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5!cuc 3ürd)cr ^citmtft WOCHENENDE Samstag Sonntag, M. 25. Mai 1975 Kr. 117 65 Virgolino Ferreira da Silva, der als *Lampläo>; berühmt wurde. Lämpläb ah Statue im Völkerkundliche/i Museum von fortaleza. Ein Forträt des Räubers Lampiäo Von Hugo Loetscher Man entgeht ihm nicht. Er hat als Keramikfigur seinen festen Platz in den Verkaufsständen neben Wundertätern, Heiligen und Volkstypen. Man begegnet ihm auf Mosaiken und Malereien öffentlicher Gebäude. In jedem Museum stösst man auf eine Darstellung von ihm. Sein Leben bietet einen der beliebtesten Zyklen der Holzschnittkünstler. Er kommt vor allem aber in den Liedern der Bänkelsänger vor. Schon zu seinen Lebzeiten haben sie seine Taten, die in erster Linie Untaten waren, besungen. Was heute als Ballade und zu Musik auf den Marktplätzen zu hören ist, berichtet aber nicht nur von seinem Leben, sondern auch von dem. was nach seinem Tod geschah: Petrus liess ihn nicht in den Himmel. Aber auch de r Teufel wies ihn ab, aus Angst, die Hölle konnte durcheinanderkommen; auch die Drohung des Abgewiesenen, er zünde die Hölle an. fruchtete nichts. So kehrte Lampiäo in jenen brasilianischen Nord- osten zurück, wo er einst als einer der berühmtesten Cangaceiros lebte und wo er eine sichere Unterkunft in der Volksphantasie gefunden hat. Nach wie vor sucht er das Land heim, aber jetzt als Legende. Bald vierzig Jahre nach seinem Tod ist er populärer denn je. Wo immer von diesem brasilianischen Nordosten gesprochen wird, fällt sein Name. Das heisst nicht, dass sein Ruhm regional be- schränkt wäre. Bereits zu seinen Lebzeiten hat nicht nur die brasilianische Sensationspresse ausführlich über ihn berichtet, sondern auch die von Europa und Nordamerika. Doch hat er längst die Rubrik von «Unglücksfällen und Verbrechen» ge- sprfigt. Fast jedes Jahr erscheint in Brasilien eine Publikation, die ron ihm oder mindestens von seiner Welt handelt. Er ist ein ergiebiges Thema d e r Soziologie und der Volkskunde geworden. Auch die «gebildete» Literatur hat sich seiner angenommen; die Schriftstellerin Raquel de Queiroz hat sein Schicksal zu einem Bühnenstück verarbeitet. Für die breite Popularität aber sorgt nach wie vor das Kino. Für das brasilianische Kino ist de r Nord- osten so dankbar wie der Wilde Westen für die USA, und zu den Helden dieses Wilden Nordostens gehört unabdingbar Lampiäo. Ueber Brasilien hinaus hat ihn Lima Bareto mit dem Film «Cangaceiro» bekannt gemacht; Lampiäo diente als Vorlage für diesen zum Teil recht gefällig-sentimentalen Film. Aber auch wo der «cinema novo» den Nordosten darstellte, war Lampiäo immer in irgendeiner Weise präsent. Die Legende ist da. und damit auch das Bedürfnis, diese Legende zu entmystifizieren. Aber Lampiäo, de r zwanzig Jahre seinen Verfolgern trotzte, trotzt heute noch immer denen, die sich mit ihm abgeben. Schon über die Bedeutung seines Ni'niens gibt es die ver- schiedensten Versionen, abgesehen davon, dass sich sein Name sowohl Lamp/äo wie