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cHristiaNe Hess Félix Lazare Bertrand – Zeichnungen aus dem KZ Neuengamme 1 Das Bild der Lager vermittelte sich „der Öffentlichkeit nach dem Krieg und bis heute vor allem über Fotografien einer sehr unterschiedlichen Produzenten- schaſt“, resümiert die Kunsthistorikerin Karin Gludovatz. 2 Fragen nach der Kon- struktion der Bilder, den Perspektiven der Täter und Opfer wie auch den Rezepti- onsweisen sind vor allem in Bezug auf die Fotografien und Filme im Zusammen- hang mit der Befreiung der Lager durch die Alliierten untersucht worden. 3 Blickt man in die Ausstellungen und Archive der KZ-Gedenkstätten und Widerstandsmuseen, lassen sich dort neben den Fotografien, die im Auſtrag der SS entstanden sind, zahlreiche andere Bildproduktionen finden, Zeichnungen, Grafiken, Aquarelle und – sogar Ölgemälde. 4 1 Dieser Artikel ist eine überarbeitete Zusammenfassung meiner 2007 abgeschlossenen Magistraarbeit, Christiane Heß, Zwischen „Kunst“ und Dokument. Zeichnungen aus dem KZ Neuengamme. Unveröffentlichte Magistraarbeit, Universität Hamburg, 2 Bde., Ham- burg 2007. Für Kritik und Anregungen möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Andreas Ehresmann, Anat Frumkin, Judith Henning, Julia Kramer, Olaf Kruithoff, Susann Lewerenz und Regina Mühlhäuser bedanken. Er erscheint im französischen Ori- ginal u. d. T. Félix Lazare Bertrand – Dessins du Camp de Neuengamme, in: Témoigner. Entre histoire et mémoire. Revue pluridisciplinaire de la Fondation Auschwitz, Bruxelles, Nr. 109 (Oktober/Dezember 2010). 2 Karin Gludovatz, Widerständiges Material. Zeichnungen aus nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, in: Clemens Krümmel/Alexander Roob (Hrsg.), Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage, Düsseldorf 2004, S. 38–45, hier S. 38. 3 Vgl. dazu grundlegend: Detlef Hoffmann, Fotografierte Lager. Überlegungen zu einer Fotogeschichte deutscher Konzentrationslager, in: Fotogeschichte 14 (1994), 54, S. 3–20; Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus na- tionalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Clément Chéroux (Hrsg.), Mémoire de camps. Photographies de camps de concentration et d’extermination nazis (1933–1999), Paris 2001; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001. 4 Mary S. Costanza, Bilder der Apokalypse. Kunst in Konzentrationslagern und Ghettos, München 1983; Ziva Amishai-Maisels, Kunst, in: Israel Gutman/Eberhard Jäckel/Peter Longerich (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der eu- ropäischen Juden, Bd. II, Berlin 1993, S. 835–845; Irena Szymańska, Kunst im Konzent- rationslager Auschwitz, in: Dachauer Heſte 18 (2002), S. 73–96; Stefanie Endlich, Kunst neuengamme_innen_druck.indd 229 18.11.2010 14:35:32

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c H r i s t i a N e H e s s

Félix Lazare Bertrand – Zeichnungen aus dem KZ Neuengamme1

Das Bild der Lager vermittelte sich „der Öffentlichkeit nach dem Krieg und bis heute vor allem über Fotografien einer sehr unterschiedlichen Produzenten-schaft“, resümiert die Kunsthistorikerin Karin Gludovatz.2 Fragen nach der Kon-struktion der Bilder, den Perspektiven der Täter und Opfer wie auch den Rezepti-onsweisen sind vor allem in Bezug auf die Fotografien und Filme im Zusammen-hang mit der Befreiung der Lager durch die Alliierten untersucht worden.3

Blickt man in die Ausstellungen und Archive der KZ-Gedenkstätten und Widerstandsmuseen, lassen sich dort neben den Fotografien, die im Auftrag der SS entstanden sind, zahlreiche andere Bildproduktionen finden, Zeichnungen, Grafiken, Aquarelle und – sogar Ölgemälde.4

1 Dieser Artikel ist eine überarbeitete Zusammenfassung meiner 2007 abgeschlossenen Magistraarbeit, Christiane Heß, Zwischen „Kunst“ und Dokument. Zeichnungen aus dem KZ Neuengamme. Unveröffentlichte Magistraarbeit, Universität Hamburg, 2 Bde., Ham-burg 2007. Für Kritik und Anregungen möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Andreas Ehresmann, Anat Frumkin, Judith Henning, Julia Kramer, Olaf Kruithoff, Susann Lewerenz und Regina Mühlhäuser bedanken. Er erscheint im französischen Ori-ginal u. d. T. Félix Lazare Bertrand – Dessins du Camp de Neuengamme, in: Témoigner. Entre histoire et mémoire. Revue pluridisciplinaire de la Fondation Auschwitz, Bruxelles, Nr. 109 (Oktober/Dezember 2010).

2 Karin Gludovatz, Widerständiges Material. Zeichnungen aus nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern, in: Clemens Krümmel/Alexander Roob (Hrsg.), Tauchfahrten. Zeichnung als Reportage, Düsseldorf 2004, S. 38–45, hier S. 38.

3 Vgl. dazu grundlegend: Detlef Hoffmann, Fotografierte Lager. Überlegungen zu einer Fotogeschichte deutscher Konzentrationslager, in: Fotogeschichte 14 (1994), 54, S. 3–20; Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus na-tionalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Clément Chéroux (Hrsg.), Mémoire de camps. Photographies de camps de concentration et d’extermination nazis (1933–1999), Paris 2001; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.

