt.178 Außerdem scheint die Tatsache, dass er auf einige, ursprünglich
geplante Illustrationen für mehrere Kapitel im letzten Drittel des Buches verzichtet hat, dafür zu
sprechen, dass er den Zyklus noch vor der vermutlich länger geplanten Reise nach Paris
abzuschließen beabsichtigt hatte. Von Glaesemer ist indes zu erfahren, dass er Anfang Juni
Kubin für einige Tage auf Schloss Zwickledt bei Wernstein in Oberösterreich besucht und dabei
wohl dem erfahrenen Kollegen bereits die vollendeten Illustrationen vorgelegt und ihn um Rat
bezüglich ihrer Publikation gefragt hatte. Doch obgleich diese Annahme plausibel scheint, lässt
sich erst aus dem kurzen, in der Einführung erwähnten Schreiben Franz Marcs an Klee vom
Ende desselben Monats, in dem er von seinen erfolglosen Bemühungen um eine Herausgabe der
Illustrationen beim Münchner Verleger Georg Müller berichtet, entnehmen, dass die Arbeit an
den Candide-Illustrationen zu diesem Zeitpunkt, also im Frühsommer dieses Jahres, bereits
abgeschlossen war.179
3.2.2. Die Arbeit am Text: Klees Voltaire-Ausgabe von 1897
In Meisters zusammenfassendem Beitrag über das illustrative Werk Klees im Katalog der Jenaer
Ausstellung Paul Klee in Jena 1924 vom Frühjahr 1999 ist erstmals auf die Existenz einer
Arbeitsausgabe des Candide im Nachlass Klees und auf deren Bedeutung für das Verständnis
der Illustrationen hingewiesen worden.180 Baumeister ging in ihrer Arbeit aus demselben Jahr
dieser Spur nach und untersuchte eingehend die mit zahlreichen Anmerkungen und
Anstreichungen versehene, französische Romanausgabe von 1897, die Klee als Text- und
Arbeitsgrundlage zu den Candide-Illustrationen gedient hatte.181 Neben einer Reihe von Skizzen
und Tagebucheinträgen stellt sie eine der wichtigsten Grundlagen bei der Untersuchung der
Auseinandersetzung Klees mit der literarischen Vorgabe seiner Illustrationen dar. Auch Boban
177 Brief an Kubin vom 19.05.1912, zit. nach: Zweite 1979, 83. 178 Vgl. Helfenstein, Josef, „Sono il mio stile“- Le concezioni del disegno nell’opera giovanile di Klee, in: Paul Klee. Kat. Ausst. Verona Palazzo Forti 04.07.- 02.11.1992. Verona 1992, 46. 179 Karte von Marc an Klee vom 30.06.1912 (Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee). 180 Vgl. Meister 1999, 285, Anm. 27. 181 Siehe: Baumeister 1999, Kapitel 3.
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ist in ihrer zuletzt zum Thema erschienenen Arbeit ausführlich auf die Bedeutung dieses Textes
und seiner Anstreichungen bei der Entstehung der Illustrationen eingegangen. Dabei schließt sie
nicht aus, dass Klee bereits Ende 1909 mit einem Teil der Eintragungen in diesem Buch
begonnen hat.182
Angesichts seiner Äußerung aus der Zeit der ersten Lektüre über die „Unzahl von
Illustrationsanreizen“183 ist dies durchaus denkbar. Zudem sind die Anstreichungen in
unterschiedlichen Durchgängen erfolgt, wie sowohl Baumeister als auch Boban anhand der
verschiedenen Schreibmittel, mit denen sie vorgenommen worden sind, aufgezeigt haben.184 Für
Boban zeigt dabei die Tatsache, dass auch einige Textpassagen, die von Klee später nicht
illustriert wurden, noch im letzten Durchgang angestrichen worden sind, während andere, die
bis zuletzt nicht im Text fixiert worden sind, von ihm schließlich doch illustriert wurden, dass
alle betreffenden Eintragungen vor Beginn der eigentlichen Illustrationsarbeit erfolgten.185 Auch
wenn eine solche Schlussfolgerung nicht zwingend sein muss, bleibt doch festzuhalten, dass
Klee sich dem Text in fünf anhand der Farbe des Stiftes und deren teilweiser Übermalung
zeitlich voneinander unterscheidbaren Durchgängen offenbar mit einer gewissen Systematik
genähert hat.
Die von ihm dabei zuletzt durchgängig mit blauer oder violetter Farbe angestrichenen
Textstellen sind nun von zentraler Bedeutung für das Verständnis der einzelnen Motive. Sie
begleiten, wohl in erster Linie zur besseren Kenntlichkeit für den erhofften Verleger, als eine
Art „Titel“ die jeweilige Illustration und weisen ihr damit unmissverständlich einen Platz
innerhalb des Textes zu. Während eine Reihe dieser hier im Anschluss an Aichele als
„Arbeitstitel“186 zu bezeichnenden, kurzen Textausschnitte bereits in den ersten Durchgängen
von ihm mit sicherem Instinkt ergriffen worden sind, scheinen andere erst langsam und unter
wiederholten Verwerfungen gefunden worden zu sein. Wie der Titel eines autonomen Bildes
oder eines literarischen Werkes waren sie für Klee „Programm“ und repräsentierten jeweils die
Kernaussage der Darstellung. Als solche kommt ihnen zum Verständnis der Illustrationen eine
derart große Bedeutung zu, dass Boban nicht zu unrecht dafür plädierte, sie auch bei
Veröffentlichungen im Druck zu berücksichtigen.187
Den Eintragungen zufolge fand Klee in fast allen Kapiteln des Romans illustrationswürdige
Stellen. Nur die Kapitel 3, 12, 26 und 28 haben in seinem Arbeitstext keine Anmerkungen oder
Unterstreichungen, wobei zum zwölften Kapitel dennoch eine der schönsten Illustrationen des
182 Vgl. Boban 2002, 48. 183 Klee 1988, Absatz Nr. 865. 184 In insgesamt fünf jeweils eigenen Durchgängen benutzte Klee nacheinander einen Bleistift (1), einen Füllfederhalter mit schwarzer Tinte (2), erneut einen Bleistift (3), einen blauen Farbstift (4) und schließlich einen Füllfederhalter mit violetter Tinte (5) (vgl. Meister 1999, 285; Baumeister 1999, Bd. 2, 1-17; Boban 2002, 51-54). 185 Vgl. ebd., 52. 186 Aichele schrieb von „working titels“ (Aichele 2002, 26). 187 Vgl. Boban 2002, 53ff.
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Zyklus entstand. Zu den anderen genannten Kapiteln schuf Klee, wie auch zu den Kapiteln 21,
23, 27 und 29, keine Illustrationen, obwohl er dafür bei Letzteren teilweise mehrere Szenerien
vorgemerkt hatte. Ob ihm hier gegen Ende seiner Arbeit an den Illustrationen einfach die
notwendige schöpferische Kraft ausgegangen war, bleibt allerdings fraglich. Zwar schrieb Klee
noch 1928 in einem Brief an Paul Eluard, der ihn damals um Illustrationen für eines seiner
Werke bat:
Eine sehr lange Erfahrung [warnt] mich davor [...], Zeichnungen „dazu“-machen zu wollen. Ich habe einmal einen solchen Kampf im Laufe zweier Jahre zu Ende gekämpft. Diese beiden Jahre bereue ich durchaus nicht, weil sie eine Vereinigung schließlich brachten. Und weil man ja manchmal auch kämpfen muss.188
Aufgrund des Befundes im Oeuvre-Katalog und eingehender Stilvergleiche muss jedoch davon
ausgegangen werden, dass er die Kapitel nicht in ihrer im Roman vorgegebenen Reihenfolge
illustriert hat, sondern entweder in freier Folge, oder aber, wie Boban annahm, bei der Abfolge
nach inhaltlichen Kriterien vorgegangen ist.189 Insofern ist bereits die Annahme, Klee habe die
Illustrationen für die letzten Kapitel auch am Ende seiner Arbeit in Angriff genommen, irrig.
Inhaltliche Gründe liegen dagegen insofern nahe, als sie in der Erarbeitung des Textes durch
Klee sowie in seiner Auswahl illustrationswürdiger Stellen allgemein eine bedeutende Rolle
gespielt haben.
Neben wichtigen Aufschlüssen über die Auswahl und Zusammenstellung der Motive finden
sich in Klees Arbeitsbuch jedoch auch manche Anmerkungen zur historischen Situation, auf die
auch Voltaire selbst rekurrierte. So vermerkte Klee bereits im ersten Kapitel, dass sich der
Roman Mitte des 18. Jahrhunderts, also offenbar in der Jetztzeit seines Verfassens abspielte,
und erwähnte zur Veranschaulichung das im Verlauf der Erzählung noch eigens behandelte
Ereignis des Erdbebens von Lissabon.190 Im dritten Kapitel, wo Candide in die von Voltaire
ausführlich beschriebene Schlacht zwischen Bulgaren und Awaren gerät, zog Klee hingegen
ebenfalls den Vergleich zum Siebenjährigen Krieg, auf den sich auch der nur wenige Jahre
zuvor beim Preußenkönig Friedrich II. in Ungnade gefallene Voltaire bezogen haben wird.
Obgleich diese historischen Momente bei der Zurichtung des Schauplatzes in den Illustrationen
für Klee kaum eine Rolle gespielt haben, fanden sie in der freilich stark reduzierten, aber doch
als barock erkennbaren Kleidung seiner Figuren und vor allem in deren Gesten
Berücksichtigung.191
Zur allgemeinen Charakterisierung der Figuren machte Klee wiederholt kleine, viel sagende
Anmerkungen in Form kurzer Glossen im Text. So nahm er ein Satzfragment vom Beginn des
188 Brief an Paul Eluard vom 21.04.1928, zit. nach: Meister 1999, 289. 189 Boban ging davon aus, dass Klee die Kapitel in Abhängigkeit von den jeweiligen Handlungsträgern illustriert hat (vgl. Boban 2002, 68). 190 Voltaire 1897, 94. 191 Die Kleidung spielte auch explizit bei den Anmerkungen Klees zum 15. Kapitel eine Rolle. Klee schrieb hier neben den Text: „Verkleidung“ sowie „hier ist das Kostüm wichtig“ (ebd., 118).
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vierten Kapitels auf, um sich das gestische Zueinander von Candide und dem später im Bettler
erkannten Pangloss zu veranschaulichen. Dort heißt es von dem noch ahnungslosen Candide, er
sei „plus ému encore de compassion que d’horreur“192. Klee entnahm ihm das „ému de
compassion“ und stellte es neben den letzten Abschnitt des dritten Kapitels, wo die erbärmliche
Erscheinung des Pangloss beschrieben wird. Jene Beschreibung kommentierte er wiederum mit
der durchaus treffenden Bemerkung in deutscher Sprache: „dieser Ausdruck weist aufs Groteske
bei der Illustr. sowie die vorangehende Anhäufung.“193 Mit Letzterer meinte Klee dabei die
bereits erwähnte, nicht enden wollende Reihe drastischer Charakterisierungen des armen
Pangloss durch Voltaire.194
Am Ende des zehnten Kapitels (Abb. 40) hob Klee dagegen hervor, dass Cunégonde „mit
adliger Geste“ vor der alten Dienerin darzustellen sei, während diese wiederum nach ihrem weit
ausholenden Lebensbericht gegenüber Candide und Cunégonde „eine Art grotesken Triumpfs“
auskoste.195 In Kapitel 22 charakterisierte er Candide bei seinem Aufenthalt in Paris im
Gespräch mit dem Mönchsbruder über Cunégonde als „schwärmerisch verliebt“ und „un peu
rêveur“.196 Bei der unmittelbar folgenden Szene, in der Candide schließlich zu der
vermeintlichen Cunégonde geführt wird, sie aber weder wirklich sehen, noch ihre Stimme hören
kann und unter Tränen zu ihr zu sprechen beginnt, schrieb Klee an den Rand der betreffenden
Seite: „Candide hineinschluchzend“197. Und als Candide und Martin im 24. Kapitel den Senator
Pococuranté in dessen venezianischem Palast besuchen und dieser den beiden Gästen mit
demonstrativer Geringschätzung alle Reichtümer seines Hauses vorführt, schwebte dem
Illustrator eine Dreifigurenkomposition mit folgender Charakterisierung vor: „Pococuranté der
Blasierte, Martin der Trockene“ und „Candide der Musische“.198
Gelegentlich machte Klee sogar kleine Skizzen, um in ihnen die erste Vorstellung von einer
möglichen Komposition festzuhalten. So findet sich an der zu illustrierenden Stelle des 13.
Kapitels unter dem Vermerk über die Anzahl der darzustellenden Personen eine kleine Skizze
mit Strichmännchen, die ihr genaues Zueinander beschreibt, für die endgültige Fassung
allerdings nicht übernommen worden ist.199 Eine der wenigen Charakterisierungen schließlich,
die Voltaires Text selbst von seinem Haupthelden Candide liefert, findet sich im dritten Kapitel
und wurde von Klee als allgemeine Überschrift in Art einer Glosse über den Beginn des
gesamten Romans geschrieben: „un être à deux pieds sans plumes, qui avait une âme“200 (Abb.
192 Voltaire 2004, 15. 193 Voltaire, Romans, Paris 1897, 98 (Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Familie Klee). 194 Im französischen Original erfolgt die lange Aufzählung in einem einzigen Satz: „tout couvert de pustules, les yeux morts, le bout du nez rongé, la bouche de travers, les dents noires, et parlant de la gorge, tourmenté d’une toux violente et crachant une dent à chaque effort“ (Voltaire 2004, 15). 195 Voltaire 1897, 108. 196 Ebd., 136 (hier machte Klee sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache Anmerkungen). 197 Ebd., 137. 198 Ebd., 142. 199 Ebd., 114. 200 Voltaire 2004, 14 (auch als Glosse bei: Voltaire 1897, 94).
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39). Sie kann auch als Ausgangspunkt für Klees Suche nach einem geeigneten Figurenstil
betrachtet werden, der sich nach eigener Aussage und auch dem Befund im Oeuvre-Katalog
zufolge erst im Laufe intensiver Beschäftigung mit dem Thema fand. Eine eingehende
diesbezügliche Untersuchung soll im weiteren Verlauf der Arbeit vorgenommen werden.
3.2.3. Motivische und inhaltliche Entscheidungen
Obwohl Klee in seinem Arbeitsbuch insgesamt 42 illustrationswürdige Passagen vermerkte und
noch beim letzten Durchgang während seiner intensiven Arbeit am Text 30 von ihnen
ausgewählt und nummeriert hat, besitzt der endgültige, 1920 im Münchner Kurt Wolff Verlag
erschienene Zyklus lediglich 26 Illustrationen. Ihnen und ihrer motivischen sowie inhaltlichen
Ausrichtung soll nun die Aufmerksamkeit gelten. Schon ein Blick auf die von Boban eingehend
untersuchten Arbeitstitel, die Klee zum Programm seiner Illustrationen machte, zeigt, wie genau
er sich im Einzelnen an den Vorgaben des Textes orientierte.201 Bei ihnen handelt es sich, wie
Boban erstmals ausführlich herausgearbeitet hat, zum einen um Zitate einer dem Roman
entnommenen direkten Rede und zum anderen um solche, die dem eigentlichen Erzähltext
entstammen.202 Die Gruppe Letzterer ist dabei nominell zwar größer als jene mit Zitaten aus
direkter Rede. Dennoch wurde der direkten Rede, wie Boban richtig feststellte, im Vergleich zu
früheren Illustrationen erstaunlich viel Gewicht gegeben und damit auf angemessene Weise dem
dramatischen Element innerhalb des Romans Rechnung getragen.203 Allein die Tatsache, dass
Klee überhaupt Zitate aus dem Text herausgriff und zum Titel seiner Illustrationen machte, lässt
– abgesehen von ihrer Bedeutung für die Zuordnung zu einem bestimmten Textabschnitt beim
Druck der Illustrationen – an die Regieanweisungen eines Dramatikers denken.
In den Textpassagen mit wörtlicher Rede hat Klee meist Momente ausgewählt, in denen sich die
Handlung zuspitzt oder die Charaktere der einzelnen Figuren besonders prägnant in
Erscheinung treten. So hielt er bei der Illustration zu Kapitel 15 (Abb. 15) in seiner Darstellung
der Flucht Candides aus der Jesuitenreduktion in Paraguay unter den Rufen Cacambos: Place,
place pour le révérend père colonel204 den dramatischsten Moment des Kapitels fest. Dagegen
setzte er in der Illustration zum fünften Kapitel jenen Moment in Szene, in dem die Charaktere
von Pangloss, Candide und dem ihnen zufällig begegnenden Matrosen in ihren verschiedenen
Reaktionen auf das Erdbeben in Lissabon besonders deutlich zum Ausdruck kommen. Auch
Klees Illustration zu Kapitel 25 (Abb. 25) stellt, wie die erwähnten Eintragungen in seinem
Arbeitstext bereits vermuten ließen, eine exzellente Charakterstudie des Senators Pococuranté,
201 Vgl. Boban 2002, 33ff. 202 Vgl. ebd., 33. 203 Klemperer betonte, dass Voltaire seinem Wesen nach „ein echter Dramatiker, auch ein wirklicher auf Bühnenwirkung bedachter Theatraliker“ gewesen sei (Klemperer 1959, XIII). 204 Voltaire 2004, 64.
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Candides und Martins dar, wobei er die Rede Pococurantés: J'ai beaucoup de tableaux mais je
ne les regarde plus205 zu ihrem Ausgangspunkt nahm.
In den übrigen, dem eigentlichen Erzähltext entnommenen Passagen spielen indessen, wie
Boban ebenfalls beobachtete,206 die Verben der Bewegung eine besondere Rolle und spiegeln
damit ihre Bedeutung innerhalb des Romans, in dem die beschriebene Reise über weite Strecken
das Gerüst der Handlung bildet.207 Dabei steht jedoch oft nicht die Darstellung der Bewegung
als solche im Vordergrund, sondern erneut die durch sie zum Ausdruck gebrachte innere
Befindlichkeit208 der jeweiligen Figuren. So ist Klees Illustration zum vierten Kapitel (Abb. 3),
in der Pangloss unter Tränen Candide bei ihrer Wiederbegegnung in Holland um den Hals fällt,
nicht zuerst eine Darstellung der äußeren Bewegung, sondern des Ausdrucks der Freude des
Wiedersehens und das gleichzeitige Zurückweichen Candides vor allem Ausdruck seiner
Verstörtheit gegenüber der äußeren Erscheinung seines Lehrers. Ähnliches lässt sich auch von
der Darstellung der Begegnung zwischen Candide und dem jungen Baron in Paraguay sagen
(Abb. 14). Selbst in der Illustration zum ersten Kapitel, wo Candide vor den wütenden
Fußtritten des Barons mit erhobenen Armen zu fliehen scheint, ist die Art und Weise der
Darstellung Candides mindestens ebenso ein Hinweis auf seine innere Verfasstheit wie auf die
äußere, den Reiseroman in Gang setzende Handlung (Abb. 1). Darstellungen, in denen die
eigentliche Reise Candides und seiner Βegleiter im Vordergrund steht, finden sich aber
dennoch, insbesondere in den Illustrationen zu den Kapiteln aus der Mitte des Romans, wie dem
15. (Abb. 15), dem 17. (Abb. 18) und dem 18. Kapitel (Abb. 19).
Die Tatsache, dass Klee für das letzte Drittel des Romans deutlich weniger Illustrationen schuf
als für die vorhergehenden Kapitel und bei den wenigen illustrierten Stellen Arbeitstitel mit
wörtlicher Rede bevorzugte, entspricht ebenfalls dem Charakter des Textes. Denn Voltaire hielt
hier in der Beschreibung der eigentlichen Reisehandlung inne und stellt Begebenheiten in den
Mittelpunkt, die ihm einen direkteren philosophischen Diskurs mit Leibniz und den Ansichten
seiner Zeitgenossen ermöglichten.209 Klee wich diesen betont theoretischen Episoden
konsequent aus oder scheint sich nur dann für sie interessiert zu haben, wenn sich aus ihnen die
Charaktere der Protagonisten des Romans ablesen ließen. Dies zeigt, dass sein Interesse nicht
vordergründig den philosophischen Spitzfindigkeiten des Romans, sondern seiner vor allem
menschlichen Grundaussage und der konkreten Geschichte seiner einzelnen Helden gegolten
hat. So illustrierte er aus dem langen, in Frankreich spielenden 22. Kapitel nicht, wie viele
seiner Vorgänger, die Szene der philosophierenden Tischgesellschaft im Hause der Marquise de
205 Ebd. 122. 206 Boban 2002, 34. 207 Vgl. ebd., 16 (sie unterstreichen zugleich den Charakter des kleinen Romans als Reiseroman). 208 Klee selbst benutzte hierfür häufiger das kaum noch gebräuchliche Wort der „Zuständlichkeit“ (Osterwold 1990, 23f). Dieser Begriff umfasst, wie sein englisches Äquivalent „state of being“, nicht nur die Gefühlswelt, sondern das ganze „Sein“ der jeweiligen Figur, wie auch Voltaires Charakterisierung des Candides als „un être à deux pieds sans plumes, qui avait une âme“ (Voltaire 2004, 14). 209 Vgl. Baldischwieler 2004, 181.
40
Parolignac, sondern jene der Verführung Candides durch dieselbe sowie seiner traurigen
Begegnung mit der vermeintlichen Cunégonde am Tag darauf, in denen jeweils der arglose und
treuherzige Charakter des Haupthelden besonders deutlich aufscheint (Abb. 22 und 23).
Obgleich anhand dieses kurzen Abrisses die eigenen, von den vorausgegangenen Illustrationen
abweichenden Akzente in Klees motivischen Entscheidungen mehr als deutlich wurden, ist von
Boban mit Recht auf die „bisweilen frappanten Ähnlichkeiten“210 einer ganzen Reihe seiner
Motive mit den bereits erwähnten Arbeiten des gut eine Generation älteren französischen
Genremalers Adrien Moreau vom Ende des 19. Jahrhunderts hingewiesen worden. So finden
sich nach Boban bei über einem Drittel der Arbeiten Klees motivische Übereinstimmungen mit
den insgesamt 71 Illustrationen Moreaus, so etwa bei den Zeichnungen zu den Kapiteln 4, 6, 9,
10, 14, 15, 16, 19, 22 und 24.211 Zwar ist bei einem kleinen, wenn auch ereignisreichen Roman,
wie diesem, die Zahl prägnanter Motive irgendwann erschöpft und daher eine Übereinstimmung
zwischen verschiedenen Illustrationszyklen nahe liegend. Auffällig aber ist dennoch, dass Klee
bei der Wahl des jeweils selben Motivs auch zu ähnlichen Bildkonzeptionen gelangte, wie etwa
bei der von Boban ausführlich behandelten Illustration zum 15. (Abb. 15) sowie jener zum 19.
Kapitel (Abb. 20).212 Insofern scheint Bobans Vermutung berechtigt, „dass Klee die Ausgabe
mehrmals in Händen gehabt“213 hat und ihr einige Anregungen verdankte.
In einem solchen Fall müssten ihm die Illustrationen Moreaus bereits bei der Sondierung der
einzelnen Stellen in seinem Arbeitstext bekannt gewesen sein. Zwar finden sie sich weder in
seinem Nachlass noch werden sie ausdrücklich in seinen Schriften erwähnt. Dennoch könnte
Klee sie zu Gesicht bekommen haben, da um die Jahrhundertwende neben einigen französisch-
und englischsprachigen Editionen bereits ein Ausstellungskatalog mit ihnen existierten.214
Eventuell könnte Klee auch erneut von seinem Freund Sonderegger auf sie hingewiesen worden
sein,215 hatte dieser Klee doch schon 1909 die beiden anderen Voltaire-Ausgaben geschenkt.
Zudem hatte er eine Affinität zu Frankreich und Paris, die ihn 1912 schließlich dazu bewog, in
die Seine-Metropole überzusiedeln und dort über vier Jahrzehnte bis kurz vor seinem Tod zu
leben. So war er es, der Klee und seine Frau im April 1912 in Paris empfing und sich für sie als
kundiger Führer erwies.216
210 Boban 2002, 61. 211 Vgl. ebd. (Außerdem zeigen etwa die Hälfte der von Klee nicht umgesetzten Illustrationspläne Übereinstimmungen zu den jeweiligen Motiven Moreaus). 212 Eigene Recherchen haben zudem zusätzliche Übereinstimmungen bei der Illustration Klees zum siebten Kapitel sowie die Möglichkeit einer Anregung durch die Illustrationen Moreaus in den Kapiteln 16, 20 und 25 ergeben. 213 Ebd. 214 Vgl. Tucker 1993, 26. 215 Nach Geelhaar war Sonderegger interessanterweise auch Zeichner und Illustrator (vgl. Geelhaar, Christian, Paul Klee: Biographische Chronologie, in: Zweite, Armin (Hrsg.), Paul Klee. Das Frühwerk 1883-1922, Kat. Ausst. Städtische Galerie im Lenbachhaus, 12.12.1979-02.03.1980, München 1979, 25). 216 Klee 1988, Absätze Nr. 910 und Nr. 911.
41
Ein Blick zurück auf die Illustrationen zu Bloeschs Musterbürger zeigt, dass Klee schon damals
bei der Suche nach adäquaten Motiven manche Schwierigkeiten hatte, entstanden doch statt der
aufgrund der Strophenzahl des Epos sich anbietenden zwölf Illustrationen nur deren sechs,
wobei er für eine von ihnen sogar auf eine zwei Jahre ältere Zeichnung zurückgriff, um sie nur
notdürftig zu adaptieren. Zugleich stellte er ihnen das freiere Motiv der Muse voran, in welchem
er keiner direkten literarischen Vorgabe verpflichtet war. Diese Vorgehensweise entspricht ganz
seiner im Rückblick formulierten Feststellung im Anhang des Tagebuches:
Nie habe ich ein litterarisches Motiv direct umzuformen unternommen. Aber bildnerisches Formen bekam dann erst besondere Bedeutung f. mich, wenn ein dichterischer und ein bildnerischer Gedanke sich zufällig deckten.217
Auch wenn sich vor diesem Hintergrund die Vermutung Bobans bezüglich einer Anregung
durch die Illustrationen Moreaus bestätigen würde, täte dies der künstlerischen Qualität und
Eigenständigkeit der Arbeiten Klees jedoch keinen Abbruch. Vielmehr zeigt sich gerade im
unmittelbaren Vergleich, dass es sich bei den beiden Illustrationswerken bei aller motivischen
Verwandtschaft doch erneut um „entfernte Welten“218 handelt. So steht dem reinen Erzählwerk
Moreaus in den Arbeiten von Klee eine Auffassung des Romans gegenüber, die erstmals auch
dessen dramatische Elemente berücksichtigte. Zudem wird deutlich, dass für Klee bei stärker
erzählerisch angelegten Motiven mehr die im Handeln aufscheinende innere Verfasstheit der
Figuren als deren Handeln selbst im Vordergrund stand. Sein besonderer Fokus lag, und das
zeigen auch die nicht unter dem mutmaßlichen Einfluss Moreaus gewählten Textstellen, stets
auf der Entwicklung der verschiedenen Figuren, insbesondere des Candide.
Diese spezielle Fokussierung zeigt sich auch in der jeweiligen Umsetzung des Motivs. So findet
sich hier oft eine nahezu ausschließliche Beschränkung auf die Darstellung der Figuren unter
weitgehendem Verzicht auf eine detailliertere Beschreibung einzelner Schauplätze der
Handlung. Die Neugier Jener wird also enttäuscht, die von Klees Illustrationen vor allem eine
Ausmalung schauriger Kriegsschauplätze und opulenter Tischgesellschaften oder aber eine
märchenhafte Beschreibung ferner Länder erwarten.219 Hierin in vielem noch reduzierter als
Voltaire selbst, entwarf Klee wie auf einer spartanischen Theaterbühne mit oft nur wenigen
Requisiten den Schauplatz der einzelnen Handlungen (Abb. 8 oder 22). Im Mittelpunkt der
Illustrationen steht stets der Mensch und sein Schicksal innerhalb der von Voltaire
beschriebenen „longue suite d’atrocités“220. Dies wird schon aus dem von ihm wie eine
Überschrift über den Anfang des Romans gestellten Zitat aus dem dritten Kapitel deutlich, wo
217 Ebd., 512. 218 Klee im Zusammenhang der Kinderzeichnungen, zit. nach: Werkmeister 1981, 124. 219 Vgl. Geelhaar 1975 (1), 22. 220 Zit. nach: Krebs 1996, 89.
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Voltaire die erbärmliche Gestalt Candides nach seiner Flucht vor den Bulgaren schilderte: „un
être à deux pieds sans plumes, qui avait une âme“.221
Diese motivische Konzentration aber setzt sich noch in den Figuren selbst und ihrer extremen
Reduktion auf das für den Ausdruck Notwendigste fort (Abb. 13). Auch hiermit stand Klee der
Auffassung Voltaires nahe, dessen Figuren in erster Linie in ihren sprechenden Handlungen und
den oft fremd und skurril anmutenden philosophischen Argumentationen lebendig werden, als
wirkliche Personen aber kaum greifbar sind. Ihre Realität ist ganz die der Kunst, des Theaters;
kurzum des Autors, der sie gleich Marionetten wie an unsichtbaren Fäden durch seine Welt
führte. Und ebenso wie Voltaire seinen Figuren kaum individuelle Züge verlieh,222 war auch
Klee bei ihrer Individualisierung äußerst zurückhaltend und verwandte über die je eigene,
charakteristische Gestik223 hinaus nur wenige, sparsam eingesetzte attributive
Erkennungszeichen.224 So ist Candide durch seine spitzbübische, fröhlich aufstrebende
Himmelfahrtsnase sowie seinen kurzen, abstehenden Zopf im Nacken225 leicht von den anderen
Handelnden unterscheidbar (Abb. 10 und 21). Beide Attribute steigern den starken gestischen
Ausdruck der Figur und machen wahr, was Voltaire über seinen Haupthelden im ersten Kapitel
des Romans schrieb: „sa physiognomie annonçait son âme“226. Die deutlich zu erkennenden
Absatzschuhe und die nur hier und da angedeuteten Kniehosen geben Candide und den übrigen
männlichen Figuren des Romans indessen die Aura des Barocken. Pangloss ist darüber hinaus
durch eine barocke Haarbeutelperücke nicht ohne gewisse Ironie als weiser Lehrer ausgewiesen
(Abb. 5 und 26). Bei Candides treuem Diener Cacambo wird schließlich durch den
fremdländischen Spitzhut auf seine spanischen und südamerikanischen Wurzeln hingewiesen
(Abb. 18).
Die Frauen tragen dagegen neben den ebenfalls hohen Absatzschuhen ein oft transparentes,
knöchellanges Gewand, welches an den zu jener Zeit modischen, lose fallenden Manteau
erinnert (Abb. 6 und 23).227 Cunégonde unterscheidet sich dabei bis auf die Darstellung im
Kapitel 13 (Abb. 13) durch ihr scheinbar kurzes, vermutlich hochgestecktes Haar und ihre
221 Voltaire 2004, 14. 222 Nach Boban charakterisierte Voltaire seine Figuren äußerst knapp mit in der Regel abstrakten Adjektiven: „Candide ist naiv, sanftmütig sowie aufrichtig und einfachen Geistes […], Jacques ist gut, Cacambo treu, Martin gelehrt…“ (Boban 2002, 20). 223 Nach Glaesemer erscheint Candide „mit seinen ausladenden Gesten als der Naive, Fragende, Kunigunde bewegt sich geziert abwehrend oder leidenschaftlich fordernd“ (Glaesemer 1973, 180). Dennoch ist eine klare Unterscheidung der Figuren über rein formale Merkmale oft sehr schwer (vgl. Boban 2002, 30). 224 Vgl. Geelhaar: „L’artist sait rendre, avec la plus grande économie de moyens, les traits caractéristiques de chaque personnage […] sans la moindre équivoque“ (Geelhaar [1] 1975, 24). 225 Der Zopf, durch Friedrich Wilhelm I. Mitte des 18. Jahrhunderts als modische Haartracht unter preußischen Soldaten eingeführt, wurde schnell darüber hinaus populär, kennzeichnet aber Candide in diesem Fall auch als Preußen. 226 Voltaire 2004, 3. 227 Auch der jungen Baron und Bruder von Cunégonde trägt in der Illustration zu Kapitel 14 als Jesuit die lange Soutane, die von Klee kaum anders angedeutet wird, als die Kleider der Frauen.