Lampcäo schreibt. Geboren wurde er als Virgolino Ferreira da Silva 1898 in Floresta do Navio im Staate Pernambuco. «Lampiäo» bedeutet eine grosse Laterne, wie man sie in der J-Iand tragen kann oder wie man sie auf einem Dach oder an einer Mauer findet. Aber das Wort darf in unserem Zu- I sammenhang nicht so verstanden werden, als wäre der Namens- träger eine Leuchte gewesen, die andern den Weg im Dunkeln wies. Er war vielmehr eine Laterne, die ins Dunkel führte. Wenn dieser Virgolino Ferreira zu diesm Ucbernamen kam. dann hat das in erster Linie mit jenem Licht zu tun, das aufblitzt, wenn geschossen wird. Und im Schiessen war Lampiäo eine grosse Leuchte. Angesichts all des Interesses, das Lampiäo heute entgegen- gebracht wird, überrascht es, dass es noch keine wissenschaftliche Biographie gibt, obwohl das Verzeichnis der Veröffentlichungen über ihn Seiten füllt. Dafür häufen sich immer mehr die Aus- sagen, die auf direkte Erinnerung pochen und für sich Authentizi- tät beanspruchen. Das ist nicht zuletzt deswegen möglich, weil sich dieses Leben notgedrungen im Halbdunkel abspielte und das Ver- steckspiel unerlässlich zum Lebensstil gehörte: So galt es seit langem als erwiesen, dass Lampiäo am 28. Juli 1938 im Staate Sergipe bei einem Schusswechsel mit der Polizei fiel, zusammen mit seiner Lebensgefährtin und einigen Kampf- genossen. Erst vor kurzem aber machte sich ein einstiger Beicht- vater von Lampiäo daran, einmal mehr das Geheimnis über seinen Tod endgültig zu lüften. Lampiäo sei nicht im Kampf durch eine Kugel gefallen, sondern durch Verrat, indem er vergiftet worden sei. Das entspricht eher einem Manne, der, sechsmal schwer ver- wundet, immer wieder davonkam, de r als unbesiegbar galt und dem man übermenschliche Kräfte zugesprochen hat. Nun liefert Lampiäo selber die besten Voraussetzungen für die widersprüchlichsten Aussagen und Interpretationen: Lampiäo. der Kriminelle, der soziale Bandit, de r Rächer, der Volksheld, der kaltblütige Mörder und Sadist, de r musische Volkskünstler, der politische Rebell, ein Guerillero avant la lettre. Alles ist möglich, alles liegt drin. Aufgehen tut die Figur nicht. Die Mystifikation beginnt schon damit, wie man den Eintritt Lunipiäos in den Cangac,o darstellt. «Canga?o>;. so heisst das Banditenwesen im brasilianischen Nordosten, wie es sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts immer stärker herausgebildet hat und dessen Bedrohung erst vor dem Zweiten Weltkrieg einiger- massen Einhalt geboten werden konnte. «Cangaceiro» ist ein Mann, der sich dem Cangaco verschreibt, einem Leben, das sich zum grossen Teil in jener Einsamkeit abspielt, die Schutz bietet, ein abenteuernder Nomade, manchmal auf sich allein gestellt, oft ein Brüderpaar, dann in kleiner oder grösserer Gruppe auf- tretend. Lampiäo zum Beispiel befehligte zeitweise bis zu hun- dertfünfzig Mann. Für diesen Cangaco liefert schon die Natur die beste n Voraus- setzungen. Es gibt ein Hinterland, das heute noch kaum er- Neue Zürcher Zeitung vom 24.05.1975