4 Mary S. Costanza, Bilder der Apokalypse. Kunst in Konzentrationslagern und Ghettos, München 1983; Ziva Amishai-Maisels, Kunst, in: Israel Gutman/Eberhard Jäckel/Peter Longerich (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der eu-ropäischen Juden, Bd. II, Berlin 1993, S. 835–845; Irena Szymańska, Kunst im Konzent-rationslager Auschwitz, in: Dachauer Hefte 18 (2002), S. 73–96; Stefanie Endlich, Kunst

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In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern gab es für die Häft-linge – wenn überhaupt – kaum andere Möglichkeiten, Bilder herzustellen, als zu zeichnen, um die Verbrechen der Nationalsozialisten, ihren Alltag oder auch Mithäftlinge zu dokumentieren bzw. zu porträtieren.5

Schon direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Zeichnun-gen und andere Artefakte, die in den Lagern entstanden waren, gesucht, gefun-den, gesammelt und teilweise ausgestellt. Gedenkstätten wie die in Buchenwald, Theresienstadt und Auschwitz haben seit den 1960er-Jahren ihre Sammlungen in eigenen Kunst-Ausstellungen präsentiert.6

Im Rahmen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme war dies aus unterschiedli-chen Gründen nicht der Fall. Erst 1981 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme ein Dokumentenhaus errichtet, das sowohl eine kleine Ausstellung als auch ein Archiv beinhaltete. Von diesem Zeitpunkt an begannen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte, vor Ort Doku-mente und auch Artefakte systematisch zu sammeln und zu erfassen.7

Die meisten der heute bekannten Bildproduktionen befinden sich in Samm-lungen und Archiven von Museen und Gedenkstätten in Frankreich, Dänemark und den Niederlanden oder aber in Privatbesitz von Überlebenden und Angehöri-gen. Einige Zeichnungen sind jedoch auch bei der Drucklegung der frühen Veröf-fentlichungen von 1945–1947 verloren gegangen. Im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme selbst befinden sich daher nur sehr wenige Originale; die meisten der weit über 500 Bilder sind Reproduktionen unterschiedlichster Qualität.8

Welche Bedeutung haben diese Bildproduktionen für eine Auseinanderset-zung mit der Geschichte der Konzentrationslager? Was kann man von ihnen

im Konzentrationslager, in: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1: Die Organisation des Terrors, München 2005, S. 276–295.

5 Ausnahmen bilden die wenigen erhaltenen Fotografien, die Mitglieder des Sonderkom-mandos aus Auschwitz-Birkenau zeigen; Chéroux, Mémoire, S. 86–91.

6 Sybil Milton, Kunst als historisches Quellenmaterial in Gedenkstätten und Museen, in: Wulff E. Brebeck u. a. (Hrsg.), Über-Lebens-Mittel. Kunst aus Konzentrationslagern und in Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Marburg 1992, S. 44–63; Micha-ela Haibl, Konzentrationslager oder „Künstlerkolonie“? Zur Problematik der Rezeption und Präsentation von Artefakten aus Konzentrationslagern, in: Helge Gerndt u. a. (Hrsg.), Der Bilderalltag. Perspektiven einer volkskundlichen Bildwissenschaft, Münster 2005, S. 275–295, hier S. 279.

7 Detlef Garbe, Die Arbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme 1981–2001. Rückblicke – Ausblicke. Eine Dokumentation der Aktivitäten 20 Jahre nach der Eröffnung des Doku-mentenhauses in Hamburg-Neuengamme, Hamburg 2001, S. 18–20, 43–45.

8 Maike Bruhns, „Die Zeichnung überlebt …“ Bildzeugnisse von Häftlingen des KZ Neuen-gamme, Bremen 2007, hier besonders S. 15.

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erfahren? Die Zeichnungen, ihre Erzählstrategien und das visuelle Vokabular können beispielsweise Auskunft über Perspektiven und Blicke von ehemaligen Häftlingen auf die Lager und den Alltag in den Lagern geben. Dabei transpor-tieren sie Zeichen und Spuren mit persönlichen, historischen, kulturellen, sym-bolischen Bedeutungen; sie verweisen auf die Produzentinnen und Produzenten der Bilder und deren Geschichten.9 Oder, wie es der Historiker Nicolas Stargardt formulierte, die Zeichnungen geben Einblicke in die „moral and emotional map“ der jeweiligen Produzenten und Produzentinnen.10 Das bedeutet, dass in Zeich-nungen nicht nur Erlebnisse und Erfahrungen von Häftlingen im Lager repräsen-tiert werden, sondern auch die Konflikte der Möglichkeiten von Integration und Trennung der beiden Welten, der Welt des Lagers und der erlebten, vorkonzent-rationären Welt außerhalb, sichtbar werden. Diese „Relikte aus dem Kraftfeld der Kunst“11 müssen in ihren Erzähl- und Ausdrucksweisen umfassend kontextua-lisiert werden. Daher erscheinen im Anschluss daran auch Fragen nach den Ver-wendungsweisen der Zeichnungen nach 1945 und Praktiken der Reproduktion, des Veröffentlichens, Sammelns und Ausstellens von Interesse. Die Zeichnungen transportieren nicht nur Spuren der Vergangenheit, ihre Wege, Nachnutzungen und die Überlieferungsgeschichte sind ihnen ebenso eingeschrieben und sollten bei einer Analyse miteinbezogen werden.12

Im Fokus dieses Textes steht ein ausgewählter Bestand von Zeichnungen, die – im Verborgenen – zwischen 1944 und 1945 im KZ Neuengamme entstanden sind. Das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg, von 1938 bis 1940 Außenlager des KZ Sachsenhausen, war ab 1940 das größte Konzentrationslager Norddeutschlands. Über 90 000 Männer und Frauen aus Europa wurden in die-ses Konzentrationslager und seine 85 Außenlager deportiert.13

9 Rosamunde Neugebauer, Zeichnen im Exil – Zeichen des Exils? Handzeichnung und Druckgraphik deutschsprachiger Emigranten ab 1933, Weimar 2003, S. 511.