43
„geziert abwehrend[e] oder leidenschaftlich fordernd[e]“228 Gestik von den übrigen Frauen, wie
Paquette und der alten Dienerin (Abb. 8). In Letzterer versammelte Klee indes mit spürbarer
Freude alle nur denkbaren Spuren der Hässlichkeit und Entstellung,229 deren groteske Wirkung
er durch eine starke, oft ausladende Gestik nochmals zu steigern verstand (Abb. 7 und 10).
Bisweilen ging er dabei noch über die konkreten Vorgaben des Textes hinaus, traf aber deren
allgemeinen Sinn umso sicherer.
In ihrer typenhaften Charakterisierung erinnern die einzelnen Gestalten nicht selten an einzelne
Typen aus der italienischen commedia dell’arte, mit der auch die Figuren Voltaires in
Verbindung gebracht wurden (Abb. 97).230 In einigen Fällen erscheinen sie allerdings so grotesk
und überzeichnet, dass man sich mit ihrer Charakterisierung äußerst schwer tut und Grohmanns
Kennzeichnung als „lemurenhaft“231 sie am ehesten zu fassen vermag. Dabei lassen sich für
diese Bezeichnung auch konkrete Anhaltspunkte bei Voltaire finden, so etwa in der skurrilen
Beschreibung der erotischen Spiele zwischen zwei eingeborenen Frauen und zwei Affen im
Lande der Ohrlappen232 oder in der traurigen Rede des verstümmelten Negersklaven, den
Candide und Cacambo auf dem Weg nach Surinam treffen und der sein Schicksal mit den
Worten beklagt: „Les chiens, les singes et les perroquets sont mille fois moins malheureux que
nous.“233
3.3. Zu Technik und Material der Illustrationen
Bei den Illustrationen handelt es sich durchweg um Zeichnungen mit Feder und Tusche auf
einem von Boban allgemein als Briefbögen identifizierten Papier mit Leinenprägung.234 Bei der
Illustration zum sechsten Kapitel wird dies besonders deutlich, wo auf der Rückseite der
Zeichnung noch ein Poststempel zu erkennen ist (Abb. 6). Der Oeuvre-Katalog spricht hingegen
in einem anderen Fall, in jenem der zweiten Illustration zum vierten Kapitel ausdrücklich von
Briefpapier (Abb. 4), bei den übrigen Zeichnungen jedoch lediglich von einfachem Papier,
wobei er dessen bei einem Großteil der Zeichnungen zu findende und ihren Charakter durchaus
mitbestimmende Leinenprägung nicht eigens erwähnt. Letztere hat insofern auch Einfluss auf
die Zeichnungen, als sie in der Regel auf ein festeres und deswegen in seiner Mikrostruktur
228 Vgl. Huggler attestierte ihr „damenhafte Eleganz“ (Huggler, Max, Paul Klee. Die Malerei als Blick in den Kosmos, Frauenfeld und Stuttgart 1969, 38). 229 Hier ist Klee dem Text treu geblieben, denn bei Voltaire erfahren wir aus dem Mund der „Alten“ selbst, als sie mit ihrer eigenen Lebensgeschichte beginnt: „Je n’ai pas eu toujours les yeux éraillés et bordés d’ècarlate; mon nez n’a pas toujours touché à mon menton […]“ (Voltaire 2004, 41). 230 Der große Wiederentdecker und Reformer der „commedia dell’arte“, der Venezianer Carlo Goldoni, ist Zeitgenosse Voltaires (1707-1793) und starb in Paris. Insgesamt aber wird man wohl eher Franciscono in seiner Annahme folgen: „each figur being the embodiment of a single emphatic gesture“(Franciscono 1991, 132). 231 Grohmann, Will, Paul Klee: Handzeichnungen, Köln 1959,19. 232 Vgl. Voltaire 2004, 65f 233 Ebd., 85. 234 Vgl. Boban 2002, 21.
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glatteres, weniger saugfähiges Papier hindeutet. Auf ihm verläuft der Strich der Feder weniger
und behält so allein durch das Material eine feinere Struktur als auf gewöhnlichem Papier.
Auffallend ist bei den Zeichnungen das stark variierende Querformat, auf das jedoch im
weiteren Verlauf der Untersuchungen noch genauer eingegangen werden soll. Bei manchen der
Illustrationen finden sich auch auf der Rückseite Zeichnungen und Skizzen, die oft, wie bei den
Illustrationen zum ersten und zehnten Kapitel, in einfacher Paustechnik auf die vordere Seite
übertragen und dabei leicht abgewandelt worden sind (Abb. 1 und 10). Teilweise hat Klee die
entsprechenden Rückseiten auch geschwärzt, wohl um eventuelle Ablenkungen durch
bestehende Gestaltungen zu mindern. Im Fall des genannten Poststempels bei der Illustration
zum sechsten Kapitel hat er die Vorgabe allerdings insofern zu nutzen gewusst, als er ihn
kurzerhand als eine Art Gloriole für die Figur des Candide verwendet hat.235 Andere
Illustrationen wie jene zu den Kapiteln 2 und 14 sowie die zweite Illustration zu Kapitel 16 sind
indes von ihm aus verschiedenen Vorgängerzeichnungen montiert worden (Abb. 2, 14 und
17).236
Nach ihrer Vollendung hat Klee die Illustrationen wie seine meisten übrigen Zeichnungen
einzeln auf Karton aufgezogen und im neu geschaffenen Oeuvre-Katalog registriert. Unterhalb
der Zeichnungen hat er auf die linke Seite das jeweilige Zitat aus der illustrierten Textstelle und
auf die gegenüberliegende rechte Seite die Datierung und die Werknummer geschrieben.
Signaturen finden sich indes, entgegen sonstigen Gewohnheiten Klees, in nur zwei Fällen, und
zwar bei den Illustrationen zum 15. und 30. Kapitel. Hieraus schließt Glaesemer, dass ihr
Schöpfer fest mit einer Publikation gerechnet hat, bei der die Signatur auf den Reproduktionen
nicht stören sollte.237 An ihrer Abfolge im Oeuvre-Katalog ist hingegen nur in etwa die
Reihenfolge ihrer Entstehung ablesbar, da, wie bereits gezeigt werden konnte,238 die
diesbezügliche Systematisierung Klees nicht in jedem Fall verlässlich ist. In der Forschung wird
inzwischen angenommen, dass der Maler nur in gewissen Abständen seine Werke in den
Katalog aufgenommen hat und sich bei den in längeren Zeiträumen angesammelten Arbeiten
zwangsläufig chronologische Verschiebungen ergaben.239 Auch im Fall der Illustrationen zum
Candide ist anzunehmen, dass die bereits abgeschlossenen Zeichnungen oder auch Skizzen zur
235 Bei den Illustrationen zu den Kapiteln 6 (Poststempel), 15, 17 und 24. 236 Die genannten Materialien und Verfahren waren offenbar insgesamt für den Zeichner Klee typisch. So schrieb Osterwold über die Zeichnungen des Spätwerks, sie seien meist „[…]auf genormtem Konzept- oder Briefpapier“ gezeichnet und „im Format hin und wieder verkleinert, beschnitten, halbiert, verdoppelt, montiert“ worden (Osterwold, Tilmann, „Zeichnung nach Innen“, in: Osterwold, Tilmann [Hrsg., zusammen mit dem Zentrum Paul Klee, Bern], Paul Klee. Kein Tag ohne Linie, Kat. Ausst. Zentrum Paul Klee, Bern, 20.06.2005-05.03.2006. Ostfildern 2005, 21). 237 Signiert sind die Illustrationen zu Kapitel 15 und 30. Eine inhaltliche Interpretation wäre hier aber wohl überzogen (vgl. Glaesemer 1973, 183). 238 Vgl. Boban 2002, 66. 239 Vgl. Boban 2002, 65f; Okuda, Osamu, Paul Klee: Buchhaltung, Werkbezeichnung und Werkprozess, in: Kersten, Wolgang (Hrsg.), Radical Art History. Internationale Anthologie Subject: O. K. Werkmeister, Zürich 1997, 375-397; Wiederkehr Sladeczek, Eva, Der handschriftliche Oeuvre-Katalog von Paul Klee, in: Bätschmann, Oskar und Josef Helfenstein (Hrsg.), Paul Klee – Kunst und Karriere: Beiträge des internationalen Symposiums in Bern, Bern 2000, 146.
45
Orientierung bei der weiteren Arbeit länger am Platz geblieben und erst nach Abschluss einer
größeren Zahl katalogisiert wurden.
Von den Skizzen, die im Laufe der Arbeit an den Illustrationen entstanden sind, hat Klee bei
großzügiger Rechnung fast zwei Dutzend auf Karton oder stabileres Papier aufgezogen und in
den Oeuvre-Katalog aufgenommen. Einige von ihnen, wie die noch im weiteren Verlauf der
Arbeit zu behandelnden Skizzen von Restaurantszenen (Abb. 45, 49 und 52), die meist nach der
Natur entstanden, hat Klee nicht als solche ausgewiesen. Dennoch tragen sie unverkennbar die
stilistischen Grundzüge der Candide-Illustrationen und sind auch motivisch mit Szenen, wie der
Werbung Candides durch die Bulgaren im zweiten Kapitel oder der Darstellung der Begegnung
Candides mit dem jungen Baron in dessen Laubzelt im 14. Kapitel verwandt (Abb. 14).240
Andere, ursprünglich im Oeuvre-Katalog aufgenommene Skizzen sind dagegen verloren
gegangen, so beispielsweise die erste Fassung der zweiten Illustration zu Kapitel 22, die Klee
im Oeuvre-Katalog mit dem Kommentar Versuch im alten Stil241 versehen hat und deren
Vergleich mit der späteren Fassung manchen Aufschluss über die konkrete Entwicklung der
Illustrationsarbeit gegeben hätte. Das Gleiche gilt für eine erste Fassung zur Illustration des 25.
Kapitels. In einigen Fällen aber sind auch frühere Fassungen von Illustrationen erhalten, wie bei
jenen zu den Kapiteln 12 (Abb. 12) und 15 (Abb. 15) sowie bei der ersten Illustration zu Kapitel
16 (Abb. 16) und lassen eine entsprechende Entwicklung transparent werden.
Bedeutend stärker als bei den endgültigen Illustrationen variieren bei den Skizzen Material und
Technik. So ist eine ganze Reihe der frühen Skizzen noch als Hinterglasbild in Feder und Caput
mortuum entstanden (Abb. 42 und 43). Einige Zeichnungen befinden sich auf Japan-, andere auf
Fabriano- oder Briefpapier mit Leinenprägung. Fast immer sind sie jedoch, zumindest
vorrangig, mit der Feder gezeichnet. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass Klee im
Gegensatz zu den endgültigen Fassungen, seine Skizzen in der Regel signiert hat, was die
bereits erwähnte These Glaesemers zu der erhofften Publikation zu stützen scheint. Jener
ursprünglichen Bestimmung wegen soll hier abschließend auch auf die Reproduktion der
Zeichnungen und ihr Zusammenwirken mit dem Text bei ihrer ersten Veröffentlichung im
Münchner Kurt Wolff Verlag eingegangen werden.242 Zwei erhaltene Briefe Klees an Wolff vom
Frühjahr 1920 geben Aufschluss über die besondere Sorgfalt, die der Künstler vor der
endgültigen Drucklegung auf die typografische Gestalt, das heißt den optischen
Zusammenklang von Text und Bild im Buch gelegt hat. Ende Januar schrieb er nach Erhalt der
ersten Druckprobe:
240 Auch Kersten und Okuda stellten diese Zeichnungen in den Zusammenhang der Illustrationen. Dabei vermuteten sie, dass die Skizzen für eine später nicht ausgeführte Illustration zu Kapitel 26 vorgesehen gewesen sein könnten (vgl. Kersten, Wolfgang und Okuda, Osamu, Fiktion und Psyche. Illustrationen 1911-1912, in: Kersten, Wolfgang; Osamu Okuda [Hrsg.], Im Zeichen der Teilung. Die Geschichte zerschnittener Kunst Paul Klees 1883-1940. Mit vollständiger Dokumentation, Stuttgart 1995, 39f). 241 Oeuvre-Katalog Nr. 1911/44. 242 Voltaire, Kandide oder die beste Welt. Eine Erzählung von Voltaire. Mit 26 Federzeichnungen von Paul Klee, München 1920.
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Die Type befriedigt mich ganz. Nur finde ich, daß die Kapitelüberschrift etwas zu sehr hervortritt, und gegenüber der Illustration eine etwas störende Schwere betont. Könnte man nicht versuchen, die Type für „Erstes Kapitel“ zu belassen. die kurze Inhaltsangabe aber mehr als Untertitel zu behandeln, und wenn es nicht angeht, sie kleiner zu nehmen als die Type des Textes, dann doch wenigstens gleich groß.243
Zur Veranschaulichung des Geschriebenen fertigte Klee eine kleine Skizze an, in der er
nochmals das Verhältnis zwischen Zeichnung und Schriftsatz konkretisierte. Wolff folgte den in
diesem Brief dargelegten Vorstellungen Klees weitgehend und schickte ihm zwei Wochen
später zwei neue Druckproben zu, die Klee in seiner Antwort vom 17. März 1920 wie folgt
beurteilte:
Ich muss entschieden dem Blatt den Vorzug geben, wo der Untertitel in der Breite des Satzspiegels gedruckt ist. Sie sind beide ein Fortschritt gegenüber der ersten Probe, aber bei dem weniger guten Blatt kommt durch 3 verschiedene Breiten eine kleine Disharmonie heraus.244
Die endgültige Fassung scheint nun Klees Zustimmung gefunden zu haben. So variieren zwar
die Schriftgrößen, aber durch ihre einheitliche Breite entsteht nicht die befürchtete Disharmonie
(Abb. 27 bis 30). Auch die Wahl der Unger-Fraktur bezeichnete Lothar Lang als
außerordentlich glücklich. Sie schaffe eine warme, lebendige Korrespondenz zur Zartheit der
Zeichnungen und gebe ihnen den nötigen Halt im Schriftbild.245 Kritik hingegen findet sich in
der Klee-Literatur vereinzelt am einfachen, von Wolff für die Zeichnungen verwendeten
Reproduktionsverfahren der Strichätzung. Dabei zeigte sich Glaesemer mit Recht darüber
erstaunt, dass den zitierten Briefen zufolge auch Klee selbst offenbar mehr Sorge auf den
Schriftsatz, als auf die adäquate Wiedergabe seiner Zeichnungen gelegt hat.
Baumeister führte die Wahl dieses Verfahrens, bei welcher keine Halbtöne berücksichtigt
werden, zunächst auf ökonomische Erwägungen zurück.246 Möglicherweise könnte jedoch auch
der rein grafische Charakter der Federzeichnungen zu einer solchen Wahl geführt haben, stand
doch das Spiel tonaler Abstufungen zunächst nicht in ihrem Mittelpunkt. Dennoch ist der
Verlust gewisser Differenzierungen in der Strichstärke bedauerlich (Abb. 27 bis 30). Er nimmt
den Zeichnungen dort ihr Leben, wo es besonders schmerzt, sodass mit Marcel Franciscono
durchaus gesagt werden kann: „They are scarcly more vivid in tone than the blocks of text“247.
Dies mag zunächst, wie Lang schrieb, der typografischen Einheit von Text und Bild zugute
gekommen sein. Letztlich aber ging es auf Kosten der spezifischen Aussagekraft der
Zeichnungen und verhinderte auch eine überzeugende buchkünstlerische Einheit im Sinne einer
243 Brief an Wolff vom 26.02.1920, zit. nach: Baumeister 1999, 75. 244 Zit. aus dem Klee-Nachlass (Zentrum Paul Klee, Bern). 245 Vgl. Lang 1993, 50. 246 Vgl. Baumeister 1999, Kapitel 6.3. 247 Franciscono 1991, 132.
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lebendigen wechselseitigen Ergänzung beider. Franciscono zitierte in diesem Zusammenhang
John Lewis mit der treffenden Bezeichnung ihrer Verbindung als „odd marriage“248. Vor diesem
Hintergrund schlug er anstelle einer klassischen Ausgabe des von den Illustrationen begleiteten
Textes vor: „[…] they might have been better served by published without any accompanying
text“ und begründete dies mit den Feststellungen: „[…] they stand alone as multileveled visual
text“ und „narrate on their own visual terms“.249
4. Marionettenkunst bei Klee –
Zum Stil der Candide-Illustrationen
4.1. Stilistische Konstanten im Illustrationszyklus
4.1.1. Zur Autonomie des Strichs
In seinem Buch Expressionismus und Buchkunst in Deutschland 1907-1927 vertrat Lang in
Bezug auf Klees Candide-Illustrationen die Ansicht, der „Begriff der Linie“ verbiete sich in
ihrem Zusammenhang.250 Und tatsächlich handelt es sich bei ihren oft skurrilen zeichnerischen
Figurationen in den meisten Fällen keineswegs um fest umreißende Linien oder Konturen im
herkömmlichen Sinn. Vielmehr verdichtet sich in ihnen die Summe vieler einzelner, meist zarter
aber unregelmäßiger Striche und Virgulen – Haftmann spricht treffend von „zitternden
Fühlfäden“251 – zu „spinnwebfeine[n]“252 figürlichen Gebilden. Als exemplarisch hierfür sei die
bereits anfangs beschriebene Zeichnung zum 17. Kapitel genannt, in der insbesondere die Figur
des Candide ihre unmittelbare Herkunft aus der reinen, zart schlingernden Linie kaum
verschweigt. Ähnliches gilt für die erste Darstellung zum vorhergehenden 16. Kapitel: „tandis
que deux singes les suivaient en leur mordant les fesses“ (Abb. 16). Doch trifft diese
Besonderheit in mal geringerer und mal stärkerer Ausprägung letztlich auf alle Illustrationen zu.
Kaum finden sich einmal längere, schwungvoll gezogene Linien, wie in der Darstellung der
Begegnung Candides und Martins mit dem venezianischen Senator Pococuranté im Kapitel 25
(Abb. 25) oder in jener von Candide und Cunégonde vor deren alter Dienerin im zehnten
Kapitel (Abb. 10), wo die Figuren aus deutlich großzügigeren, expressiv bewegten Lineamenten
248 Ebd., 139. 249 Ebd. 250 Lang 1993, 50. 251 Vgl. Haftmann, Werner, Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 1964, 160. 252 Lang 1993, 49.
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erstehen, jedoch sogleich wieder, ähnlich wie in den übrigen Illustrationen, in ein nervöses,
„untonales Gestrichel“253 eingehen.
Dieses ungewöhnliche „Strichgewebe“254 mit seinen sensiblen, aneinander und übereinander
gelagerten „Verästelungen“255 hat verschiedene Wurzeln. So zeigt sich in ihm zum einen, wie
Lang richtig erkannte,256 zunächst deutlich der Einfluss der Grafik Ensors, deren Entdeckung für
Klee 1908 bereits ein neues „Absatzgebiet für [s]eine Linie“257 bedeutete und schließlich in die
Beschäftigung mit dem Impressionismus mündete. Das bewegte „Nebeneinanderliegen der
Linien“258 und seine skurrile Phantastik scheinen in den Augen Klees dem fiktiven Gegenstand
der Illustrationen nun erneut entsprochen zu haben und führten in der Folge langsam zu einer
gewissen Verfestigung der „Impressionismen“ der vergangenen Jahre. Hinzu kam der Versuch,
die Errungenschaften aus einigen um 1907 einsetzenden tonalen Experimenten mit
Schwarzaquarellen259 in die Technik der Zeichnung zu übersetzen. Dabei wurde das Licht als
bloße Energie in Form eines nervösen, atonalen Gestrichels wiedergegeben. Während zuvor bei
Klee ein zumindest annähernd gerichtetes Licht die Körper modellierte, war es nun die diffuse,
„kratzfüßige“260 Energie, die sich um sie bewegte und sie in „somnambulem Voranschreiten“261
wie „unkörperliche Materialisationen“262 nur vage definierte.
Aichele führte diese Beobachtung über ausführliche Untersuchungen auf die mutmaßliche
Beschäftigung Klees mit Wilhelm Ostwalds Energetik zurück.263 Tatsächlich hat Klee 1904 die
Malerbriefe des Chemikers und späteren Nobelpreisträgers gelesen und über sie damals an Lily
geschrieben:
[…] es ist eine vortreffliche wissenschaftliche Behandlung alles Technischen; ich lese es gegenwärtig mit großer Freude. Auch enthält es schöne Rezepte, zum Beispiel über Selbstbereitung von Pastellstiften. Die Form des Werkes ist sehr reizvoll, Einteilung in Briefe, hat also literarischen Beigeschmack. Der Stil ist prächtig. Der Mann muss selber ein erfahrener Künstler sein.264
Im gleichzeitigen, angesichts der Äußerung im Brief aber offensichtlich später redigierten
Tagebucheintrag schrieb Klee zwar, dass ihm die Malerbriefe „indessen wenig sagten“265. Nach
Aichele hat Klee sich jedoch neben den Malerbriefen Ostwalds auch mit dessen
253 Ebd., 50. 254 Haftmann 1964, 160. 255 Vgl. Lang 1993, 50. 256 Vgl. ebd. 257 Klee 1988, Absatz Nr. 842. 258 Ebd. 259 Die damaligen Arbeiten entstanden zu einem überwiegenden Teil hinter Glas und führten zu der im ersten Kapitel beschriebenen Entdeckung der Ritzzeichnung (vgl. Kapitel 3.1.). 260 Vgl. ebd., Absatz Nr. 899. 261 Haftmann 1964, 160. 262 Ebd. 263 Aichele 2002, 27ff. 264 Brief an Lily Stumpf vom 28.06.1904, zit. nach: Klee 1979, 430. 265 Klee 1988, Absatz Nr. 561.
49
wissenschaftlichen, in seinem 1908 erschienenen Buch Die Energie dargelegten Theorien
beschäftigt. Ostwald unternahm hier den Versuch, dem idealistischen Modell Wilhelm Leibniz’
vom „zureichenden Grund“266 eines allmächtigen Gottes ein im Ansatz ähnliches, lediglich
naturwissenschaftlich argumentierendes Modell gegenüberzustellen. Dabei entwarf er ein im
Kern monistisches, universalistisches Weltbild, in welchem materielle, wie geistige Vorgänge
allein durch energetische Zusammenhänge – Ostwald sprach von „nervöser“ und „psychischer“
Energie – bestimmt werden.267 In dieser Theorie habe Klee nach Aichele auch Anregungen zu
der bei ihm bereits im Frühjahr 1909 einsetzenden Entwicklung der „nervösen“ Strichführung,
seiner von ihm selbst so bezeichneten „herumschwirrenden Kratzfüßchen“268 gefunden.
Bei den Illustrationen des Candide habe er diesen Stil nun bewusst in Anspielung auf die
philosophische Auseinandersetzung Voltaires mit Leibniz verwendet und so den „Subtext“269
des Candide zum Thema seiner Illustrationen gemacht:
Ostwald’s concept of nervous energy seems to have been the catalyst that triggered Klee’s unique graphic response to Voltaire’s Candide, which was written as a challenge to Leibniz’s theoretical vision of a preestablished harmony.270
Ein genauer Blick auf Ostwalds Theorien zeigt jedoch, dass dieser nicht weit von Leibniz und
den rationalistischen Entwürfen jener Zeit, die Voltaire alle in seinem Roman in Frage stellt,
entfernt war. So durchwaltete die Energie als Primärsubstanz bei Ostwald nach
wissenschaftlichen Gesetzen letztlich ebenso unerbittlich die Welt, wie bei Leibniz die
„zureichenden Gründe“ eines das Weltschicksal lenkenden Gottes, sodass Pangloss auch hier
hätte anheben und sagen können: „Il est démontré, que les choses ne peuvent être autrement
[…].“271
In diesem Sinne wäre Ostwald durchaus nicht der von Aichele vermutete „unwitty ally“272
Voltaires, der doch in seinem Roman auf fiktive, höchst satirische, aber auch sehr lebensnahe
Weise die Macht der Fakten gegen alle allgemeinen, scheinbar plausiblen, im Letzten aber doch
ohnmächtigen Erklärungsversuche der Welt stellte. So faszinierend der von Aichele vorgestellte
Ansatz zunächst scheinen mag, er wird den speziellen Bedingungen der Illustrationen ebenso
wenig gerecht, wie dem Wesen Kleescher Kunst überhaupt, die eine derart konzeptuelle
266 Diese Rede war wie jene von der „besten aller Welten“ ebenfalls Leitmotiv des 1710 erschienenen zweibändigen „Essai de Théodicée“ von Leibniz. 267 Aichele 2002, 28. 268 Klee 1988, Absatz Nr. 899, von Aichele als „swarming scribbels“ übersetzt (Aichele 2002, 27). Auch wenn die von Aichele zum Ausgangspunkt genommene fragmentarische Strichführung der „Kratzfüßchen“ nicht erst mit den Candide-Illustrationen erschien, wie der Blick auf das Frühwerk Klees zu Beginn der Arbeit deutlich machte. 269 Ebd., 29. 270 Ebd., 28f. 271 Voltaire 2004, 5. 272 Aichele 2002, 29.
50
Herangehensweise letztlich nicht kannte.273 Einzig die allgemeine Feststellung, „Klees
swarming scribbles make visible both the inside phenomenon of nervous energy that was the
subject of Ostwald’s ‘Die Energie’ and the verbal energy […] that gives Voltaire’s text its
satirical punch”274 scheint, ohne die von Aichele mit ihr verbundenen Implikationen, für das
Verständnis der Illustrationen Klees und ihres Verhältnisses zum Text hilfreich.275
Nahe liegender aber ist ein direkterer und in seiner Wirkung nicht zu unterschätzender
künstlerischer Einfluss – jener des befreundeten Grafikers Alfred Kubin, mit dem Klee seit
November 1910 in immer regerem Austausch stand. Wenngleich Kubin bis auf wenige
Ausnahmen in seiner Kunst einer traditionelleren, klassisch illustrativen Strömung verhaftet
blieb, wird dem aufmerksamen, für mögliche Anregungen hochsensiblen Klee aufgefallen sein,
dass Kubins Linie in ihrem phantastischen Weben durchaus Ansätze einer Eigengesetzlichkeit
bildnerischer Mittel barg.276 Dies gilt etwa für die zwanzig Bilder, die 1906 nach einem ihn
überwältigenden Blick durch ein Mikroskop entstanden und heute allgemein als Meilensteine
auf dem Weg zur Abstraktion betrachtet werden. Kubin selbst schrieb später über dieses
Erlebnis:
Konsequent lehnte ich nun jede Erinnerung an die gegebene organisierte Natur ab und formte aus Schleier- und Strahlenbündeln, aus kristall- und muschelartigen Fragmenten, aus Fleisch- und Hautlappen, aus Blattornamenten und tausend anderen Dingen Kompositionen, die mich während der Arbeit selbst immer wieder überraschten und tief befriedigten, ja, mich so glücklich machten wie selten das Schaffen vorher und später.277
In seinem 1909 erschienenen phantastischen Roman Die andere Seite nahm er die Erfahrungen
des damaligen „Rauschzustandes“278 noch einmal auf. So ließ er sie den Ich-Erzähler in einem
der dort beschriebenen „Wachträume sehnsüchtig weiterspinnen“279 und
[…] neue Formgebilde nach geheimen […] Rhythmen schaffen, [einen] fragmentarischen, geschriebenen Stil, der wie ein empfindliches meteorologisches Instrument die geringsten Schwankungen meiner Lebensstimmung ausdrückte.280
Der radikalen Umsetzung des im „Rausch“ Geschauten verweigerte sich Kubin jedoch
zeitlebens bei „wachem“ Bewusstsein. Zwar finden sich in dem von ihm selbst illustrierten
Roman auch manche Beispiele, in denen allein aus der expressiven Qualität der Linie
273 Eine derart konzeptuelle Herangehensweise lag Klee, wie sich an der später für ihn typischen Angewohnheit der nachträglichen Betitelung nachweisen lässt, fern. 274 Ebd., 28f. 275 Besonders wird dies am Beispiel der frühen Skizzen zur ersten Illustration des 16. Kapitels deutlich. 276 Vgl. Pierce 1976, 90: „[…] to whom [Kubin] Klee owed much of the freedom of his early linear style“. 277 Zit. nach: Haftmann 1964, 174. 278 Vgl. ebd. 279 Ebd. 280 Kubin, Alfred, Die andere Seite, (Reprintausgabe nach der Erstausgabe von 1909) München 1990, 166.
51
Figürliches und Räumliches entstand (Abb. 87). Dennoch blieb sein Verdienst letztlich mehr in
der Formulierung jener abstrakten bildnerischen Ideen, die neben vielen anderen Künstlern auch
für Klee von Einfluss gewesen sind.
Noch mehr aber dürfte Klee der eigenwillige Umgang Kubins mit der Schraffur beschäftigt
haben. Hier fand er ein dichtes Strichgewebe, das immer stärkere inhaltliche Qualitäten besaß
(Abb. 88). Dass sich Klee von Kubin in dieser Hinsicht damals anregen ließ, machen besonders
die Illustration zum fünften Kapitel des Candide (Abb. 5) sowie eine erhaltene Skizze zu ihr
deutlich (Abb. 48). Sie zeigen eine ähnliche, wenn auch über Kubin hinausgehende
Eigengesetzlichkeit der Linie. Was dabei noch an Schraffur erinnert, scheint sich – vor allem im
Fall der besagten Skizze – aus der herkömmlichen Funktion der bloßen Modellierung fast
vollständig gelöst zu haben und beinah ebenso konstitutiv für die Zeichnung wie die Figuren,
die selbst zu großen Teilen aus jenen Strichgeweben gebaut sind. Ihre teils lyrisch-zarten, teils
dramatisch-expressiven Gebärden scheinen kaum mehr zu sein als deren einfache Verlängerung.
Auch Glaesemer wies in diesem Zusammenhang auf die Bezüge zu Kubin hin, ging aber von
einer Ausnahmeerscheinung aus:
Auffallend ist, wie sehr sich in diesem außergewöhnlichen Blatt sein Stil mit dichten Schraffuren demjenigen der Zeichnungen Kubins annähert. Es handelt sich hier wohl um einen Versuch, für einmal auch die Ausdrucksmittel Kubins zu erproben. Bei Klee bildet dieser Versuch allerdings eine Ausnahme.281
Mit dem erwähnten Blatt meinte Glaesemer nicht die endgültige Illustration, sondern die Skizze
zu ihr, welche besonders deutliche Züge des Kubinschen Stils aufweist. Dennoch scheinen sie
auch in der endgültigen Fassung und in zum Teil verwandelter oder abgemilderter Form bei
einer Reihe weiterer Illustrationen noch sichtbar, wie in den wenigen, offenbar inhaltlich
motivierten, aber auch für das kompositorische Gleichgewicht der Darstellung entscheidenden
Schraffuren in der Illustration zu Kapitel 13 (Abb. 13). Deutlich stärker tritt der Einfluss noch
bei der Illustration zum neunten Kapitel hervor, wo der dunklen Schraffur sowohl in und
unterhalb der am Boden liegenden getöteten Nebenbuhler Candides, als auch im finsteren
Gewölk der rechten oberen Ecke erneut inhaltliche Bedeutung zukommt (Abb. 9). Die hier
teilweise aus kräftiger Schraffur gebildeten Partien gab es bei Klee zuvor nicht. Im Gegensatz
zu Kubin aber tendieren sie immer wieder zu lyrischer Auflösung, wie in der Illustration zu
Kapitel 24 (Abb. 24). Indem ihr dichtes Gewebe sich mehr und mehr in der Fläche auflöst, tritt
hier auch die Autonomie der Linie noch mehr hervor. Der reizvolle Kontrast zwischen den nun
entstehenden dunkleren und helleren Partien verweist dabei auf die zentralen Gelenkstellen der
jeweiligen Zeichnungen.282
281 Glaesemer 1979, 67. Glaesemer wies in seinem Artikel zudem darauf hin, dass es in der Folge zeitweise zu einem deutlich stärkeren umgekehrten Einfluss vom jüngeren Klee auf den älteren und etablierteren Kubin gekommen ist. 282 Eine solche Betonung ist auch typisch für die noch zu besprechende Kinderzeichnung.