Forträt des Räubers LampiäoVolkstypen. Man begegnet ihm auf Mosaiken und Malereien öffentlicher Gebäude. In jedem Museum stösst man auf eine Darstellung von ihm. Sein Leben bietet

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Page 1: Forträt des Räubers LampiäoVolkstypen. Man begegnet ihm auf Mosaiken und Malereien öffentlicher Gebäude. In jedem Museum stösst man auf eine Darstellung von ihm. Sein Leben bietet

5!cuc 3ürd)cr^citmtft WOCHENENDE Samstag Sonntag, M. 25. Mai 1975 Kr. 117 65

Virgolino Ferreira da Silva, der als *Lampläo>; berühmt wurde. Lämpläb ah Statue im Völkerkundliche/i Museum von fortaleza.

Ein Forträt des Räubers LampiäoVon Hugo Loetscher

Man entgeht ihm nicht. Er hat als Keramikfigur seinen festenPlatz in den Verkaufsständen neben Wundertätern, Heiligen undVolkstypen. Man begegnet ihm auf Mosaiken und Malereienöffentlicher Gebäude. In jedem Museum stösst man auf eineDarstellung von ihm. Sein Leben bietet einen der beliebtestenZyklen der Holzschnittkünstler. Er kommt vor allem aber in denLiedern der Bänkelsänger vor. Schon zu seinen Lebzeiten habensie seine Taten, die in erster Linie Untaten waren, besungen. Washeute als Ballade und zu Musik auf den Marktplätzen zu hörenist, berichtet aber nicht nur von seinem Leben, sondern auch vondem. was nach seinem Tod geschah:

Petrus liess ihn nicht in den Himmel. Aber auch d er Teufelwies ihn ab, aus Angst, die Hölle konnte durcheinanderkommen;

auch die Drohung des Abgewiesenen, er zünde die Hölle an.fruchtete nichts. So kehrte Lampiäo in jenen brasilianischen Nord-osten zurück, wo er einst als einer der berühmtesten Cangaceiros

lebte und wo er eine sichere Unterkunft in der Volksphantasiegefunden hat. Nach wie vor sucht er das Land heim, aber jetzt

als Legende.

Bald vierzig Jahre nach seinem Tod ist er populärer denn je.

Wo immer von diesem brasilianischen Nordosten gesprochen wird,

fällt sein Name. Das heisst nicht, dass sein Ruhm regional be-

schränkt wäre. Bereits zu seinen Lebzeiten hat nicht nur diebrasilianische Sensationspresse ausführlich über ihn berichtet,

sondern auch die von Europa und Nordamerika. Doch hat erlängst die Rubrik von «Unglücksfällen und Verbrechen» ge-

sprfigt. Fast jedes Jahr erscheint in Brasilien eine Publikation,

die ron ihm oder mindestens von seiner Welt handelt. Er ist einergiebiges Thema d er Soziologie und der Volkskunde geworden.

Auch die «gebildete» Literatur hat sich seiner angenommen; die

Schriftstellerin Raquel de Queiroz hat sein Schicksal zu einemBühnenstück verarbeitet. Für die breite Popularität aber sorgt

nach wie vor das Kino. Für das brasilianische Kino ist d er Nord-osten so dankbar wie der Wilde Westen für die USA, und zu denHelden dieses Wilden Nordostens gehört unabdingbar Lampiäo.

Ueber Brasilien hinaus hat ihn Lima Bareto mit dem Film«Cangaceiro» bekannt gemacht; Lampiäo diente als Vorlage fürdiesen zum Teil recht gefällig-sentimentalen Film. Aber auch woder «cinema novo» den Nordosten darstellte, war Lampiäo immerin irgendeiner Weise präsent.

Die Legende ist da. und damit auch das Bedürfnis, dieseLegende zu entmystifizieren. Aber Lampiäo, d er zwanzig Jahreseinen Verfolgern trotzte, trotzt heute noch immer denen, diesich mit ihm abgeben.

Schon über die Bedeutung seines Ni'niens gibt es die ver-schiedensten Versionen, abgesehen davon, dass sich sein Namesowohl Lamp/äo wie Lampcäo schreibt. Geboren wurde er alsVirgolino Ferreira da Silva 1898 in Floresta do Navio im StaatePernambuco. «Lampiäo» bedeutet eine grosse Laterne, wie mansie in der J-Iand tragen kann oder wie man sie auf einem Dachoder an einer Mauer findet. Aber das Wort darf in unserem Zu-

Isammenhang nicht so verstanden werden, als wäre der Namens-träger eine Leuchte gewesen, die andern den Weg im Dunkeln wies.

