61
Themenheft Soziale Sicherung ab Klasse 9 Franziska Wittau Sozial und sicher? Der deutsche Sozialstaat im Wandel

Franziska Wittau - · PDF file2 Inhaltsverzeichnis [A] Fürsorge versus Aktivierung M 1: Arbeitslosigkeit vor und nach der Hartz-Reform – ein Fallbeispiel ..... 4

Embed Size (px)

Citation preview

Themenheft Soziale Sicherungab Klasse 9

Franziska Wittau

Sozial und sicher?Der deutsche Sozialstaat im Wandel

© 2014 Hans-Böckler-StiftungHans-Böckler-Str. 3940476 DüsseldorfTelefon 0211- 7778 - 0 Telefax 0211- 7778 - 120www.boeckler.de

Fachwissenschaftliche BegleitungDr. Florian BlankPD Dr. Karin Schulze Buschoff

RedaktionAnke [email protected] 0211- 7778 - 151www.boeckler-schule.de

GestaltungStephanie Westmeyer, Düsseldorf

DruckB.O.S.S Medien GmbH, Goch

TitelfotosAgentur für Arbeit: picture-alliance / Keystone Kinder: Heike Berse / pixelio.de Rentnerin: Shelby Ross / getty images

Bestellnummern30439: Lehrerheft (inkl. didaktischem Kommentar)30440: Schülerheft

Die Themenhefte können über www.boeckler-schule.de bestellt werden.

In diesem Themenheft befinden sich Verweise auf Internet-Adressen. Haftungshinweis: Trotz sorgfältiger inhaltlicher Kontrolle übernehmen wir keine Haftung für die Inhalte externer Links. Für den Inhalt der verlinkten Seiten sind ausschließlich deren Betreiber verantwortlich.

2

Inhaltsverzeichnis

[A] Fürsorge versus Aktivierung

M 1: Arbeitslosigkeit vor und nach der Hartz-Reform – ein Fallbeispiel  ............... 4M2:  Fürsorge heißt…: Ein Definitionsversuch  .........................................................4M3:  Hartz-IV-Reform: Jeder zehnte Arbeitslose verlor die Unterstützung  .......... 5M4:  Aktivieren heißt...: „Fördern und Fordern“  ......................................................5

[B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

M5:  Typisch Langzeithartzer?  ..................................................................................6M6:   Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel?  .....................................................8M7:  Zusammensetzung des Hartz-IV-Regelsatzes 2014  ........................................8M8:  Unter das Vergleichsmaß gekürzt  ....................................................................8M9: Armut wird vererbt  ........................................................................................ 10M10:  Macht Hartz IV politikverdrossen?  ............................................................... 10M11:  Wie Strukturen wirken…  .............................................................................. 11M12:   Arbeitslos = Drückeberger?  .......................................................................... 12M13:  Arbeitslose aktivieren! Nur wie?  .................................................................. 12M14:  Die Dunkelziffer der Armut  ........................................................................... 14M15:  Entwicklung der Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich  .................. 14M16:  Wofür man die Hartz-IV-ler noch so alles einsetzen könnte ......................... 14M17:  Die Agenda 2010 – eine Erfolgsgeschichte!  ................................................. 15M18: Die Agenda 2010 – keine Erfolgsgeschichte!  ............................................. 15

[C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

M19:  Kinder, Kinder – von Ansprüchen und Wirklichkeiten  ................................... 16M20:  Jetzt bloß ruhig sein!  ................................................................................... 16M21:  Jetzt bloß nicht wackeln  ............................................................................... 16M22:   Frauen, Kinder und Karriere = Rabenmütter? ............................................... 17M23:  Männer, Kinder und Karriere = fürsorglicher Familienvater?  ........................ 18M24:  Wann ist Familienpolitik erfolgreich?  ............................................................ 19M25:  Zusammengefasste Geburtenziffer 1960 – 2012 ..........................................20M26:  Zitate zur Familienpolitik  ..............................................................................21M27:   Unterhaltsrecht als Mittel gegen den demografischen Wandel?  .................22M28:  Ehen in Deutschland  ....................................................................................22M29: Frauenarbeit = Teilzeitarbeit?  ......................................................................22M30:  Männerarbeit = Vollzeitarbeit?  .....................................................................23

[D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

M31:  Wenn ich einmal alt bin… .............................................................................24M32:  Altersvorsorge = Altersversorgung  ..............................................................25M33:  Altersvorsorge durch Konsumverzicht  .........................................................25M34:  Sparen Sie sich den Konsumverzicht!  ..........................................................25M35:  „Riestern ist ganz einfach“  ..........................................................................26M36:  Die Tücken der Riester-Rente  ......................................................................26M37:  Belastung für Arbeitnehmer, Entlastung für Arbeitgeber?  ...........................27M38:  Betriebliche Altersversorgung – eine Definition  ...........................................28M39:  Verbreitung und Finanzierung der Leistungen  .............................................28M40:  Betriebliche Altersversorgung – nur die zweitbeste Lösung?  ......................29

3

[E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

M41:  Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit – Dauerbrenner im Wahlkampf  ...........30M42:  Was heißt hier eigentlich (sozial) gerecht?  ...................................................31M43:  Der Umbau des Sozialstaats – Notwendigkeit oder Fehler?  ........................32M44:  Bürger wollen auch in Zukunft weitreichende soziale Sicherung  .................37

[F] Zusatzmaterialien

M45:  Karikaturen  ...................................................................................................39M46:  Filme  ............................................................................................................ 41

Didaktisch-methodischer Kommentar

Einleitung  ...............................................................................................................42Didaktische Kommentierung der einzelnen Materialien  ........................................44Literaturverzeichnis  ...............................................................................................57

Bild- und Quellenverzeichnis

M7 verweist auf eine Vertiefungsaufgabe oder ein Vertiefungsmaterial zur Differenzierung im Unterricht.