10 Nicholas Stargardt, Children‘s Art of the Holocaust, in: Past & Present 47 (1998), 161, S. 191–235, hier S. 234.

11 Detlef Hoffmann, Relikte aus dem Kraftfeld der Kunst. Bilder, gefertigt in deutschen Kon-zentrationslagern, in: Anne Bernou-Fieseler/Fabien Théofilakis (Hrsg.), Das Konzentra-tionslager Dachau. Erlebnis, Erinnerung, Geschichte. Deutsch-Französisches Kolloqui-um zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau, München 2006, S. 271–293.

12 Marianne Hirsch/Leo Spitzer, Testimonial Objects. Memory, Gender and Transmission, in: Marie-Aude Baronian/Stephan Besser/Yolande Jansen (Hrsg.), Diaspora and Memory. Figures of Displacement in Contemporary literature, Arts and Politics. Amsterdam/New York 2006, S. 137–164.

13 Hermann Kaienburg, „Vernichtung durch Arbeit“. Der Fall Neuengamme. Die Wirt-schaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenzbedingungen der KZ-Gefangenen, Bonn 1990; Marc Buggeln, Arbeit & Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009.

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Mehr als 100 Zeichnungen und Skizzen fertigte der französische Architekt und Lokalpolitiker Félix Lazare Bertrand an, der seit Sommer 1944 als sogenann-ter Sonderhäftling im KZ Neuengamme inhaftiert war. Nach seiner Rückkehr im Mai 1945 bearbeitete Bertrand seine Zeichnungen, sortierte und kommentierte sie. Noch vor seinem Tod im Jahr 1959 wurden die Zeichnungen in Frankreich ausgestellt und seither mehrfach reproduziert. Die Zeichnungen Bertrands befin-den sich heute in den Archiven des „Musée de la Résistance et Déportation“ (MRD) in Besançon und des „Musée de l’Ordre de la Libération“ (MOL) in Paris.14

Im Folgenden werden einige Aspekte der Bildproduktion im KZ Neuen-gamme vorgestellt. Darüber hinaus werden an ausgewählten Beispielen die Ent-stehungsbedingungen und die sozialen und kommunikativen Funktionen von Zeichnungen im Lager vorgestellt. Abschließend wird ein Blick auf die Verwen-dungsweisen und die Rezeption der Zeichnungen geworfen. Lazare Bertrand kommentierte seine Zeichnungen nach seiner Rückkehr selbst. Ein Mithäftling reproduzierte die Zeichnungen Bertrands nach dessen Tod und trug zu deren Verbreitung bei.

1. Künstlerische Bildproduktionen im KZ Neuengamme

Wie in fast allen nationalsozialistischen Lagern und Ghettos gab es auch im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern künstlerische Bildproduktionen. In der bisher erschienenen Literatur zu künstlerischen Bildproduktionen aus den Lagern werden diese grob unterschieden in „illegale“ Werke, d. h. solche, die im Geheimen produziert wurden, und „Auftragsarbeiten“, d. h. solche, die offiziell für die SS produziert wurden.15 Bislang können über 40 Frauen und Männer für das KZ Neuengamme und seine Außenlager benannt werden, die zwischen 1938 und 1945 als KZ-Häftlinge, aber auch nach ihrer Befreiung, Skizzen, Zeichnun-gen, Grafiken und Gemälde fertigten.16 Dabei weisen die Arbeiten stilistisch eine große Bandbreite auf; auch die biografischen Voraussetzungen und Erfahrungen von Verfolgung und KZ-Haft variieren deutlich.17 Die meisten heute bekann-ten „heimlichen“ Arbeiten aus dem KZ Neuengamme entstanden in den letzten Kriegsjahren, zwischen 1944 und 1945. Es gibt dagegen nur wenige Hinweise auf Bildproduktionen vor dieser Zeit. Zumeist handelt es sich dabei um Auftragsar-

14 Herzlichen Dank an dieser Stelle an Marie-Claire Ruet (MRD) und Vladimir Trouplin (MOL) für die Unterstützung bei der Recherche.

15 Michaela Haibl, „Überlebensmittel“ und Dokumentationsobjekt. Zeichnungen aus dem Konzentrationslager Dachau, in: Dachauer Hefte 18 (2002), S. 42–64, hier S. 47.

16 Bruhns, Zeichnung; Heß, „Kunst“.17 Bruhns, Zeichnung, S. 14.

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beiten der SS. Neben den SS-Fotografien, die z. B. Wandbilder im Inneren und an den Außenwänden von Baracken zeigen, lassen sich in nur in wenigen Berichten von Überlebenden Hinweise auf künstlerische Arbeiten finden, die von der SS in Auftrag gegeben wurden.18 Eigene künstlerische Tätigkeit musste vor der SS geheim gehalten werden, häufig aber auch vor den Funktionshäftlingen. Meistens erfuhren davon nur einige Häftlinge in der eigenen Baracke.19 Obwohl teilweise auf Materialien aus den handwerklichen Betrieben und den Büros zurückgegrif-fen werden konnte, musste bei der Materialbeschaffung improvisiert werden. Gezeichnet wurde auf Streichholzschachteln, Rückseiten von Briefmarken und Packpapier, Bescheinigungen aus den Büros der SS oder auf Stoffstücken. Als Zei-chengeräte dienten vor allem Bleistifte, aber auch selbstgemachte Farben, Tusche und Tinte.20