Er war vielmehr eine Laterne, die ins Dunkel führte. Wenn dieserVirgolino Ferreira zu diesm Ucbernamen kam. dann hat das in

erster Linie mit jenem Licht zu tun, das aufblitzt, wenn geschossen

wird. Und im Schiessen war Lampiäo eine grosse Leuchte.Angesichts all des Interesses, das Lampiäo heute entgegen-

gebracht wird, überrascht es, dass es noch keine wissenschaftlicheBiographie gibt, obwohl das Verzeichnis der Veröffentlichungen

über ihn Seiten füllt. Dafür häufen sich immer mehr die Aus-sagen, die auf direkte Erinnerung pochen und für sich Authentizi-tät beanspruchen. Das ist nicht zuletzt deswegen möglich, weil sichdieses Leben notgedrungen im Halbdunkel abspielte und das Ver-steckspiel unerlässlich zum Lebensstil gehörte:

So galt es seit langem als erwiesen, dass Lampiäo am 28. Juli1938 im Staate Sergipe bei einem Schusswechsel mit der Polizeifiel, zusammen mit seiner Lebensgefährtin und einigen Kampf-genossen. Erst vor kurzem aber machte sich ein einstiger Beicht-vater von Lampiäo daran, einmal mehr das Geheimnis über seinenTod endgültig zu lüften. Lampiäo sei nicht im Kampf durch eineKugel gefallen, sondern durch Verrat, indem er vergiftet wordensei. Das entspricht eher einem Manne, der, sechsmal schwer ver-wundet, immer wieder davonkam, d er als unbesiegbar galt unddem man übermenschliche Kräfte zugesprochen hat.

Nun liefert Lampiäo selber die besten Voraussetzungen für diewidersprüchlichsten Aussagen und Interpretationen: Lampiäo. derKriminelle, der soziale Bandit, d er Rächer, der Volksheld, derkaltblütige Mörder und Sadist, d er musische Volkskünstler, derpolitische Rebell, ein Guerillero avant la lettre.

Alles ist möglich, alles liegt drin. Aufgehen tut die Figur nicht.Die Mystifikation beginnt schon damit, wie man den EintrittLunipiäos in den Cangac,o darstellt. «Canga?o>;. so heisst das

Banditenwesen im brasilianischen Nordosten, wie es sich seitMitte des letzten Jahrhunderts immer stärker herausgebildet hatund dessen Bedrohung erst vor dem Zweiten Weltkrieg einiger-

massen Einhalt geboten werden konnte. «Cangaceiro» ist einMann, der sich dem Cangaco verschreibt, einem Leben, das sichzum grossen Teil in jener Einsamkeit abspielt, die Schutz bietet,

ein abenteuernder Nomade, manchmal auf sich allein gestellt, oftein Brüderpaar, dann in kleiner oder grösserer Gruppe auf-tretend. Lampiäo zum Beispiel befehligte zeitweise bis zu hun-dertfünfzig Mann.

Für diesen Cangaco liefert schon die Natur die bes ten Voraus-setzungen. Es gibt ein Hinterland, das heute noch kaum er-

Neue Zürcher Zeitung vom 24.05.1975

Page 2: Forträt des Räubers LampiäoVolkstypen. Man begegnet ihm auf Mosaiken und Malereien öffentlicher Gebäude. In jedem Museum stösst man auf eine Darstellung von ihm. Sein Leben bietet

66 Samstag 'Sonntag, 24. 25. Mai ;975 Nr. 117 WOCHENENDE äfcuc <;3ürdjcr<;3cüunq

i-

Ein Journalist begrüsst Lampions Leute, tiic nicht unfern für die Presse posieren. Maria Bonila, die Lebensgefährtin von Lainpiüo.

schlossen ist. Das Fehlen von Infrastruktur ermöglicht das Katz-und-Maus-SpicI mit d er Polizei und dem eingesetzten Militär.Lampiäo war ein vorzüglicher Kenner der Topographie diesesHinterlandes, zudem erstreckt sich dieses über mehrere Bundes-staaten, von Ccara bis Bahia Zuweilen waren Polizeitruppen vonsechs bis zehn Bundesstaaten gleichzeitig unterwegs, um Lampiäoeinzufangen.