52
Eine weitere, im Zusammenhang mit den Illustrationen immer wieder genannte mögliche
Anregung ist jene durch die Kinderzeichnung.283 Sie stand im Zusammenhang mit Klees
kompromissloser Suche nach künstlerischer Authentizität und seiner Bewunderung für die in
diesem Sinne noch als unkorrumpiert verstandenen Werke der Kinder. Ein Blick in die
Tagebucheinträge seiner ersten Münchner Jahre zeigt, dass er auf dieser Suche sehr früh
begann, sich von den Zwängen akademischer Kunstauffassungen zu befreien und einen eigenen,
ursprünglicheren Weg einzuschlagen. So schrieb er bereits im Juni 1902: „Wie neugeboren will
ich sein, nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine Dichter kennen, ganz schwunglos sein;
fast Ursprung.“284 Ende März 1905 findet sich in einem Brief Klees an Lily der erste Hinweis
auf einen Zusammenhang zwischen der Kinderzeichnung und dem eigenen Kunstschaffen. In
ihm schrieb Klee enthusiastisch von einer neu gefundenen künstlerischen Form „im Kinderstil,
das heißt so wie Kinder es zeichnen würden“285. Es ist dies die Zeit, als er kurz vor dem
Abschluss seiner langjährigen Arbeit an den Inventionen in seinem Tagebuch festhielt: „Neues
muss nun reif werden“286. Dass seine Aufmerksamkeit gerade in dieser Zeit auf die
Kinderzeichnung fiel, scheint nicht ganz zufällig, gab es damals doch mehrere umfangreiche
diesbezügliche Untersuchungen in Deutschland.287 Eine von ihnen führte der Münchner
Stadtschulrat Georg Kerschensteiner durch, von dessen 1905 erschienenem Buch Die
Entwicklung der zeichnerischen Begabung, Werkmeister zufolge,288 Klee manche Anregung für
seinen so genannten „naiven Stil“ der Jahre 1912/13 empfangen hat (Abb. 77 bis 79).289
Einen ungleich konkreteren neuerlichen Impuls erhielt die Beschäftigung mit der
Kinderzeichnung allerdings im November 1907 durch die Geburt des Sohnes Felix, dessen
Erziehung in den ersten Jahren vor allem in der Verantwortung des Vaters lag, während Klees
Frau Lily mit Klavierstunden für den Unterhalt der Familie sorgte. Dabei geht aus zahlreichen
283 Vgl. Glaesemer 1973, 182; Haftmann, Werner, Der Zeichner Paul Klee, in: Krimmel, Bernd (Hrsg.), Die 2. Internationale der Zeichnung, Darmstadt 1967, 278 sowie Haftmann 1950, 36; Haxthausen 1981, 330; Giedion-Welcker 1961, 35; Baumeister 1999, Kapitel 4.2.3.; Pierce 1976, 111f und 125; mit Einschränkungen: Boban 2002, 75 sowie Werkmeister 1981, 135. 284 Klee 1988, Absatz Nr. 425. Dieser Eintrag stimmt in etwa mit der Wiederentdeckung der eigenen Kinderzeichnungen nach seiner Rückkehr aus Italien auf dem elterlichen Dachboden in Bern überein, von der er etwas später in einem Brief an Lily berichtete: „Dann fand ich auf dem Speicher ein paar verwendbare Rähmchen, in die ich ältere Zeichnungen, unter anderem auch die frühesten figuralen Darstellungen steckte. Die letzteren sind bis jetzt das Bedeutendste, unabhängig von Italienern und Niederländern, stilvoll in hohem Grade und naiv geschaut. Kurz, ich bin sehr stolz auf sie.“ (Brief an Lily vom 03.10.1902, zit. nach: Klee 1979, 273f, (vgl. Sievert-Staudte, Adelheid, Kind und Kunst. Die Kinderzeichnung und die Kunst im 20. Jahrhundert, in: Kirschenmann, Johannes, Ellen Spickernagel u.a. [Hrsg.], Ikonologie und Didaktik. Begegnungen zwischen Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik. Festschrift für Axel von Criegern zum 60. Geburtstag, Weimar 1999, 259). 285 Brief an Lily vom 31.03.1905, zit. nach: Klee 1979, 491ff. Werkmeister brachte mit diesem Brief das Hinterglasbild Mädchen mit Puppe von 1905 (17) in Zusammenhang (Abb. 58). (Werkmeister 1981, 134). 286 Klee 1988, Absatz Nr. 602. 287 Vgl. Werkmeister 1981, 140: Georg Kerschensteiner (München), Karl Lamprecht (Leipzig) und William Stern (Breslau). 288 Vgl. Ebd., 140ff. 289 Vgl. Ebd., 144.
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Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, in denen Klee genauestens über die Entwicklung seines
Sohnes Auskunft gab, hervor, dass er seine Rolle als Erzieher sehr ernst nahm und in ihr auch
eine gewisse entdeckerische Freude entwickelte. So hielt er in seinem eigens im Tagebuch
geführten Felix-Kalender auch jenen Moment fest, in dem der Sohn zu Beginn des Jahres 1909
das erste Mal einen ihm vorgelegten Stift zur Hand nahm und zu „zeichnen“290 begann. Die
Resultate dieser kindlichen Versuche sammelte Klee und zog sie, wie seine eigenen Arbeiten,
auf Karton auf. Im Laufe dieser Jahre dürften sie ihm die besondere Qualität von
Kinderzeichnungen auf sehr unmittelbare Weise ins Bewusstsein gebracht haben,291 sodass er
schließlich auch nach den eigenen künstlerischen „Uranfängen“292 zu fragen begann und
insgesamt 18 einst von der Schwester gesammelte Zeichnungen aus den Kindertagen
nachträglich signierte und an den Anfang seines 1911 begonnenen Oeuvre-Katalogs stellte.
Parallel dazu stellte Klee damals seiner Reinschrift der Tagebücher Erinnerungen aus der
eigenen Kindheit voran.
Welchen hohen Wert Klee den Kinderzeichnungen in jenen Jahren beigemessen hat, ist aus
seiner Rezension der Doppelausstellung der Neuen Künstlervereinigung München sowie des
Blauen Reiter in der Münchner Galerie Tannhauser von Anfang 1912 zu erfahren:
Es gibt nämlich auch noch Uranfänge von Kunst, wie man sie eher im ethnographischen Museum findet oder daheim in der Kinderstube (lache nicht, Leser), die Kinder können’s auch, und das ist durchaus nicht vernichtend für die jüngsten Bestrebungen, sondern es steckt positive Weisheit in diesem Umstand. Je hilfloser diese Kinder sind, desto lehrreichere Kunst bieten sie; denn es gibt auch schon hier eine Korruption: wenn die Kinder anfangen entwickelte Kunstwerke in sich aufzunehmen oder gar ihnen nachzuahmen. […] Alles das ist in Wahrheit viel ernster zu nehmen, als sämtliche Kunstmuseen, wenn es gilt, die heutige Kunst zu reformieren. So weit müssen wir zurück, um nicht einfach zu altertümeln.293
Überraschend bestritt Werkmeister, der diese vom Ende des Jahres 1911 stammende Rezension
sogar als vorläufigen Höhepunkt der Beschäftigung Klees mit der Kinderzeichnung verstand,294
dennoch einen grundsätzlichen Einfluss derselben auf die in diese Zeit fallende Arbeit an den
Candide-Illustrationen. Abgesehen von einer einzigen, im folgenden Kapitel zu betrachtenden
Ausnahme habe es sich bis dahin eher um eine Rückbesinnung methodischer Art im Sinne einer
Vergewisserung über die eigene Herkunft sowie um eine „stille Subversion der affirmativen
Ideologie gesellschaftlicher Anpassung“295 gehandelt. Während die nachfolgende Literatur
Werkmeister darin einmütig folgte, finden sich diesbezüglich differenziertere Aussagen sowohl
bei Pierce, auf den sich Werkmeister selbst bezog, als auch bei Glaesemer.
290 Am 25.01.1909 steht dort: „Zeichnet mit dem Bleistift, nachdem man es ihm vorgemacht.“ (Klee 1988, Absatz Nr. 847). 291 Vgl. Haftmann 1950, 36. 292 Werkmeister 1981, 127. 293 In: Die Alpen, Heft 5, Januar 1912, 302, zit. nach: Klee 1976, 97. 294 Vgl. Werkmeister 1981, 134. 295 Ebd., 146.
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Für Letzteren schienen die Kinderzeichnung schon früh vor allem im Phänomen ihrer
vollkommenen Deckung von erfundener, einfacher Form und jeweiligem Inhalt vorbildhaft für
Klee gewesen zu sein.296 Pierce, der sich im Rahmen einer Dissertation mit diesem Thema
befasste, erkannte dagegen auch konkrete formale Parallelen, auf welche nun näher eingegangen
werden soll. Sie betreffen vor allem die zumeist additive Bildung der Figuren, aber auch deren
Formulierung aus der freien Linie, die zunächst kaum mehr als das sichtbare Zeugnis der
Bewegung der Hand ist.297 Zu den ersten Zeichenversuchen von Kindern bis ins vierte
Lebensjahr, dem so genannten „scribbel stage“298 schrieb Pierce: „The lines refer to nothing
beyond themselves; they are presentational rather than representational“299. Ihnen folgt eine
Phase, die Pierce im Rückgriff auf Kerschensteiner als „schematic“300 bezeichnete und in der
beim Kind bis zum siebten Lebensjahr langsam die Idee der Repräsentation erwacht, sich also,
wie auch Werkmeister feststellte, „Linie und sprachliche Wortbezeichnung“301 miteinander
verbinden.
Für diese Phase seien oft stark geometrisierende Schemata typisch. Sie erschienen als ein erster
Versuch der Eroberung von Wirklichkeit und würden von den Kindern gern formelhaft
wiederholt. Interessanterweise ist nun bei Pierce weiter zu lesen: „Transitional works between
the scribbel stage an the schematic stage look something like Klee’s figures […].“302 Diese
Beobachtung aber verweist ihrerseits auf einen Zusammenhang sowohl zu Klees eigenen
Kinderzeichnungen, deren früheste aus einem solchen Stadium stammen, als auch zu den
Zeichnungen seines Sohnes Felix, der in jener Zeit, als Klee an den Candide-Illustrationen
arbeitete, zwischen vier und fünfeinhalb Jahren alt gewesen ist. Ein genauerer Blick auf die
Arbeiten von Felix Klee würde sicher manchen Aufschluss auch über die Arbeiten seines Vaters
aus dieser Zeit geben, berichtete doch schon Osterwold von erstaunlichen Parallelen beim
Anblick beider:
296 Vgl. Glaesemer 1973, 182. In einem Tagebucheintrag von 1914 definierte Klee das Wesen der Grafik als „Ausdrucksbewegung der Hand mit registrierendem Strich.“ (Klee 1988, Absatz Nr. 928). 297 Diese Phase bezeichnete Pierce als „scribbel stage“. Vgl. Pierce 1976, 85. 298 Werkmeister blendete das frühere Stadium der Kinderzeichnung bei seiner Frage nach deren Bedeutung für Klees künstlerische Entwicklung vollständig aus. Dies dürfte damit zu erklären sein, dass er für seine Bildvergleiche mehr auf die Abbildungen bei Kerschensteiner, als auf den eigentlichen Befund der von Klee erhaltenen Kinderzeichnungen zurückgriff. Die Untersuchungen Kerschensteiners aber bezogen sich fast ausschließlich auf Arbeiten von Kindern jener Alterstufen, in denen sie zwecks Einwirkung durch den Pädagogen von diesem am besten erreichbar waren, das heißt vom Beginn des Schulalters, also etwa ihrem sechsten Lebensjahr an. Einem früheren Stadium der Kinderzeichnung, dem sowohl die eigenen Kinderzeichnungen Klees als auch jene des zu dieser Zeit gut vier Jahre alten Sohnes Felix noch angehörten, galt also aus verständlichen Gründen nicht die Aufmerksamkeit Kerschensteiners. 299 Eine solche Definition der frühen Kinderzeichnung durch Pierce erinnert an die Beobachtungen abstrakter Tendenzen beim frühen Kubin oder allgemein an Definitionen des abstrakten Expressionismus, ist jedoch mit ihnen keinesfalls zu verwechseln. 300 Vgl. Pierce 1976, 105ff. 301 Werkmeister 1981, 142. 302 Pierce 1976, 174, Anm. 60.
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Die Nähe der damaligen Arbeit Paul Klees und der Zeichnungen von Felix besticht – sie entspringt sicherlich einer gegenseitigen Reaktion auf das eigene Tun, das ähnlichen Prinzipien unterlag.303
An dieser Stelle aber soll der Vergleich der Candide-Illustrationen mit den eigenen
Kinderzeichnungen Klees zunächst genügen. Auch Pierce hat bereits mit Recht auf formale
Zusammenhänge zwischen der links gegebenen Figur in der Zeichnung des erst vierjährigen
Klee Mann, ?, Stuhl, Hase304 (Abb. 74) sowie der Figur Cacambos aus einer Skizze zur späteren
Illustration des 14. Kapitels des Candide hingewiesen (Abb. 46).305 Abgesehen von deutlichen
Parallelen in der figürlichen Bildung, die noch gesondert zu behandeln sein werden, fällt in der
Kinderzeichnung auch die freie Entwicklung der Linie als solche auf, aus der sich die Elemente
der Figur und des Bildes langsam aufzubauen scheinen. Sie ist ein Hinweis auf jenes Stadium
der Kinderzeichnung, von dem Pierce als „transitional […] between the scribble stage and [the]
schematic stage“ schrieb. Eine ähnliche Entwicklung der Linie findet sich auch bei der
genannten Zeichnung des Cacambo mit den Pferden von 1911. Nur dass hier der Strich der
Feder noch zarter ist und durch das häufigere Absetzen die Entschiedenheit der
Kinderzeichnung vermissen lässt. Sie ist deswegen insgesamt durchgeistigter und offenbart
wohl auch bewusst ihre andere Herkunft.306
Dennoch scheint hier eine Orientierung Klees am Wesen der Kinderzeichnung auch bezüglich
der Kontur mehr als deutlich. Sie findet sich ebenso wie in der behandelten Skizze auch in der
endgültigen Fassung der Illustration zum 14. Kapitel (Abb. 14), für die Klee in größtmöglicher
Treue deren Motiv übernommen und ihren Charakter damit sanktioniert hat. Auch zwischen
anderen Beispielen, auf Seiten der Kinderzeichnungen wie auf Seiten der späteren
Illustrationen, zeigen sich derartige Verwandtschaften. Genannt seien hier etwa Klees
Kinderzeichnung mit dem Titel Droschkengespann von 1883-85 (Abb. 72) sowie seine erste
Illustration zum vierten Kapitel (Abb. 3) und jene zu den Kapiteln 11 (Abb. 11), 13 (Abb. 13)
und 14 (Abb. 14) des Candide. Sowohl die genannten Illustrationen als auch die vorgestellte
Kinderzeichnung weisen jeweils eine freie, physiognomischen und statischen
Gesetzmäßigkeiten nur bedingt folgende, aber in ihrer Ausdruckskraft außergewöhnlich
konkrete Linie auf.
Durch diese, unter dem Einfluss gewisser Strömungen seiner Zeit stehende Beschäftigung mit
der eigenen Kinderzeichnung und wohl noch mehr mit der unmittelbaren kindlichen, aus der
Linie sich entwickelnden Gestaltungskraft seines Sohnes “daheim in der Kinderstube“307 dürfte
303 Osterwold, Tilmann, Paul Klee: ein Kind träumt sich, Stuttgart 1979, 86f. 304 Oeuvre-Katalog 1884/18. 305 Cacambo mit den Pferden, Oeuvre-Katalog 1911/97. 306 Pierce spricht von „telltale sign[s] of a sophisticated hand” (Pierce 1976, 76). 307 Siehe oben. Von Picasso wird berichtet, dass seine besondere Aufmerksamkeit nicht dem Ergebnis sondern speziell dem Schaffensprozess kindlicher Gestaltung galt. So äußerte er 1946 in einem Gespräch mit dem Fotografen Brassai: „Wenn Kinder draußen auf der Straße oder an Wänden zeichnen, bleibe ich
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Klee schließlich die elementare Bedeutung der Kontur für seine Zeichnungen und eine
Möglichkeit ihrer Anwendung ohne die Gefahr eines neuen „strengen Stils“ aufgegangen sein.
Damit aber könnte er letztlich ein entscheidendes Mittel gefunden haben, das ihm die noch zu
Beginn der Arbeiten an den Candide-Illustrationen im Frühjahr 1911 gesuchte, allgemeine
„Verträglichkeit zwischen [s]einen herumschwirrenden Kratzfüßchen mit bändigenden,
festlinearen Grenzen“308 versprach und ihm auch über die Arbeit an den Illustrationen hinaus
fortan zur Verfügung stand.
4.1.2. Die Reduktion der Figur zur Gebärde
Ähnlich wie die zeichnerischen Mittel Klees in den Illustrationen fast ganz auf die Linie
beschränkt waren, blieben die Darstellungen in ihrer inhaltlichen und motivischen Ausrichtung,
wie bereits erwähnt, nahezu vollkommen auf die Figur konzentriert,309 die ihrerseits bisweilen
kaum mehr als solche wahrgenommen wird, so wie auch die Figuren Voltaires teilweise nur
noch als „Verkörperung der Ideen“ wahrgenommen werden, „denen sie durch ihre Handlung
dienen“310. Bereits lange vor der Arbeit an den Candide-Illustrationen hielt Klee in seinem
Tagebuch eine Idee von Figürlichkeit fest, die er später selbst in Zusammenhang mit den
Illustrationen zu bringen schien. Während es nämlich im entsprechenden Originaleintrag vom
Frühjahr 1905 noch lapidar hieß: „Der magere Sebastian, den ich entwarf, ist so dünn, dass die
auf ihn abgeschossenen Pfeile nicht treffen, höchstens tangieren könnten“311, ergänzte Klee
diesen Eintrag in seinen autobiografischen Texten für Leopold Zahn von 1920, also in jenem
Jahr, in dem es endlich auch zur Veröffentlichung der Illustrationen zum Candide kam, wie
folgt:
Den Vorwurf eines gummihaft nach den Höhen Aufstrebenden, der dadurch so dünn wurde, das nach ihm abgeschossene Pfeile nicht treffen, höchstens tangieren können, gebe ich als zu anekdotisch auf.312
Zwei nachträgliche Änderungen der Passage sind dabei bemerkenswert. Zum einen ist es der
Verzicht auf den Namen des zuvor genannten Heiligen zugunsten einer genaueren Beschreibung
der im „Vorwurf“ vorgestellten Figürlichkeit und zum anderen die hinzugekommene
Schlussbemerkung. Es ist anzunehmen, dass der Charakter des von Klee angeführten Entwurfs
ein vollkommen anderer gewesen ist, als bei den späteren Candide-Illustrationen, arbeitete er zu
jener Zeit doch gerade an den letzten Blättern seiner Inventionen, deren Stil er selbst als
immer stehen. Was unter ihren Händen entsteht, ist erstaunlich, ich lerne oft etwas dabei.“ Zit. nach: Sievert-Staudte 1999, 258. 308 Klee 1988, Absatz Nr. 899. 309 U.a. Glaesemer 1973, 180. 310 Stackelberg 1970, 371. 311 Klee 1988, Absatz Nr. 587. 312 Ebd., 525.
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„streng“313 bezeichnete. Die scheinbar abwertende Schlussbemerkung Klees aber gibt zu
denken. Ist es möglicherweise nur das Motiv, welches Klee wegen seines anekdotischen
Charakters wieder verwarf, während ihm die Art der Figürlichkeit Anknüpfungspunkte für
spätere Arbeiten wie die Illustrationen zum Candide bot? Der Begriff des „Gummihaften“ oder
allgemein des „Bandes“ wurde in der Klee-Literatur zur Charakterisierung der in hohem Maß
überlängten und von starken Gebärden bewegten Figuren in den Candide-Illustrationen bereits
häufiger bemüht.314 Dass Klee 1920 diesen Begriff selbst im Nachhinein aufnahm, mag im
Hinblick auf die später gefundene Form der Figürlichkeit in den Illustrationen wie in den darauf
folgenden Zeichnungen geschehen sein.315
Dennoch trifft die Charakterisierung der Figuren mit der Assoziation eines „(Gummi)bandes“
nur bedingt zu. Sie stellt zunächst einen Hilfsbegriff für die Beschreibung der rein formalen
Abläufe dar. So ist bei einigen der Figuren die Reduktion der differenzierten Körperlichkeit so
weit fortgeschritten, dass ihre einzelnen Glieder nurmehr in ein langes, mal geschmeidiges, mal
ungelenk geformtes, bandartiges Gebilde verschmelzen.316 Zu den eindrücklichsten Beispielen
gehört hier die Illustration zum dreizehnten Kapitel (Abb. 13). Sie ist dem Oeuvre-Katalog
zufolge die letzte der 26 Zeichnungen zum Candide und weist in ihrer bandartigen Bildung auch
am deutlichsten auf die in der Folgezeit entstandenen Arbeiten. Die Art ihrer Reduktion ist
dabei keine Abstraktion im ursprünglichen Wortsinn, wie bei Picassos Lithografien zum Motiv
Le taureau.317 Sie beinhaltete kein schrittweises Herausschälen und -kristallisieren einer sich
aus der Vielzahl der natürlichen Formverläufe ergebenden großen Form, sondern folgte eigenen
Gesetzen.318 Ihr funktionales Gefüge erinnert nur von Ferne an die natürliche menschliche
Anatomie. Die eigentlichen Leiber sind kaum breiter als ihre Arme und Beine319 – die
wichtigsten Ausdrucksträger der Figuren, zwischen denen zu vermitteln ihre Hauptfunktion zu
sein scheint. So ist es vor allem der Ausdruck der Gebärde, der zum bestimmenden Gesetz wird,
313 Ebd., 492. Obgleich Glaesemer in Bezug auf die Inventionen der Jahre 1902-1905 bereits von „Voltairischer Skepsis“ sprach (Glaesemer 1973, 179). 314 Glaesemer schrieb von „Bandformen“ in und nach den „Candideln“ (ebd., 185); Aichele vergleicht die Figuren mit „streched rubber bands“ (Aichele 2002, 26); Boban sprach von der „Dehn- und Biegbarkeit“ der „bandartigen Wesen“(Boban 2002, 27) und Fontaine sah den Stil der Figuren – ganz den Mitteln der Linie entsprungen – als „filiforme“(Fontaine 1971, 88). 315 In der älteren Klee-Forschung wurde von Giedeon-Welcker die Reduktion und gleichzeitige Überlängung der Figuren auch mit einem Einfluss des Schweizer Illustrators Martin Disteli und seiner anthropomorphen Insekten sowie Distelis Vorbild, des Franzosen Grandville, begründet. Auch wenn dies nicht ganz abwegig scheint, nimmt man inzwischen allgemein Abstand von einer derartigen These. Lediglich Helfenstein assoziierte in diesem Sinne noch 1992 in seinem Artikel „Sono il mio stile“ mit den Figuren der Candide-Illustrationen die Vorstellung von Insekten (vgl. Helfenstein 1992, 45). 316 Beispiele hiefür sind die Illustrationen zu den Kapiteln 13 und 14. 317 Picasso schuf diese Serie um die Jahreswende 1945/46. Sie befindet sich heute in der Sammlung Bernard Picasso in Paris (Abb. 89). 318 Grohmann zitierte Klee mit einem Diktum über die Abstraktion, nach dem diese beinhalte, „den Konfliktstoff des Lebens mit offenen Sinnen zu bewältigen, seinem Sinn nachzuspüren und dabei einen möglichst entwickelten Punkt einzunehmen“. Vgl. Grohmann 1959 13; Georg Schmidt nannte Klee sogar den „größten Realisten unseres Jahrhunderts“. Zit. nach: Hofmann, Werner, Grundlagen der modernen Kunst. Eine Einführung in ihre symbolischen Formen, Stuttgart 2003, 426. 319 Vgl. Haxthausen 1981, 330 (zur Illustration des Kapitels 13).
58
das die hohen, schlanken Figuren bewegt, ihnen eine Art innerer, den Gesetzen der Schwerkraft
offenbar nicht oder kaum unterworfener Statik verleiht.320 Zu den wenigen Beispielen, in denen
sie der natürlichen Schwerkraft deutlicher unterliegen, gehören die Figuren des Candide und der
Cunégonde in der Illustration zum zehnten Kapitel (Abb. 10), die Figur des Candide in der
Illustration zum siebten Kapitel (Abb. 7) sowie jene des Pangloss in derjenigen zum fünften
Kapitel (Abb. 5). Nur hier finden sie wirklich Stand, bauen sich vom Boden her nach den
Gesetzen der Schwerkraft auf und halten sich entsprechend ihrer jeweiligen Bewegung oder
Handlung in einem gerichteten Gleichgewicht.
In den übrigen Fällen aber entstammt das Gesetz, das sie bewegt, ganz der Kunst, nicht der
Natur. Daher drängt sich auch hier schnell der Vergleich zur Pantomime oder zum
Marionettentheater auf, deren Welt ebenfalls die Kunst, das Spiel, die Bühne ist.321 Vor diesem
Hintergrund bezeichnete Fontaine das Zusammenspiel der Figuren in Erinnerung an das
Triadische Ballett von Klees späterem Bauhauskollegen Oskar Schlemmer sogar als „ballet
abstrait“322. Dieser Begriff führt jedoch zu weit, wenn auch manche richtige Beobachtung in
ihm liegt. Zwar haben die Bewegungen der Figuren sowohl die Leichtigkeit, als auch mitunter
das Pathos und die Zeichenhaftigkeit des Tanzes.323 Das geordnet Rhythmische, was einen Tanz
vor jeder anderen Bewegung auszeichnet, findet sich hier jedoch nicht.324 Vielmehr sind die
Bewegungen von einer der individuellen Figur und jeweiligen Situation angepassten Sprache
geprägt. Und obwohl die Illustrationen in der Regel von durchgängigen Figurentypen
gekennzeichnet sind, bekommt deren jeweilige Haltung doch nie etwas Typenhaftes. Man
vergleiche hier etwa die Figur des Pangloss in der ersten Illustration zum vierten Kapitel (Abb.
3) mit derjenigen in der Illustration zum fünften Kapitel (Abb. 5).
Auch der Begriff „abstrait“ trifft letztlich nicht das Wesen der Kleeschen Figuren. Hinter ihrer
extremen Reduktion steht, wie bereits im Vergleich mit Picasso deutlich geworden, letztlich
nicht die Absicht einer reinen Zurückführung auf das Allgemeine, sondern diejenige einer
genaueren Charakterisierung. Nie erscheinen die Figuren leblos wie ein Stück gedehnten Stoffs,
320 Fontaine schrieb über die Figuren, sie seien „sans poids“ (Fontaine 1971, 88). Glaesemer sprach von „dem Gesetz einer höheren Macht“, welchem die Figuren in ihren Bewegungen ausgeliefert seien (Glaesemer 1973, 180). 321 Vergleich mit der Pantomime: vgl. Haxthausen 1981, 340 und 344. Vergleich mit dem Marionettentheater: vgl. Boban 2002, 26; Fontaine 1971, 87; Lang 1993 50; Aichele 2002, 25; Glaesemer 1973, 180; Grohmann 1959, 4 und nach Pasquali 2000, 232. 322 Fontaine 1971, 88 (vgl. Abb. 90). Die Figurinen Oskar Schlemmers zum Triadischen Ballett, aber auch Kurt Schmidts Mechanisches Balett entstanden Anfang der 1920er Jahre in Weimar. 323 Manche Gesten sind im Ansatz pathetisch, auch wenn ihre ernste Schwere durch die leicht mitschwingende Satire in ihrer bewussten Übersteigerung mitunter wieder aufgehoben wird, etwa bei der Figur des Candide in der Illustration zu Kap. 6 (Abb. 6) oder derjenigen des Pangloss in der zweiten Illustration zu Kapitel 4 (Abb. 4). 324 Franciscono sprach zwar von „sketchy linear rythm“, scheint damit aber offenkundig mehr den bildnerischen Charakter insgesamt, als die gestischen Bewegungen der Figuren im Einzelnen gemeint zu haben (Franciscono 1991, 132).