Legende

4

[A] Fürsorge versus Aktivierung

M1 Arbeitslosigkeit vor und nach der Hartz-Reform – ein Fallbeispiel

M2 Fürsorge heißt…: Ein Definitionsversuch

[…] Mit dem Ziel, die strukturellen Folgen marktwirt-schaftlicher Prozesse [zum Beispiel strukturell bedingte Arbeitslosigkeit] sozial abzufedern, entstand der fürsor-gende Sozialstaat. Zur Risikobegrenzung wurde primär auf den Ausbau von Schutzrechten bzw. die Abschwä-chung des Arbeitszwangs durch die Gewährung von Lohnersatzleistungen [zum Beispiel Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe] gesetzt. Insgesamt entwickel-te sich eine Sozialpolitik mit dem Ziel der Versorgung der Bürger. Entsprechend waren finanzielle Leistungen zentrale Interventionsformen. Kontrolle spielte eine eher untergeordnete Rolle. Bei der Verfolgung sozialpolitischer Ziele wurde Freiheit weitgehend als „Freiheit von materieller Not“ interpretiert. Gleichheit wurde weitgehend als Anglei-chung materieller Lebens- und Einkommensverhältnisse angestrebt. Soziale Leistungen wurden primär über die Erhe-bung von Steuern oder Zwangsbeiträgen finanziert.Der mangelnde Steuerungserfolg, Krisenerscheinungen wie Inflation und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen [führte dazu, dass] Gegenmodelle zum überbordenden [Sozial]staat vor allem in der Begrenzung und Reduzierung der Staatsaufgaben gesehen [werden].

gekürzt nach Irene Dingeldey, Aktivierender Wohlfahrtsstaat und so-zialpolitische Steuerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8–9/2006, S. 4 – 5

Sabine Meier ist Einzelhandelskauf-frau. Sie ist 47 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder (11 und 15 Jahre alt). Sie hat seit sieben Jahren beim gleichen Arbeitgeber gearbeitet, für zuletzt 1.600 Euro brutto. Als dieser nach massiven Umsatzeinbrüchen mehrere Filialen schließen muss, wird auch Sabine Meier entlassen. Ihr Ehemann ist weiterhin arbeitstätig als Dachdecker und verdient 2.200 Euro brutto.

dpa | picture-alliance

5

10

15

20

Sabine Meiers Situation

* und vor dem Job-AQTIV-Gesetz, das 2002 in Kraft trat und ein Vorläufer der Hartz-Gesetze war

2000 (vor der Hartz-Reform*) 2014 (nach der Hartz-Reform)

Finanzielle Unterstützung durch den Staat (Auswahl)

zunächst Arbeitslosengeld

• Höhe in Abhängigkeit des letzten Nettoeinkommens

• Dauer der Zahlung abhängig von Lebensalter und Dauer der vorherigen Beschäfti-gung (6–32 Monate, ab einem Alter von 45 Jahren steigen-de Bezugsdauer)

anschließend Arbeitslosenhilfe

• Höhe in Abhängigkeit des letzten Nettoeinkommens

zunächst Arbeitslosengeld I

• Höhe in Abhängigkeit des letzten Nettoeinkommens

• Dauer der Zahlung abhängig von Lebensalter und Dauer der vorherigen Beschäftigung (6–24 Monate, ab einem Alter von 50 Jahren steigende Bezugsdauer)

anschließend Arbeitslosen-geld II

• Pauschalisierter Grundbetrag

Sonstige Regelungen (Auswahl)

• Zumutbarkeit von Beschäf-tigungen u.a. abhängig von Lohnhöhe und Entfernung zum Arbeitsort

• Absenkung der Zumutbar-keitskriterien zur Aufnahme einer Beschäftigung

• Verschärfung der Sanktio-nen für die Ablehnung von Stellenangeboten

• Schaffung von Arbeitsgele-genheiten (1-Euro-Jobs)

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [A] Fürsorge versus Aktivierung

5boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [A] Fürsorge versus Aktivierung