Dieser Lampiäo war ja nur einer unter vielen. Der Cangac.o

hat seine Tradition. Ihm vorangegangen ist «Jesuino Brilhante».das «leuchtende Jesulein»; er gilt unter den Cangaceiros als Ro-mantiker. Lampiäo vorangegangen ist auch ein Antonio Silvinound die Brüder Braz, um nur diese zu nennen. Aber keiner, wedervor ihm noch neben ihm, hat es zu solchem Ansehen gebracht wieLampiäo. Nicht nur weil dieser selber auf Publizität aus war.Was der Polizei und den Militärs nicht gelang, gelang manchemJournalisten: ins Versteck von Lampiäo vorzudringen, zum «Königdes Cangaco».

Nun ist seine Bilanz auch respektabel. Er hat im Verlauf seinerzwanzigjährigen Tätigkeit an die achthundert Mann verloren, seies, dass sie fielen oder dass sie in Gefangenschaft gerieten. Erhat nicht nur einen grossen Verband geleitet, sondern er hatte sichauch um die Frauen seiner Cangaceiros zu kümmern und umderen Kinder. Es brauchte ein enormes Organisationstalent undein strategisches Können, um stets mobil zu bleiben. Nun hatte er.der wegen eines beschädigten Auges eine Brille trug, nicht nurvom Auftreten h er etwas von einem Intellektuellen, sondern errationalisierte den Cangac.0, wie dies bis anhin nicht d er Fall ge-

wesen war. Seine Finten schon brachten ihm Bewunderung ein.Ganz abgesehen davon, dass es hiess, die Truppen, die gegen ihneingesetzt wurden, seien gar nicht so sehr darauf versessen ge-wesen, ihn einzufangen, nicht nur weil sie die Konfrontationfürchteten, sondern weil sie für die Verfolgung ein beachtlichesTaggeld bezogen.

Für jene, welche in Lampiäo den grossen Racher schen, be-ginnt seine Karriere mit einem Modellfall: Sein Vater wurde ineiner blutigen Fehde mit einer verfeindeten Familie ermordet.

Einer, der sich noch an Lampiäo erinnert: « ... er strich mir übersHaar und machte mir auf die S t i rn das Kreuzzeichen.»

Der betroffenen Familie der Ferreira widerfuhr keine Genug-tuung. Der Tod des Vaters blieb ungesühnt, daher machten sichseine Söhne daran, diesen Tod zu rachen. Zu denen, welcheLampiäo befehligte, gehörten auch seine Brüder.

Als Episode besitzt dieses Ereignis höchste Glaubwürdigkeit.Der brasilianische Nordosten hat mit seinen feudalen und halb-feudalen Verhältnissen im Hinterland seine eigenen Vorstellungenvon Recht und Gerechtigkeit geschaffen. Die Gesellschaftsstrukturwurde durch die «coronels», die «Obersten», bestimmt. So hiessendie Grossgrundbesitzer, die gewöhnlich auch noch eine politischeFunktion ausübten. Es kumulierten wirtschaftliche und politische

Macht. Zudem unterhielten die meisten Privatarmeen, mit denensie die Konflikte in ihrem Sinne lösten. Diese Obersten regierten

autonom. Erst in den dreissiger Jahren gelang es d er brasiliani-schen Zentralregierung, diese Klein-Diktatoren einigermassen ein-zudämmen und auszuschalten.

Innerhalb solcher Verhältnisse sind Figuren, welche selber fürihr Recht sorgen, eine Selbstverständlichkeit. In der Hinsichtverlockt es denn auch, in Lampiäo einen Michael Kohlhaas desbrasilianischen Nordostens zu sehen, der Recht bricht, um zuseinem Recht zu kommen. Aber das sind Vorstellungen, denen einpaar Fakten im Wege stehen. Zunächst einmal die Tatsache, dasser bereits mit siebzehn seinen ersten Mord hinter sich hatte, erwar kriminell, ehe sein Vater umkam.