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sondern haben – obwohl „sans plumes“ – doch unbestreitbar eine Seele: „une âme“325. Und
diese ihre Seele zeigt sich vor allem in den starken, oft bewusst überzogenen, aber höchst
individuellen Gebärden, um deren gezielter Steigerung willen Klee gerade auf alles übrige
Körperliche weitgehend verzichtet hat. Tucker spricht deswegen treffend von „figures without
flesh, which are not even skeletons, thus attenuated into gestures“326. Alles, was bei diesen
Gebilden noch Körper ist, wird mehr oder weniger zur Gebärde.327 Ähnlich wie Voltaire seine
Figuren vor allem über ihr Handeln charakterisierte, gab ihnen Klee ihre Individualität deutlich
mehr als über die genannten Attribute über ihr besonderes Gebaren.328
Obwohl dies nicht in einem rein dramatischen, sondern in einem lyrisch bildnerischen Sinn
geschah, erinnert hier doch Manches an das Theater, insbesondere das in seinem Charakter
stärker lyrisch geprägte Marionettentheater.329 So ruft ein Blick auf die Figuren der
Zeichnungen zu den Kapiteln 13 (Abb. 13), 14 (Abb. 14) und 19 (Abb. 20) förmlich nach einer
solchen Assoziation. Und dies nicht allein wegen ihrer Gestik. Auch ihre besondere
Körperlichkeit entspricht jener der gelenkten, aus einzelnen, selbständigen Gliedern
zusammengesetzten Marionette. Dass von Letzterer für Klee zeitlebens eine gewisse
Anziehungskraft ausging, zeigen auch die originellen Marionetten, die er selbst etwa ein
Jahrzehnt später am Weimarer Bauhaus für seinen Sohn Felix schuf (Abb. 94).330 Neben ihr
aber könnte Klee gewisse Anregungen auch der unmittelbaren Umgebung seines Ateliers
entnommen haben. Denn der erwähnte gliederhafte Charakter der Marionette findet sich ohne
die für diese oft wichtigen und sinnstiftenden Kleider – also „sans plumes“331 – nicht zuletzt in
der einfachen Gliederpuppe, die als anatomische Hilfe wohl damals noch zur Grundausstattung
eines jeden Ateliers gehörte (Abb. 96). Auch aus ihrer Anschauung könnte Klee das
Grundgerüst für seine Figuren gewonnen haben.332 Ihre einfache Beweglichkeit, zur gänzlich
325 Hier sei nochmals an das aus dem dritten Kapitel herausgenommene Zitat erinnert, das Klee über den Anfang des Romans in seinem Arbeitsbuch schrieb (Vgl. Voltaire 1897, 94). 326 Tucker 1993, 31. 327 Auch Haxthausen erkannte die Figuren „first and foremost as a gesticulating entety.“ (Haxthausen 1981, 335). 328 Annegret Hoberg schrieb treffend, Klee stelle stets „Abenteuer raum-zeitlicher Handlung“ dar. (Hoberg, Annegret, Bildkommentare zu Paul Klee, in: Zweite; Armin [Hrsg.], Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München, München 1991, Tafel 108). 329 Den eher lyrischen Charakter des Marionettenspiels hob Marcel Marceau in seinem Vorwort Für ein Theater des Wunderbaren zu Tankred Dorsts Büchlein „Marionetten“ hervor (Dorst 1957, 9). 330 Neben dem hier gezeigten Beispiel des „Gekrönten Dichters“ findet sich unter ihnen auch ein Selbstbildnis, das den subjektiven Ernst dieses Spiels für Klee zeigt. Außerdem war der Sohn damals bereits in jugendlichem Alter, was die Vermutung nahe legt, dass Klee das Theater auch und vielleicht vor allem aus eigenem Antrieb schuf, so wie sich in dieser Zeit viele Künstler aus avantgardistischen Kreisen mit diesem Medium beschäftigten (vgl. hierzu: Zentrum Paul Klee (Hrsg.), Paul Klee. Handpuppen, Ostfildern 2006). 331 Dem „sans plumes“ bei Voltaire entspricht die Charakterisierung des Figurenstils bei Klee als „scarnificazione singolare“ bei Quintavalle (Quintavalle, Arturo Carlo, Klee fino al Bauhaus, Kat. Ausst. Salone di contrafforti in Pilotta, Università di Parma, Istituto Storia dell’arte col Patrocinio della Regione Emilia Romana, 07.11.1972-07.01.1973, Parma 1973, 87). 332 Dass ein funktionales Gerippe, wie eine solche Gliederpuppe in den Augen eines Künstlers, wie Klee ein Eigenleben bekommen konnte, ist nicht unwahrscheinlich, wenn es bei Felix Klee in dessen
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funktionalen Abstraktion verminderte Körperlichkeit mag sich in Klees Vorstellung mit der
lebendigen, lyrisch theatralischen Bewegtheit der Marionette verbunden haben, über die der
bekannte Pantomime Marcel Marceau sagt:
Die Marionette […] macht ihre Kunstfertigkeit sichtbar: sie erscheint uns zwar beseelt, als lebendiger Mensch, aber sie verleugnet dabei keinen Augenblick, daß sie eine künstliche Figur ist.333
Hier könnten also die besondere Beweglichkeit und der Charakter der Figuren Klees ihre
Wurzeln haben. Ihre auffallend starke Überlängung findet in den genannten Beispielen hingegen
kaum ein Vorbild. Sie könnte neben den erwähnten frühen Tagebucheinträgen von 1905 auch
auf gezielte Experimente mit den Möglichkeiten der Verzerrung zurückgehen, durch die sich
Klee zu Beginn des Jahres 1911 neue stilistische Anregungen erhoffte. In einem Eintrag seines
Tagebuches vom Februar 1911 ist diesbezüglich zu lesen:
Ich schrieb eine normale richtige Zeichnung auf Glas. Dann verdunkelte ich das Zimmer und zündete ein Kerzenlicht an, am besten ein Bezinlicht, weil sich hier die Größe der Flamme leicht regulieren lässt. Die Glasscheibe stellte ich schief zwischen die Lichtquelle und das neue Blatt, welches horizontal auf dem Tisch lag. Ergebnis: Beim „richtigen“ Bild ist AB>BC>CD, während das Projektionsbild oder Zerrbild umgekehrt A1B1<B1C1<C1D1 erscheinen lässt. Ich machte in jedem einzelnen Falle durch Verstellen der Glasscheibe aus einem Winkel in den anderen die verschiedensten Versuche bis ich auf die mir besonders zusagende Umrechnung kam. Jede Umrechung war aber durch die gesetzmässige Disproportionierung irgendwie vernünftig.334
Einen Zusammenhang zwischen diesen Experimenten und den extrem überlängten Figuren
stellte Haxthausen her.335 Ihm zufolge spricht die auffallende Koinzidenz dieser Experimente
und des in den Candide-Illustrationen erstmals deutlich zu Tage tretenden Phänomens der
Überlängung und Verzerrung der Figuren für einen solchen Einfluss.336 Dabei ging Haxthausen
so weit, dass er sich einige Hinterglasbilder,337 die als frühe Studien zu den Illustrationen im
Oeuvre-Katalog aufgeführt sind, aber nicht jene typische Längung oder Verzerrung aufweisen,
Sammelband über den Vater von 1960 heißt, es hätte „für Klee keine noch so unscheinbare Sache [gegeben], welche nicht plötzlich sein besonderes Interesse erweckt hätte. Gerade das unglaublich Vielseitige in seiner Kunst fußte ausschließlich auf der täglichen Beobachtung seiner Umgebung“ (Klee, Felix, Paul Klee. Leben und Werk in Dokumenten, ausgewählt aus den nachgelassenen Aufzeichnungen und den unveröffentlichten Briefen, Zürich 1960, 70). Und auch Feininger schrieb noch 1940 aus der Erinnerung über Klee als einem Menschen, dem „[…]wie dem aufmerkend wachen Kinde, alle Erlebnisse der Sinne, des Auges und Ohrs, des Tastens und Schmeckens ewig fesselnd und neu waren“ (in: Grote, Ludwig (Hrsg.), Erinnerungen an Paul Klee, München 1959, 72). 333 Marceau, Marcel, Für ein Theater des Wunderbaren, in: Dorst 1957, 7. 334 Klee 1988, Absatz Nr. 892. 335 Vgl. Haxthausen 1981, 333f. 336 Klee sann schon im Juli 1908 beim Malen von Landschaften hinter Glas ähnlichen Möglichkeiten der Verzerrung nach, doch zeitigten diese Überlegungen keine unmittelbaren Ergebnisse (Klee 1988, Absatz Nr. 831). 337 Es handelt sich hierbei um die Arbeiten Der erstochene Jude, Oeuvre-Katalog, Nr. 1911, 39 (Abb. 42) sowie 2 Akte 2 Affen, Oeuvre-Katalog Nr. 1911, 96 (Abb. 43).
61
als Ausgangsmotive für Klees Experimente vorstellte. Eine solche Vermutung lässt sich zwar
aus dem konkreten Befund nicht direkt bestätigen. Dennoch bleibt seine Beobachtung wertvoll,
dass die frühesten Skizzen zum Candide die später charakteristische Überlängung nicht einmal
im Ansatz zeigen.
Sicher ist allerdings auch, dass Klee das Ergebnis seiner damaligen Experimente keineswegs
direkt umgesetzt, sondern in weiteren Überarbeitungen an seine spezifischen künstlerischen
Vorstellungen sowie die Forderungen des Textes adaptiert haben muss. So ist die auffallende
Kleinheit der Köpfe unter den Gesetzmäßigkeiten der genannten Experimente kaum denkbar.
Sie müssten, mehr noch als der Oberkörper- und Schulterbereich im Vergleich zum schmalen
Becken um ein Weiteres in Breite und Länge gestreckt sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie
erscheinen durchgehend als stark verminderte „tiny caricatures“338 (Abb. 13 und 14). Auch die
Glieder selbst behalten trotz der zunehmenden Breite des Gliederbaus als Ganzem bis hinein in
den Oberkörper ihre besondere Zartheit und scheinen darin dem Gesetz der einfachen
Verzerrung nicht zu folgen. So ist es möglich, dass die Anregung durch jene Experimente keine
durchgängig direkte war, sondern eine, durch welche Klee lediglich das grundsätzliche Wesen
seiner Figuren aufgegangen sein könnte.
Auch die oft betonte Schatten- und Schemenhaftigkeit339 der Figuren könnte von den
besprochenen Experimenten herrühren. Baumeister führte sie hingegen auf eine mögliche
Beschäftigung Klees mit dem Schattentheater zurück.340 Dabei liegt ein entsprechender
Vergleich insofern nahe, als sich die Spielstätte der seinerzeit sehr populären, 1907 von
Künstlern ins Leben gerufenen Schwabinger Schattenspiele (Abb. 95) interessanterweise auf
demselben Hinterhof der Münchner Ainmillerstraße 32 befand, wo auch die Familie Klees bis
zu dessen Berufung ans Bauhaus nach Weimar wohnte.341 Weder das Theater, noch die dort
beschäftigten Künstler finden zwar in den Schriften Klees Erwähnung. Als einem Künstler, in
dessen Schaffen neben der Malerei und der Musik auch die Literatur und das Theater eine
bedeutende Rolle spielten, werden Klee jedoch die Vorstellungen jener Schattenspiele nicht
gänzlich entgangen sein. Immerhin stieß damals das Schatten-, ähnlich wie das
Marionettentheater, gerade unter den Künstlern der jungen Avantgarde allgemein auf reges
Interesse. Das hier gegebene Anregungspotential für einen Künstler wie Klee mag das folgende
kurze Zitat aus einer Ansprache des Gründers der Schattenspiele, Alexander von Bernus,
aufzeigen:
338 Haxthausen 1981, 330. 339 Vgl. Haftmann 1964, 160; Huggler 38; Geelhaar 1975 (1), 24; Helfenstein 1992, 46; Glaesemer 1973, 180; Meister 1999, 285. 340 Vgl. Baumeister 1999, 29-61. 341 Vgl. Geelhaar 1979, 25; Wegner, Manfred, „Wachsen am Wunder“. Die „Schwabinger Schattenspiele“ 1907-1912, in: Bauer, Helmut und Elisabeth Tworek (Hrsg.), Schwabing: Kunst und Leben um 1900, Kat.Austt. Münchner Stadtmuseum, 21.05.-29.09.1998. München 1998, 95. (Wegner zufolge befanden sich die Schattenspiele seinerzeit auf dem Hof in einem ausgebauten ehemaligen Bildhaueratelier, vgl. ebd.).
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[…] das Eigentümliche und tief Ergreifende des Schattenspiels liegt […] ganz im Seelischen. Es spiegelt am reinsten die entmaterialisierte Welt der wachen Träume, die feinste Linie zwischen Sein und Schein, es ist im eigentlichen Sinn romantisch. Und also trägt es stets auch einen leisen Zug von Ironie, die still und geistig ist, oft bloß als Folge einer typischen Gebärde, doch von dem marionettenhaft Grotesken ist der Schatten, das Körperlose, frei.342
Schnell wird anhand dieser Ausführungen deutlich, wie nahe der Geist des Schattentheaters der
damaligen Kunst Klees in vielerlei Hinsicht war. Es nimmt daher kaum Wunder, wenn Lang in
einem Abschnitt über Klees Candide-Illustrationen dessen Schaffen ganz ähnlich als „an der
fließenden Demarkationslinie zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen abstrakter,
entmaterialisierter Verallgemeinerung und figurativer Konkretheit angesiedelt“343 beschrieb.
Auch ein Blick auf einzelne Illustrationen Klees weist auf manche formale diesbezügliche
Übernahme, besonders im Bereich der im folgenden Kapitel zu behandelnden Räumlichkeit der
Darstellungen.344
In Bezug auf die Figuren ist der Eindruck jedoch weniger eindeutig. Zwar verwendete Boban
hier den für das Schattentheater typischen Begriff der „Umrissfiguren“345 und stellte fest, dass
sie wie dort in der Regel im Profil gezeigt würden. Doch relativierte sie diese Feststellung
selbst, indem sie gleichzeitig die Transparenz der Figuren hervorhob und sie damit vom
einfachen, für das Schattentheater typischen Schattenriss, der Silhouette unterschied. In einigen
Zeichnungen, wie denen zu den Kapiteln 1 (Abb. 1), 15 (Abb. 15), 18 (Abb. 19) und 25 (Abb.
25) scheint dennoch ein unmittelbarer Einfluss der benachbarten Schattenspiele denkbar. So
erscheinen speziell die Figuren der Illustrationen zum ersten sowie zum 25. Kapitel wie durch
einzelne Virgulen oder expressive Lineaturen schattenhaft „ausgemalt“. Auch in den übrigen
Zeichnungen siedelt das Wesen der Figuren, wie Haftmann treffend schrieb, „zwischen vagem
Schimmer und einer dämmrigen Körperlichkeit“346. Die darin angesprochene, auffallende
Transparenz der Figuren führt Baumeister indes zu der Annahme, Klee habe sich weniger an
europäischen, als an asiatischen Traditionen des Schattentheaters orientiert. Ohne Zweifel
finden sich dort Figuren von beeindruckender Transparenz und Feingliedrigkeit. Ihrem Wesen
nach aber handelt es sich hier im konkreten wie im übertragenen Sinn erneut um „entfernte
Welten“.
Nahe liegender scheint bei der Frage nach der Transparenz hingegen wiederum der Einfluss der
Kinderzeichnung zu sein. Ihr für die schematische Phase frühkindlicher Gestaltung typischer
342 Zit. nach: ebd., 94. 343 Lang 1993, 49. 344 Möglich ist auch, dass die zuvor beschriebenen Experimente, welche Haxthausen mit den Candide-Illustrationen in Verbindung brachte, einer Anregung durch die Schattenspiele zu verdanken waren. Immerhin betonte Klee in seinem diesbezüglichen Tagebucheintrag, dass sich seine Experimente am besten mit einem in der Stärke regulierbaren Bezinlicht machen ließen. Letzteres galt wiederum auch als das geeignetste Mittel bei der Aufführung der Schwabinger Schattenspiele (vgl. Wegner 1998, 96). 345 Boban 2002, 26. 346 Haftmann 1950, 35.
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additiver Aufbau der Figuren sowie deren Anordnung nach demselben additiven Prinzip
innerhalb des Bildes ergeben ähnliche Effekte von Transparenz. Da es sich hier aber um ein
primär räumliches Problem handelt, soll in diesem Fall auf das folgende Kapitel verwiesen
werden und stattdessen die Aufmerksamkeit nochmals auf ein anderes Feld der Figurenbildung
bei Klee gelenkt werden, auf dem ebenfalls der Einfluss der Kinderzeichnungen sichtbar wird.
Im vorausgegangenen Kapitel sind bereits einige wesentliche gestalterische Merkmale der
schematischen Zeichnung im frühen Kindesalter vorgestellt worden. Dabei folgte dem Stadium
einer noch wesentlich unbestimmten und freien Entwicklung der Linie jene Phase, in welcher
sich die Linien langsam zu Schemata fügen und nun auch zunehmend inhaltliche Bedeutung
tragen und vermitteln. In ihrem Zusammenhang sprach Werkmeister von der „Spontaneität
begrifflicher Abstraktion“347, bei der die jeweiligen Darstellungsgegenstände und deren einzelne
Elemente vom Kind häufig unabhängig voneinander „begrifflich“ gefasst und in additiver Form
im Bild zusammengefügt werden.348
Als Beispiele sollen hier die zwei Zeichnungen des Sohnes Felix & Papa mit Stock349 (Abb. 75)
von 1913 sowie Schule350 (Abb. 76) von 1914 herangezogen werden. Zwar sind sie erst nach
den Illustrationen zum Candide entstanden, machen aber das nach Pierce auch schon früher
auftretende Phänomen der additiven Vorgehensweise des Kindes beim Zeichnen besonders
anschaulich. Aus der freien Linie fügen sich hier mehr oder weniger formelhaft die Glieder und
aus diesen bilden sich wiederum einzelne Figuren. Leib, Kopf, Ober- und Unterschenkel, Hände
und Füße erscheinen aber zunächst, wie bei der Gliederpuppe, als selbständige Formen. Bei der
konkreten Bildung der einzelnen Glieder machte Pierce nun innerhalb der Kinderzeichnung eine
weitere, für das Verhältnis zwischen ihnen und den Arbeiten Klees wichtige Beobachtung, wenn
er schreibt:
After months of random scribbling children gain sufficient control over their movements to master specific lines and shapes. Approximations of straight lines, circles and rectangles appear among their scribbles. It gives them pleasure to be able to draw preconceived forms and they enjoy practicing them in length. […] This is the stage of children’s art that Klee found most instructive.351
Für dieses Phänomen lassen sich unter den Kinderzeichnungen Klees eine ganze Reihe von
Beispielen finden.352 Besonders anschaulich wird es bei den bereits erwähnten Zeichnungen
Droschkengespann353 (Abb. 72) sowie Mann, ?, Stuhl, Hase354 (Abb. 74), wo die verschiedenen
347 Werkmeister 1981, 145. (dieser Begriff mag als Hilfsbegriff stehen bleiben, es sei aber angemerkt, dass es sich bei Kinderzeichnungen im Regelfall nicht um Abstraktion im eigentlichen Sinn handelte, sondern aus der Sicht des Kindes gesehen um einen primitiven „Realismus“). 348 Vgl. Pierce 1976, 111. 349 Siehe: Osterwold 1979, 88. 350 Ebd., 86. 351 Pierce 1976, 105. 352 Klee selbst nannte seine ersten Kinderzeichnungen „phantastisch illustrativ“ (Klee 1988, 482). 353 Oeuvre-Katalog, 1883-85/14.
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figürlichen Bildungen ganz dem freien, spontanen Zugriff der Linie auf die Wirklichkeit
entspringen. Der junge Klee folgte hier ebenfalls dem lockenden Strich und vergewisserte sich
an ihm der Realität des Dargestellten. Dabei zeigt sich deutlich, was Pierce für die Zeichnung
von Kindern im Übergangsstadium zwischen „scribbel“ und „schematic stage“ festhielt: „They
learn to elongate their basic circles and attach them to the round bodies of their figures as arms
and legs“355. Speziell über die linke Figur in Klees Zeichnung Mann, ?, Stuhl, Hase von 1884
heißt es nun entsprechend der Vorbemerkung: „The figure in each case is extremely attenuated,
has a tiny head and is composed of independent units.”356 Und über ihren Bezug zu den
„Candide”-Illustrationen heißt es schließlich: „Klee revived the style of this elongated figure in
the series of illustrations for Candide which he prepared in 1911 and 1912.“357 Zur
Veranschaulichung seiner These zog Pierce wiederum das Beispiel jener Skizze zur Illustration
des 14. Kapitels, Cacambo mit den Pferden (Abb. 46), heran und führte zu ihr und den
Illustrationen allgemein aus:
Less nervously “sketchy” than the final version, the drawing clearly shows the additive conception that underlies the finished drawings of the series. Legs, arms and neck are all independently attached to the simply delineated torso. This particular figure, in fact, bears a remarkable resemblance to the man holding the reins of a fantastic creature in Klee’s childhood drawing…358
Auch wenn die Ähnlichkeiten im Falle dieser Skizze und ihrer Umsetzung in der endgültigen
Fassung der Illustration besonders auffallend sind, zieht sich der darin hervortretende Charakter
der Figuren auch durch den größten Teil der übrigen Illustrationen, sodass Pierce zu der
allgemeinen Schlussfolgerung gelangte: „This canon of proportion and this method of
construction are typical of the whole Candide series”359. Selbst bei Darstellungen von Tieren
lassen sich in den Candide-Illustrationen derartige Parallelen zu den Kinderzeichnungen finden.
So scheinen die in Kapitel 18 (Abb. 19) in schnellem Lauf gezeichneten sechs Hammel in ihrer
im Strom der Bewegung untergehenden, teilweise amorphen Gestalt den Pferden des
Droschkengespanns (Abb. 72) von 1883-85 verwandt. Dennoch sei an dieser Stelle betont, dass
die kreative Offenheit und Empfänglichkeit für die Formensprache der Kinder, wie sie bei Klee
zu beobachten ist, mehr als die Tatsache einfacher „Subversion“360 einen hochsensiblen und
technisch versierten Künstler voraussetzt. Die Art der hier entwickelten Figürlichkeit scheint
allerdings kaum mit Lösungen anderer Künstler, auch des zeitgenössischen Expressionismus,
vergleichbar. Jener Mut zu einer in der Kunst zuvor nie dagewesenen, entschieden
unkonventionellen Darstellungsweise ist kaum anders erklärbar als durch die Anregung der 354 Oeuvre-Katalog, 1884/18. 355 Pierce 1976, 110. 356 Ebd., 112. 357 Ebd., 111. 358 Ebd., 111f. 359 Ebd., 112. 360 Werkmeister 1981, 146.
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ganz auf das Inhaltliche konzentrierten formalen Entwicklung der Kinderzeichnung, wie es auch
Glaesemer sinngemäß schrieb:
Hier stand, wie in den Candide-Zeichnungen, die erfundene einfache Form in vollkommener Deckung mit dem jeweiligen Inhalt. In den Kinderzeichnungen war jeder Gegenstand, jede Einzelheit an den Figuren aus einer sinngemäßen Bedeutung hervorgegangen; nichts war überflüssig, und die Phantasie bekam Spielraum, um aktiviert zu werden.361
4.1.3. Zur Entwicklung des Raumes
Anders als bei der Druckgrafik hat die Zeichnung, wenn sie als Illustration fungiert, häufig den
Charakter des „Ausgedecktseins“362. Dabei verfügt sie über keinen eigenen, bei grafischen
Verfahren oft allein durch die Spuren der jeweiligen Druckplatte abgegrenzten Bildraum und
verläuft so ohne feste Umgrenzung im Blattgrund. Auch Klees Zeichnungen zu Voltaires
Candide können in diesem Sinne überwiegend als ausgedeckt bezeichnet werden. Am
eindrücklichsten erscheint dieser Charakter bei der ersten Illustration zum vierten Kapitel (Abb.
3), wo die Bewegung der beiden Figuren einen Raum durchmisst, der über das Zueinander der
Figuren hinaus kaum Festpunkte oder äußere Grenzen hat. Ohne Bruch verläuft er in den
umliegenden Blattgrund hinein. In nur wenigen Illustrationen des Zyklus, wie jenen zu den
Kapiteln 11 (Abb. 11), 20 (Abb. 21), 22 (Abb. 22 und 23) und 30 (Abb. 26) findet sich ein
annähernd geschlossener Bildraum. Hier ergibt sich aus dem plötzlichen Abbruch von
Schraffuren und Lineaturen eine Trennung zwischen der Illustration und der Buchseite mit dem
Textkorpus. Eine ganze Reihe von Zeichnungen zeigt dagegen lediglich im unteren Bildbereich
eine deutliche Verfestigung der Struktur, während das Bild nach oben hin mehr oder weniger
ausgedeckt erscheint. Als besonders prägnante Beispiele seien hier die erste Illustration zu
Kapitel 16 (Abb. 16) sowie jene zu Kapitel 18 (Abb. 19) genannt. Die meisten Illustrationen
zeigen jedoch nur punktuell gewisse Umgrenzungen, oft in Form der Andeutung einer Boden-
oder Himmelslinie, wie bei den Illustrationen zum ersten (Abb. 1) und zum siebten Kapitel des
Candide (Abb. 7). Wegen des Fehlens jener äußeren Geschlossenheit der Darstellung aber
bedurfte es einer anderen Abgrenzung gegen den Textkörper, die von Klee meist durch
kompositorische Mittel, also durch einen primär inneren Zusammenhalt der Komposition
erreicht wurde.
Erstes Mittel zu einer kompositorischen Geschlossenheit war über Jahrhunderte bis hinein in
den Impressionismus die natürlichen Perspektive. Sie gab den einzelnen Elementen des Bildes
ein natürliches Gesetz der Ein- und Zuordnung. In Klees Tagebuch findet sich jedoch schon
361 Glaesemer 1973, 182. 362 Vgl. Heffels, Monika, Die Buchillustrationen von Max Slevogt, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel – Frankfurter Ausgabe – Nr. 14a, 22. Februar 1960, 224.
66
1902 eine Notiz, die auf eine bewusste Abwendung von der illusionistischen Tiefenräumlichkeit
hinweist:
Ich projiciere auf die Fläche, d.h. das Wesentliche muß immer sichtbar werden, auch wenn es in der Natur, die auf diesen Reliefstil nicht eingestellt ist unmöglich wäre. Dabei spielt auch die Verkürzungslosigkeit eine wesentliche Rolle. […] …ich habe ein ganz kleines unbestrittenes Eigentum entdeckt: Eine besondere Art der dreidimensionalen Darstellung auf der Fläche.363
Zwar gewann noch in den „impressionistischen“364 Studien die perspektivische Darstellung bei
ihm wieder an Bedeutung. Spätestens seit den Illustrationen zu Voltaires Candide scheint Klee
sie aber nicht mehr als kompositorisches Grundprinzip betrachtet zu haben.
Die verbliebenen Angaben des Raumes hatten indes keine illusionistische Funktion mehr,
sondern wurden vor allem zu Mitteln der Erzählung und von dieser her bestimmt. In jener
Eigenschaft aber gewannen sie, wie Glaesemer feststellte,365 an Bedeutung und ermöglichten
nicht nur die ereignishafte Zuspitzung inhaltlicher Aussagen, sondern auch die Verbindung
zeitlich nacheinander oder parallel laufender Handlungen innerhalb einer Darstellung. Der
Raum erhielt auf diese Weise den Charakter des Zeitlichen und wurde zum Synonym für die in
der Zeit ablaufende Handlung. Hiermit überging Klee scheinbar wie selbstverständlich die
klassische, von Lessing im Laokoon geforderte Trennung der Künste und ihrer
Aufgabenbereiche in das „Zeitgebilde des Dichters“ und das „Raumgebilde des Künstlers“.366 In
seiner bereits an anderer Stelle zitierten Schöpferischen Konfession von 1918/19 bekannte er
sich später in diesem Sinne klar gegen eine solche Trennung, obwohl er einräumte, einst selbst
unter dem Einfluss dieser Theorie gestanden zu haben:
In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Hinsehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff.367
Unter Klees Illustrationen finden sich nun sowohl Beispiele für eine bildnerische Verbindung
von im Text nacheinander ablaufenden Handlungen als auch für die Verbindung räumlich
voneinander getrennter, aber zeitlich parallel ablaufender Handlungen. Ersteres gilt unter
anderem für die Illustration zu Voltaires fünftem Kapitel (Abb. 5). Während hier zunächst von
der Zerstörung Lissabons durch das verheerende Erdbeben und den ihm zum Opfer gefallenen
Menschenleben die Rede ist, heißt es in der von Klee illustrierten Textpassage:
363 Klee 1988, 521. 364 Ebd., 512. 365 Vgl. Glaesemer 1973, 180. 366 Rodenberg, Julius, zit. nach: Maur 1992, 11 (Siehe: Kapitel 2.2.). 367 Schöpferische Konfession, in: Klee 1995, 62.
67
Le matelot disait en sifflant et en jurant: „Il y aura quelque chose à gagner ici.“ – „Quelle peut être la raison suffisante de ce phénomène?“ disait Pangloss. – „Voici le dernier jour du monde!“ s’écriait Candide. Le matelot court incontinent au milieu des débris, affront la mort pour trouver de l’argent.368
In der zeichnerischen Darstellung dieser Szene durch Klee sind die im Text nacheinander
beschriebenen Handlungen der einzelnen Figuren als gleichzeitig oder parallel ablaufende
Vorgänge dargestellt.369 Ein anderes Beispiel raum-zeitliche Verschränkung liefert die
Illustration zum achten Kapitel (Abb. 8). Hier sind Candide und Cunégonde auf einem Sofa in
stürmischer Umarmung gezeigt, während die alte Dienerin Cunégondes, von der Voltaire an
dieser Stelle schweigt, rechts im Hintergrund einen Tisch abzuräumen scheint und damit auf das
vorausgegangene gemeinsame Mahl anspielt. Im Gegensatz zur vorherigen Darstellung hob
Klee hier die räumliche Trennung annähernd gleichzeitiger Handlungen auf und verband sie
ebenfalls in einer Darstellung. Ein weiteres, besonders eindrückliches Beispiel hierfür stellt die
Illustration zum 14. Kapitel des Candide (Abb. 14) dar, in dem die Wiederbegegnung zwischen
Candide und dem jungen Baron in dessen Laubzelt,370 sowie die Obacht Cacambos auf die
Candide und ihm gehörenden andalusischen Pferde vor dem Zelt verbunden sind. Ihre
räumliche Trennung wird nur sehr vage durch einen offenbar als Eckpfahl für das Laubzelt
dienenden locker belaubten Baum angedeutet.
Die beiden hier verbundenen, in der Schilderung des Textes jedoch räumlich voneinander
getrennten Szenen entstammten dabei interessanterweise ursprünglich zwei selbstständigen
Darstellungen und wurden erst später von Klee zusammengefügt. Die Darstellung der Szene mit
Cacambo und den Pferden, die bereits als überraschend treue Wiedergabe einer
vorausgegangenen Skizze (Abb. 46) erkannt wurde, hat Klee zusammen mit der flüchtigen
Andeutung des Laubzeltes einem anderen Blatt entnommen und schließlich mit der linken
Szene aus dem Innern des Zeltes montiert. Letztere findet sich auf der Rückseite des Blattes mit
der Darstellung Cacambos in einer etwas anderen Konstellation isoliert dargestellt (Abb. 51).
Durch die Verbindung beider Zeichnungen in einer Illustration setzte sich Klee nun erneut über
die natürlichen Gesetze des Raumes hinweg und verknüpfte so, wie im Theater, mehrere
Handlungen vor dem Auge des Betrachters. Raum und Zeit wurden wie dort zu relativen
Größen. So hat der angedeutete Raum nicht mehr in erster Linie illusionistische Funktionen,
sondern wird zum Handlungs- oder, wie Glaesemer schrieb, zum „Schicksalsraum“371. Sein von
dieser Funktion her bestimmter Charakter tritt dabei nicht nur in den genannten Beispielen offen
zu Tage. Bei den übrigen Illustrationen erreichte ihn Klee jedoch nicht über die Kombination
368 Voltaire 2004, 22. 369 Das Phänomen der Gleichzeitigkeit bewegte Klee zu einem Vergleich der Malerei mit der polyphonen Musik, wobei er die Malerei in dieser Hinsicht noch über die Musik stellte, weil „der Begriff der Gleichzeitigkeit reiner in ihr hervortrete“ (Grohmann 1959, 14). 370 Frz.: „feuillée“ (Voltaire 2004, 59). 371 Glaesemer 1973, 180.
68
zeitlich oder räumlich voneinander getrennter Handlungen, sondern über das ausdrucksvolle
Zueinander der einzelnen dargestellten Figuren. Hier wird der Raum in erster Linie „zwischen
den Figuren als physische und psychische Bindung erlebbar“372.
Die eigentümliche Spannung, die durch die sprechenden, oft bis zur statischen Unmöglichkeit
getriebenen Gebärden zum Ausdruck kommt, lässt räumliche Beziehungen mit einer geradezu
phantastischen Prägnanz auf einem erneut an das Theaters erinnernden, meist auf eine oder zwei
Ebenen reduzierten Raum sichtbar werden. Zu den eindrucksvollsten Beispielen hierfür gehört
Klees Illustration zum neunten Kapitel (Abb. 9), in dem Candide unter den Augen der
fassungslosen Cunégonde deren Liebhaber – einen Juden und einen Prälaten – umbringt.373 Hier
überspannt die Figur des Candide mit seinem Degen in sagenhafter Akrobatik beinah die ganze
Breite des Blattes. Die auf nur wenige Ebenen reduzierte Räumlichkeit erinnert hingegen stark
an die Staffelung eines Bühnenraumes, dessen Dimensionen erst durch die Gestik der Figuren
zwischen den Ebenen erlebbar werden. Auch in Klees Illustration zum 13. Kapitel (Abb. 13), in
dem die Trennung von Candide und Cunégonde auf Befehl des Gouverneurs von Buenos Aires
dargestellt ist, öffnet sich der Raum durch die spannungsreiche Gestik zwischen den dünnen,
bewegten Bändern gleichenden und auf annähernd einer Ebene befindlichen Figuren im Sinne
Glaesemers zum „Schicksalsraum“:
Sei es, dass sie sich umschlingen, sich anziehen, abstossen oder in starrer Isolation verharren, immer ist es die Spannung zwischen Linie und Raum, die wir als Träger der äußeren Handlung erleben.374
In einer Reihe von Zeichnungen bediente sich Klee indes zur Angabe des Raumes noch eines
weiteren Hilfsmittels. Durch die gezielte Anhäufung bewegter Lineamente oder Schraffuren
zwischen den Figuren und um sie herum schuf er nach Huggler in den Illustrationen eine Art
„atmosphärischen“375 Raumes. Besonders anschaulich wird dies in den Illustrationen der Kapitel
2 (Abb. 2), 4 (Abb. 4), 10 (Abb. 10), 24 (Abb. 24) und 30 (Abb. 26). Dabei gibt es je nach der
darzustellenden Situation erhebliche Unterschiede zwischen ihnen. So versinnbildlicht die
wirre, locker und doch expressiv um die Figuren gewebte Schraffur in der Zeichnung zum
zweiten Kapitel die schmeichlerische, Candide betörende Einladung der beiden bulgarischen
Offiziere zum Dienst in ihrem Heer (Abb. 2). In der ersten Illustration zum vierten Kapitel
(Abb. 3) werden dagegen die kaum mehr einer Schraffur vergleichbaren, bewegten Lineamente
zwischen Candide und Pangloss zu einer Verlängerung der Gestik und Verstärkung ihres
dramatischen Schwunges. Und in der Illustration zum 30. Kapitel (Abb. 26) schließlich
erzeugen die das gesamte Blatt durchziehenden, die „schöne“376 Rede des Pangloss
372 Ebd., 180. 373 Vgl. Voltaire 2004, 36. 374 Glaesemer 1973, 180. 375 Huggler 1969, 37. 376 Candide antwortet auf die Rede des Pangloss mit: „Cela est bien dit, mais…“ (Voltaire 2004, 150).