M3 Hartz-IV-Reform: Jeder zehnte Arbeitslose verlor die Unterstützung

M4 Aktivieren heißt...: „Fördern und Fordern“

[…] Es geht dem aktivierenden Sozialstaat um eine Neudefinition der wechselseitigen Aufgaben- und Ver-antwortungsteilung und -wahrnehmung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft. [Es wird gefordert], dass die Politik [...] eine neue soziale Gerechtigkeit herzustellen habe, bei der die Pflichten des Einzelnen genauso wie die Werte „Leistung“, „Unternehmergeist“, „Eigenverant-wortung“ und „Gemeinsinn“ wieder stärker zu betonen seien. Der Staat, so heißt es, solle weniger kontrollieren, nicht rudern, dafür aber steuern und herausfordern. [...] Das Leitbild „aktivierender Staat“ [...] steht durchaus in der Kontinuität der deutschen Sozialpolitik, die mittels des Subsidiaritätsprinzips immer schon an der Aufga-ben- und Verantwortungsteilung zwischen Staat, Ge-sellschaft und Individuum festgehalten hat […]. Das im Subsidiaritätsprinzip enthaltene Prinzip der Verpflich-tung der kleineren Einheiten und Gemeinschaften zur gegenseitigen Hilfe wird jedoch um einen neuen Grund-satz ergänzt: Der aktivierende Staat fördert zwar unter veränderten Vorzeichen weiterhin, fordert aber gleich-zeitig auch eine Gegenleistung und wird dadurch zu ei-nem neuen Typus von Sozialstaat. Das bislang geltende sozialstaatliche Integrationsprinzip „Teilhabe“ wird [...] ersetzt durch das neue Integrationsprinzip „Teilnahme“ [...]. Gefördert werden sollen zukünftig vorrangig Maß-nahmen, die zur Teilnahme qualifizieren; nur Teilnahme gewährleiste Teilhabe. [...] Eine Schlussfolgerung wäre demnach: Wer nicht teilnehmen will, dem droht zuerst Druck, dann Zwang und bald Ausschluss (z.B. von Sozi-alleistungen) durch den aktivierenden Staat.“

Norbert Wohlfahrt, Der aktivierende Sozialstaat. Ein neues sozialpoli-tisches Konzept und seine Konsequenzen, www.transparentonline.de/Nr63/63_06.htm, 18.12.2003

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2007 | Böckler Impuls 19/2007

Aufgaben

A1 Vergleichen Sie die Situation Sabine Meiers (M1) vor und nach der Hartz-Reform. Fassen Sie die zentralen Unterschiede für Frau Meier thesenartig zusammen.

A2 Der aktivierende Sozialstaat wird häufig mit den nachfolgenden Schlagworten charakterisiert:

Bilden Sie Gruppen und wählen Sie je eines der ge-nannten Schlagworte aus. Beschreiben Sie mit Hilfe der Definitionen M2 und M4, warum diese Schlagwor-te für den aktivierenden und nicht für den fürsorgen-den Sozialstaat stehen.

A3 Übertragen Sie die Begriffe der Aktivierung und Fürsorge auf das Fallbeispiel M1.

A4 Listen Sie weitere sozialstaatliche Leistungen außer der Unterstützung im Falle der Arbeitslosigkeit auf. Erläutern Sie, ob und wenn ja wie bei diesen die Verantwortung zwischen Staat und Bürger aufgeteilt ist bzw. werden könnte.

A5 Diskutieren Sie zu zweit über die Vor- und Nachteile des aktivierenden Sozialstaats. Versetzen Sie sich dazu in die Rolle eines Politikers / einer Poli-tikerin, der/die den aktivierenden Sozialstaat positiv beurteilt, und in die Rolle von Sabine Meier (M1), die an diesem Modell erhebliche Zweifel hegt. Nutzen Sie sowohl für die Rolle des Politikers / der Politikerin als auch für die Rolle Sabine Meiers zusätzlich M3.

Schlagworte im aktivierenden Sozialstaat:„Schlanker Staat“„Fördern und Fordern“„Neue Balance zwischen Rechten und Pflichten“„Von der Hilfe zur Selbsthilfe“

5

10

15

20

25

30

6

M5 Typisch Langzeithartzer?

Undine Zimmer ist heute Jour-nalistin. Dass sie diesen Beruf ergreifen würde, war nicht im-mer absehbar. Sie stammt – wie es so schön heißt – aus einer sozial schwachen Familie. In der Repor-tage „Meine Hartz-IV-Familie“ schildert sie die schwierige Situati-on ihrer Kindheit und Jugend.

Meine Mutter, mein Vater und ich gehörten, solange ich mich erinnern kann, zur Unterschicht. Meine Eltern sind Langzeitarbeitslose. Geändert haben sich im Lauf der Jahre nur die Bezeichnungen, unter denen in der Öf-fentlichkeit über Leute wie uns diskutiert wurde: Sozi-alhilfeempfänger, Prekariat, Langzeithartzer. [...] Leider ist bei keinem der beiden die sogenannte Integration in den Arbeitsmarkt gelungen. An der Zahl der Bewerbun-gen, dem mangelnden Wunsch nach Unabhängigkeit und nach Arbeit, lag das nicht. In der Öffentlichkeit finden Hartz-IV-Empfänger vor allem Beachtung als Jammerlappen, Fertiggerichteko-cher, Flachbildschirmkäufer. Manchmal wird in Talk-shows und Reportagen auch das Gegenbild vorgeführt, meist in Form einer tapferen Alleinerziehenden, die ohne Schuld in Not geraten ist. Meine Eltern gehören weder zur einen noch zur anderen Gruppe: Sie haben ein mitt-leres Bildungsniveau, sie legen Wert auf gesunde Ernäh-rung, und sie hören Kulturradio, statt Bild zu lesen. [...] Der Begriff »Hartz-IV« [aber bleibt] in Deutschland mit ein, zwei Klischeebildern assoziiert, die der Politik da-bei helfen, diese Menschen weiter zu entrechten, und der Mittelklasse dabei, sich emotional von Leuten zu distan-zieren, die ihnen vielleicht näher sind, als sie glauben.Zum Beispiel denken viele, dass Hartz-IV-Empfänger keine Arbeit finden, weil sie faul sind und weder Interes-sen noch Talente haben. Meine Eltern aber hatten Zie-le, doch sie haben sie trotz ihrer Anstrengungen, ihrer Qualifikationen und ihres Engagements nicht erreicht. Mein Vater [hat] eine abgeschlossene Lehre als Indust-riekaufmann, [...] holte auch das Abitur nach. Aber nach dem zweiten Studiensemester Politik ist er »auf der Taxe hängen geblieben«, wie er sagt. Meine Mutter wollte gerne OP-Schwester oder Ent-wicklungshelferin werden. Doch schon kurz nach der Ausbildung zur Krankenschwester zeigte sich, dass sie der Belastung des Berufs nicht gewachsen war. Sie woll-te das Abitur nachmachen und Philosophie studieren, aber dann kam ich. Als ich noch nicht einmal ein Jahr alt war, trennten sich meine Eltern. Das hat das Leben meiner Mutter sicher nicht einfacher gemacht. Was sie aber nie verloren hat, waren ihr Wissensdurst und ihre Vorliebe für klassische Musik, gelehrte Radiobeiträge, theologische Fragen und Literatur. [...] Im Laufe der Jah-re hat sie mehrere Ein-Euro-Stellen gehabt, im Büro, in der Wäscherei, im Sekretariat des Jugendamtes. Sie sagt,