Das Bild vom rächenden Sohn, d er in die Gewalt getriebenwird, ist zumindest ein wenig frisiert. Es ist nicht einfach so,

dass es sich bei dem jungen Virgolino Ferreira um jemand han-delte, der den üblichen Weg eines «vaqueiro» einschlagen wollte,eines «Kuhhirten», wie er als Typ zum brasilianischen Nordostengehört. Dort bestimmt der «boi» das «Rindvieh», die Lebensweise.Nicht zufällig hat man für diese Region den Begriff d er «Zivili-sation des Leders» erfunden, weil das Leder lange Zeit das wich-tigste Material abgab, nicht nur für die Kleider, sondern auch fürMöbel und Gebrauchsgegenstände. Zu diesem Vaqueiro gehört

d er runde Lederhut mit dem Rand zum Aufkrempeln, wie ihnauch die Cangaceiros trugen. Das ist kein zufälliges Insignum.

Man trägt die Kleidung des Volkes und macht aus ihr die Uniformd er Rebellion.

So entstand das Bild des sozialen Rächers. Auch wenn dieprivate Motivation nicht ausreicht: man sah in ihm einen, der dieSache des Volkes vertrat, der in einer Welt der Gewalt zur Gewaltgreift.

Aber so einfach geht auch diese Vorstellung nicht auf. dassLampiäo ein Mann war, d er den Reichen nahm und den Armengab. Dass er den Reichen nahm, trifft zu; es liegt aber auch aufder Hand, dass er in erster Linie dort etwas holte, wo etwas zuholen war. Und so viele derartige Orte gab es in diesem brasilia-nischen Nordosten nicht, d er noch heute mit seiner Unterernäh-rung, seinem Analphabetismus und seiner Arbeitslosigkeit einNotstandsgebiet darstellt.

Den spektakulärsten Uebcrfall inszenierte Lampiäo 1922, alser im Staate Alagoas der Baronin Agua Branca Schmuck in un-schätzbarem Wert raubte das konnte man als eine Art Rache

Bis zu hunden fünfzig Leute machten Lamp.äos Gefolge am. L'iiic der seltenen Photos, die die Canguceiros hoch zu Ros\ zeigt.

Neue Zürcher Zeitung vom 24.05.1975

Page 3: Forträt des Räubers LampiäoVolkstypen. Man begegnet ihm auf Mosaiken und Malereien öffentlicher Gebäude. In jedem Museum stösst man auf eine Darstellung von ihm. Sein Leben bietet

Gleite <;3ürdjcr 3cihmj\ WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 24725. Mai 1075 Nr. 117 67

des Volkshelden an einer der Repräsentantinnen der besitzendenSchicht verstehen. Aber längst nicht alle Grossgrundbesitzer zit-terten vor Lampiäo. Es gab einige, die waren bereit, regelmässigeZahlungen zu leisten. Dafür erhielten sie einen Pass, d er sie voiUcberfällcn schützen sollte. Lampiäo rühmte sich dieser Gross-grundbesitzer und machte sich einige von ihnen zu seinen Ver-bündeten. Diese wiederum konnten oft genug seine Dienste inAnspruch nähmen; sie boter dafür nicht nur Unterschlupf, son-dern sie dienten auch als Informanten bei bevorstehenden Polizci-odcr Militäraktionen.

Es mussten aber auch nicht nur Grossgrundbesitzer, sondernauch das einfache Volk vor Lampiäo zittern. Ganze Dörfer undKleinstädte leerten sich, wenn man hörte, Lampiäo sei im Anzug.Die Frauen, die von seinen Leuten vergewaltigt wurden, gehörtenzu allen Volksschichten. Wer Widerstand leistete, wurde kastriert,gefoltert oder umgebracht, unabhängig von sozialer Herkunft.Wo Lampiäo durchzog, gab es Spuren, und seien es nur die Nar-ben der glühenden Eisen, mit denen Gesichter markiert wurden.

Aber seine Brutalität wurde nicht zuletzt durch die Grausam-keit seiner Verfolger wieder wettgemacht. Die Polizei und dieMilitärs, welche ihn verfolgten, erwiesen sich als nicht mindergrausam und von einer Willkür, die derjenigen Lampiäos nichtnachstand. Es gibt Berichte, wonach sich die Bevölkerung derbetroffenen Gebiete mehr vor den Polizei- und Militärtruppenfürchtete als vor den Leuten Lampiäos.