69
versinnbildenden Lineamente den Eindruck eines ätherischen Raumes. In anderen Fällen
fungieren die Schraffuren auch als flüchtige Andeutungen wirklichen, wenngleich stark
reduzierten Raumes.377 Typisch ist dabei, wie in den Illustrationen zum ersten (Abb. 1) und
siebten Kapitel (Abb. 7), die meist zarte, mitunter aber auch expressivere Angabe von Boden-
und Himmelslinien, deren Existenz wiederum an das Theater, insbesondere an das
Schattentheater (Abb. 95) denken lässt.
Bei der Frage nach einer unabhängig von der Perspektive, allein durch die Mittel der Linie und
der Schraffur erzeugten Räumlichkeit muss auch der Einfluss Kubins (Abb. 87 und 88) erneut
diskutiert werden. Im Kapitel über die Autonomie des Strichs wurde bereits auf die unter
seinem Einfluss entstandene Skizze Klees zum fünften Kapitel (Abb. 48) des Candide
hingewiesen. Hier fand sich ein ähnlich dichtes Gewebe aus Linien und Schraffuren, wie es bei
Kubin häufig begegnet. In abgeschwächter, seine Herkunft jedoch keineswegs verleugnender
Form zeigt es sich auch in der endgültigen Fassung der entsprechenden Illustration (Abb. 5)
sowie punktuell in einigen weiteren Beispielen des Zyklus wie in der Illustration zum zweiten
Kapitel (Abb. 2). Diese wiederum scheint, wie die Illustration zum 14. Kapitel (Abb. 14),
motivisch mit einer Reihe verschiedener Skizzen von Restaurantszenen aus jener Zeit in
Zusammenhang gestanden zu haben, die sich ebenfalls durch einen außergewöhnlich starken
Einsatz von Schraffuren auszeichnen. Besonders auffallend ist dies bei der Scene im
Restaurant378 (Abb. 45) von 1911, wo ein alles überlagerndes Linien- und Strichgewirr dem
Raum eine quasi haptische, materielle Qualität verleiht.
Man könnte nun erneut davon ausgehen, dass Klee auch hier von Kubin beeinflusst worden ist.
Eine Schraffur aber, die kaum die gegebenen Gegenstände berücksichtigt, geschweige denn
modelliert, findet sich bei Kubin kaum. Stattdessen zeigen wiederum Kinderzeichnungen
ähnliche, diesbezüglich oft noch radikalere Schraffuren und Lineaturen. Sie sind besonders
charakteristisch für das bereits erwähnte Übergangsstadium zwischen dem „scribbel stage“ und
dem „schematic stage“, in dem sich der Sohn Felix zur Zeit der Arbeit seines Vaters an den
Illustrationen befand. In diesem Stadium bilden sich aus anfänglichen „Kritzeleien“ erste
Schemata, deren Formulierung dem Kind jedoch auch in ihrer begrifflichen Fassung noch derart
schwer fällt, dass es immer wieder in das einfache, gewohnte Kritzeln zurückfällt. Aus Sicht des
Kindes kommt dabei beidem eine reale, inhaltliche Bedeutung zu, ähnlich wie bei Klee die
Schraffur nicht als bloßes Mittel der Modellierung oder Schattierung einzelner Gegenstände
oder Bildteile fungierte, sondern wesentlich zur Veranschaulichung und Charakterisierung des
Raumes als „Schicksalsraum“ beitrug.
Das von Kindern ganz selbstverständlich in Kauf genommene Übereinander verschiedener
Bildelemente hat jedoch noch einen zweiten, in Klees Illustrationen zu beobachtenden und
bereits im vorausgegangenen Kapitel angedeuteten Effekt. So bewirken die beim additiven 377 Vgl. Franciscono 1991, 131. 378 Oeuvre-Katalog 1911, 89.
70
Aufbau der einzelnen Elemente oder Bildteile bei Kinderzeichnungen zwangsläufig
entstehenden Überschneidungen den Eindruck von Transparenz und Körperlosigkeit der
dargestellten Gegenstände. Im Besonderen trifft dies nach Pierce auf die im Mittelpunkt der
kindlichen Darstellung stehende menschliche Figur zu:
When children intersect the lines of arms and legs, from an illusionistic point of view a transparency is created that robs their figures of substance; more than one object seems paradoxically to occupy one place at the same time.379
Auch bei Klee ist von einem solchen additiven Aufbau vor allem der Figuren aber auch der
übrigen Bildelemente und des Bildes insgesamt zu sprechen. Zwar fand sich diese Eigenart
schon 1904 bei einer Reihe skizzenhafter Zeichnungen unter dem Einfluss Rodins, der „mit der
Freiheit des zeichnenden Bildhauers, bereits vor der Überlagerung mehrerer Zeichnungen, vor
Überschneidungen und collageartigen Montagen nicht Halt gemacht“380 hatte. Doch trat sie bei
Klee in den folgenden Jahren wieder in den Hintergrund und könnte nun, unter dem Eindruck
der Kinderzeichnungen, eine neue Aktualität gewonnen haben. So schrieb Pierce: „Klees
method of part by part construction retains many of the characteristic inherent in the schematic
mode of children”381. In Bezug auf eine der bereits erwähnten Skizzen von Restaurantszenen
machten Kersten und Okuda eine sehr ähnliche Beobachtung: „Da sämtliche Striche sich
einander überschneiden und überlagern, ergibt sich insgesamt eine skurril substanzlose
Erscheinung“382. Und auch Haxthausen erwähnte den bei der Darstellung der Figuren in den
Candide-Illustrationen durch diverse Überschneidungen hervorgerufenen Effekt einer mehr oder
minder starken Transparenz.383
Als Beispiel aus dem Zyklus soll hier zunächst die Figur des Candide aus der Illustration des
Kapitels 19 (Abb. 20) dienen, deren Arme im Bereich der Schultern und nochmals unterhalb des
Brustkorbs den Leib kreuzen, jedoch im Blick auf diesen transparent bleiben. Ein noch
deutlicheres Beispiel findet sich dafür im Candide der Illustration zum 20. Kapitel (Abb. 21).
Sie bildet dabei allerdings insofern einen Spezialfall, als die gesamte Figürlichkeit hier stark von
kubischen Formen bestimmt ist, deren besonderer Charakter nur bei einer gewissen Transparenz
der einzelnen Elemente zum Tragen kommen konnte. Auch die bereits erwähnte
Durchsichtigkeit der Kleider bei den Figuren Klees erklärt sich aus einer der additiven
Verfahrensweise geschuldeten Überschneidung und Überlagerung mehrerer Elemente. So
schien Klee bei ihnen zuerst die Körper und darüber mit wenigen nervösen, den Blick auf den
379 Pierce 1976, 121. 380 Glaesemer, Jürgen, Paul Klee. Die Kritik des Normalweibes. Form und Inhalt im Frühwerk, in: Berner Kunstmitteilungen, Kunstmuseum Bern, Januar/Februar 1972, Nr. 131/132, 8. 381 Pierce 1976, 121. 382 Kersten u. Okuda 1995, 39 (es handelt sich dabei um die Lithografie Restaurant im Freien II, 1912, 1 [Abb. 49]). 383 Vgl. Haxthausen 1981, 331.
71
Körper weiter zulassenden Strichen die Kleidung gezeichnet zu haben.384 Bei den meist mit
langen Gewändern bekleideten Frauen wird dies besonders anschaulich, wie bei der Darstellung
von Cunégonde und der Alten in der Illustration zu Kapitel 13 (Abb. 13) sowie von Cunégonde
in jener zum achten Kapitel (Abb. 8).
Doch macht sich das Phänomen der Transparenz auch in der Wechselwirkung zwischen Figur
und Raum bemerkbar. Besonders deutlich wird dies es bei der Figur des am Boden liegenden
„Nègre“385 aus der Illustration zum 19. Kapitel (Abb. 20), wo die in vagen Schattierungen
angedeutete Bodenzone wie selbstverständlich durch dessen Körper verläuft. Ähnliches zeigt
sich bei der bereits in der Einführung vorgestellten Illustration zum 17. Kapitel (Abb. 18), in der
die Wand des dargestellten Bootes durchsichtig auf die darin sitzenden Candide und Cacambo
ist.386 So erscheinen Klees Figuren letztlich als Wesen ohne Substanz und „schaffen auf dem
Blatt keinen Raum“387. Ähnlich wie bei den Kinderzeichnungen wird auch bei Klee aufgrund
des additiven Aufbaus der Zeichnungen das räumliche Hintereinander tendenziell zu einem
Über- oder Nebeneinander und der Raum somit nicht als abstrakte, die Darstellung selbst erst
ermöglichende Größe wahrgenommen, sondern vor allem in der Beziehung seiner einzelnen
Teile zueinander. Damit aber bekommt er wiederum eine stärker inhaltliche, im eigentlichen
Sinne erzählerische und in der Konsequenz letztlich zeitliche Dimension.
Ähnlich wie sie verweisen auch die bereits erwähnten, in den Illustrationen oft zu findenden
Boden- und Himmelslinien, zwischen denen die Handlung auf kaum mehr als zwei Ebenen
bildparallel von Klee geschildert wurde, erneut auf das Theater. Dabei erinnert die Verwendung
von Boden- und Himmelslinien stärker an das Schatten-, jene der Staffelung des Raumes in
verschiedenen Ebenen mehr an das Marionettentheater. Zu einer annähernden räumlichen
Kontinuität gelangte Klee jedoch kaum durch Indizien des Raumes selbst, wie eine
Horizontlinie oder eine sich nach ihr ausrichtende Perspektive, sondern in erster Linie durch das
genannte Zueinander der Figuren, die über die verschiedenen Ebenen hinweg agieren. Selbst
Licht und Schatten sind kaum von den Gesetzen einer kontinuierlichen Räumlichkeit bestimmt,
sondern folgen ebenso inhaltlichen Maßgaben. Bei Boban heißt es hierzu:
Der weitgehende Verzicht Klees, mit einer klaren Lichtgebung zu arbeiten, ist für die Wirkung der Illustrationen nicht ohne Konsequenzen. Da die Figuren und Gegenstände plastisch nicht ausgeformt sind, werden sie als substanzlose, flächige Erscheinungen wahrgenommen und bekommen gerade dadurch einen wirklichkeitsfernen, surrealen Charakter.388
384 Vgl. Pierce 1976, 125. 385 Voltaire 2004, 84. 386 Auch in den in dieser Zeit entstandenen, teilweise bereits erwähnten Skizzen von Restaurant-Szenen zeigt sich dieses Phänomen deutlich. 387 Lang 1993, 50. 388 Boban 2002, 24.
72
Diese Tatsache bringt die Figuren erneut in die Nähe des Theaters – mal des mit geringstem
Raum sich begnügenden Marionettentheaters, mal des ganz in der Fläche aufgehenden
Schattentheaters. Nur selten, wie etwa in der Illustration zum 15. Kapitel (Abb. 15), sind die
Figuren in Teilen plastisch gebildet. Hier hat das im Vordergrund gegebene Pferd eine für die
Illustrationen insgesamt sonst beispiellose Plastizität, wobei sie schon in der Figur des auf ihm
sitzenden Candide wieder gänzlich aufgegeben ist.389
Auch das Umfeld der jeweiligen Handlung scheint für Klee, wie bereits mehrfach erwähnt,
sekundär gewesen zu sein. Wichtig war stattdessen vor allem, was in ihm geschah und wie sich
die Figuren durch ihr Verhalten jeweils in der Handlung in ihm offenbarten. Innen- und
Außenraumdarstellungen sind kaum oder, wie beim Theater, nur durch sparsame Requisiten zu
unterscheiden. So finden sich bei der Illustration zum achten Kapitel (Abb. 8) zwar das im Text
beschriebene Sofa mit Candide und Cunégonde sowie der Tisch, der das vorausgegangene Mahl
symbolisiert, der Raum selbst aber blieb gänzlich unbestimmt, obwohl dieser bei Voltaire
pittoresk als „cabinet doré“390 beschrieben war. In der Illustration zum 17. Kapitel (Abb. 18)
wurde die Flusslandschaft mit den vor ihr wie ein Gewölbe391 aufragenden Felsen hingegen so
stark reduziert, dass kaum der Eindruck eines wirklichen Raumes entsteht. Klee scheint den
Roman also auf einer beinah neutralen Bühne mit nur wenigen Requisiten inszeniert zu haben,
ähnlich, wie es Grohmann für die Zeichnungen der folgenden Jahre 1912/13 beschrieb: „[D]ie
Gliederpuppen schaffen, gerade weil sie auf ein Minimum von Schlüssigkeit reduziert sind,
alles was sie zum Leben und zum Bild brauchen, Schauplatz, Handlung, Peripetie: ein Theater
ohne Kulissen und Requisiten, gestellt auf die Schrift aus Figuren und Graphismen.“392
4.2. Zur heterogenen Erscheinung des Zyklus
In der Klee-Forschung wurde der Zyklus der Candide-Illustrationen in der Frage nach seiner
stilistischen Geschlossenheit bislang sehr unterschiedlich beurteilt. So bezeichnete Okuda ihn
im Vergleich mit den zuvor entstandenen Illustrationen zu Bloeschs Musterbürger als „in jeder
Hinsicht systematischer“393 und auch Fontaine sprach von einem „ensemble extrêmement
homogène“394. Bei Haxthausen ist indessen von einer „diversity within the candide style“395 die
Rede, während Franciscono in diesem Sinne ebenfalls feststellte: „The six Candide drawings of
1912 show a greater freedom of execution“396. Für Boban waren schließlich die „relativ starken
389 Vgl. ebd. 23f. 390 Voltaire 2004, 28. (im Übrigen wird hier auch das Sofa als „canapé de brocart“ beschrieben). 391 Voltaire schrieb von „une voûte de rochers épouvantables“ (ebd.). 392 Grohmann 1959, 20. 393 Okuda u. Sorg, 391. 394 Fontaine 1971, 88. 395 Haxthausen 1981, 338. 396 Franciscono 1991, 132.
73
stilistischen Differenzen“397 ein Hinweis darauf, dass die Zeichnungen „nicht in einem Guss“398,
sondern in verschiedenen Phasen entstanden sind, wobei es insgesamt zur „Ausbildung einer
sparsam-bestimmteren Linienführung“ sowie zu einer zunehmenden „Schematisierung der
Figuren“399 gekommen sei. Dieser kurze Querschnitt durch die unterschiedlichen
diesbezüglichen Ansichten innerhalb der Forschung zeigt die besondere Schwierigkeit der
Bewertung und Einordnung des Zyklus als Ganzem.
Ein erster Blick soll daher in diesem Zusammenhang auf das einfachste und augenfälligste
Kriterium, dasjenige des Formats gerichtet werden. Dabei erstaunt zu Recht die Tatsache, dass
sich innerhalb des Zyklus die Maße keiner einzigen Illustration wiederholen. Freilich können
sich auch innerhalb einer solchen Reihe die Formate ändern, gewöhnlich aber handelt es sich
dann um Variationen nach einem gewissen Rhythmus, etwa, wie schon bei Moreau, zwischen
ganzseitigen Illustrationen und Kapitelvignetten.400 Dass aber jede der insgesamt 26
Illustrationen individuelle Maße besitzt, erscheint für einen Zyklus, dessen hervorragendste
Eigenschaft naturgemäß darin besteht, dass sich seine einzelnen Elemente nach bestimmten
Gesetzen zu einer Einheit fügen lassen, doch ungewöhnlich. Hinzu kommt, dass bei einem
Illustrationszyklus auch verlegerische Gesichtspunkte im Hinblick auf die Publizierbarkeit, zum
Beispiel bei der Einordnung der Zeichnungen in den Druckspiegel, zu berücksichtigen sind.
Auch vor diesem Hintergrund wird die lange ablehnende oder zögerliche Haltung der Verleger
in einem gewissen Maß verständlich.
Zugleich ist diesen Abweichungen von den allgemeinen diesbezüglichen Konventionen zu
entnehmen, wie stark der Impuls zu diesem Illustrationswerk von Klee selbst ausgegangen ist
und wie sehr für ihn dabei letztlich die Frage nach der eigenen künstlerischen Entwicklung im
Vordergrund gestanden hat. So sind die unterschiedlichen Formate zunächst vor allem Zeugnis
für eine Arbeitsweise, bei der Klee seine Zeichnungen nicht nur durch wiederholtes Pausen und
Überarbeiten, sondern immer wieder auch durch Beschneidungen oder Montagen veränderte,
wie er es selbst im Januar 1911 in seinem Tagebuch beschrieb: „[…] manches vollendete ich
zum Schluss kompositorisch nach dem pseudoimpressionistischen Grundsatz‚ was mir nicht
passt, schneide ich mit der Scheere weg’.“401 Diese Vorgehensweise wird an einer Reihe von
Zeichnungen, wie beispielsweise jenen zu den Kapiteln 1 (Abb. 1), 2 (Abb. 2) und 24 (Abb. 24)
sichtbar, wo das unvermittelte Ende von Schraffuren oder Linienführungen auf Beschneidungen
eindeutig hinweist. Doch auch das Gegenteil konnte der Fall sein, wie bei der bereits zuvor
genannten Zeichnung zum zweiten Kapitel sowie bei den Illustrationen zum 14. (Abb. 14) und
zum 16. Kapitel (Abb. 16), in denen Klee zu bestehenden Arbeiten Teile hinzugefügt oder
einzelne Teile verschiedener Zeichnungen zu einer neuen Einheit zusammengefügt hat.
397 Boban 2002, 23. 398 Vgl. ebd., 22f und 65ff. 399 Ebd., 67. 400 Moreau schuf insgesamt zehn ganzseitige Kupferstiche und 61 Holzstiche in Vignettenform. 401 Klee 1988, Absatz Nr. 892.
74
Diese Praxis hatte zur Folge, dass trotz der Tatsache, dass es sich bei allen Illustrationen um
Querformate handelt, diese doch ohne erkennbaren Rhythmus in ihren Maßen so stark variieren,
dass von einer entsprechenden Konstanz kaum mehr die Rede sein kann. Relativ oft findet sich
ein Querformat von etwa doppelter Breite, so unter anderem in den Illustrationen zu den
Kapiteln 1 (Abb. 1), 8 (Abb. 8), 12 (Abb. 12), 15 (Abb. 15), 18 (Abb. 19), 20 (Abb. 21) und in
der zweiten Illustration zu Kapitel 22 (Abb. 23). Nochmals merklich breiter ist das Format nur
in einem einzigen Fall, und zwar in jenem der Illustration zum elften Kapitel (Abb. 11).
Geringfügig höhere Formate finden sich hingegen unter anderem bei den Illustrationen zu den
Kapiteln 7 (Abb. 7), 10 (Abb. 10), 16 (Abb. 16), 25 (Abb. 25). Wesentlich höher sind indes die
Formate der Illustrationen zu den Kapiteln 19 (Abb. 20) und 30 (Abb. 26) sowie vor allem zu
den Kapiteln 13 (Abb. 13) und 14 (Abb. 14) angelegt. Obgleich sie im Druck über die Hälfte
des Blattes einnehmen, hat sich Klee hier dennoch nicht für eine ganzseitige Präsentation
entschieden (Abb. 30).
Gerade im Blick auf die angestrebte Veröffentlichung und die für sie erforderliche Einheit des
Zyklus machen sich neben dem wechselnden Format auch die differierenden Grade des
Ausgedecktseins und der tiefenräumlichen Illusion störend bemerkbar (vgl. Abb. 28 und 29).
Sie zwingen den Leser und Betrachter zu einer beständigen Umstellung seiner Wahrnehmung.
Darüber hinaus zeigt sich die Heterogenität des Zyklus jedoch besonders in der konkreten
Stilistik. So wird in einigen seiner Illustrationen eine Auseinandersetzung mit den Strömungen
des Kubismus und des Futurismus beziehungsweise den ihnen zugrunde liegenden Prinzipien
sichtbar. Bei insgesamt drei Beispielen aus dem Zyklus sind in der Forschung mit Recht
wiederholt kubistische Einflüsse erkannt worden. Bei ihnen handelt es sich um die zweite
Zeichnung zum 16. Kapitel (Abb. 17) sowie jene zu den Kapiteln 19 (Abb. 20) und 20 (Abb.
21). Boban ordnete sie einer eigenen stilistischen Gruppe zu und datierte sie gemäß ihrer
Position im Oeuvre-Katalog in die fortgeschrittene erste Hälfte der Arbeit an den Illustrationen,
also etwa in den Spätherbst oder Winter des Jahres 1911.402 Diese Annahme entspricht
auffallenden biografischen Koinzidenzen. So begegnete Klee etwa gegen Ende dieses Jahres
über seine Bekanntschaft mit Kubin auch Kandinsky und dem engeren Kreis des Blauen Reiter,
der von Mitte Dezember bis Anfang Januar in der Galerie Tannhauser ausstellte und ihn über
die Bilder Robert Delaunays erstmals eingehender mit kubistischen Tendenzen in Berührung
brachte.403
Von einer unmittelbar anschließenden künstlerischen Auseinandersetzung Klees mit dem
Kubismus zeugt auch die Zeichnung Jüngling mit Krallen404 (Abb. 50), die der Werknummer
zufolge gegen Ende des Jahres 1911 entstanden sein dürfte und deren Figur gerade in ihrer
402 Boban 2002, 67. 403 Vgl. Glaesemer 1973, 185. 404 Werknummer 1911/106.
75
Handhaltung eine Verwandtschaft zu den Figuren der Candide-Illustrationen aufweist.405 Im
Februar 1912 befanden sich auf der zweiten, nun der Grafik gewidmeten Ausstellung des
Blauen Reiter in der Kunsthandlung von Hans Goltz in München neben den zahlreich
vertretenen zeichnerischen Arbeiten Klees auch solche der beiden Begründer des Kubismus,
Pablo Picassos und Georges Braques, über deren Präsenz bei Goltz Klee damals viel sagend in
seinem Tagebuch notierte:
Dieser Händler riskiert als „erster am Platz“, in seinen Schaufenstern kubistische Kunst auszustellen, die von den Gaffern als typisch schwabingisch bezeichnet wird. Picasso Derain Braque als Schwabinger Freunderln, ein netter Gedanke!406
Mitte des Jahres 1912 war bei Klee dagegen eine deutlich reserviertere und differenziertere
Haltung zum Kubismus zu erkennen. So heißt es im August in seiner Rezension für die
Zeitschrift Die Alpen zur Ausstellung des Modernen Bundes in Zürich:
Auf landschaftlichem Gebiet hat der Kubismus wohl schon Genießer gefunden, während auf dem figürlichen die Lächerlichkeit scheints nicht zu vermeiden ist. Ich erwähne dies, einmal, weil ich selber gewisse Inkonsequenzen als störend empfunden habe, besonders aber, um daraus die Berechtigung des letzten Schrittes, der Weglassung des Gegenstandes, verständlich zu machen.407
Die erneute Abwendung Klees von kubistischen Tendenzen nach jenem kurzen Intermezzo
könnte von hierher erklärbar sein. Zu deutlich erkannte er offensichtlich, dass der Kubismus
letztlich auf den Verzicht einer Darstellung des konkreten Gegenstandes hinauslief und schien
diesen Schritt damals – insbesondere während der Arbeit an den Illustrationen, in denen die
menschliche Figur einen herausragenden Platz einnimmt – noch nicht mitvollziehen zu wollen.
Auch Boban erkannte den Einfluss des Kubismus innerhalb der Candide-Illustrationen als
vorübergehend.408 Neben ihm kam in dieser Zeit jedoch noch ein weiterer wichtiger Impuls zum
Tragen, jener der bereits erwähnten Futuristen, die seit 1909 beständig an Popularität gewannen
und 1912 in einem Ausstellungsmarathon unter anderem über Paris, London, Berlin und
Amsterdam auch bei der Galerie Tannhauser in München ausstellten. Klee berichtete von den
Vorbereitungen zu dieser Ausstellung in seinem Tagebuch:
405 Auch die „Scizze zu Candide“ (Oeuvre-Katalog Nr. 1912/42) zeigt in ihrer Bildung der Figuren aus Rhomben starke kubistische Einflüsse. 406 Klee 1988, Absatz Nr. 907. In einer Rezension dieser Ausstellung für Die Alpen schrieb Klee ganz ähnlich: „Dieser Buch- und Kunsthändler bewies den Mut, als erster in seinen Schaufenstern kubistische Kunst auszustellen, Kunst, die man hier noch vielfach für typisch schwabingisch hält (in der Schweiz wohl kaum kennt). Unter Kubismus versteht man die Bestrebungen, das Konstruktive der Formen ausdrucksvoll zu behandeln. Picasso, Derain, Braque, Delaunay heißen diese Schwabinger, die noch weniger wissen wo Schwabing liegt als meine Leser.“(Klee 1976, 100). 407 In Die Alpen, Heft 12, August 1912, 696-704, zit. nach: Klee 1976, 105. 408 Dies ist anhand ihrer genannten Einteilung der Zeichnungen in verschiedene Gruppen und Entstehungsphasen erkennbar. (vgl. Boban 2002, 67).
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[…]tags drauf konnte man den kleinen Herwarth Walden beim Hängen der Futuristen in der Galerie Tannhauser beobachten. […] Er liebt die Bilder aber auch gar nicht! Er riecht nur was dran mit seinem guten Riechorgan. Carrà, Boccioni und Severini sind gut, sehr gut, Russolo mehr typisch. „Die Bilder sind unverkäuflich, so berühmt sind sie, die Leute können gar nicht genug malen“ sprach Herwarth zu mir. Ich hörte es.409
Leider gibt es keine Zeugnisse, die eine Begegnung Klees mit dem Futurismus schon während
seiner Arbeit an den Illustrationen bezeugen. Dennoch ist eine solche nicht unwahrscheinlich,
fanden sich doch bei einigen Künstlern des Blauen Reiter bereits zur Jahreswende 1911/12
Berührungspunkte etwa mit dem russischen Futurismus.410 Zumindest scheint eine ihnen nahe
stehende künstlerische Absicht auch bei Klee in dieser Zeit eine Rolle gespielt zu haben. So
lassen seine Beschäftigung mit den Phasenfotografien von Eadweard Muybridge411 (Abb. 98)
und die durch sie bei ihm ausgelöste Frage nach der Visualisierung von Bewegung zu Beginn
des Jahres 1911 zweifelsohne an vergleichbare Momente bei den Futuristen denken.412 Für
diesen frühen Zeitpunkt aber ist eine Berührung mit dem Futurismus noch nicht vorstellbar.
Hier muss es sich um parallele Erscheinungen gehandelt haben, die aber, wie das Beispiel
Muybridges zeigt, den gleichen Wurzeln entstammten. Auch Boban, die sich unter dem
Stichwort „Bewegung“ mit dieser aus ihrer Sicht zentralen gestalterischen Zielsetzung in den
Illustrationen befasste, ging von keinem direkten Einfluss des Futurismus aus. Lediglich in
ihrem Resümee erwähnte sie den Futurismus neben dem Kubismus und dem Dadaismus als eine
Strömung, bei der, ähnlich wie bei Klee, die wechselseitige Durchdringung von bildender Kunst
und Literatur zu beobachten gewesen sei.413
Bei Boban standen jedoch ebenfalls die drei genannten Illustrationen zum zwölften (Abb. 12),
15. (Abb. 15) und 18. Kapitel (Abb. 19) des Candide im Fokus der Untersuchungen zur
Visualisierung von Bewegung bei Klee. Ähnlich wie Werkmeister führte sie dabei die
Darstellung der reitenden Candide und Cacambo zum 15. Kapitel auf die Beschäftigung Klees
mit den Fotoserien Muybridges kurz vor Beginn seiner Arbeit an den Illustrationen zurück.414
Werkmeister zufolge könnten die damals entstandenen Zeichnungen (Abb. 44) von Klee bei den
Illustrationen erneut aufgegriffen worden sein oder sogar unmittelbar als Vorarbeiten zu ihnen
gedient haben.415 Boban verweilte hingegen mehr bei der Untersuchung der beiden anderen
Zeichnungen. Sie standen in keinem direkten Bezug zu den Fotografien Muybridges, sind aber,
wie auch die in ihrem Zusammenhang geschaffenen Skizzen (Abb. 53 und 54) zeigen, ebenso
Zeugnisse einer intensiven Beschäftigung Klees mit der Frage nach der Wiedergabe
dynamischer Bewegungsabläufe und der Darstellung von Simultaneität. Bei Letzteren zeigt die 409 Klee 1988, Absatz Nr. 914. 410 Vgl. Glaesemer 1973, 184; Haftmann 1964, 162. 411 Die Fotografien wurden Ende der 1870er Jahre aufgenommen und 1887 als Serie veröffentlicht. 412 Vgl. Boban 2002, 71. 413 Vgl. ebd., 82. 414 Vgl. ebd. 76; Werkmeister 1981, 138. 415 Vgl. ebd.
77
Beschränkung der Darstellung auf den jeweils zentralen Moment der Bewegung deutlich die
von Boban beschriebene Zielsetzung. Verhältnismäßig treu finden sie sich in den endgültigen
Fassungen der jeweiligen Illustrationen wieder, wobei ihr besonderer gestalterischer Akzent
auch Auswirkungen auf die Bildkomposition hat.
So zeigt sich in den drei genannten Darstellungen eine stärkere Tendenz zum illusionistischen
Bildraum, als im übrigen Zyklus. Dies liegt insofern nahe, als der in ihnen unternommene
Versuch der Wiedergabe von Bewegung grundsätzlich ebenfalls auf eine Illusion realer
Vorgänge zielte. Auf neue und andere Weise fand sich Klee in ihnen also, wie bereits 1906,
herausgefordert, „direct vor der Natur bei [s]einem Stil zu verharren“416. Man könnte nun mit
Aichele die neue, beeindruckende Lösung dieses Konflikts im Beispiel der Zeichnung zum
zwölften Kapitel des Candide aus dem Zyklus heraushebend bewundern: „This drawing also
stands apart because the quality of the line masterfully captures the incisiveness and verve that
Klee so admired in Voltaire’s style.“417 Mit Rücksicht auf die Forderung nach einer
Einheitlichkeit innerhalb des Illustrationszyklus stellte deren Sonderweg jedoch zunächst einen
Verlust dar und fand nur in der Tatsache seine Rechtfertigung, dass Klee in ihm in einen
wichtigen Dialog mit den Strömungen seiner Zeit trat und sich auch durch ihn der eigene Weg
immer stärker herauszukristallisieren begann.
Neben den zuletzt besprochenen, innerhalb des Zyklus aufgrund der stärkeren äußeren Einflüsse
eine Sonderstellung einnehmenden Zeichnungen brachte jedoch auch die direkte
Auseinandersetzung mit dem Text unterschiedliche Früchte hervor. So tendieren manche der
Arbeiten zu szenisch erzählerischer, mitunter sogar anekdotischer Formulierung, wie etwa die
Illustrationen zu den Kapitel 7 (Abb. 7) und 17 (Abb. 18) sowie die zweite Illustration zum 22.