[B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

sie war immer froh, wenn sie arbeiten, sich nützlich füh-len konnte. [...] Meine Mutter [...] hat sich angewöhnt, nur das Nö-tigste zu essen. [...] Mein Vater dagegen spart nicht so sehr am Essen. Bei ihm ist es die Kleidung. Er trägt, was sauber und praktisch ist. Wie alt seine Kleidung ist, wie modisch, spielt keine große Rolle. [...] Das ist typisch: Nicht wenige von Armut Betroffene, […] fangen an, am eigenen Körper zu sparen. Nur für die Kinder gibt man Geld aus. So war es auch bei uns: Mein geliebtes großes Stoff-huhn von Steiff konnten wir uns eigentlich nicht leisten. Überhaupt entspricht das Klischee, Hartz-IVler gäben ihr Geld für Flachbildschirme und MP3-Player aus statt für Bildung und Zoobesuche, nicht meiner Erfahrung. Meine Mutter hat es geschafft, mir Musik- und Ballett-unterricht zu ermöglichen. [...] Meine Eltern haben versucht, anständige Sozialhil-feempfänger zu sein. Keinen Ärger zu machen, nicht zu viel zu fordern. Ihre Würde zu bewahren und ihre Scham zu verbergen. Sie haben getan, was viele tun, die wissen, dass sie als Bodensatz der Gesellschaft wahrgenommen werden, als Gruppe statt als Individuen mit einer Ge-schichte. Nicht genug Geld zu haben, um am sozialen Leben teilzunehmen, führt bei vielen Arbeitslosen dazu, dass sie sich zurückziehen, sagen die Forscher. Sie grenzen sich selbst aus dem gesellschaftlichen Leben aus, be-vor es jemand anderes tut. Viele, die niemanden mehr finden, mit dem sie sich solidarisieren können, brechen ihre sozialen Kontakte allmählich ab und werden ein-sam. [...] Jede Unternehmung scheint voller Hindernisse: Wenn ich versuche, meine Mutter dazu zu bringen, un-ter Leute zu gehen und Volkshochschulkurse oder an-dere Veranstaltungen zu besuchen, bekomme ich nicht endende Einwände zu hören. Doch, einen Punkt gibt es, in dem wir dem Klischee entsprachen. Diesen habe ich, zum Glück, erst später verstanden: Ich wusste immer, dass mein Vater schlecht einschlafen konnte und abends Wein oder Bier trank, bis er müde war. [...] Regelmäßig kleine Mengen, alleine zu Hause. Er habe sich wegträumen wollen, ganz früher habe das auch noch geklappt, hat er mir erzählt. »Es schmeckt mir nicht mehr«, sagt er jetzt. Im Krankenhaus [nach einem Unfall des Vaters] frag-te mich eine Ärztin nach seinem Alkoholkonsum: ob das wirklich Vergangenheit sei? Ich weiß noch, wie sie mich ansah: mit so einer Mischung aus Mitleid und Respekt. […] Das ist vielleicht das Schwierigste daran, ein Kind von Beitragsempfängern zu sein: dass man seine Eltern hilflos und gedemütigt erlebt. Es ist schwer, jemanden als Vorbild zu sehen, auf den man sich nicht verlassen kann. […] Ebenso schwer ist es, sich in der Welt einen Platz zu schaffen, wenn diejenigen, die dir zeigen sollen, wie das geht, selbst keinen Platz haben. »Du bist das einzig Vernünftige, was wir hingekriegt haben«, hat mein Vater einmal halb im Spaß zu mir ge-sagt. Ich bin die Erste, die in unserer Familie das Stu

Foto: Andreas Labes

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

70

75

80

85

90

95

100

105

110

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

7boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

dium abgeschlossen hat. Haben wir über die Zukunft gesprochen, habe ich von beiden schon den Satz gehört: »Du machst alles viel besser als ich damals, du bist stär-ker, dir wird das nicht passieren.« Sie bewundern mich und verstehen nicht, dass ich mir selbst Sorgen mache. Und warum sollten sie nicht recht behalten? Bildung gilt noch immer als der sicherste Weg zu einem besseren Le-ben. Trotzdem werden meine Zweifel größer. Werde ich

auch zu früh aufgeben – wie meine Eltern? Kommt nach einer verpassten Chance wirklich noch eine neue? [...] Es heißt oft, dass Kinder von Sozialhilfeempfängern ihrer-seits zu Beitragsempfängern heranwüchsen, weil ihnen die Bildung fehle oder die Fähigkeit, morgens aufzuste-hen. Ich weiß nicht, ob das das eigentliche Problem ist...