Zum Teil wurden die Zeichnungen datiert und signiert. Der französische Künstler und Widerstandskämpfer Réne Baumer zeichnete im Außenlager Han-nover-Stöcken Porträts seiner Mitgefangenen. Er nutzte einen anderen Namen, Réne Ramage, den er nach seiner Rückkehr bei einigen seiner Zeichnungen aus-radierte und dafür den Namen Baumer einsetzte.21 Die Zeichnungen wurden in den Baracken in den Strohsäcken versteckt oder aber in kleinen versteckten Taschen direkt am Körper getragen, wie dies beispielsweise der Norweger Odd Magnussen berichtet.22

Die Motive der Zeichnungen, die – im Verborgenen – von den Häftlingen produziert wurden, zeigen vor allem Situationen des KZ-Alltags: Appell stehen, Warten vor der Baracke oder beispielsweise die Ausgabe der Suppe, in kleinen Gruppen zusammenstehende Häftlinge. Darin unterscheiden sich Bildprodukti-onen aus dem KZ Neuengamme nicht von denen anderer Konzentrationslager.23 Darstellungen von Gewalt, Schlägen der SS oder den Toten finden sich zumeist erst in den Bildern, die nach dem „Öffnen der Lager“ entstanden sind.24

18 Heß, „Kunst“, S. 32–36.19 Thomas Rahe, Häftlingszeichnungen aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen, Lohei-

de 1993, S. 8.20 Costanza, Bilder, S. 153–162; Gludovatz, Material, S. 41.21 Rainer Fröbe, Exkurs: René Baumer – Ein Zeichner im KZ. Kunst, Widerstand und Iden-

tität im Konzentrationslager, in: ders. u. a. (Hrsg.), Konzentrationslager in Hannover. KZ-Arbeit und Rüstungsindustrie in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs, Hildesheim 1985, S. 109–130.

22 Lars To, Vi Ventet. Wir warteten. Nachrichtenbunker ‚Fuchsbau‘, Fürstenwalde 1996, S. 5.23 Ziva Amishai-Maisels, Depiction and Interpretation. The influence of the Holocaust on

the Visual Arts, Oxford 1993.24 Georges Didi-Huberman, Das Öffnen der Lager und das Schließen der Augen, in: Ludger

Schwarte (Hrsg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadig-mas, Bielefeld 2007, S. 11–45.

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2. Die Zeichnungen von Lazare Bertrand

Félix Lazare Bertrand war als einer der mehr als 300 französischen Sonderhäft-linge, die den Status von Geiseln hatten, über das Internierungslager Compi-ègne im Juli 1944 in das KZ Neuengamme deportiert worden. Die Gruppe der Sonderhäftlinge war getrennt von den anderen Häftlingen untergebracht, vom 20. Oktober 1944 an im Bereich des sogenannten Sonderlagers. Die französischen Sonderhäftlinge mussten nicht am Appell teilnehmen und wurden nicht zur Zwangsarbeit eingesetzt. Im Lager traf Lazare Bertrand auf einen Arbeitskolle-gen, den Architekten und Résistance-Kämpfer Ernest Gaillard, der ihn mit Infor-mationen, Papier, Stiften wie auch mit Lebensmitteln versorgte. Bertrand fertigte seit Anfang August 1944 Zeichnungen an und schrieb darüber hinaus ein Tage-buch, sowohl im KZ Neuengamme als auch während seiner Evakuierung über Theresienstadt, Prag und Würzburg nach Frankreich bis zum 19. Mai 1945.25

Während die Zeichnungen vor allem den Blick nach außen, auf die anderen Mithäftlinge und die Situationen im Lager zeigen, reflektiert Bertrand in seinen Aufzeichnungen die Bedingungen der Inhaftierung der Gruppe der Sonderhäft-linge und ihre psychischen und physischen Folgen.

Bertrand hat zum Zeichnen mehrere Papiersorten benutzt und konnte auf Bleistift und – seltener – auf farbige Stifte zurückgreifen.26 Auf einer der ersten Zeichnungen schrieb er mit Bleistift die Farben des abgebildeten Gebäudes dazu.27 Später scheint Bertrand meist über genug Papier verfügt zu haben, was auch die Größe der Zeichnungen von durchschnittlich 20 cm x 25 cm vermuten lässt; nur in wenigen Fällen deuten Skizzen auf den Rückseiten der Blätter auf einen Mangel an Papier bzw. einen sparsamen Umgang mit dem Material hin.28

In den ersten kleinen Skizzen deutet Bertrand die verschiedenen Tätigkeiten und Situationen an, die für ihn sichtbar waren. So dokumentierte er das Gesche-hen auf dem Appellplatz und die Situationen vor den Baracken, wenn verschie-dene Arbeitskommandos, die in seiner näheren Umgebung tätig waren, ihre Auf-gaben erledigen mussten, z. B. Suppenfässer tragen, den Appellplatz walzen oder schwere Lasten transportieren. Dabei wechselte sein Fokus immer wieder von

25 Joël Drogland, Les Carnets de Lazare Bertrand. Maire de Sens, otage de déporté a Neuen-gamme, Auxerre 1999.

26 MOL, Dossiers de Restauration École de Conde, Paris, ohne Signatur: Bertrand benutzte dünnes rotes, leicht liniertes Papier, etwas gröberes hellgelbes, raueres dunkleres und ins Orange-Bräunliche übergehendes Papier, Zahlungsscheine der Deutschen Ausrüstungs-werke, Velin-Papier (feines Pergament-Papier) sowie Papier mit Wasserzeichen.