Kapitel (Abb. 23). Sie betonen stärker das zweite der beiden anfangs vorgestellten Momente des
„lustrare“ und des „illustrare“ innerhalb der klassischen Aufgabe der Illustration. Die höchst
eigenständige Bildsprache Klees stand hier wie selbstverständlich im Dienst der
Veranschaulichung des Textes ohne dabei ganz in dessen Abhängigkeit zu geraten. Sie wurde
vom Text sowohl inspiriert als auch beruhigt und gelenkt. Andere Illustrationen wiederum
tendieren mehr zu der von Klee als „psychische Improvisation“418 bezeichneten, kalligrafischen
Darstellungsweise, wie etwa die beiden Illustrationen zum vierten Kapitel (Abb. 3 und 4) oder
jene zu den Kapiteln 13 (Abb. 13) und 14 (Abb. 14). Hier zeigt sich die Handschrift Klees in
besonders freier Entfaltung und offenbart teils zarte, teils dramatische, oft aber auch skurrile
oder groteske Züge. Schließlich findet sich auch eine Reihe von Zeichnungen, die sich vor den
anderen durch ihr großzügiges und expressives Strichwerk auszeichnen, wie die Illustrationen
zu den Kapiteln 10 (Abb. 10) und 25 (Abb. 25).
416 Klee 1988, 756. 417 Vgl. Aichele 2002, 27. Auch Franciscono nannte diese Illustration „one of Klee’s most brillant drawings“, wobei er bedauernd hinzufügte: „But for the most part Klee keeps his exuberance in check, even in the later ones“ (Franciscono 1991, 132). 418 Klee 1988, Absatz Nr. 842.
78
Ob aus diesen unterschiedlichen Tendenzen eine künstlerische Entwicklung innerhalb des
Zyklus ablesbar ist, bleibt wegen der Unsicherheit über die genaue Entstehungsabfolge der
einzelnen Zeichnungen weitgehend ungewiss. Dennoch ist eine Entwicklung als solche
anzunehmen, da Klee immerhin über ein Jahr an den Illustrationen arbeitete – eine Zeit, über die
er selbst später resümierte, er habe in ihr „sein eigentliches Ich“ wiedergefunden. Glaesemer
schrieb dazu in seiner umfangreichen Monografie über die Handzeichnungen Klees:
Bei einem Vergleich der ersten Candide-Zeichnungen von 1911 mit den letzten Blättern der Folge aus dem Jahr 1912 zeichnet sich ein deutlicher Stilwandel ab. Sicher hatten einzelne Kompositionen Klee zu Anfang besondere Schwierigkeiten gemacht, so dass ihre Zeichenweise „bohrend“ wirkt. Die späteren Illustrationen sind lockerer gezeichnet, die Figuren befreien sich aus einer gewissen Starrheit, die Flächen zwischen ihnen wirken nicht mehr so leer.419
Bei einem genaueren Blick auf die von Glaesemer genannten Arbeiten verwundert seine
Aussage allerdings, weist doch die außergewöhnlich flüssige und sichere Komposition der
Zeichnung zum achten Kapitel (Abb. 8) – dem Oeuvre-Katalog zufolge die erste Zeichnung des
endgültigen Zyklus – im Gegenteil eine deutlich geringere Starrheit der Figuren, eine lockerere
Ausführung und weniger leere Freiflächen auf. Dies gilt auch für die der Werknummer zufolge
unmittelbar folgende Illustration zum zehnten Kapitel des Romans. Ein Stilwandel, wie ihn
Glaesemer beschrieb, ist zwar grundsätzlich anzunehmen, in den von ihm angeführten
Zeichnungen jedoch nicht nachzuweisen. Seine Charakterisierung als „bohrend“420 trifft indes
bei einer ganzen Reihe von Zeichnungen und wohl auch für die heterogene Erscheinung des
Zyklus insgesamt zu. Hier wird der über weite Strecken äußerst mühsame Schaffensprozess
erkennbar, von dem Klee noch in den späten 1920er Jahren an Paul Eluard im bereits zitierten
Brief berichtete.421
Boban ordnete die unterschiedlichen stilistischen Tendenzen insgesamt vier Gruppen zu und
begründete deren Differenzen mit der Annahme, dass Klee die „Arbeiten immer wieder
beiseite“ gelegt habe, um sich „mit anderen künstlerischen Projekten zu beschäftigen“422.
Wenngleich ihre jeweiligen Zuordnungen bis auf die bereits erwähnten Arbeiten mit
kubistischen Tendenzen oft willkürlich scheinen, ist doch ihre Begründung für die Differenzen
aufgrund der verhältnismäßig langen Beschäftigung Klees mit den Illustrationen plausibel. Folgt
man allerdings der Reihenfolge der Zeichnungen im Oeuvre-Katalog, ergeben sich deutlich
mehr Brüche in der Entwicklung mit entsprechend kleineren Gruppen von jeweils zwei oder
drei Zeichnungen, die deutliche Verwandtschaften im Stil aufweisen. So spricht der feine,
419 Glaesemer 1973, 184. 420 Ursprünglich entstammte diese Bezeichnung einem Bild, das Klee zur Beschreibung seiner Arbeit an den Inventionen im Juni 1904 in seinem Tagebuch diente. So schrieb er damals, er habe hier „in hartem Gestein gebohrt“ (Klee 1988, Absatz Nr. 568). 421 Siehe: Kapitel 4.2.2. 422 Ebd., 22.
79
erzählerisch pedantische Strich bei der ersten Illustration zum 16. (Abb. 16) und jener zum
siebten Kapitel (Abb. 7) des Candide wie deren aufeinander folgende Nummern im Oeuvre-
Katalog für einen etwa gleichen Entstehungszeitraum.423 Ebenso zeigen sich stilistische
Übereinstimmungen zwischen den Zeichnungen zu den Kapiteln 1 (Abb. 1), 15 (Abb. 15) und
18 (Abb. 19) sowie zwischen jenen der Kapitel 2 (Abb. 2) und 25 (Abb. 25), die im Oeuvre-
Katalog ebenfalls nahe beieinander liegen.424 Schließlich lassen sich auch Parallelen bei den
Zeichnungen zu den Kapitel 17 (Abb. 18) und 24 (Abb. 24) sowie bei jenen zu den Kapiteln 11
(Abb. 11) und 14 (Abb. 14) finden.425
Aber auch innerhalb der einzelnen, hier vorsichtig angedeuteten Gruppen gibt es immer wieder
kleinere und größere stilistische Brüche. Da manche der Gruppen zudem über diese Brüche
hinweg untereinander oder zu einzelnen Blättern an anderer Stelle Ähnlichkeiten aufweisen,
bestätigen sie erneut Vermutungen über eine von den Angaben im Oeuvre-Katalog teilweise
abweichende Entstehungsabfolge. Derartige Querverbindungen zeigen sich unter anderem
zwischen der Illustration zum zehnten Kapitel (Abb. 10) sowie jenen zu den Kapiteln 2 (Abb. 2)
und 25 (Abb. 25) oder zwischen der ersten Illustration zum 16. (Abb. 16) und jener zum 17.
Kapitel (Abb. 18). Gelegentlich finden sich sogar zwei Stile in ein und derselben Zeichnung
wieder, wenn Klee, wie bei der eben genannten Illustration zum zweiten Kapitel (Abb. 2), eine
frühere Arbeit mit einer späteren montiert hat. Hier entspricht die Figur des Candide weniger
jener der beiden ihr gegenüber stehenden Bulgaren, als jener des Candide in der Zeichnung zum
letzten Kapitel (Abb. 26), die jedoch dem Oeuvre-Katalog zufolge erst Anfang 1912 und damit
deutlich später entstanden ist.426
Gerade die Tatsache einer solchen Verknüpfung ist aber paradigmatisch für den gesamten
Zyklus. Klees Aufmerksamkeit galt hier offenbar eher einer dem konkreten Inhalt oder dem von
ihm ausgehenden künstlerischen Anstoß verpflichteten Formfindung im Einzelnen, als der
Forderung nach einem harmonischen Ganzen, dem er lediglich durch die Beibehaltung
bestimmter körperlicher Konstitutionen seiner den Hauptgegenstand der Illustrationen bildenden
Figuren und ihrer Attribute Rechnung trug. Dies dürfte Resultat einer bedingungslosen
künstlerischen Suche gewesen sein, die zwar aus dem unmittelbaren Dialog mit dem Text
entsprang, aber eben immer neue, individuelle Früchte hervorbrachte. So ist es auch zu erklären,
dass manche Zeichnungen, wie jene zum Kapitel 13 (Abb. 13), in ihrer extremen
Übersteigerung bestimmter Spezifika stilistisch kaum mehr einer zweiten Illustration des Zyklus
zuzuordnen sind.
Bei einer derart komplexen Entstehungsgeschichte mit vielfachen Bezügen und Rückbezügen
lässt sich über die von Klee durch die Werknummern gegebenenen Hinweise hinaus eine
423 Oeuvre-Katalog Nr. 1911/64 und 65. 424 Oeuvre-Katalog Nr. 1911/77, 78, 80 sowie Nr. 1911/82 und 83. 425 Oeuvre-Katalog Nr. 1911/87 und 88 sowie Nr. 1912/8 und 9. 426 Oeuvre-Katalog Nr. 1912/12.
80
genaue chronologische Entstehungsabfolge der Illustrationen kaum mehr rekonstruieren. Daher
ist es angebrachter, in diesem Zusammenhang von gewissen Tendenzen anstatt von faktischen
Entwicklungen zu sprechen. Für eine klare, nicht mehr hintergehbare Entwicklung scheint die
künstlerische Persönlichkeit Klees in diesen Jahren noch zu fragil und zugleich zu empfänglich
für neue oder erneut aufkommende Einflüsse gewesen zu sein. Eine Tendenz aber, von der auch
im Hinblick auf die nachfolgende Entwicklung dennoch gesprochen werden kann, ist die von
Boban beobachtete zunehmende „Ausbildung einer sparsam-bestimmteren Linienführung sowie
einer Schematisierung der Figuren“427. In der Zeichnung zum 13. Kapitel, die von Klee als letzte
in den Oeuvre-Katalog aufgenommen worden ist, findet sie ihr anschaulichstes Beispiel. Doch
weist diese Zeichnung in ihrer Radikalität bereits über den Zyklus hinaus auf die Werke der
nachfolgenden Schaffensphase, in der die hier erkannte Tendenz fortgeführt wurde und in
besonders prägnanter Weise zum Tragen kam.428
4.3. Zur stilistischen Entsprechung zwischen Klee und Voltaire
Bei der Zusammenführung der im vorausgegangenen Kapitel vorgestellten, unterschiedlichen
Einflüsse dürfte letztlich der Text in seiner inhaltlichen Aussage und sprachlichen Form das
entscheidend Verbindende gewesen sein. Allein das über den Anfang des Arbeitstextes
geschriebene Zitat aus dem dritten Kapitel des Candide macht dies deutlich: „un être a deux
pieds sans plumes, qui avait une âme“429. Hier liegt vor allen weiteren, zweifelsohne ernst zu
nehmenden Quellen der Schlüssel zu jenem ungewöhnlichen Figurenstil, der die Illustrationen
in erster Linie bestimmt. Er wird zumindest Ausgangs- und Endpunkt für Klees Suche nach
einem adäquaten Stil gewesen sein. So sah Lang in den oft skurrilen, grotesken Figuren Klees
eine „zeichnerische Allegorie“430 für die von Klemperer als „Pechvogel-Marionetten“431
charakterisierten Helden Voltaires. Auch Boban hat anhand von Untersuchungen zur
Entstehung der Illustration zum 15. Kapitel (Abb. 15) überzeugend dargelegt, dass bei aller
Bedeutung externer Einflüsse dem Text selbst und seiner besonderen Sprache bei der
Stilfindung Klees eine vorrangige und konstitutive Bedeutung zukam.432 Indem Klee bei seiner
Gestaltung der Illustrationen, wie nicht zuletzt aus den zahlreichen Eintragungen in seinem
Arbeitsbuch ersichtlich wurde, eine wirkliche Zwiesprache mit dem Text hielt, kam er ihm auf
eine bis dahin unerreichte Weise nah.
427 Boban 2002, 67. 428 Als Beispiel für diese Entwicklung sei hier die Zeichnung „Mystische Scene“ von 1912 (Abb. 77) genannt. 429 Voltaire 2004, 14. 430 Lang 1993, 50. 431 Klemperer 1959, XXXVI. 432 Vgl. Boban 2002, 77.
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In seinen Illustrationen erkannte Boban daher jenen von Sareil reklamierten Versuch, den
Roman Voltaires auf kongeniale Weise bildnerisch zu fassen.433 Allerdings betonte sie dabei,
dass Klee dem Roman gerade dadurch gerecht geworden sei, dass er ihn, im Gegensatz zur
Forderung Sareils, nicht nach eigenen Maßgaben neu geschaffen, sondern so treu wie möglich
reproduziert habe: „Er übertrug gleichermaßen formale wie auch inhaltliche Vorgaben des
Textes auf seine Bilder und wurde nur dort schöpferisch, wo die sprachliche Vorlage eine
direkte Übernahme mit bildnerischen Mitteln nicht erlaubte.“434 Wenngleich in dieser Ansicht
manches Richtige liegt, scheint sie in ihrer Konsequenz doch überzogen. Immerhin setzt eine
‚Reproduktion’ des Textes in dem hier verstandenen Sinne einen nicht minder kreativen und
schöpferischen Geist voraus. Grohmann schrieb dagegen in seiner Monografie zum Zeichner
Klee über die Illustrationen: „Wort und Bild haben nicht mehr miteinander zu tun als Wort und
Ton in den etwa zeitgleichen Stefan-George-Liedern Schönbergs.“435 Und auch Marilene
Pasquali sprach in ihrem Artikel über Klee und die Buchkunst von den Illustrationen als
„specchio infedele, ma credibile del testo di riferimento“436.
Mit Grohmann und Pasquali verband Boban jedoch die Überzeugung, dass Klee in seinen
Illustrationen auch die Sprache des Romans stilistisch aufnahm. Gerade diese Tatsache aber,
dass er nicht allein dem Inhalt des Romans, sondern auch der knappen, ironischen Sprache
Voltaires und ihrem zügigen, eleganten Fortschreiten – kurz: dem besonderen „Esprit“ des
Romans – gerecht zu werden versuchte, unterscheidet nach Boban die Illustrationen Klees
grundlegend von jenen seiner Vorgänger.437 Auch Haxthausen nannte die Illustrationen wegen
ihres Geistes „excellent visual counterparts to Voltaire’s text“438. Schon ein Blick in die
entsprechenden Tagebucheinträge Klees aus dieser Zeit hat deutlich gemacht, dass für ihn die
besondere Sprache Voltaires bei der Wahl des Romans zur Illustration letztlich ausschlaggebend
gewesen ist. So war es nicht zuerst die „Unzahl an Illustrationsanreizen“439, die Klee auch bei
anderen Romanen, wie dem von Sonderegger vorgeschlagenen Sentimental Journey von Sterne
finden konnte, sondern „ein Höheres“: der „überragende Geist“440 und der „kostbar-sparsam-
treffende Ausdruck der Sprache des Franzosen“441, die auf Klee eine entscheidende
Anziehungskraft ausübten.
433 Siehe: Kapitel 2.1.3. 434 Boban 2002, 43. Boban sah in der gezielten Vermeidung „medienbedingter Textüberschreitungen“ bei Klee die besondere Textnähe im Vergleich zu seinen Vorgängern (ebd., 37). 435 Grohmann 1959, 19. 436 Pasquali, Marilena, Klee e l’editoria d’arte: volumi illustrati e riviste, in: Pasquali, Marilena (Hrsg.), Paul Klee. Figura e metamorfosi, Kat. Ausst. Bologna Museo Morandi, 25.11.2000-04.03.2001, Bologna 2000, 231. 437 Vgl. Boban 2002, 43. 438 Haxthausen 1981, 341. 439 Klee 1988, Absatz Nr. 865. 440 Ebd., 571. 441 Ebd., Absatz Nr. 865.
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Schon in diesen Aussagen erwies sich Klees untrüglicher Sinn für das Besondere des Romans.
So wurde bereits an anderer Stelle festgestellt, dass es nicht in erster Linie die Tiefe und
Neuartigkeit der in ihm dargelegten Gedanken, sondern vor allem die knappe und klare, mit
Ironie und bissiger Satire gewürzte Sprache war, die Voltaires Candide zu seiner die Epochen
überdauernden Berühmtheit verhalf. Wenn Klee nun in seinem Tagebuch an anderer Stelle vom
Autor des Candide als „Vater Voltaire“442 schrieb, so darf ohne Zweifel die Vermutung
aufgestellt werden, dass er gerade in Bezug auf dessen besondere Sprache eine geistige
Verwandtschaft zwischen sich und dem Franzosen erkannte. Vielleicht war es auch der beiden
gemeinsame Hang zur Satire, in der eine grundlegende Skepsis und fundamentaler Ernst mit
leichter, geistvoller Ironie verschmolzen, der Klee mit dem Franzosen verband.
Bei Voltaire führte die gezielte Gegenüberstellung von Pathos und Banalem in den Stilmitteln
von Hyperbel und Accumulatio sowie Antiphrasis und Bathos zu einer ironischen Distanz und
verhinderte eine direkte Identifikation sowohl des Autors als auch des Lesers mit den Figuren
des Romans. In derselben Funktion standen die von Voltaire verwendeten parodistischen
Elemente: sei es bei der Aufnahme und Verspottung gesellschaftlicher Konventionen oder bei
seinem spielerischen Umgang mit den Grenzen einzelner literarischer Gattungen. Bei Klee
fanden sich auf bildnerischer Ebene diesbezüglich gewisse Äquivalenzen. So erzeugte die starke
Minderung der Körperlichkeit bis zur einfachen Linie in Verbindung mit der gesteigerten Gestik
bei den Figuren eine ähnliche, ins oft zitierte Groteske443 oder Burleske444 gehende Spannung
zwischen überzogenem Pathos auf der einen und kompromissloser spöttischer Demaskierung
der Realität als Schein auf der anderen Seite.445 Zudem bewirkte ihre oft befremdlich groteske
Hässlichkeit einen zusätzlichen Abstand und ließ einen Blick hinter die Kulissen des schönen
Scheins werfen.446 Letzteres erreichte Klee allerdings nicht allein durch die Kombination von
starker Gestik und fadenhaft dünner Bildung der Körper, sondern auch durch die zwischen
„festlinearen Grenzen“ und deren mitunter völliger Auflösung oszillierende Strichführung.447
442 Ebd., Absatz Nr. 897. 443 Vgl. Lang 1993, 50; Franciscono 1991, 132; Huggler 1969, 36; Haxthausen 1981, 330. Auch Klee selbst empfand offenbar, wie die Eintragungen in seinem Arbeitsbuch bezeugen, manche der Situationen als grotesk. Hier sei auf die entsprechenden Untersuchungen im Kapitel 3.2.2. verwiesen. 444 Vgl. Geelhaar 1975 (1), 23; Haxthausen 1981, 341. 445 Glaesemer sah hierin das zentrale Charakteristikum der Kleeschen Illustrationen: „Alle früheren Illustratoren des Candide, Daniel Chodowiecki, Jean-Michel Moreau oder Gustave Staal, waren der Versuchung erlegen, die Handlung, ihrer Vorstellung entsprechend, mit realistischen Details auszuschmücken. Sie hatten damit Voltaires Absicht, die Realität als Schein zu demaskieren, geradezu entgegengearbeitet. Erst in Klee fand die hintergründige Dichtung einen kongenialen Illustrator.“ (Glaesemer 1973, 180). 446 Dabei ist die oft betonte Hässlichkeit der Figuren nicht in einer harmonischen Bildästhetik aufgehoben, wie Klee es noch Ende 1905 in sein Tagebuch schrieb: „Die Schönheit, die von der Kunst vielleicht nicht zu trennen ist, bezieht sich doch nicht auf den Gegenstand, sondern auf die bildnerische Darstellung. So und nicht anders überwindet die Kunst das Hässliche, ohne ihm aus dem Weg zu gehen.“ (Klee 1988, Absatz Nr. 733). 447 In dieser Auflösung ist mitunter auch eine „Karikatur“ der Linie als solche zu sehen.
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Während Aichele in ihr ein Äquivalent zu Voltaires „satirical punch“448 erkannte, heißt es bei
Carola Giedion-Welcker über sie:
Der Strich wurde allein durch seine Bewegtheit und Rhythmik zur geistigen Aussage. Im Sinne subtilster Interpretation Voltaires […] wurde Klee durch Witz und Geistesschärfe im visuellen Ausdruck sein Verbündeter und Vermittler.449
Auch bei Franciscono ist diesbezüglich zu lesen: […] of all the illustrations to Candide ever
made, these perhaps come closest to capturing the comedy, but also the swiftness and
timelessness of Voltaire’s text.450
Jener fragmentarische, nie wirklich zur Ruhe kommende Strich könnte zudem als Äquivalent
für die bei Franciscono erwähnte besondere Kürze und das Tempo des Voltairischen Erzählstils
verstanden werden. So entspricht er zum einen den kleinen, stark gedrängten Episoden seiner
Romane, zum anderen aber auch deren kurzen, elementaren Sätzen, bei denen er konsequent auf
alle bindenden, den Lesefluss zwar erleichternden, aber auch verlangsamenden Konjunktionen
und Nebensätze verzichtete: „Mit den einzelnen Linienzügen, die, wie die Worte Bausteine des
Satzes, Bausteine des Bildgefüges sind, ahmte [Klee] die Dynamik des Textes nach.“451 Und
ebenso wie bei den einzelnen Episoden im Candide „kaum eine geschlossene Szene“ entworfen
wird, bleiben auch bei Klee die verschiedenen Schauplätze der Handlung oft eigenartig leer.
Dem radikalen Verzicht Voltaires auf nicht wesentlich zur Handlung gehörendes erzählerisches
Beiwerk,452 entspricht bei den Illustrationen Klees die bewusste und beinah ausschließliche
Konzentration auf die menschliche Figur. Der Raum, in dem sie sich jeweils bewegt, wird kaum
zum Gegenstand der Darstellung. Nur wenige skizzenhafte Angaben lassen an die Requisiten
eines Theaters denken und geben ihrem Betrachter, wie der Text Voltaires selbst, einen äußerst
notdürftigen und keinesfalls illusionistischen Eindruck der jeweiligen Umgebung: Staffagen, die
im schnellen Tempo der Erzählung am Leser vorüberziehen, ohne ihm wirklich je gegenwärtig
zu sein. Glaesemer sprach in ihrem Zusammenhang treffend von „Karikaturen“ und verwies auf
ihre Verwandtschaft zu Klees 1910 entstandener Zeichnung Karikatur eines Möbels (Abb. 64):
Die Szenerie bleibt leer, es sei denn, dass einzelne Versatzstücke, das Sofa, ein Vorhang, der fallende Wandschirm oder ein gedeckter Tisch, als „Karikaturen“ von Möbeln die notwendigste Situation verdeutlichen.453
Manchmal beleben aber auch kleine Details voll spielerischer Ironie die Illustrationen, wie im
18. Kapitel die skizzenhafte Andeutung zwitschernder Vögel auf dem Dach des Wagens, in
448 Aichele 2002, 29. 449 Giedion-Welcker 1961, 35ff. 450 Franciscono 1991, 132. 451 Boban 2002, 31. 452 Vgl. ebd., 30. 453 Glaesemer 1973, 180. Glaesemers Vergleich erinnert auch an die von Klee als „Karikaturen“ bezeichneten, 1902 von ihm in Paris gesehenen Aktskizzen Rodins.
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welchem Candide und Cacambo, von sechs Hammeln gezogen, zum König des Landes
Eldorado fahren (Abb. 19). Ihre Darstellung ging nicht auf Voltaire zurück, sondern war eine
freie Erfindung des Malers, in welcher seine besondere und später für ihn so typische Art von
Humor aufblitzte. Sie haben etwas von den erwähnten Randzeichnungen seiner Briefe (Abb.
66). Auch die sparsame, durch oft winzige, wenngleich zuverlässig wiederkehrende Attribute
oder durch bestimmte Gebärden vorgenommene Charakterisierung der Figuren bei Klee kann
als das zeichnerische Äquivalent für die knappe, aber prägnante Beschreibung der Wesenszüge
einzelner Figuren bei Voltaire angesehen werden.454 Sie sind nicht mehr als das, was es
notwendigerweise braucht, um die Helden der Handlung als lebendige Wesen erlebbar zu
machen. Und so kommt der Beschreibung der Figuren Voltaires als „Gestelle der
Handlungen“455 die bildliche Entsprechung bei Klee als „Mindestidentitäten“456 äußerst nahe.
Wie seltsam hastende, entmaterialisierte Schemen werden sie von Erlebnis zu Erlebnis gejagt,
wie „flüchtige Gebilde“457, die in ihrer „wehenden, huschenden Beweglichkeit“ Bildern aus
„spielenden Schatten“458 gleichen.
Dennoch findet sich in den Figuren, so reduziert sie in ihrer Körperlichkeit auch sein und so
unwirklich sie damit scheinen mögen, eine Voltaire fremde metaphysische Schwere.459 Der
folgenden Behauptung Tuckers kann deswegen nur bedingt zugestimmt werden:
Yet the drawings are more than just a droll kind of ornament to the text; there is a kind of wit in them which is characteristic of Klee’s line drawings in general and which here is the artist’s response to the irony of the author.460
Voltaire war bei aller berührenden Tragik der geschilderten Ereignisse und der trotz aller
Drastik oft liebenswerten, Sympathie erzeugenden Beschreibung der Haupthelden stets um
ironische Distanz bemüht.461 Sie kann als das Hauptmerkmal seiner Satire angesehen werden.
Tucker beschrieb sie an anderer Stelle treffend als „a distancing from events which are
otherwise so gruesome as to become grotesque”462. Die große Bedeutung dieser Art von Satire
bei Voltaire kann dabei auch als Spiegel der Zeit angesehen werden, die stark von
Konventionen und deren fortwährender Reflexion geprägt war und damit künstlerische Mittel
wie die Parodie geradezu heraufbeschwörte. Bezeichnend hierfür scheint die interessante
Feststellung Robert Andersons, dass
454 Vgl. Boban 2002, 20. 455 Huggler 1969, 37. 456 Meister 1999, 285. 457 Haftmann 1950, 35. 458 Haftmann 1964, 160 459 Vgl. Glaesemer 1973, 181. 460 Tucker 1993, 31. 461 Boban sprach von der “prinzipiell reduktionistisch-distanzierten” Erzählweise Voltaires (Boban 2002, 30) und betonte die „neutrale Warte“, durch die sich sowohl Klee als auch Voltaire auszeichneten (ebd., 29). Auch Haxthausen charakterisierte die Sprache Voltaires als „a lean, witty and ironic narrativ style completely devoid of pathos and ponderous moralizing“ (Haxthausen 1981, 327). 462 Tucker 1993, 31.
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[…]für den Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts die Gefühlstöne des Gefälligen und des Komisch-Lächerlichen durchweg die herrschenden Bedeutungselemente im Vorstellungskomplex des Wortes[…]463
gewesen seien. Für Klee galt in gewissem Sinn das Gegenteil. Seine Zeit war durch die radikale
Ablehnung jedweder überkommener Konventionen zugunsten einer neuen, von existenziellen
Fragen beschwerten Innerlichkeit bestimmt. Dies spiegelt sich auch in den Illustrationen
wieder.464 Bei einigen ihrer Figuren kommt in der Übersteigerung der äußeren Erscheinung465
und Gebärde oder in der bisweilen spöttischen Andeutung barock historisierender Kleidung und
Haartracht zwar ein an Voltaire erinnerndes parodistisches Moment zum Tragen.466 Selbst die
reduzierte Körperlichkeit und der nervöse Strich scheinen davor zu warnen, die Figuren als real
zu verstehen. Insgesamt aber scheint ihrem Schöpfer dennoch jene selbstverständliche Distanz
zu fehlen, wie sie etwa das für Voltaire und Klee als Inspiration dienende Marionettentheater
kennt, wo „der Spieler von seiner Figur entfernt ist – und dem Spiel, das er hervorbringt, selbst
zuschauen kann“467.
Bei Klee ist das hervorgebrachte Bild sowohl Ausdruck der Textvorlage als auch der eigenen,
subjektiven Empfindung. Selten wurde die innerbildliche Wirklichkeit als eigene Entität von
Klee mit ironischem Abstand erneut reflektiert. Diese Beobachtung gilt – wie auch aus dem
Phänomen der Heterogenität deutlich wird – nicht allein für die einzelne Illustration, sondern
auch für den Zyklus als Ganzen. Trotz der genannten Elemente des Komischen, Grotesken und
Burlesken sind die Zeichnungen in ihrer Gesamtheit doch durch eine metaphysische Schwere
und Empfindungstiefe gekennzeichnet, mit denen sie in die Nähe des jungen Expressionismus
zu bringen sind.468 In Letzterem aber scheint die von Voltaire bewusst konterkarierte Empathie
zentral angestrebtes Ziel. Wenn Franciscono nun in Bezug auf Klees Illustrationen schrieb:
„What they chiefly miss are the vivid physical contrast between delight and pain, beauty and
ugliness, upon which Voltaire’s satire moves“, so dürfte hiermit die in jener Spannung
innewohnende Ironie und Distanz gemeint gewesen sein, die er bei Klee, dessen satirische
Neigung er keineswegs grundlegend in Frage stellte,469 in diesem Fall doch vermisste.
463 Robert Anderson, Beiträge zur Geschichte des Wortes „Grotesk“, Phil.Diss., Ohio State University 1958, 149, zit. nach: Kort, Pamela, Grotesk: Eine andere Moderne, in: Kort, Pamela (Hrsg.), Grotesk. 130 Jahr Kunst der Frechheit. Kat. Ausst. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 27.03.-09.06.2003, Frankfurt 2003, 20. 464 Hierfür würde auch die von Boban in Bezug auf Klee angenommene „Selbstidentifikation mit dem Protagonisten“ sprechen. (Boban 2002, 55). 465 Boban sah in der „Überzeichnung der Hässlichkeit der Alten“ karikaturistische Züge (ebd., 30). 466 Grohmann behauptete im Gegenteil, Klee habe „die Dichtung nur an der obersten Grenze berührt, an der Grenze der geistesverwandten Parodie“ (Grohmann 1959, 19). 467 Marceau 1957, 8. 468 Vgl. Huggler 1969, 38. Haxthausen schrieb dagegen, Klee habe keine „consolation in Expressionist Pathos“ gesucht (Haxthausen 1981, 327). 469 Vielmehr sprach er von „some regret, that in subordinating his satirical bent to Voltaire’s, Klee lost something of his own richness” (Franciscono 1991, 132).
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Möglicherweise gründete die hier beobachtete Differenz zu Voltaire jedoch auch in der von
Klee dem Roman entnommenen und ihm fortan als Leitmotiv für die Illustrationen dienenden
Charakterisierung Candides im dritten Kapitel, in dem Voltaire seinen Protagonisten unter
Hunger und Not nach durchstandenen Kriegswirren als „un être a deux pieds sans plumes, qui
avait une âme“470 beschrieb. Bei Voltaire hatte dieser Satz metaphorische Bedeutung. Er war in
erster Linie Ausdruck des erbärmlichen Zustandes seines Protagonisten zu einem bestimmten
Zeitpunkt der Handlung.471 Sein Gewicht lag auf „sans plumes“, nicht auf „qui avait une âme“.
So blieben Candide und die übrigen Figuren bei ihm auch letztlich
[...] die längste Zeit ganz offenkundig keine beseelten Wesen, an denen man Herzensanteil nimmt, sondern Marionetten, deren drollige Bewegungen im Leiden und Sterben nicht anders als im heiteren Genießen allein den Intellekt unterhalten.472
Klee hingegen verstand die Beschreibung offenbar ontologisch und gab seinen schmalen
Figuren tatsächlich eine „Seele“, welche an die wie auch immer disponierte Empathie ihres
Schöpfers und Betrachters appelliert. Auch in ihrer reduzierten Körperlichkeit und äußerst
lebendigen Gestik wurde die metaphorische Charakterisierung Voltaires bei Klee oft nahezu
wörtlich und daher auch mit einem neuen Ernst realisiert.