Wie grausam und blutrünstig die Verfolger sein konnten, be-wiesen sie nach dem Tode von Lampiäo: ihm, seiner Lebens-gefährtin, seinen Kindern und Kampfgefährten wurden die Köpfeabgeschnitten. Diese Köpfe wurden öffentlich ausgestellt, dra-piert und mit den Insignien und Waffen geschmückt. Es entstan-den Postkarten davon, welche zum Bestseller wurden. Bis vor einpaar Jahren konnte man im Gerichtsmedizinischen Institut vonBahia die Köpfe von Lampiäo, seiner Maria Bonita und andererCangacciros im Sprit bewundern, bis sie als Ausstellungsobjektezurückgezogen wurden.

Der Kampf zwischen Lampiäo und seinen Cangacciros auf dereinen Seite und der Polizei und den Militärs auf d er andern

war für viele nicht eine Auseinandersetzung zwischen Legalitätund Ungesetzlichkeit, zwischen Recht und Unrecht, sondern einKampf zwischen zwei Formen von Gewalttätigkeit, wobei dieGewalttätigkeit auf seiten der Legalisten nicht de facto schreck-licher war, sondern weil sie sich als etablierte Gewalttätigkeit gab.

Von da aus ist letzten Endes zu verstehen, dass Lampiäo trotzallen Brutalitäten und Grausamkeiten zu einem Helden des Volkeswerden konnte. Er selber hat diesen Mythos unterstützt. Er liebtees, bei seinen überraschenden Auftritten mit den Kindern zureden und sie auf den Arm zu nehmen. Es gibt kaum einen Dik-tator, der sich nicht gerne kinderfreundlich zeigt. Nicht Geld ver-teilte Lampiäo, sondern Gesten: er fuhr einem Kind übers Haarund machte auf seine Stirne ein Kreuzzeichen.

Denn dieser Mann war fromm. Jeden Sonntag verrichtete ersein Gebet vor dem Heiligenbild, das er stets mit sich führte. Erüberfiel nicht nur Höfe und Dörfer, sondern er organisierte grosseFeste in seinen Verstecken. Er stürzte sich mit seinen Leuten nichtnur singend und Tierstimmen nachahmend in den Kampf, sonderner spielte leidenschaftlich gern Musikinstrumente. Er, der nurdrei Monate in die Schule gegangen war, las gerne, er dichtete, erleistete seinen Beitrag zu jener Volksliteratur, deren Held er einesTages werden sollte. Man erzählt sich auch, wie er als «Hebamme»tätig war, wenn eine der Frauen niederkam.

In der zeitlichen Distanz rückt die Grausamkeit, die sich einsolcher Mann geleistet hat, immer mehr in den Hintergrund, undim Gedächtnis bleibt eine Figur, bei welcher man nur noch dieGeste d er Rebellion und der Auflehnung sieht, den Kampf gegenein System, das unmenschlich war, aber gegen das mit unmensch-lichen Mitteln angetreten wurde.

Wir haben gelernt, eine solche Figur nicht für sich allein zunehmen, sondern sie aus ihrem gesellschaftlich-historischen Kon-nex heraus zu verstehen. Wichtiger als die persönlichen oderpsychologischen Motivationen sind in dem Zusammenhang dieWirkungen, welche eine solche Gestalt ausübt. Denn mit ihr lässtsich eine unterentwickelte Situation besser verstehen, die immerwieder zu menschlichem Verhalten führt, das sich zwar auflehnt,aber diese Auflehnung zu einem Akt des «l'art pour l'art» macht!

Polizeitruppen vor dem Verlad ins brasilianische Hinterland.

Die abgeschnittenen Köpfe der Cangaceiros werden ausgestellt. Nummer 11 ist der Kopf von Lampiäo.

Oeffentllche Erschiessung von Cangaceiros. im Zentrum einer ihrer Chejs, tSitspcilai

Neue Zürcher Zeitung vom 24.05.1975