27 MOL, N 3890.28 Ute Haug, Die Rückseite als historische Quelle, in: Uwe M. Schneede (Hrsg.), Parcours.

Die Rücken der Bilder, Hamburg 2004, S. 27–34; Costanza, Bilder, S. 162.

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Architekturzeichnungen hin zu Genreszenen oder auch Porträts, zu Darstellun-gen der verschiedenen Häftlingstypen. Auch Kapos oder andere Funktionshäft-linge werden in seinen Zeichnungen dargestellt. SS-Angehörige sind hingegen nur selten sein Motiv.29 Die Wahl der Sujets erklärte sich nicht zuletzt daraus, dass Bertrands Zeichnungen und die gewählten Motive von dem Radius, in dem er sich bewegen konnte und durfte, abhängig waren.

3. Die Latrine als Bildmotiv

Die überfüllten Baracken, das Warten und Anstehen bei der Ausgabe der Suppe gehören zu den wiederkehrenden Motiven, die sich auch schon in den Zeichnun-gen aus den Internierungslagern finden lassen, wie die Kunsthistorikerin Rosa-munde Neugebauer betont.30 Ein ähnlich häufiges Sujet sind die Latrinen, sowohl als Ort der Arbeit im Konzentrationslager wie auch als der Ort, an dem die

29 Im Zusammenhang mit der differenzierten Darstellung von SS-Angehörigen und Kapos vgl. Karsten Uhl, The Auschwitz Sketchbook, in: David Mickenberg u. a. (Hrsg.), The Last Expression. Art and Auschwitz, Evanston Ill. 2003, S. 95–101, hier S. 97 f.

30 Neugebauer, Zeichnen, S. 64.

Abb. 1: Félix Lazare Bertrand, La Vidange des Chiottes, 1. 8. 1944, Bleistift auf Papier, 10,6 cm x 15 cm. MOL, N 3891

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unwürdigen Bedingungen im Lager, die körperlichen Auswirkungen von Unter-ernährung, Hunger und Krankheiten, der Mangel an Intimität und Hygiene am deutlichsten vor Augen geführt werden.

Auf den 1. August 1944 ist die Zeichnung „La Vidange des Chiottes“31 datiert, Lazare Bertrand zeichnete das sogenannte Latrinenkommando (Abb. 1). Vier Häftlinge leeren die Latrine einer Baracke mit Eimern und schütten deren Inhalt in einen Jauchewagen. Auf dem Wagen steht die Zahl 4711. Aus einem Baracken-fenster schaut ein weiterer Häftling und macht eine Geste, als ob er sich die Nase zuhalte. Die Häftlinge sind jedoch ohne Gesichtszüge gezeichnet, sie gleichen sich in Kleidung und Statur. In der Skizzenhaftigkeit der Zeichnung aber stellt Bertrand detailliert verschiedene Arbeitsschritte und Aufgaben vor. Er zeichnet die Anlage der Latrinen und Details der Baracken mit dem geübten Auge eines Architekten und verdeutlicht darüber hinaus mit der Geste des Häftlings am Fenster auch den Gestank dieser Arbeit.

Das Latrinenkommando gehörte zu den Innenkommandos des Konzentrati-onslagers. Das Kommando wurde im KZ Neuengamme nach Aussagen mehrerer Überlebender „4711“ genannt, in zynischer Anlehnung an das bekannte Kölner Duftwasser.32 Das Arbeitskommando wurde vor allem mit Häftlingen besetzt, die einen niedrigeren Status in der Häftlingshierarchie innehatten. Während der Arbeitszeit waren diese Häftlinge vor der unmittelbaren Gewalt der SS jedoch etwas geschützter, da diese sich den stinkenden Latrinen und dem Kommando gewöhnlich nicht näherten.33

Das Motiv des Latrinenkommandos findet sich auch auf anderen Bildern wieder. Der Norweger Ragnar Sörensen zeichnete – vermutlich nach dem 15. März 1945 – im sogenannten Skandinavierlager im KZ Neuengamme in ein klei-nes Heft.34 In seiner Darstellung des Latrinenkommandos sind die Figuren mit wenigen Strichen dargestellt. Die Zahl 4711 ist deutlich sichtbar aufgezeichnet. Im Vordergrund sitzt ein Häftling auf einem Eimer. Hier wird die demütigende Situation der öffentlichen Toilette deutlich veranschaulicht. Der dänische Grenz-gendarm Hans Peter Sørensen veröffentlichte 1948 eine Mappe mit 20 Lithografi-

31 „Die Entleerung der Latrinen“.32 Zu Sprache und Sprechen im KZ vgl. Wolf Oschlies, „Lagerszpracha”, Zur Theorie einer

KZ-Spezifischen Soziolinguistik, in: Friedhelm Beiner (Hrsg.), Janusz Korczak. Zweites Wuppertaler Korczak-Kolloquium 1984. Korczak-Forschung und Rezeption, Wuppertal 1984, S. 260–287; Nicole Warmbold, Lagersprache. Zur Sprache der Opfer in den Konzen-trationslagern Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald, Bremen 2008.