4.4. Der Zeichner als Linkshänder – ein Phänomen von Einfluss?
In der 1960 erschienenen, von seinem Sohn Felix geschriebenen Biografie Paul Klees ist den
dort zitierten Kindheitserinnerungen der inzwischen hoch betagten Schwester Klees, Mathilde,
zu entnehmen, dass Klee Linkshänder gewesen ist. So erinnerte sich die Schwester dort:
Schon vor dem schulpflichtigen Alter war Zeichnen Pauls größte Leidenschaft; die Großmama, deren einer Bruder ein sehr talentierter Kunstmaler war, hat Paul viel vorgezeichnet. Mein Bruder war übrigens Linkshänder, außer mit der Feder schreiben, hat er alles links gemacht. Eine Tante war der Ansicht, daß man ihm das „Linkshantieren austreiben sollte“, Tausend, da fuhr aber die Großmama auf: „Nichts da, das Kind braucht die Hand, die es nach seinem Gefühl besser brauchen kann.“473
Im weiteren Verlauf der Biografie findet diese Erinnerung auch in der Aussage des Sohnes eine
Bestätigung, wenn er aus eigenem Erleben schrieb:
470 Voltaire 2004, 14. 471 So wie etwa Voltaire zu Beginn des dritten Kapitels von den Gestalten Candides und Pangloss’ bei ihrem Wiedersehen in Holland von „miserables“ schrieb (Voltaire 2004, 15) und dies Ilse Lehmann metaphorisch mit „arme Teufel“ übersetzte (Voltaire 1992, 22). 472 Klemperer 1959, XXXI. 473 Felix Klee 1970, 34f.
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Alle Bilder malte und zeichnete er mit der linken Hand; auch wenn er einen Nagel einschlug der die Bilderleisten montierte, nahm er den Hammer in die Linke. Nur geschrieben hat er mit der Rechten; dafür konnte er mit der Linken fließend und korrekt in der Spiegelschrift schreiben.474
Auch etliche Fotografien bezeugen die Linkshändigkeit Klees. So finden sich noch im selben
Buch zwei Aufnahmen, auf welchen er mit der linken Hand einmal zeichnend (Abb. 91)475 und
einmal malend (Abb. 92)476 gezeigt ist, wobei dies im ersten Fall in so herausgehobener Weise
geschieht, dass man vermuten möchte, Klee habe diese Tatsache bewusst fotografisch festhalten
wollen. Dennoch wurde in der Literatur bislang nur wenig auf seine Linkshändigkeit
eingegangen. Neben Felix Klee erwähnte auch Jürgen Glaesemer sie zu Anfang seiner
Monografie über die Handzeichnungen und erläuterte sie anhand des Bildes einer Uhr mit
römischen Zahlen477 – einer Kinderzeichnung, die der Künstler selbst um 1911 in den im
Entstehen begriffenen Oeuvre-Katalog aufgenommen hatte:
Mit zuversichtlich kräftigem Strich beginnt er die Zahlenreihe auf der rechten Seite und führt sie am Rand des Ziffernblattes entlang nach rechts fort. Als geborener Linkshänder, der mit der Rechten schreiben lernt, sich jedoch die selbstverständliche Freiheit nimmt, auch weiterhin mit der Linken zu zeichnen, gestaltet er das Angelernte nach seinen eigenen Bedingungen. Er verkehrt nicht nur die Richtung des Uhrzeigers, sondern setzt auch noch die römischen Ziffern konsequent in seine spiegelschriftliche, linkshändige Schreibweise um. Der innere Motus der zeichnenden Hand triumphiert über die Logik des Erlernten.478
Abgesehen von der feinen Beobachtung der inhaltlichen Implikationen der Linkshändigkeit in
der spiegelschriftlichen Schreibweise der römischen Zahlen wies Glaesemer dabei im letzten
Satz des angeführten Zitats auch auf die Bedeutung der ausübenden Hand vor der Logik des
Kopfes hin. Doch zielte er damit weniger auf das Phänomen der Linkshändigkeit als auf
dasjenige einer allgemein mehr hand- als kopfgesteuerten Kunst, wie Klee es selbst in einem in
diesem Zusammenhang zitierten Tagebucheintrag von 1906 prägnant formulierte: „Die geübte
Hand weiss es oft viel besser als der Kopf.“479 Im weiteren Verlauf von Glaesemers
umfangreichem Werk findet die Linkshändigkeit sowie deren Bedeutung für die Ausbildung
eines persönlichen Stils bei Klee jedoch keine nochmalige Erwähnung. Auch in anderer
474 Ebd., 70. 475 Ebd., 125. 476 Ebd., 227. 477 Kat. 1884, 16. 478 Glaesemer 1973, 12 (auch Werkmeister erwähnte die Darstellung der Uhr und die darin zum Ausdruck kommende Linkshändigkeit Klees im Zusammenhang seiner Untersuchungen über Klees „kindliche“ Kunst (vgl. Werkmeister 1981, 128). Von Marianne L. Teuber wurde die Linkshändigkeit Klees im Zusammenhang einer Fotografie erwähnt, die den mit der linken Hand malenden Klee darstellt (vgl. Teuber, Marianne L., Blue night by Paul Klee, in : Arnheim, Rudolf [Hrsg.], Vision and artifact, New York 1976, 148, Anm. 3). 479 Klee 1988, Absatz Nr. 760 (Klees Aussage erinnert zugleich an einen Satz Georg Wilhelm Friedrich Hegels aus seinen Vorlesungen über Ästhetik, in dem es heißt, das Wunder der Handzeichnung bestehe darin, dass „der ganze Geist unmittelbar in die Fertigkeit der Hand“ übergehe. Vgl. Koschatzky 1980, 272).
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einschlägiger Literatur über den Zeichner Klee wurde bisher bestenfalls am Rande in einer
biografischen Notiz auf dessen Händigkeit eingegangen.480
Der Grund hierfür mag darin liegen, dass Klee in der Regel zuerst als Maler oder Grafiker, nicht
aber als Zeichner wahrgenommen wird, was insofern irritiert, als den überwiegenden Teil seiner
etwa 9000 überkommenen Werke Zeichnungen bilden. In seinen späteren Malereien und ihrer
Kombination mit meist geometrisch angelegten grafischen Elementen aber sprach sich die
Händigkeit tatsächlich weniger aus.481 Ein anderer Grund für die geringe Beachtung dieses
Phänomens ist wohl in der verständlichen Vorsicht vor übereilten diesbezüglichen Schlüssen
und überzogenen Interpretationen zu suchen, sollen die Werke doch für sich sprechen und nicht
zuerst durch die unerbittliche Brille einer psychologisierenden Analyse betrachtet werden.
Zudem wurde in der Nachfolge Werkmeisters gern betont,482 dass die Intuition und die
subjektive Empfindung, die auch die körperliche Disposition einschließt, bei der Arbeit des
sensiblen Künstlers eine geringere Bedeutung gehabt habe, als gemeinhin angenommen.483 So
hielt auch Aichele noch fest, „that Klee’s Illustrations were the result of calculated effort rather
than uninhibited inspiration”484.
Obgleich diese Argumentation ihre Berechtigung hat und in gewissem Sinn Klees eigenen
Äußerungen entspricht,485 ist ebenso vor der vollständigen Ausblendung eines solchen Aspekts
wie der Händigkeit zu warnen. Wirft man nämlich einen Blick auf die Illustrationen und ihren
besonderen Stil, so bleiben nach allen Versuchen der Annäherung einige Fragen offen, die auch
im Phänomen der Linkshändigkeit eine Antwort finden könnten. Denn abgesehen von der
Beobachtung der spiegelschriftlichen Schreibweise, wie sie bei Glaesemer beschrieben wurde,
lassen sich auch im Charakter des Strichs und der Schraffur bei Klee Kennzeichen
linkshändigen Zeichnens ausmachen, die von nicht geringem Einfluss auf das allgemeine
Erscheinungsbild seiner Arbeiten waren. Entsprechende Merkmale wurden allgemein von
Richard Jung in seinem Aufsatz über Zeichnungen linkshändiger Künstler von Leonardo bis
Klee vorgestellt, wenngleich die Linkshändigkeit bei ihm nicht in erster Linie vor dem
Hintergrund stilistischer Fragestellungen, sondern vor allem als Zuschreibungskriterium in den
Blick genommen wurde.
480 Auch in den Werken von Haftmann, Geelhaar und Grohmann bis hin zu den jüngsten Untersuchungen über die Candide-Illustrationen wurde der Frage der Linkshändigkeit Klees keine Bedeutung beigemessen. 481 Vgl. Jung 1977, 208. 482 Werkmeister 1981, 138. (Werkmeister schrieb zudem als Einziger, dass Klee, wie rechts schreibende Linkshänder häufig, sowohl mit links als auch mit rechts zeichnete (vgl. Werkmeister 1981, 131). 483 Haftmann sprach dagegen noch von der die Illustrationen konstituierenden „Ausdrucksbewegung der schreibenden Hand“ (Haftmann 1950, 35). In diesem Sinne betonte auch Huggler die „geschriebene, kalligraphische Manier“ des Strichs der Illustrationen (Huggler 1969, 37). 484 Aichele 2002, 26. 485 1909 schrieb Klee wie eine Rechtfertigung in sein Tagebuch: „Wenn bei meinen Sachen manchmal ein primitiver Eindruck entsteht, so erklärt sich diese ‚Primitivität’ aus meiner Disziplin, auf wenige Stufen zu reduzieren. Sie ist nur Sparsamkeit, also letzte professionelle Erkenntnis. Also das Gegenteil von wirklicher Primitivität.“ (Klee 1988, Absatz Nr. 857).
89
Anhand mehrerer Beispiele aus der Kunstgeschichte und gezielter empirischer Untersuchungen
machte Jung deutlich, dass der Strich, insbesondere bei der freien, nicht strukturbedingten
Schraffur,486 bei Linkshändern tendenziell von links oben nach rechts unten geführt wird,487
während er bei Rechtshändern die spiegelbildlich entgegengesetzte Richtung, also von rechts
oben nach links unten, nimmt (Abb. 93). Schraffuren oder Linienbeispiele mit derartigen, auf
die Linkshändigkeit hinweisenden Merkmalen lassen sich im gesamten gegenständlich-
zeichnerischen Werk Klees und speziell in den Illustrationen zum Candide finden.488 Besonders
deutlich wird dies in der Illustration zum zehnten Kapitel (Abb. 10), wo das lockere,
arkadenhafte Linienspiel zur Gestaltung des Raumes um die Figuren herum wie auch dasjenige
der Schattierungen und Modellierungen der Figuren selbst in seinem Verlauf eine deutliche
Tendenz von links oben nach rechts unten aufweist. Ähnlich eindeutige Merkmale lassen sich
auch bei der zweiten Illustration zu Kapitel 22 (Abb. 23) finden, wo bis auf die Konturen der
Figuren und des Vorhangs die Lineatur die aus der Bewegung der linken Hand sich ergebende
typische Rechtspräferenz zeigt.
Bei den übrigen Illustrationen erscheint der linkshändige Charakter der Linienführung
verdeckter. Hier sind zunächst kaum Rechtsschraffuren oder -lineaturen auszumachen, wofür
das übliche, oft extreme Drehen des Blattes um des leichteren Zeichnens und der Sichtbarkeit
des bereits Geschaffenen willen verantwortlich war. Die Rechtsschraffur wurde so nicht selten
zur Links- oder sogar zur Waagerechtschraffur, die Rechtslineatur zur Linkslineatur. Bei
genauerem Hinsehen wird dieser Sachverhalt vor allem darin deutlich, dass der von der
zeichnenden linken Hand ausgeführte leichte Bogen in den Linien und Schraffuren nicht, wie
beim Rechtshänder, primär nach links oben zeigt, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Beinah alle Illustrationen lassen sich hier als Beispiele anführen. Besonders eindrücklich aber
wird diese Besonderheit anhand der freien, expressiven Schraffuren der Illustration zum zweiten
Kapitel des Candide (Abb. 2).
Diese Besonderheit hat über die allgemeine Funktion als Zuschreibungskriterium hinaus auch
direkte Konsequenzen für die bildnerische Anlage. So wirken die Schraffuren und Linien von
Linkshändern, deren leichte Bögen nach unten zeigen, im Bildraum naturgemäß eher labil,
wankend, leicht schwebend,489 während jene der Rechtshänder mit einem solchen nach oben
fester am Boden verankert und stabiler erscheinen. Was hier aber für den einzelnen Strich
beobachtet wurde, das gilt auch bei der Komposition des Gesamtbildes. Aus der Bewegung der
486 D.h. wenn die Form des Objekts nicht eine andere Vorzugsrichtung der Linien erfordert (vgl. Jung 1977, 190). 487 Vgl. Koschatzky 1980, 266. 488 Jung betonte, dass die Linkshändermerkmale besonders in der Kindheit und Jugend sowie in Klees karikaturistischen Zeichnungen aus der Zeit an der privaten Malschule Heinrich Knirrs und bei Stuck an der Akademie auffällig waren, später aber, unter dem Einfluss des Impressionismus und des daraus sich ergebenden freien, aufgelösten Stils aus „spitzenartige[m] Gewebe“, kaum noch in Erscheinung traten (Jung 1977, 208). 489 Bei Lang war vom „schwebenden Strich“ die Rede (Lang 1993, 49).
90
Schraffuren war bereits zu erkennen, dass der Linkshänder, wie der Rechtshänder, beim
Zeichnen gelegentlich sein Blatt nach links dreht.490 Letzterem erscheint das Motiv dabei eher
aus der natürlichen Perspektive von unten her, während der Linkshänder das Blatt oft soweit
dreht oder den Arm soweit invertiert, dass er die Waagerechten im Bild von oben her zeichnet.
Sein Bild entsteht dadurch, wie die zuvor beschriebenen Lineamente, tendenziell von oben her,
was ihm grundsätzlich eine andere Statik als bei einem Rechtshänder verleiht. Auch aus diesem
Grund beginnt das Motiv leicht zu schweben. Die Waagerechten des Linkshänders sind oft nicht
Ausdruck des von unten her Gebauten, Gewachsenen, sondern des gedanklich von oben her
Konstruierten. Ihre Referenz ist damit nicht mehr die Erde, sondern der Himmel. Ein
anschauliches Beispiel hierfür ist die zweite Zeichnung Klees zu Kapitel 16 des Candide (Abb.
17).491
Eine weitere Verunsicherung beim Betrachten der Zeichnungen Klees rührt von der Umkehrung
der allgemeinen Wahrnehmungs- und Zeichnungsrichtung bei Linkshändern her. Seit Heinrich
Wölfflin492 ist in der Kunstgeschichte wie in der Wahrnehmungspsychologie bekannt, wie
Bilder in der Regel gelesen beziehungsweise gestaltet werden. Seine Theorie von der Richtung
der visuellen Aufnahme eines Bildes in einer aufsteigenden „Blickkurve“493 von links unten
nach rechts oben ist durch etliche wissenschaftliche Untersuchungen grundlegend bestätigt
worden und seit langem allgemeiner Konsens. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer
„Asymmetrie“494 in der Wahrnehmung, die mit der Bedeutung der rechten Gehirnhemisphäre
für die optische Wahrnehmung zu tun hat. Da diese dem linken Gesichtsfeld zugeordnet ist,
werden optische Phänomene mit ihm zuerst und besser wahrgenommen, ehe das gesamte Bild in
seinen komplexen Bezügen in den Blick fällt. Bei Rechtshändern ist deswegen im Allgemeinen
die rechte Bildhälfte als Zielpunkt der Wahrnehmung durch eine größere Komplexität
gekennzeichnet.495
Anders ist dies beim Linkshänder, für den die umgekehrte Wahrnehmungs- und
Gestaltungsrichtung die Regel ist. Das Bild entwickelt sich hier also von rechts her und fordert
damit auch vom Betrachter die entgegengesetzte Blickkurve.496 Ihr Zielpunkt ist die linke
490 Hier wird zwischen umgelernten, rechts schreibenden, aber links zeichnenden und nicht umgelernten Linkshändern nochmals unterschieden werden müssen. Eine eingehendere diesbezügliche Untersuchung würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 491 Dasselbe Phänomen zeigt sich auch in der zweiten Zeichnung zum vierten Kapitel deutlich. 492 Vgl. Rosenhauer-Song 1999, 10. 493 Ebd. 494 Vgl. ebd., 20. 495 Bereits Kandinsky machte die Beobachtung, dass sich mit der linken Hälfte der Bildfläche die „Vorstellung eines größeren Lockerseins, ein Gefühl der Leichtigkeit, der Befreiung, und schließlich der Freiheit“ verbinde, während die andere, rechte Seite des Bildes durch die Vorstellung von „Verdichtung, Schwere, Gebundenheit“ gekennzeichnet sei (zit. nach: Rosenhauer-Song 1999, 11). 496 Besonders augenscheinlich ist dieses Phänomen im Vergleich der bereits erwähnten kleinen Strichzeichnung zu Kapitel 13 im Arbeitstext mit der endgültigen Fassung der Illustration zu diesem Kapitel. Während die Aktionsrichtung der von Klee vermutlich wie die Schrift darunter mit links gezeichneten Skizze nach rechts tendierte (Voltaire 1897, 114), ging sie bei der mit links gezeichneten Illustration nach links.
91
Bildhälfte.497 Sie erhält in der linkshändigen Zeichnung tendenziell mehr Gewicht, was den
allgemeinen Sehgewohnheiten des Rechtshänders zuwiderläuft. Hinweise darauf lassen sich bei
Klee unter anderem in der zweiten Zeichnung zum vierten Kapiteln (Abb. 4) und jenen zu den
Kapiteln 7 (Abb. 7), 9 (Abb. 9), 13 (Abb. 13), 14 (Abb. 14), 15 (Abb. 15), 18 (Abb. 19), 19
(Abb. 20), 20 (Abb. 21) sowie der ersten Zeichnung zu Kapitel 22 (Abb. 22) und jener zu
Kapitel 25 (Abb. 25) finden. Bei den Illustrationen zum ersten und zehnten Kapitel des Candide
(Abb. 1 und 10) besteht hingegen die Besonderheit, dass Klee ein auf der Rückseite desselben
Blattes gegebenes Motiv durch Pausen übernommen hat und das Ergebnis damit spiegelverkehrt
erscheint. Die ursprüngliche Ausrichtung der Zeichnung entspricht aber ebenfalls der Präferenz
des Linkshänders, die komplexeren Bildteile in die linke Bildhälfte einzubringen.
Das gerade in den Candide-Illustrationen immer wieder zu beobachtende kompositorische Spiel
zwischen dem Eindruck von Stabilität auf der einen und jenem hier auf die Linkshändigkeit
zurückgeführten des Kippens, Wankens und Schwebens auf der anderen Seite kann bei Klee
jedoch auch rein inhaltlichen Erwägungen entsprungen sein. Hierauf wies Glaesemer im
Zusammenhang einer Zeichnung aus dem Jahr 1904 (Abb. 57) hin, wo die „labile Statuarik“ der
dargestellten Figur mehr über dieselbe aussage, als „jedes anekdotische Detail“.498 So bleibt
zwar zu betonen, dass sich die Komposition im Einzelnen bei weitem nicht allein der
physiologischen Disposition des Künstlers, sondern immer auch den Gesetzen bewusster
künstlerischer Gestaltung verdankt. Dennoch ist, vor allem angesichts der anfangs vorgestellten
Fotografien, in denen vom Künstler geradezu demonstrativ auf die Linkshändigkeit hingewiesen
wird, davon auszugehen, dass Klee die Wirkungen seiner Händigkeit durchaus bewusst gewesen
sind. Und da seine Verfahrensweise der „psychischen Improvisation“499 durch ein grundlegend
dialogisches Moment gekennzeichnet war, bei dem jeder Strich eine Antwort auf das bereits
Gegebene darstellte, wird er auch im Bewusstsein dieser Wirkungen seine Zeichnungen
geschaffen haben.500
497 Ein schönes Beispiel hierfür stellt wiederum die bereits erwähnte Kinderzeichnung der Uhr mit römischen Zahlen von Klee dar, in der dieser die Reihe der Ziffern rechts auf der Horizontalachse mit der römischen Eins begann (Abb. 73). 498 Glaesemer 1972, 4. 499 Klee 1988, Absatz Nr. 842. 500 Kersten und Okuda wiesen darauf hin, dass Klee teilweise auch durch das nachträgliche Zuschneiden seiner Bilder einer starken Linkslastigkeit entgegenwirkte, wie im Fall der Restaurantszene 4 Figuren von 1912/28 (vgl. Kersten u. Okuda 1995, 39).
92
5. Zur Bedeutung der Illustrationen im Frühwerk
des Künstlers: die „Ausarbeitung des Persönlichen“
5.1. Die wiedergefundene Kontur
Kurz vor Beginn der Arbeit an den Illustrationen konstatierte Klee in seinem Tagebuch: „Nun
brauche ich wieder die Kontur, sie sammle, sie fange die verflatternden Impressionismen ein.
Sie sei Geist über der Natur.“ 501 Nicht ohne Grund wählte Glaesemer diese Feststellung als
Überschrift für den die Zeichnungen von 1911 bis 1913 behandelnden Abschnitt seiner
Monografie über die Handzeichnungen Klees, in welcher die Candide-Illustrationen einen
bedeutenden Raum einnehmen. Zugleich schloss mit dieser Aussage auch das Kapitel zur
künstlerischen Entwicklung Klees vor den Illustrationen zu Beginn der vorliegenden Arbeit. Sie
stand, wie dort eingehend untersucht, vor dem Hintergrund der bis hinein in das Jahr 1911
reichenden, von Klee so genannten „impressionistischen“502 Phase und zeigt, wie sehr er in
seinem Schaffen immer wieder um ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen, seine
künstlerische Arbeit bestimmenden Kräften bemüht war.
Während der Kontur, der Linie, die Klee im Sommer 1908 noch stolz sein „Ureigentum“503
nannte, dennoch bald „irgendein Krampf“504 drohte, war es jetzt, zu Beginn des neuen
Jahrzehnts ihre Auflösung in „verflatternden Impressionismen“505, die seine künstlerische
Entwicklung erneut aus dem Gleichgewicht zu bringen schien. So suchte er nun nach einer
„Assimilierung“ seiner „herumschwirrenden Kratzfüßchen“506 durch die „bändigenden
festlinearen Grenzen“507 einer erneuerten Kontur. Dabei machte der Blick auf die auch in
diesem Detail oft heterogene Erscheinung des Zyklus deutlich, wie sehr Klee auch während der
Arbeit an den Illustrationen noch um eben dieses Gleichgewicht rang. Mal zeigte sich in ihnen
eine stärkere Tendenz zur Kontur, wie etwa in der Illustration zum sechsten Kapitel (Abb. 6),
und mal wiederum zu deren Auflösung, wie in derjenigen zum zehnten Kapitel (Abb. 10). War
auf der einen Seite mit Recht davon die Rede, dass sich bei ihnen der Begriff der Linie
verbiete,508 wie bei der ersten Illustration zu Kapitel 16 (Abb. 16), so war die Feststellung
ebenso richtig, es handele sich bei ihnen um einen Figurenstil, der stark von der Umrisslinie her
501 Klee 1988, Absatz Nr. 894. 502 Klee 1988, 512. 503 Klee 1988, Absatz Nr. 831. 504 Ebd. 505 Klee 1988, Absatz Nr. 894. 506 Ebd., Absatz Nr. 899. 507 Ebd. 508 Vgl. Lang 1993, 50.
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bestimmt, bisweilen ganz auf diese reduziert ist, wie etwa bei der Zeichnung zum 13. Kapitel
des Candide (Abb. 13).509
Insgesamt aber schienen sich in Klees Candide-Illustrationen die „Kratzfüßchen“ von einst
mehr und mehr zu mal schlingernden, mal stelzenden, Figuren von geradezu burlesker Wirkung
bildenden Linien zu binden. Dabei setzte sich in ihnen auf andere Weise fort, was Klee schon
1905 den Impressionisten attestierte, wenn er schrieb: „Das Fragmentarische, was viele
impressionistische Werke haben, ist eine Folge der Treue zur Inspiration. Wo sie aufhört, ist
auch das Werk zu stoppen“510. Wie die Impressionisten Virgulen und Punkte nebeneinander
setzten und sich nach und nach aus ihnen der realistische Eindruck etwa einer Landschaft
verdichtete, so bildeten sich bei Klee die Figuren aus einer „dem lockenden Strich willig
folgenden“511 Hand. Der zentralen Funktion des Auges bei den Impressionisten schien bei Klee
damit jene der Hand zu entsprechen, deren feinnerviger Strich, vergleichbar einem sensiblen
Seismografen, „Mitteilungen aus dem […] ‚Urgebiet der psychischen Improvisation‘“512
abbildete.
Das bei den Impressionisten gefundene Prinzip der Treue zur Wahrnehmung oder Inspiration
übernahm Klee in den Bereich seiner imaginativen Vorstellungswelt, fand für diese aber neue
Ausdrucksformen. Auf seiner Suche nach einer diesen Bedingungen entsprechenden Lineatur
wurde er schließlich, wie gezeigt werden konnte, bei den Kinderzeichnungen fündig. Sie kennen
die gleiche Unmittelbarkeit zwischen Sehen, Erleben und Gestalten, wie sie damals von Klee
angestrebt wurde. Ihr Hauptausdrucksmittel ist dabei wiederum ebenfalls die Kontur – eine
entschiedene, doch nie sachlich kühle, sondern den Gegenstand in seinem inneren Wesen, von
seiner wesentlichen Bedeutung her ergreifende Kontur. Auch diese Dimension hat Klee zuletzt
gefehlt. Die impressionistische Zeichenmanier hatte ihn immer stärker zur reinen, wenn auch
stets künstlerisch reflektierten Abbildung der äußeren Wirklichkeit geführt. So verlor er auf
Dauer das von ihm intendierte Gleichgewicht zwischen äußerer Anschauung und innerer
formschöpferischer Kraft.
Überblickt man Klees künstlerische Entwicklung des unmittelbar vorausgegangenen Jahrzehnts,
so könnte sie als das allmähliche Finden und Wiederfinden einer neuen Balance zwischen Geist
und Natur beziehungsweise zwischen Imagination und Anschauung angesehen werden, ähnlich
wie er selbst es 1911 in seinem Tagebuch formulierte:
In hellen Momenten überblick ich zuweilen zwölf Jahre Geschichte des eigenen Ichs. Das krampfige Ich zuerst, jenes Ich mit großen Scheuklappen, dann der
509 Vgl. Boban 2002, 26; Haxthausen 1981, 331, 335f und 340; Rümelin, Christian, Paul Klee: Leben und Werk, München 2004, 21. 510 Klee 1988, Absatz Nr. 615. 511 Haftmann 1964, 160. 512 Ebd. Klee selbst schrieb in sein Tagebuch, für den Erfolg einer künstlerischen Arbeit sei es wesentlich, „nie einem fertigen Bildeindruck schon zum voraus zuzuarbeiten. Sondern dem werdenden Teil der zu malenden Stelle sich ganz hinzugeben.“ (Klee 1988, Absatz Nr. 857).
94
Wegfall der Scheuklappen und des Ichs, jetzt allmählich wieder ein Ich ohne Scheuklappen.513
Mit der erneuten Entdeckung der Kontur trat wieder stärker der individuell schöpferische, durch
die jüngsten Auflockerungen unter dem Einfluss des Impressionismus von aller angestrengten
Manieriertheit der ersten Jahre befreite Wille des Künstlers hervor. Wie Walter Koschatzky in
seinem Buch Die Kunst der Zeichnung betonte, bildet die Umrisslinie nie im eigentlichen Sinne
Wirklichkeit ab, sondern ist per se ein Abstraktum und als solches das erste und grundlegendste,
aber auch persönlichste Mittel des zeichnerischen Ausdrucks.514 Sie ist immer Zeugnis eines
formenden Willens oder, wie es bei Klee 1911 hieß: „Geist über der Natur“515. Die Zartheit, mit
der Klee in den Jahren zuvor nach der Natur gezeichnet hatte, sollte ihm dabei jedoch erhalten
bleiben. Sein Strich blieb suchend, tastend und oft fragmentarisch, was ihn letztlich von der
jungen expressionistischen Bewegung unterschied. Auch deren bewusst gesteigertes Pathos lag
ihm bei aller metaphysischen Schwere, die mitunter auf seinen Zeichnungen lag, letztlich fern,
sodass Franciscono mit Recht in Bezug auf die Candide-Illustrationen und ihre künstlerische
Heimat schreiben konnte:
In the context of Klee’s work as a whole, the Candide drawings are transitional. They depend for their effects on a more or less illusionistic (or „impressionistic“) ambience and modelling – regardless of how perfunctory and distorted these may be.516
Selbst die gelegentlich auftretenden kubistischen und futuristischen Tendenzen ordneten sich
hier noch dieser, von einem letzten Nachklang des Illusionismus bestimmten künstlerischen
Auffassung unter. Erst in den nachfolgenden Arbeiten gewannen sie ein von den äußeren
Erscheinungen der Natur nun immer unabhängigeres Eigenleben. Die bildnerischen Mittel
hierfür aber wurden entscheidend in den Jahren der Auseinandersetzung mit Voltaires Candide
erarbeitet und bereitgestellt.
5.2. Balance zwischen Inhalt und Form
Für Giedion-Welcker erhielt der Text Voltaires in Klees Illustrationen „eine durchaus adäquate
Zeichensprache“, wobei, und hier zitierte sie Klee selbst, „der Ausdruck des Formelementes
[…] sich mit dem Geist des Inhaltes sichtbar deckte.“517 Jene allgemeine Forderung des
Künstlers, die sich letztlich mit seinem ganzen späteren Werk verband, fand sie hier zum ersten
513 Klee 1988, Absatz Nr. 899. 514 Koschatzky 1980, 256. Die Tendenz zur Auflösung der Kontur im Impressionismus war deswegen auch nach Lang letztlich Zeugnis für die „höchste und feinste Ausbildung des Naturalismus“ (vgl. Lang 1998, 14). 515 Klee 1988, Absatz Nr. 894. 516 Franciscono 1991, 134. 517 Giedion-Welcker 1961, 37.