Undine Zimmer, Meine Hartz-IV-Familie, ZEITmagazin 41/2011

Aufgaben

A1 Beschreiben Sie die geschilderte Situation der „Hartz-IV-Familie“ Undine Zimmers (M5). Gehen Sie dabei insbesondere auf die Lebensumstände der Autorin (als Tochter der Familie) ein.

A2 Versetzen Sie sich nun in die Situation der Autorin. Beschreiben Sie, wie sich Undine Zimmer als Tochter in einer „Hartz-IV-Familie“ fühlen mag.

A3 Erschließen Sie mit Hilfe des Textmaterials Vorurteile, die Hartz-IV-Empfänger(inne)n entgegen-gebracht werden. Beurteilen Sie diese aus Sicht der Autorin.

A4 Sammeln Sie im Plenum mit Hilfe der Ergeb-nisse die zentralen Probleme, die aus der Schilderung deutlich werden.

Klaus Stuttmann

115

120

125

8

M8 Unter das Vergleichsmaß gekürztM6 Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel?

Die Leistungen des Arbeitslosengeld (ALG) II (Hartz-IV-Sätze) stehen immer wieder in der Kritik. Im Wesentli-chen geht es dabei um die Frage, ob die Regelsätze ausrei-chen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Es besteht ein Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dieses soll je-dem und jeder Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichern, die für seine/ihre physische Existenz und für eine der Würde des Menschen entspre-chende Teilhabe am gesellschaftlich üblichen Leben (= so-ziokulturelles Existenzminimum) unerlässlich sind. Die Forderung sagt natürlich nichts über die genaue Summe aus, die ein/e Hartz-IV-Empfänger/in monat-lich bekommt. Sie wird durch Bundestag und Bundesrat festgelegt. Diese orientieren sich dabei an den durch-schnittlichen Einnahmen und Ausgaben der 15 Prozent einkommenschwächsten Haushalte (ohne Bezieher/in-nen von ALG II oder Sozialhilfe). Die Bezieher/innen von ALG II erhalten jedoch nicht die gleiche Summe. Vielmehr erfolgen prozentuale Abzüge. Begründet wird dies mit dem so genannten Abstandsgebot, wonach ein/e Erwerbstätige/r immer besser gestellt sein soll als ein/e nicht Erwerbstätige/r. In der öffentlichen Debatte besteht ein immer wieder aufkeimender Dissens darüber, ob diese Vorgehensweise gerechtfertigt ist. Dies zeigte sich nicht zuletzt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010, die ALG II-Sätze müssten neu berechnet werden.

Autorentext

M7 Zusammensetzung des Hartz-IV-Regelsatzes 2014, in Euro

Erwachsene Kinder (14 – 18 Jahre)

Nahrungsmittel und Getränke 138,81 134,18

Bekleidung und Schuhe 32,84 40,26

Wohnen und Energie 32,68 16,61

Innenausstattung / Haushaltswaren 29,64 15,92

Gesundheitspflege 16,81 7,10

Bus und Bahn 24,63 13,65

Telefon, Internet und Post 34,53 17,08

Freizeit, Unterhaltung und Kultur 43,17 33,98

Bildung 1,49 0,33

Hotel- und Restaurantdienstleistungen 7,74 5,18

Andere Waren und Dienstleistungen 28,62 11,78

Gesamt (gerundet) 391,00 296,00

Böckler Impuls 20/2010

Datum: 6.12.2010Grafik: eshRecherche: pwCheck Inhalt/Zahlen: log, pw, eshabgenommen: ran, jäg© Hans-Böckler-Stiftung 2010

361,81 €

* ohne Miet- und Heizkosten; ** gesamte Abzüge verrechnet mit Zuschlägen in Höhe von 10,15 € als Ausgleich für Abzüge bei alkoholischen Getränken und AuswärtsverpflegungQuelle und © Hans-Böckler-Stiftung 2010

535,33 € gaben Alleinstehende mit den niedrigsten Einkommen 2008 im Monat aus* – davon werden bei der Berechnung des Hartz-IV-Satzes berücksichtigt ...

nicht berücksichtigt**

173,52 €

Die größten nicht berücksichtigten Ausgabeposten sind ...

Verkehrsmittel (Teilabzüge)

Versicherungen

Speisen und Getränke in Restaurants, Cafés

Tabak und Alkohol

− 36,48 €

− 25,85 €

− 21,00 €

− 19,27 €

* ohne Miet- und Heizkosten ** gesamte Abzüge verrechnet mit Zuschlägen in Höhe von

10,15 € als Ausgleich für Abzüge bei alkoholischen Getränken und Auswärtsverpflegung

www.hartziv.org/regelbedarf, abgerufen am 4.6.2014

5

10

15

20

25

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

9

Aufgaben

A1 Lesen Sie zunächst M6. Benennen Sie konkrete Dinge, Aktivitäten etc., auf die Sie persönlich nicht verzichten möchten. Gehen Sie dabei sowohl auf die Erhaltung der physischen Existenz als auch auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ein.