33 Heinrich Christian Meier, Im Frühwind der Freiheit, Hamburg 1954, S. 166; Kaienburg, Vernichtung, S. 197.

34 Zu den Biografien von Ragnar Sörensen und Hans Peter Sørensen siehe Bruhns, Zeich-nung, S. 77–79, S. 305.

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en.35 Ein Blatt zeigt die schwere Arbeit des Latrinenkommandos. Sørensen kom-mentierte diese Arbeit in einer Bildunterschrift:

„Hier ist die Kolonne, die das Lager abfuhr, um die Latrinen zu leeren. Wenn man weiß, dass jede Woche Hunderte an Durchfall starben, ist klar, dass dieses Gewerbe gesundheitsgefährdend war.“36 Nach der Zwangsinternierung durch die Nationalsozialisten und angesichts der katastrophalen Zustände in den Konzen-trationslagern war die Motivation groß, diese Lebensbedingungen – und damit auch den Ort der Latrine – zu dokumentieren und zu kommentieren. Denn trotz der fehlenden Intimität, des Gestanks, der Krankheiten war die Latrine ein Ort im Lager, der als Versteck, als Ort des „Organisierens“ galt und in der Wahrneh-mung der Häftlinge eine mehrfache Bedeutung erhielt.37

4. Die sozial-kommunikative Funktion von Zeichnungen im Konzentrationslager

Zeichnen im Lager konnte mehrere Funktionen erfüllen. „Heimlich“ Zeichnun-gen zu fertigen, war zunächst ein individueller Akt, der als Strategie zum Über-Leben verstanden werden kann, in dem Sinne, dass Zeichnen als kulturelle Prak-tik auch zur Wiederherstellung menschlicher Würde beitragen konnte.38 Zumeist wussten nur wenige andere Bescheid, einzelne Mithäftlinge aus den Baracken oder aber von den Arbeitsstätten, aus denen Material besorgt wurde. Daher kann eine Zeichnung auch als ein „Sozialmedium“ bezeichnet werden.39 Die Kommu-nikation über Materialien oder das gemeinsam organisierte Verstecken der Bilder lassen sich als die zentralen sozialen Funktionen beschreiben. Darüber hinaus unterstützten Mithäftlinge die Bildproduzenten durch das Tauschen von Zeich-nungen gegen Lebensmittel wie Brot oder Zigaretten. So können die Zeichnun-gen, anders formuliert, als „Teil des sozialen Lebens in den Baracken“ verstanden werden.40

35 Die Originalskizzen sind verschollen; ebenda, S. 77.36 „Her er Holdet, som kørte rundt i Lejren og tømte W. C. erne. Naar man ved, at der døde

flere Hundrede i hver Uge af Dysenteri, er man klar over, at Hvervet var sundhedsfarligt“, zit. nach ebenda, S. 94.

37 Neugebauer, Zeichnen, S. 68–75.38 Diane Afoumado, La „Preuve pour après“ ou la résistance spirituelle de deux déportées

à Ravensbrück, in: Bulletin du Centre d’histoire de la France contemporaine 13 (1992), S. 75–86.

39 Hans Dieter Huber, „Draw a distinction.“ Ansätze zu einer Medientheorie der Handzeich-nung, in: Deutscher Künstlerbund e. V. (Hrsg.), zeichnen. Der deutsche Künstlerbund in Nürnberg 1996. 44. Jahresausstellung Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Berlin 1997, S. 8–21.

40 Rahe, Häftlingszeichnungen, S. 8.

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Auch bei Bertrand spielte die soziale und kommunikative Funktion der Zeichnungen eine große Rolle. Die Bilder, die Bertrand fertigte – die architek-tonischen Entwürfe für seine Mithäftlinge ebenso wie die Porträtzeichnungen von anderen Gefangenen, die er den Porträtierten dann überließ – waren Teil des sozialen Lebens in den Baracken. Porträts selbst haben verschiedene Funktionen für den Zeichner und die Dargestellten. Sie wurden im Lager als Zeichen von Dank, Zuwendung oder Sympathie verschenkt, gegen andere Dinge getauscht, aus dem Lager geschmuggelt, als dokumentierte Lebenszeichen im Sinne einer Fotografie gesehen, versteckt oder zur Aufbewahrung weitergegeben.

Die Zeichnung des US-amerikanischen Arztes Dr. Sumner Waldron Jack-son ist eines der wenigen Bilder, die Bertrand mit einem Namen versah und so einer konkreten Person zuordnete. Ein Häftling in ziviler Kleidung steht allein vor einer Baracke (Abb. 2). Er ist im Profil dargestellt und trägt eine mehrmals geflickte Hose mit einem großen roten Kreuz und einer Nummer „USA 3“ sowie eine dunkle Jacke, ebenfalls mit einem roten Strich markiert. Hinten an der Hose ist ein Hut befestigt. Das Haar ist kurz geschoren. Sein Blick richtet sich auf die Unterkunftsbaracken im Hintergrund. Dort sind mehrere Gruppen von Häftlin-gen hinter einem Zaun angedeutet, weitere arbeiten davor. In dieser Zeichnung stellt Lazare Bertrand den individuellen Häftling der nicht näher definierten

Abb.2: Félix Lazare Bertrand, 4. 8. 1944, Bleistift und roter Stift auf Papier, 16,5 cm x 22 cm. MOL, N 4184

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Gruppe von KZ-Häftlingen gegenüber. Auf der Rückseite des Blattes vermerkte er nachträglich:

„La [unleserlich] de Jackson m’avait paru tellement curieuse au point de vue vestimentaire que j’avais fait ce croquis qui dans mon esprit faisait un rap-prochement entre l’admirable figure de cet homme et son accoutrement. Ce n’est qu’un peu plus tard que j’ai connu Jackson […] et qu’il a signé le croquis. Jackson est mort dans le noyades de Lübeck seul son fils, que je n’ai pas connu au camp est revenu.“41

So lässt sich auch die schwungvolle Unterschrift neben dem Porträtierten genauer einordnen. Nachdem sie einander vorgestellt wurden, signierte Jackson die Zeich-nung und Lazare Bertrand ergänzte seinen Titel. Die soziale Interaktion der bei-den Personen hat sich somit in die Zeichnung eingeschrieben.42