95
Mal konkret verwirklicht. Freilich zeigt die Tatsache der Heterogenität, dass der Weg dorthin
ein durchaus mühevoller war, bei welchem der Grad der erreichten Deckung zwischen den
einzelnen Arbeiten bisweilen noch variierte. Dennoch bahnte sich hier zwischen den beiden
großen, bisher oft in Widerstreit stehenden Momenten eine Vereinigung an. Lange Jahre hatte
Klee zuvor unter dem ruhelosen Schwanken zwischen ihnen gelitten. Hier nun fanden sie, wenn
auch unter beträchtlichen „Geburtsschmerzen“, endgültig zueinander. Schon im Rückblick auf
seine ersten Münchner Jahre schrieb Klee von seinem Bemühen um eine Vereinigung des
„Bildnerischen“ und des „Dichterischen“ in seinem Werk:
Um zu gültigen Ergebnissen zu gelangen, stets wieder die Verbindung von Dichterischem und Bildnerischem im Auge behalten, mit dem Bedauern, daß ursprünglich Positiv-Dichterisches in Satire übergegangen.518
Dass hier das Dichterische zunächst in Satire umschlug, war für den frühen Klee nicht
ungewöhnlich. Einer seiner Tagebucheinträge aus dieser Zeit illustriert die in der Rückschau
vorgenommene Charakterisierung äußerst prägnant: „Leider hat das Dichterische in mir eine
große Veränderung erfahren. Aus zarter Lyrik ward bittere Satire.“519 Immerhin aber war seine
Neigung zur Satire mit ein Grund seiner Faszination für Voltaires Candide ou l’Optimisme, über
den es schon 1906 in einem Brief an Lily hieß: „[…] herrlich zu lesen, ein ganz überragender
Geist, wunderbare Sprache, einfach, gescheidt, witzige Combinationen, höchster Geist! Es ist
ein abenteuerlicher, satirischer Roman.“520 Im Laufe der Arbeit an den Candide-Illustrationen
sollte sich jedoch gerade in dieser Hinsicht für Klee manches ändern. Die Entwicklung scheint
dabei jetzt geradezu umgekehrt gewesen zu sein: von der Satire zurück zu zarter und klarer
Lyrik. So schrieb Haxthausen über sie im Vergleich zu den früheren Inventionen (Abb. 67 und
68):
In his early etchings he had been philosopher, poet and illustrator; now, with the Candide drawings, the burden of ideas was left to Voltaire’s unequivocal prose.521
Der „strenge Stil“ der Inventionen mit seinem „psychologisierenden Themenkreis“ und seiner
„pessimistischen, allzu persönlichen Problematik“522 ist dabei auch ein Beispiel dafür, dass der
gänzliche Rückzug auf scheinbar Ureigenstes zu Verkrampfungen führen konnte. Auch der
Zynismus und die psychologisierende Tendenz in den Illustrationen zu Bloeschs Musterbürger
(Abb. 69 bis 71) zeigen noch jenes starke Gewicht des Subjektiven, wie den bereits zitierten
Äußerungen Klees selbst zu entnehmen war. Hier bedurfte es, wie schon bei der Entwicklung
der Kontur, erneut eines Korrektivs. Dies geschah zunächst durch die abermalige Hinwendung
518 Klee 1988, 509. 519 Ebd., Absatz Nr. 429. 520 Karte an Lily vom 13.01.1906, zit. nach: Klee 1979, 571. 521 Haxthausen 1981, 344. 522 Jeweils: Glaesemer 1972, 8.
96
zum Naturvorbild als einer äußeren Vorgabe in den Jahren der „impressionistischen“523 Phase.
Als sich Klee hier jedoch zu verlieren drohte, gab ihm schließlich „Vater Voltaire“ einen
„Wink“ und brachte das „verlegte Gleichgewicht“524 wieder in die Balance.
In den Candide-Illustrationen, so schrieb Partsch, „erreichte Klee die für ihn bedeutsame
Stilstufe, der er sich schon länger annähern wollte. Die Form wurde für ihn maßgebend. Erst
während des Zeichnens oder sogar danach entstand die inhaltliche Deutung.“525 Glaesemer
machte jedoch darauf aufmerksam, dass Tendenzen hierfür bei Klee bereits bei seinen unter
dem Einfluss Rodins entstandenen Skizzen aus der Zeit um 1904/05 (Abb. 55 und 56) zu finden
sind. Hier, so Glaesemer, werde „das Spiel der Linien […] zum eigentlichen Ausdrucksträger,
eine inhaltliche Deutung tritt erst als sekundäres Element hinzu“526. In den unmittelbar
folgenden Jahren sei nun der Inhalt nahezu ganz hinter die Probleme der Form
zurückgetreten.527 In Bezug auf die ein halbes Jahrzehnt später entstandenen Candide-
Illustrationen aber heißt es bei Glaesemer im Sinne der eingangs zitierten Äußerung Giedion-
Welckers, die „erfundene, einfache Form“ sei hier zu „vollkommener Deckung mit dem
jeweiligen Inhalt“528 gelangt.
Die Annahme aber, gerade in den Candide-Illustrationen, wo sich Klee erstmals aus eigenen
Stücken einer bedeutenden textlichen Vorlage stellte, habe sich jene Entwicklung vollzogen, in
welcher die Form letztlich vor den Inhalt getreten sei, erscheint nur wenig plausibel. Dies gilt
umso mehr angesichts der zahlreichen Anstreichungen Klees in der Arbeits-Ausgabe von 1897,
die eine intensive Auseinandersetzung mit dem Text dokumentieren. Dass es nach ihnen jedoch
sehr schnell zu einer solchen Entwicklung kam, ist dagegen augenfällig (Abb. 78). Offenbar
erschloss sich über die intensive Arbeit an den Illustrationen Klee jene innere Welt der Ideen so
weit, dass nunmehr ein oft nur aus wenigen formalen Reizen stammender Anstoß nötig war, um
jenes „Land der besseren Erkenntnis“ zu betreten, über das er 1918/19 in seiner Schöpferischen
Konfession schrieb:
[…] machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen. (Unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie.) Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel). Ein Fluß will hindern, wir bedienen uns eines Bootes (Wellenbewegung)[…]529
523 Klee 1988, 512. 524 Klee 1988, Absatz Nr. 897. 525 Partsch, Susanna, Paul Klee 1879-1940, Köln 1990, 17. 526 Glaesemer 1972, 8. 527 Ebd., 11. 528 Glaesemer 1973, 182. 529 Aus: Schöpferische Konfession, zit. nach: Klee 1995, 61f. Aus seiner ersten Vorlesung am Weimarer Bauhaus mit dem Titel „Beiträge zur bildnerischen Formlehre“ wird ersichtlich, wie sich Klee diese inhaltliche Bedeutung der Linie bildnerisch vorstellte. Hierzu vgl. Abb. 81 und 82.
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Wie aus diesem Zitat allerdings deutlich wird, ist aus keinem seiner Striche, so primär formal
sie auch motiviert gewesen sein mögen, eine inhaltliche Bedeutung wegzudenken. Auch von
einem Nacheinander von Form und Inhalt kann letztlich nicht die Rede sein. Vielmehr handelte
es sich hier um ein tastendes Suchen in beiderlei Hinsicht, bei welchen wohl mal das eine und
mal das andere Moment den Takt angab, aber noch der abschließende Titel als „dichterische
Schlußmetapher“530 die in der Darstellung berührten formalen und inhaltlichen Dimensionen
nicht endgültig zu fassen vermochte. Osterwold sprach in diesem Sinne auch von den für Klee
typischen verschiedenen „Stufen ständiger Näherungen“, die „niemals endgültig“ gewesen
seien.531 Form und Inhalt waren dabei nicht voneinander zu trennen, sondern entwickelten sich,
wie Hofmann es schrieb, in „einer Art Parallelvollzug“532.
Im Falle der Illustrationen zum Candide lagen die Dinge allerdings insofern anders, als hier der
Text Voltaires noch den direkten, wenn auch frei gewählten Ausgangspunkt der Arbeit bildete.
Doch könnte sich bei Klee durch die Auseinandersetzung mit jener konkreten Vorgabe, zu deren
Schöpfer er eine geistige Verwandtschaft empfand, auch eine neue, natürlichere Familiarität mit
der Welt der eigenen Ideen und Vorstellungen sowie ihrer adäquaten bildnerischen Umsetzung
eingestellt haben, vergleichbar mit den „naturalistischen Etüden“, die es ihm wenige Jahre zuvor
ermöglichten, sein „Urgebiet der psychischen Improvisation neu zu betreten“533. Nach einer
langen Phase vornehmlicher Arbeit nach der Natur schien die Beschäftigung mit Voltaires
Candide Klees dichterische Neigung wieder wachgerufen, zugleich aber durch die klare,
teilweise prosaische, aber geistvolle Nüchternheit der Sprache des Franzosen aus der Klammer
einer allzu pessimistischen und auf die eigene Person konzentrierten Satire befreit zu haben.
Aus bitterer Satire wurde so über die „unequivocal prose“534 Voltaires eine zarte, wenn auch mit
der für Klee typischen Ironie versehene Lyrik.535
Seit der intensiven, auf eine künftige Illustration gerichteten Beschäftigung Klees mit Voltaires
Candide zeigte sich im Übrigen auch ein spürbarer Rückgang seiner gelegentlichen Betätigung
als Dichter. Das Bedürfnis nach einer Reflexion über das Medium des Wortes schien ganz in der
dichterischen Dimension seiner bildnerischen Gestaltung aufgegangen zu sein. Auch in den
Tagebucheinträgen dieser und der folgenden Jahre wich der Charakter intensiver Reflexion
zunehmend jenem des einfachen Schilderns und Dokumentierens der verschiedenen Erlebnisse
530 Haftmann 1967, 276. 531 Osterwold 2005, 22. 532 Hofmann 2003, 423. Osterwold bezeichnete Klee als eine „zwischen den Welten von Form und Inhalt balancierende künstlerische Existenz“ (Osterwold 1990, 12). 533 Klee 1988, Absatz Nr. 842. 534 Haxthausen 1981, 344. 535 Im Oktober 1909, wohl in jener Zeit, in der Klee erneut den Candide las, heißt es im Tagebuch: „Ich kenne wohl die aeolsharfen-artige Weise […] Ich kenne wohl das Ethos, welcher dieser Sphaere eignet. Ich kenne ebensogut die pathetische Gegend […] Nur tun mir beide zur gegenwärtigen Zeit gar nicht Not. Im Gegenteil, ich sollte so einfach sein, wie ein kleines Volkslied. Arglos-sinnlich sollte ich sein, offenen Auges.“ (Ebd., Absatz Nr. 862).
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und Eindrücke. So galt in gewissem Sinn schon hier, was Osterwold im Blick auf das Spätwerk
Klees herausgestellt hat: „Das zeichnerische Schaffen selbst wird zum Tagebuch.“536
5.3. Die Bedeutung der Intuition
Aus dem kurzen Abriss der den Illustrationen vorausgegangenen Entwicklung war bereits
hervorgegangen, dass Klee zwar Zeit seines Lebens vielerlei Anregungen aufnahm, diese bei
ihm aber nie äußerlich blieben, sondern sich stets mit dem Ureigensten verbanden, vielleicht
sogar nur verschiedene Seiten desselben anschlugen oder wachriefen. In diesem Sinne hieß es
auch bei Hofmann, es sei Klee bei der durchaus wachen Auseinandersetzung mit der Kunst
seiner Zeit letztlich nie um ein rein „horizontales“, „wendiges Ausprobieren extremer
Möglichkeiten“ gegangen, sondern um eine „vertikale“, das heißt in die Tiefe des eigenen
Selbstverständnisses als Künstler und der ihm adäquaten künstlerischen Mittel hinabführende
„Aneignung“.537 Die Suche nach dem Eigenen war schon früh einer der wichtigsten Antriebe
seiner künstlerischen Tätigkeit überhaupt. So beruhigte ihn nach Verlassen der Münchner
Akademie im Frühjahr 1901 bei aller Unsicherheit über den weiteren Lebens- und
Schaffensweg die Feststellung: „Eines muss ich mir zugestehen, der Wille nach dem Echten war
da“.538
Immer wieder ziehen sich derartige Bekenntnisse durch Klees Tagebuch und zeigen die
angestrengte Arbeit nicht nur an der Entwicklung seiner bildnerischen Mittel, sondern auch an
der für ihn lange vorrangigen und mit letzterer unmittelbar in Zusammenhang stehenden
Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Noch während seines Studiums bei Stuck stellte er
beispielsweise „[z]uoberst die Kunst des Lebens“539. Ein Jahr später schrieb er nach seiner
Rückkehr aus Italien den bekannten Satz: „Ich bin mein Stil“540 und wollte nur eines:
„bescheiden aufbauen, ohne nach links und rechts umzublicken“541. Wirklich schöpferisch
konnte er nur von seiner „angebeteten Madame Urzelle“542 her werden. Nur sie verhieß
wirkliche künstlerische Fruchtbarkeit. Zu ihr hinabzusteigen aber bedeutete: „Gnothi
seauton“543 (griech.: „Erkenne Dich selbst“). Von dort ergab sich die künstlerische Tätigkeit als
innere Notwendigkeit: „Seinen Stil findet der, wo nicht anders kann, das heißt etwas anderes
nicht kann.“544
536 Osterwold 1990, 20. 537 Hofmann 2003, 416 538 Klee 1988, Absatz Nr. 170. 539 Ebd., Absatz Nr. 137. 540 Ebd., Absatz Nr. 426. 541 Ebd., Absatz Nr. 430. 542 Ebd., Absatz Nr. 748. 543 Ebd., Absatz Nr. 825. 544 Ebd.
99
Als unabdingbare Voraussetzung galt es allerdings zunächst, geeignete bildnerische Mittel zu
erarbeiten.545 So bedurfte es einer intimeren Bildsprache, die imstande war, wie ein Seismograf
auf die Regungen der Seele zu reagieren, sie aufzunehmen und in möglichster Authentizität zur
Darstellung zu bringen. Schließlich fand Klee sie in dem Begriff der „psychischen
Improvisation“546, den Haftmann mit Recht als „entscheidendes Schlüsselwort für die ganze
zeichnerische Hervorbringung Klees“547 betrachtete.548 Nach Osterwold war mit ihm das
„unmittelbare Zeichnen aus der eigenen Befindlichkeit, die Entwicklung von Linienführungen
aus den seelischen Zuständen heraus“549 gemeint. Als der Begriff 1908 von Klee geprägt wurde,
war Kubins phantastischer Roman Die andere Seite gerade erschienen, in dem mit ganz ähnlich
lautenden Worten von einem „fragmentarischen Stil“ die Rede war, der – „mehr geschrieben,
als gezeichnet“ – „wie ein empfindliches meteorologisches Instrument die geringsten
Schwankungen [s]einer Lebensstimmung“550 ausdrücke. Wie hier Kubin sprach auch Klee
wiederholt von der Zeichnung als „Schrift“551 oder vom Zeichnen als einem „Schreiben“552 und
führte somit den Charakter seiner Zeichnungen im Wesentlichen auf die individuelle Motorik
der Hand zurück.553
Dies traf nun im Besonderen auf die Illustrationen zum Candide zu, in deren Zusammenhang
bei Huggler von der „kalligraphischen“554 und bei Geelhaar von der „kühnen handschriftlichen
Manier“555 als kongenialer Entsprechung für die knappe und klare Sprache Voltaires die Rede
war. Obwohl die kalligrafischen Eigenheiten der Arbeiten in Art und Grad mitunter stark
variieren, traf jene Charakterisierung insgesamt doch den Kern ihrer Gestaltung. Hofmann
wehrte sich zwar mit Recht gegen die gerade im Zusammenhang der expressionistischen
Bewegung aufkommende Verengung des Verständnisses von der Zeichnung als „Seelenschrift“
und wies darauf hin, dass dabei häufig übersehen werde, dass die Zeichnung auch „das
spezifische Instrument der experimentellen Formbedürfnisse“ und „das Feld subjektiven
545 Für Haftmann war dies nur „über den reininstrumentierten Klangkörper der bildnerischen Mittel“ möglich (Haftmann 1964, 299). 546 Klee 1988, Absatz Nr. 842. 547 Haftmann 1967, 276. 548 Klee schrieb schon 1901: „Ich muss mich auf das Intimere konzentrieren, große Munition ist nicht da. Wozu dann die Kanone?“ (Klee 1988, Absatz Nr. 302). 549 Osterwold 1990, 20. 550 Zit. nach: Haftmann 1950, 33. 551 Klee 1988, Absatz Nr. 859. 552 Ebd., Absatz Nr. 892. 553 Wie sehr Klee das Phänomen der Schrift beschäftigte, zeigt sich auch in einer Reihe von Darstellungen „abstrakter Schrift“ (1931, Y 4, „abstrakte Schrift“, Abb. 80) aus späterer Zeit, wo er mit spielerischer Fabulierlust der Motorik der Hand freien Lauf ließ. Formale Berücksichtigung fanden hier lediglich das halbwegs eingehaltene Liniensystem und der Versuch, so etwas wie Schrift auf quasi parodistische Weise nachzuempfinden. Darüber hinaus ist solchen Versuchen aber vor allem Klees Interesse an dem „Wie“, also an der Ausführung selbst, und weniger an dem „Was“ als dem Gegenstand seiner Darstellungen zu entnehmen. 554 Huggler 1969, 37. 555 Geelhaar 1990, 27.
100
Erprobens und Erarbeitens formaler Möglichkeiten“ sei.556 Ihm zufolge sei hier mit Blick auf
die weitere Entwicklung der Malerei vor allem die Entdeckung bedeutsam gewesen, „daß Form
nicht mit der Nachahmung von Wahrnehmungseindrücken identisch ist, daß sie vielmehr ihre
eigene Macht, ihre eigene Gesetzlichkeit zu entfalten vermag“. Der Zeichner werde so ins
„Vorgegenständliche, Prämorphe“, in jenen „plasmatischen Vorbezirk“ geführt, wo „die
Formhandlung tatsächlich elementar, von jeder vorgeprägten Formel befreit und ab ovo
vollzogen“ werde.557
Was Hofmann um der Klarheit seiner Aussage willen aber ausklammerte, ist jener Bereich, in
dem der Begriff der „Seelenschrift“ vor allen formalen Erwägungen seine Berechtigung hatte.
Denn das „ab ovo“, von dem er sprach, lag bei Klee im Fall der Illustrationen eben nicht zuerst
in einer abstrakten oder elementaren Urform, sondern im Prozess des Zeichnens selbst. Warum
sonst konnte er über die Grafik von der „Ausdrucksbewegung der Hand mit registrierendem
Stift“ schreiben, die man „motivisch ganz gut im Dunkeln ausüben könnte, in finsterer
Nacht“?558 Auch Koschatzky betonte, dass in der „Direktübertragung der Bewegung in einer
Linie“ eine der „prägnantesten Möglichkeiten“ der Zeichnung überhaupt liege, weil hier die
„Aufnahme einer in anderer Weise nur sehr viel komplizierter, kaum oder gar nicht mitteilbaren
seelischen Bewegung“ möglich sei. Dabei zeige sich dieser Charakter meist in einer
„weitgehend reduzierten Minimalgeste“ und sei als solcher auch in „szenische, figurale und
gegenständliche Darstellungen eingewoben“.559 Diese „Minimalgeste“ scheint in Klees
Illustrationen zu Voltaires Candide in ihrem ganzen Facettenreichtum letztlich zum zentralen
Ausdrucksträger geworden zu sein.
Noch 1924 bezeichnete der Künstler im Rahmen einer Vorlesung am Bauhaus den „gereizten
Punkt“ als Urelement des Zeichnens und größtmögliche Annäherung des Künstlers an den
Ursprung des Schöpferischen: „Der gereizte Punkt, der Ansatz unseres Griffels zum Strich, ist
ein Minimum von Handlung, unter dem von einer Tat, von einem Tun nicht mehr die Rede sein
kann.“560 Und in dem Maße, wie auch die Linien und die aus ihnen sich bildenden Figuren561
primär aus dieser „Minimalgeste“ hervorgingen und jene Herkunft nicht verschleierten, trügen
auch sie den Charakter des authentischen „Empfindungsmittler[s]“562. Dies galt sowohl für die
feinnervige, unterbrochene, wie für die schwungvolle expressive Linie in den Illustrationen
Klees. Sie war stets elementar, doch nie rein abstrakt oder formal, war nicht zuerst Produkt des
556 Hofmann 2003, 121f 557 Ebd., 122. 558 Klee 1988, Absatz Nr. 928. 559 Koschatzky 1980, 271. 560 Vorlesung vom 09.01.1924, zit. nach: Bonnefoit, Régine, Von der Bedeutung der Schlangen- und Zickzacklinie in Klees Kunsttheorie. Eine Geschichte zweier Kontrahenten, in: Osterwold, Tilmann (Hrsg., zusammen mit dem Zentrum Paul Klee, Bern), Paul Klee. Kein Tag ohne Linie. Kat. Ausst. Zentrum Paul Klee, Bern, 20.06.2005-05.03.2006, Ostfildern 2005, 56. 561 Haxthausen sprach in diesem Zusammenhang von der „synthesis of pure line and bodely gesture“ (Haxthausen 1981, 338). 562 Bonnefoit 2005, 56.
101
Kopfes, sondern der Hand im Sinne jenes bereits zitierten Satzes, den Klee 1906 in sein
Tagebuch schrieb: „Die geübte Hand weiß es oft viel besser, als der Kopf.“563 Haftmann sprach
im Zusammenhang des späteren Klee auch von der „Tastatur der Mittel“, wobei das
„selbstvergessene Handhaben“ derselben mit einer – und hier zitierte er Klees selbst – „Schrift,
die ins Sichtbare drängt“, zu vergleichen sei.564
An genau diesem Punkt aber wurde Klee letztlich der Eigenmacht der Linie gewahr und begann
sich langsam ihrer zu bedienen: er entdeckte die selbstverständliche Einheit von Mittel und
Ausdruck, wenn von diesem Punkt her gestaltet wurde. Das „Land der besseren Erkenntnis“ war
betreten und der Künstler fing nun an, sich immer freier in ihm zu bewegen. Die Quelle – die
eigene Intuition – war erreicht, aus der er in den kommenden Jahren seinen „naiven Stil“
speisen und „Unschuld an Unschuld“ (Abb. 79) reihen sollte.565
Resümee
Die Untersuchungen dieser Arbeit konnten zeigen, welche besondere Stellung Paul Klees
Illustrationen zu Voltaires Candide in seinem frühen Schaffen einnehmen. Der Blick in die
vorausgegangene Entwicklung hat dabei zunächst deutlich gemacht, wie er vor Beginn der
Arbeit an ihnen zwischen der Gestaltung nach der Natur und derjenigen nach der Imagination,
zwischen „Bildnerischem“ und „Dichterischem“, zwischen fester Kontur und deren völliger
Auflösung zunehmend sensibler für die eigenen, ihm gemäßen bildnerischen Mittel wurde.
Mutig gab er dabei wiederholt bereits Errungenes auf, weil er mit ihm künstlerische Abwege
fürchtete. Stets tat er darin gut, weil ihm ein solcher Schritt neben weiteren Anregungen auch
das zuvor Aufgegebene erneuert und von gewissen Verkrampfungen befreit zurückgab:
In hellen Momenten überblicke ich zuweilen zwölf Jahre Geschichte des eigenen inneren Ichs. Das krampfige Ich zuerst, jenes Ich mit großen Scheuklappen, dann der Wegfall der Scheuklappen und des Ichs, jetzt allmählich wieder ein Ich ohne Scheuklappen.566
Die Illustrationen scheinen in diesem Prozess geradezu die Summe aus der künstlerischen
Entwicklung der Jahre zuvor gebildet zu haben – in ihnen scheint Klee das gesuchte
Gleichgewicht zwischen den genannten Kräften, ja vielleicht „überhaupt [s]ein eigentliches
Ich“567 wieder gefunden zu haben.
563 Klee 1988, Absatz Nr. 760. 564 Haftmann 1964, 299. 565 Jeweils: Klee 1988, Absatz Nr. 922. 566 Ebd., Absatz Nr. 899. 567 Ebd., Absatz Nr. 897.
102
Die „verflatternden Impressionismen“568 der vergangenen Jahre bekamen in der erneuerten
Kontur ein notwendiges Korrektiv, ohne dass seine Arbeiten aber die ihnen verdankte Zartheit
vermissen ließen. Auch die starke, oft „pessimistische“569 Satire der ersten Jahre verlor in der
Auseinandersetzung mit dem Candide die Schwere des Persönlichen und die Spitze allzu
vordergründiger Bissigkeit.570 Sie wurde, wie Klee selbst schrieb, wieder zur Lyrik, bekam
Schritt für Schritt die Leichtigkeit des später für ihn so typischen Poetischen. Vor allem die
Klarheit der Sprache Voltaires befreite ihn dabei von der Last angestrengten und allzu
„grüblerischen“571 Suchens nach der eigenen menschlichen wie künstlerischen Identität: „the
burden of ideas was left to Voltaire’s unequivocal prose“572. Wenn Klees Kunst Mitte des ersten
Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts noch einer Rückbindung der Form an die Natur bedurfte, so war
es hier eine solche des Inhalts an die der eigenen Gedankenwelt verwandte, jedoch von ihr
unabhängige Vorgabe des Textes. Dabei fand er in ihr ein Stück Literatur, das seinen Neigungen
zu leichtem Witz und zu Satire ebenso entsprach, wie zu klarer, unmissverständlicher Sprache
und das ihn damit letztlich zu einer ähnlichen Leichtigkeit auf inhaltlichem Gebiet führte, wie es
zuvor die Auflockerungen durch die impressionistische Manier in der zeichnerischen Technik
getan hatten.
Zudem ist die Arbeit an den Candide-Illustrationen als jener glückliche Moment in der
Entwicklung Klees anzusehen, in dem er sich unter der Herausforderung einer ihn über längere
Zeit in Anspruch nehmenden Aufgabe gezielt mit den immer stärker auch von außen auf ihn
einwirkenden künstlerischen Anregungen auseinandersetzte und sie unter den gegebenen
Bedingungen zu den eigenen machte. Neben den kubistischen und futuristischen Strömungen,
deren Einfluss sich in einzelnen Zeichnungen widerspiegelte, war es vor allem die
Auseinandersetzung mit der Kinderzeichnung, der er „daheim in der Kinderstube“573 wie auch
in den eigenen, von der Schwester gesammelten Arbeiten aus der Kindheit begegnete. Auch
dieses Interesse Klees stand im Kontext einer allgemeinen diesbezüglichen Aufmerksamkeit in
der Kunst seiner Zeit. Die Intensität und Radikalität, mit der er jene Arbeiten vom
künstlerischen Standpunkt her wahr- und ernstnahm, darf jedoch als bis dahin beispiellos
bezeichnet werden. Nach Werkmeister galt Klee daher geradezu als Personifikation der
Definition Charles Baudelaires vom künstlerischen Genie als „bewusst wiedergefundene
Kindheit“.574 Dabei konnte anhand mehrerer Beispiele und der Untersuchung allgemeiner
568 Ebd., Absatz Nr. 894. 569 Glaesemer 1972, 8. 570 Auch Orieux sah im Candide ein „Werk von fast abgrundtiefer Verzweiflung“ (Orieux 1968, 182). 571 Giedion-Welcker 1961, 25. 572 Haxthausen 1981, 344. 573 In: Die Alpen, Heft 5, Januar 1912, 302, zit. nach: Klee 1976, 97. 574 Zit. nach: Werkmeister 1981, 124. Schon bei Julius Meier-Graefe findet sich in der zweiten, erweiterten Fassung der Entwicklungsgeschichte der Modernen Kunst von 1924 ein Vergleich Klees mit dem im Hintergrund der Definition Baudelaires stehenden Maler des modernen Lebens, Constantin Guy (vgl. Meier-Graefe, Julius, Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, Bd. 1 und 2, hrsg. v. Hans Belting) München u. Zürich 1987).
103
Charakteristika gezeigt werden, dass sich dieser Einfluss bei Klee nicht erst, wie es
Werkmeister annahm, nach den Illustrationen zum Candide zeigte, sondern wesentliche
Merkmale auch ihrer Stilistik ohne sie letztlich nicht denkbar waren. So gewann Klee vor allem
von ihnen her die Kontur als „Geist über der Natur“575 wieder und erkannte deren inhaltliche
Dimension neu.
Dabei könnte hierfür nicht zuletzt der Geist des Romans selbst und seines Protagonisten
Candide, dessen kindliche, wenn auch äußerst wache und lebenstüchtige Arglosigkeit schon in
seinem Namen zum Ausdruck kommt, von entscheidender Bedeutung gewesen sein. So ist es
letztlich diese Textvorlage, welche die verschiedenen genannten Einflüsse miteinander verband
und in einem größeren Rahmen fruchtbar werden ließ. Dies wurde etwa am Einfluss der dem
dritten Kapitel des Romans entnommenen Charakterisierung des Candide auf den besonderen,
die Illustrationen wesentlich bestimmenden Figurenstil deutlich. So erschienen deren schmale,
stark überlängte Körper in der Tat als „un être a deux pieds sans plumes, qui avait une âme“576.
Doch trug Klee mit der besonderen Beweglichkeit seiner Figuren, ihrer ausdruckvollen Gestik
und oft grotesken Erscheinung auch der gestalterischen Dimension des Textes mit ihrem für
einen Roman ungewöhnlich dramatischen und theatralischen Charakter Rechnung. Die
diesbezüglichen Parallelen zwischen Text und Bild zeigten sich vor allem in der gemeinsamen
Nähe zum Medium des Marionettentheaters.
Dort aber, wo sich Klee über die Vorgaben des Textes hinwegsetzte oder von der Maßgabe der
Homogenität im Blick auf eine Veröffentlichung befreite, wurde dagegen deutlich, wie sehr für
ihn die eigene künstlerische Entwicklung bei dieser Arbeit im Vordergrund stand. So wird
gerade die Heterogenität der Arbeiten zum Hinweis auf jenes „bohrende“577 Ringen, von dem
Glaesemer schon in Bezug auf die vorausgegangenen Jahre schrieb und das sich in ihnen nicht
nur fortsetzte, sondern vor dem Hintergrund der genannten Forderung nach Einheitlichkeit
besonders ins Gewicht fiel. Zugleich aber dürfte diese Forderung bei aller Unabhängigkeit in
der konkreten Gestaltung auch zum entscheidenden Antrieb für eine allgemeine Vereinigung
der bislang divergierenden Tendenzen in seinem Schaffen geworden sein. Diese Spannung
zwischen der konkreten Aufgabe und ihren spezifischen Erfordernissen sowie der Suche nach
der eigenen, adäquaten künstlerischen Sprache hinterlässt beim Anblick der Illustrationen heute
letztlich den Eindruck einer gewissen Ambivalenz, die auch der Grund für jene Diskrepanz
zwischen der Bewunderung der Künstlerkollegen Marc und Kandinsky auf der einen sowie der
auffallenden Zurückhaltung der Verleger hinsichtlich einer Veröffentlichung auf der anderen
Seite gewesen sein dürfte.
575 Klee 1988, Absatz Nr. 894. 576 Voltaire 2004, 14. 577 Vgl. Glaesemer 1973, 183.
104
Nach Glaesemer war diese Ambivalenz jedoch untrügliches Symptom eines entscheidenden
Durchbruchs.578 Und wenn Franciscono die Illustrationen als „transitional“579 bezeichnete, so
wies dies zwar zunächst allgemein auf ihre Entstehung in einer Übergangsphase der
künstlerischen Entwicklung Klees. Angesichts der Untersuchungen dieser Arbeit darf jene
Formulierung jedoch auch als Hinweis auf ihre Scharnierstellung innerhalb eben dieser
Entwicklung verstanden werden, schienen die Illustrationen jenen Übergang doch nicht nur zu
repräsentieren, sondern selbst zu bilden. So wurden wichtige Kräfte im Zuge der oft mühevollen
Arbeit an ihnen schließlich entbunden oder fanden wieder zueinander, wie es Klee Anfang der
1920er Jahre im Rückblick schrieb: „Ich fand auf seinen [Voltaires] Wegen manches verlegte
Gewicht, was früher zu meiner Balance nötig, an seinem Ort war, vielleicht fand ich überhaupt
mein eigentliches Ich jetzt wieder.“580 Bei Haftmann ist in diesem Zusammenhang, wohl auch in
Anlehnung an entsprechende Äußerungen Klees in seinen späteren Bauhaus-Vorlesungen, vom
„reininstrumentierten Klangkörper der bildnerischen Mittel“581 als Voraussetzung für das
Betreten des „Urgebietes der psychischen Improvisation“582 zu lesen. Damit aber schien sich
Klee zwei Jahre vor seiner „Initiation“583 als Maler auf der Tunisreise für den Bereich der
Grafik die im sprichwörtlich gewordenen Schlusssatz des Candide zu findende Quintessenz des
Romans zu eigen gemacht zu haben: „Il faut cultiver notre jardin.“584
578 Vgl. ebd. 579 Franciscono 1991, 134. 580 Klee 1988, Absatz Nr. 897. 581 Haftmann 1965, 296. 582 Klee 1988, Absatz Nr. 842. 583 Hier sei an den oft zitierten Tagebucheintrag vom April 1914 erinnert: „Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen/ Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichen/ Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.“ (Klee 1988, Absatz 926 o). 584 Voltaire 2004, 150. Im Anschluss an die oben zitierte, rückblickende Einschätzung des Malers aus den 1920er Jahren nannte auch Fontaine die Illustrationen „deux ans avant le voyage en Tunisie (1914), une première révélation de Klee à lui-même et comme une libération“ (Fontaine 1971, 86).
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