A2 Recherchieren Sie, welche Kosten die im Plenum gesammelten Dinge, Aktivitäten etc. pro Monat verursachen. Vergleichen Sie diese mit den Regelsatz-beiträgen aus M7 und benennen Sie diejenigen, auf die ein/e Hartz-IV-Empfänger/in verzichten muss.

A3 Beziehen Sie unter Nutzung Ihrer Ergebnisse, M6, M8, des nebenstehend aufgeführten Textaus-schnitts sowie weiterer Pro- und Contra-Argumente Stellung zu der Frage, ob die Hartz-IV-Sätze erhöht werden sollten.

Abgekoppelt von der Mehrheitsgesellschaft

[…] Gemäß dem Menschenwürdepostulat des Artikels 1 im Grundgesetz […] muss der Staat im Notfall das Existenzminimum seiner Bürger sichern und ihnen eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe verschaffen. Bei der Ermittlung des menschenwürdigen Existenz-minimums – so verlangt es das Bundesverfassungsge-richt – muss der Gesetzgeber „die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht“ erfassen. Dabei stelle sich der Anspruch in einer „technisierten Informationsge-sellschaft anders als früher“ dar. Gesellschaftlicher Wandel und neue Bedarfe müssen also berücksichtigt werden. [Die Darmstädter Juraprofessorin Anne] Lenze folgert aus den mehrfachen Hinweisen der Verfassungsrichter auf den gegenwärtigen Stand der Lebensbedingungen, dass die Regelleistung so hoch sein muss, „dass sie den Anschluss an die Mehrheits-gesellschaft ermöglicht“. Tatsächlich orientiert sich die Höhe der Grundsi-cherung aber nicht an der Mehrheitsgesellschaft, son-dern ausschließlich am unteren Rand der Gesellschaft. […] Die Orientierung an den einkommensschwächsten Mitgliedern der Gesellschaft sei jedoch grundsätzlich problematisch, so Lenze. Gerade bei Ausbreitung des Niedriglohnsektors stellten sie keinen objektiven Maßstab für die Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums mehr dar. […]

Trotz fünf Euro mehr: Bedürftige verlieren Anschluss an die Gesellschaft, Böckler Impuls 16/2010

Essensausgabe bei der Schkeuditzer Tafel, picture-alliance/ZB

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

10

M9 Armut wird vererbt

Der Grund für die anhaltend hohe Zahl von armen Kin-dern ist […], dass Eltern in Deutschland ihren sozialen Status „vererben“. Mehrere OECD-Studien belegen, dass die Aufstiegschancen eines Kindes aus schwierigen so-zialen Verhältnissen in Deutschland deutlich schlechter sind als in anderen europäischen Ländern, egal, welche Fähigkeiten und Talente es aufweist. […] [Es sollte auch deshalb] weiter über die Höhe der Sätze für Kinder gesprochen [werden]. Dabei lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob zum Beispiel der der-zeit geltende Beitrag von genau [91 Cent] pro Monat für Spielzeug angemessen ist. Für Kinder bedeutet Spie-len Lernen. Bei [91 Cent] Geld für Spielzeug im Monat muss man sich nicht wundern, wenn Hartz-IV-Kinder

öfter mal vorm Fernseher geparkt werden oder herum-lungern. Immerhin: Das sogenannte Bildungspaket der Bundesregierung findet inzwischen größeren Anklang. Rund 45 Prozent der bedürftigen Kinder erhalten gegen-wärtig Zuschüsse, in erster Linie jedoch, anders als der Name „Bildungspaket“ nahelegt, für ein Mittagessen an der Schule. Kinder zu fördern ist eine entscheidende Investiti-on in die Zukunft eines Landes. Sie sind die wichtigste Stütze für wirtschaftliche Prosperität in einer alternden Industrienation. […]

Tanja Dückers, Von der Leyen hat noch viel zu tun, ZEIT Online, 6.2.2012

M10 Macht Hartz lV politikverdrossen?

Grafik nach: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, www.biaj.de

Köln, SGB-ll-Quote und Wahlbeteiligung in den 86 Stadtteilen, in Prozent

* Anteil der Wähler/innen an den Wahlberechtigten, Bundestagswahl Sept. 2013 ** Anteil der SGB-ll-Leistungsberechtigten an der Bevölkerung unter 65 Jahre, Stand: 12/2012

100

90

80

70

60

50

40

Wahlbeteiligung*

0 10 20 30 40 50

SGB-ll-Quote**

88,7

54,8

42,5

Hahnwald

60,9Blumenberg

68,2Dünnwald

Finkenberg

Chorweiler

5

10

15

20

25

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

11

M11 Wie Strukturen wirken…

Für eine Gesellschaft sind […] die Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken innerhalb der Einkommenshier-archie von erheblicher Bedeutung. Das jüngste Jahres-gutachten des Sachverständigenrates [für die gesamt-wirtschaftliche Entwicklung] hat die Veränderung der Einkommensmobilität an dem Vergleich der Zeiträume zwischen 1996 bis 1999 und 2006 bis 2009 operatio-nalisiert. Es kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Auf-stiegschancen insbesondere in der untersten Einkom-mensklasse deutlich verringert haben: Die Verweilquote in den untersten Einkommensklassen ist im Vergleich der beiden Zeiträume um 17,7 Prozentpunkte auf 48,5 Prozent angestiegen. […] Die Autoren stellen fest, dass […] die Beharrungsquote in den letzten Jahren des Be-obachtungszeitraums gestiegen ist. Besonders selten sind nach dieser Studie Einkommensaufstiege für Arbeitslose und Alleinerziehende. Jedoch sind nicht nur die objektiven Mobilitätser-fahrungen von Bedeutung. Auch wie die Menschen ihre Möglichkeiten für soziale Aufstiege einschätzen, ist ein Teil der gesellschaftlichen Realität und hat Auswirkun-gen auf ihr Handeln.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesre-gierung, 2013