Die Aussage Bertrands über die „Aufmachung“ Jacksons lässt sich mit Berich-ten anderer Überlebender vergleichen, die diese Einkleidung, vor allem mit mar-kierter Zivilkleidung, als eine „Verwandlung in einen Konzentrationär“ wahr-nahmen. Seit 1943 wurde im KZ Neuengamme zivile Kleidung ausgegeben und durch das Einnähen von Stoffresten wie auch das Auftragen von Strichen bzw. Kreuzen in gelber und roter Farbe als Häftlingskleidung gekennzeichnet.43 In den Beschreibungen Überlebender finden sich Vergleiche wie „Maskerade, Clown und Harlekin“.44 Anhand dieser Zeichnung und des nachträglichen Kommen-tars wird hier besonders deutlich, wie Lazare Bertrand arbeitete: Er zeichnete, was ihm im Laufe des Tages auffiel und was er beobachten konnte, vor allem die unterschiedlichen Typen der Häftlinge und ihre Kleidung. Durch das persönliche Kennenlernen konnte Bertrand die Zeichnung konkreter zuordnen, sodass sie

41 „Die […] von Jackson ist mir im Hinblick auf seine Kleidung sehr merkwürdig vorgekom-men, deshalb machte ich diese Zeichnung, die in meinem Verständnis eine Beziehung zwischen der bewundernswerten Figur dieses Mannes und seiner Aufmachung herstellt. Etwas später habe ich dann Jackson kennengelernt […], und er hat die Zeichnung signiert. Jackson ist im Unglück von Lübeck umgekommen, nur sein Sohn, den ich nicht kennen-lernte im Lager, kehrte zurück.“

42 Dr. Sumner Waldron Jackson, geb. 7. 10. 1885 in Spruce Head, USA. Jackson war gemein-sam mit seiner französischen Ehefrau Toquette Mitglied der Résistance. Jackson ertrank am 3. 5. 1945 bei der Bombardierung der „Cap Arcona“ in der Neustädter Bucht. Zur Biografie Jacksons vgl. Hal Vaughn, Doctor to the Resistance. The Heroic true story of an american surgeon and his family in occupied Paris, Dulles, Virginia 2004.

43 Kaienburg, Vernichtung, S. 357–361.44 Bärbel Schmidt, Geschichte und Symbolik der gestreiften KZ-Häftlingskleidung. Phil.

Diss., Universität Oldenburg, Oldenburg 2000, S. 132–136, www.bis.uni-oldenburg.de/dissertation/2000/schges00/schges00.html (Zugriff am 30. 12. 2005).

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nun als Porträt einer bestimmten Person in ihrer Umgebung fungierte.45 Durch die Erläuterungen Bertrands wird ebenso deutlich, dass er bei einem Teil seiner Zeichnungen eine nachträgliche Verortung der Szenen vornahm und darüber hinaus den historischen Kontext kommentieren wollte. Sein Tagebuch schrieb er nach seiner Rückkehr ab und erklärte verschiedene Aussagen.46 Auch seine Zeichnungen kommentierte er mit „exact“47 oder „Sur le vif et absolument exact pour les acteurs“.48 Als subjektive Repräsentationen des Erlebten und Gesehenen schienen die Zeichnungen für Lazare Bertrand angreifbar zu sein.49 Der Kom-mentar des zweiten Bildbeispiels zielte neben der Bestätigung der Genauigkeit noch auf einen anderen Aspekt: Bertrand verwies darauf, dass die Kleidung nicht zum Habitus der Person Jacksons gepasst habe. Bertrands soziale Disposition und seine kulturelle Identität spiegelten sich hier wider.50

5. „Die Rezeption verändert das Faktum.“51 – Verwendungsweisen

der Zeichnungen

Nicht nur Bertrand veränderte seine Zeichnungen, auch andere verwendeten diese weiter. Anlässlich der Einweihung des Mahnmals der Gedenkstätte des KZ Neuengamme bei Hamburg am 7. November 1965 veröffentlichte die „Vereinigte Arbeitsgemeinschaft der Verfolgtenverbände“ (VAN Hamburg) eine Postkar-tenserie mit Schwarz-Weiß-Abbildungen. Unter den Motiven befindet sich auch ein Aquarell, das unter anderem das Krematorium des KZ Neuengamme dar-stellt. Rückseitig ist vermerkt, das es sich hierbei um eine „im Lager illegal ange-fertigte Zeichnung eines dort inhaftierten französischen Künstlers“ handle.52 Abgebildet war dort jedoch ein Aquarell, das der bereits erwähnte Ernest Gail-lard im Jahr 1964 auf eine Fotoreproduktion einer Zeichnung Bertrands gemalt hatte. Die Zeichnung, die dem Bild zugrunde liegt, hatte Félix Lazare Bertrand im Dezember 1944 heimlich im KZ Neuengamme gefertigt, sie zeigt das Häft-

45 Vgl. den Tagebucheintrag von Bertrand vom 10. 8. 1944, in: Drogland, Carnets, S. 44.46 MRD, Journal Lazare Bertrand.47 MOL, N 4197.48 MOL, N 4200. „Nach dem Leben und absolut exakt wie die Akteure“.49 Vgl. Ziva Amishai-Maisels, The Complexities of Witnessing, in: Holocaust and Genocide

Studies 2 (1987), S. 123–147, hier S. 142.50 Vgl. Maja Suderland, Territorien des Selbst. Kulturelle Identität als Ressource für das täg-

liche Überleben im Konzentrationslager, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 15–43.51 Ruth Klüger, Missbrauch der Erinnerung. KZ-Kitsch, in: dies., Von hoher und niedriger

Literatur, Göttingen 1995, S. 29–44, hier S. 41.52 Vereinigte Arbeitsgemeinschaft der Verfolgtenverbände (Hrsg.), Postkarten-Serie zur

Einweihung der Gedenkstätte Neuengamme am 7. November 1965, Hamburg 1965.

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lingsbordell, einen Wachturm, den Lagerzaun sowie das Krematorium. Sowohl das Häftlingsbordell als auch das Krematorium waren im KZ „verbotene“ Orte; eine visuelle Darstellung barg ein großes Risiko. Bertrand betiteltete die Zeich-nung mit „Mirador, Crematoire et … ‚Maison‘ … 19. 12. 44“.

Ernest Gaillard nutze eine Fotoreproduktion dieser Zeichnung und über-malte sie (Abb. 3). Links sieht man die Baracke des KZ-Bordells, rechts hinter dem Zaun sind die Baracken des Industriehofs angedeutet. Die Farbgebung wird hier von Grün- und Rottönen dominiert; der Rauch, der aus dem Schornstein des Krematoriums aufsteigt, wird betont.

Gaillard schickte das Bild am 3. September 1964 an den deutschen Häft-lingsverband des KZ Neuengamme – die Arbeitsgemeinschaft Neuengamme: „Pour mes camerades Neuengamme. Fraternellement Gaillard. K.L.N. 23279. Le Crématoire et le Pouff …“53 In einem Antwortbrief an ihn heißt es: „Mit Deiner Erlaubnis haben wir von dem Bild, das Du dem Internationalen Comité über-mittelt hast, das das Krematorium von Neuengamme zeigt und uns an den Tod

53 ANg, HSN, ohne Signatur: Ernest Gaillard, 1964, Ölfarbe auf Fotopapier, 19,1 cm x 25 cm.

Abb. 3: Félix Lazare Bertrand, 19. 12. 1944, Bleistift auf Papier, 19,6 cm x 21,9 cm. MOL, N 3885

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zehntausender Kameraden erinnert, eine Reproduktion machen lassen.“54 Das Krematorium wurde als das zentrale Sujet wahrgenommen, alles andere wie z. B. das Lagerbordell ausgeblendet. Auch die Vorlage, die Zeichnung Bertrands selbst, spielte in diesem Falle keine Rolle. Das bedeutet weiterhin, dass die Zeichnungen nicht unbedingt an ihre Produzentinnen und Produzenten gebunden sind, son-dern auch unabhängig von ihnen Bedeutung erhalten können.

Der Ort des Krematoriums war zentral für die Memorialkultur des KZ Neuengamme, der „Ausgangspunkt jeglichen Kampfes um Gedenken“, wie der Architekturhistoriker Andreas Ehresmann resümiert.55 Im visuellen Gedächtnis des KZ Neuengamme spielen die Fotografien und Zeichnungen des Kremato-riums eine große Rolle. Das Aquarell Gaillards wurde seit 1965, anders als die Zeichnung Bertrands, mehrfach reproduziert und gezeigt, sowohl in Farbe als auch schwarz-weiß, im Quer- oder Hochformat, in einer der ersten Ausstellungen sowie in mehreren Publikationen und Broschüren über das KZ Neuengamme. Je nach Ort der Veröffentlichung wurde die Bildunterschrift dabei weggelassen.

6. Resümee

Viele der Zeichnungen Félix Lazare Bertrands sind Bestandteil des visuellen Gedächtnisses des KZ Neuengamme. Eine Auseinandersetzung mit diesen Zeich-nungen erfordert eine multiperspektivische Herangehensweise. Die unterschied-lichen Kontexte, Entstehungsbedingungen und biografischen Vorraussetzungen sind trotz ähnlicher Sujets zu berücksichtigen. In einer Analyse geht es nicht darum, eine „KZ-Wirklichkeit“ zu rekonstruieren, sondern die verschiedenen Perspektiven von Häftlingen auf sich selbst und andere und ihre Beobachtungen des KZ-Alltags herauszuarbeiten.

Für Lazare Bertrand selbst bedeutete das Zeichnen spätestens ab Herbst 1944 auch eine Strategie, mit dem Hunger und der Isolation seiner Gefangenschaft als Geiselhäftling umzugehen. Zeichnen gehörte für ihn schon vor der Verhaftung zu seiner kulturellen Identität, zu seiner Form der Verarbeitung und Repräsen-tation von Erfahrungen und Erlebnissen. Als ausgebildeter Architekt konnte er die bauliche Struktur des Lagers präzise erfassen.56 Zentraler Bestandteil seiner

54 ANg, HSN 13-8-7: Brief der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme an Ernest Gaillard vom 8. 9. 1964.

55 Andreas Ehresmann, Die Krematorien des KZ Neuengamme. Genese, Rezeption und Memorialkultur, in: Janine Doerry u. a. (Hrsg.), NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden. Geschichte und Erinnerung, Paderborn 2008, S. 193–207, hier S. 205.

56 Vgl. die Aussage von M. Domèce vom 21. 9. 1995, in: Drogland, Carnets, S.12.

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Zeichnungen sind die Kommentare und Titel. Sie verweisen auf die Auseinan-dersetzung Bertrands mit seinen Zeichnungen und einer erwarteten Rezeption durch andere. Seine Zeichnungen wurden seit Ende der 1960er-Jahre durchaus reproduziert und in verschiedenen Kontexten präsentiert. Interessant ist jedoch, dass die Person Lazare Bertrand dabei kaum thematisiert wurde. Daher weisen die Zeichnungen nicht immer nur auf ihre Produzenten und Produzentinnen hin, sondern auch auf die erinnerungskulturellen Kontexte.

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