Es gibt einen „ganz deutlichen“ Zusammenhang zwi-schen der Wahlbeteiligung und dem sozialen Status, also dem Einkommen oder dem Bildungsstand, sagt der Bre-mer Parteienforscher Lothar Probst. […] Hinzu kommt, dass junge Menschen […] sich nicht mehr so „verpflich-tet“ fühlten, zur Wahl zu gehen wie jene, die über 60 sind. […] [J]ene, die besonders auf den Staat angewiesen sind, resignieren bei Wahlen vermehrt. Damit werden sie für die Parteien als Stimmenbeschaffer aber auch immer unwichtiger. „Deren Interessen haben nicht mehr eine so starke Lobby.“ […] Ein Teil der Nichtwähler, sagt Probst, sei schon seit Längerem „aus dem System des Wählens ausgestiegen und kaum noch erreichbar“. Wenn doch etwas helfen könnte, so der Parteienforscher, dann ist das mehr Par-tizipation im unmittelbaren Wohnumfeld, so wie in Os-terholz. Menschen, die sich sozial, sportlich oder kul-turell engagieren oder Mitmachmöglichkeiten haben, gehen eher wählen, wie die Wahlforschung zeigt. [Die] „zunehmende Entfernung“ vieler Benachteiligter von der Politik [ist] „sehr besorgniserregend“. Medial seien [sie] oft nur „schlecht zu erreichen“.

Jan Zier, „Eine Art Klassenspaltung“, die tageszeitung, 24.9.2013

Aufgaben

A1 Geben Sie die Hauptaussage des Materials M9 bezüglich der zukünftigen Integration von Kindern von Arbeitslosengeld-II-Empfänger(inne)n in das wirt-schaftliche System wieder.

A2 Analysieren Sie die Grafik M10.

A3 Erläutern Sie mit Hilfe der Lösungen zu A1 und A2 mögliche Probleme für das politische und wirt-schaftliche System der Bundesrepublik Deutschland.

A4 Begründen Sie unter Berücksichtigung Ihrer bisherigen Arbeitsergebnisse und unter Bezug-nahme auf Material M11, welche Ursachen zu den von Ihnen gefundenen Problemen führen. Beschreiben Sie hierfür auch, inwiefern gesamtgesellschaftliche Struk-turen auf individuelle Akteure wirken (können).

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

5

10

15

20

25

30

35

40

12

917.10.12 Mittwoch, 17. Oktober 2012 DWBE-HPBelichterfreigabe: -- Zeit:::Belichter: Farbe: **

DW_Dir/DW/DWBE-HP17.10.12/1/Wir1 CCI 5% 25% 50% 75% 95%

+

MITTWOCH, 17. OKTOBER 2012 * * DIE WELT SEITE 9

WIRTSCHAFT

Über die Krisenjahre hatte mansich an ein Muster gewöhnt, nachdem Spitzenpersonalien bei Ban-

ken ablaufen: Wenn ein CEO abtrat,konnte man fast immer sicher sein, dassdem Wechsel unmittelbar ein mittleresbis größeres Desaster vorausgegangenwar. Milliardenverluste, Manipulationen,staatliche Rettungsaktionen. In diesesMuster passt der abrupte Abgang von Ci-tigroup-Chef Vikram Pandit eindeutignicht. Die Quartalszahlen, die die Bankerst zu Wochenbeginn präsentiert hatte,waren zwar durch einige Einmaleffektebelastet, aber gewiss keine Katastrophe.Auch sonst hat sich Pandit in den fünf

Jahren an der Spitze der Bank nichts ge-leistet, was gemessen an den Fehltrittender Konkurrenz als Skandal durchgehenwürde. Doch als er im Herbst 2007 dasRuder übernahm, war das RiesenschiffCitigroup bereits auf Grund gelaufen:Die Bilanz steckte voller fauler Hypothe-kenpapiere, das Chaos rund um die Leh-man-Pleite im folgenden Jahr gab derBank den Rest - dass der Citi-Aktienkursauf zwischenzeitlich weniger als einenDollar abstürzte, war gewiss nicht in ers-ter Linie Pandits Schuld.Immerhin gelang es ihm, Citi wieder

flottzukriegen. Die Investoren honorier-ten es, zwischenzeitlich kosteten Citi-Aktien mehr als 50 Dollar. Doch als dieZeiten im Zuge der Euro-Krise und desAbschwungs der US-Wirtschaft unruhi-ger wurden, ging es auch mit Citi wiederbergab. Der letzte Eindruck der Berg-und Talfahrt war: Irgendwie kommt dieBank nicht wirklich vom Fleck.Dass die Aktionäre damit nicht zufrie-

den waren, bekam Pandit spätestens imApril dieses Jahres zu spüren. Er, dereinst für ein Gehalt von einem Dollar ge-arbeitet hatte, sollte 15 Millionen Dollarausgezahlt bekommen - die Anteilseig-ner votierten dagegen. Das kam einemMisstrauensvotum nahe.Es zeigt sich: Der Bonus der Generati-

on der Sanierer ist langsam, aber sicheraufgezehrt. Verdienste der Vergangen-heit sind nicht entscheidend. Jetzt ist ei-ne neue Ära angebrochen, geprägt vonrauen Kapitalmärkten und strengererRegulierung. Ein CEO muss darauf eineüberzeugende Antwort finden, egal,wann er sein Amt angetreten hat.Der Druck, unter den Pandit zuletzt

geriet, ist eine Warnung für so manchenBankchef. Schließlich treten derzeit vieleInstitute auf der Stelle. Weitere Köpfekönnten daher rollen. Teils, weil denBankern die Ideen für die neue Zeitwirklich fehlen. Teils aber auch schlichtdeshalb, weil die Aktionäre einen Sün-denbock dafür suchen, dass sich im Fi-nanzgewerbe nicht mehr so viel verdie-nen lässt wie in den Goldgräber-Jahren.

KOMMENTAR

Saniererunter Druck

[email protected]

SEBASTIAN JOST

LARRY PAGEEuropas Datenschützerlegen sich mit Google anDer US-Internetkonzern Googlesteht in der Kritik europäischer Da-tenschützer, da er die Nutzerdatenseiner gut 60 verschiedenen An-gebote und Dienste in einer Daten-bank zusammenführt. „Die neueDatenschutz-Regelung erlaubt esGoogle, nahezu alle Informationenaus allen Diensten für alle Zwecke zukombinieren“, schreiben die eu-ropäischen Datenschützer aus 24 der27 EU-Länder in einem Brief an Goo-gle-Chef Larry Page. Sie fordernGoogle nun dazu auf, den Anwen-dern in ihren Konteneinstellungenmehr Kontrolle darüber zu gewähren,wie Googles Suchmaschine ihre Da-ten verarbeitet. fue

ECKHARD CORDESEx-Metro-Chef heuertbei Finanzinvestor anEckhard Cordes heuert beimschwedischen Finanzinvestor CevianCapital an. Cordes werde als Partnerdie Geschäftsaktivitäten von Cevianin Deutschland und Nordeuropaverstärken, teilte die europäischeBeteiligungsgesellschaft am Dienstagmit. Cordes sagte mit Blick auf seineneue Aufgabe: „Ich habe die Tätigkeitvon Cevian in der Vergangenheitverfolgt und schätze die langfristigorientierte Anlagestrategie sehr.“ Derauf Minderheitsbeteiligungen spezia-lisierte Investor Cevian ist mit einemAnteil von gut 15 Prozent größterAnteilseigner des Bau- und Dienst-leistungskonzerns Bilfinger Berger.

REBEKAH BROOKSMurdoch-Vertraute erhieltMillionen-AbfindungDie frühere Chefredakteurin aus demMurdoch-Imperium, RebekahBrooks, hat nach ihrem Rücktritt inFolge des Abhörskandals angeblicheine Abfindung in Millionenhöheerhalten. Wie die „Financial Times“unter Berufung auf zwei mit derAngelegenheit vertraute Personenmeldete, erhielt Brooks mehr alssieben Millionen Pfund (rund 8,7Millionen Euro) im vergangenenJahr. Brooks steht im Mittelpunkt derAffäre um Recherchepraktiken, dieden News-Corp-Konzern von Me-dienzar Rupert Murdoch und diebritische Regierung 2011 schwer er-schütterte. Die frühere Chefredak-teurin des Boulevardblatts „Sun“ undspätere Chefin der britischen News-Corp-Verlagstochter News Interna-tional muss sich im kommenden Jahrvor Gericht verantworten.

MENSCHEN &MÄRKTE

WIRTS CHAFTSREDAKT ION : TELEFON : 0 3 0 – 2 5 9 1 7 1 8 3 0 | FAX : 0 3 0 – 2 5 9 1 7 1 8 70 | EMA IL : WIRTSCHAFT @WELT.DE | INTERNET: WELT.DE /WIRTSCHAFT

THEMEN

Bußgang

Börsengang

Was beim Hauptstadt-flughafen BER

wirklich schief liefSeite 10

Telefónica bringt seinedeutsche Tochter O2

aufs ParkettSeite 12

REUT

ERS/

DPA/BE

RNDSE

TTNIK

T Laut einer Umfrage denktmehr als ein Drittel derDeutschen, dass Empfängervon Hartz IV faul sind

T Zugleich wurde bekannt, dassdie Zahl der Sanktionen gegenLeistungsbezieher in diesem Jahrdeutlich angestiegen ist

FLORA WISDORFF

S ie hängen nur zu Hause he-rum, sind faul und träge. Undwenn ihnen ein Job angebotenwird, lehnen sie ihn ab: Sodenken viele Deutsche über

Hartz-IV-Empfänger. Zu diesem Ergeb-nis kommt eine Umfrage im Auftrag derBundesagentur für Arbeit (BA). In derMehrheit der Fälle stimme dieses Bildden Arbeitsvermittlern zufolge abernicht: „Meist sind diese Vorurteile Irrtü-mer“, sagte BA-Vorstand Heinrich Alt inBerlin.Das schlechte Image der Langzeitar-

beitslosen will die BA jetzt mit einerneuen Kampagne aufpolieren. „Wir wol-len, dass sie in der Öffentlichkeit eineChance bekommen“, sagt Alt. Denn dieVorurteile behinderten viele Betroffeneauf dem Weg zurück ins Berufsleben.Viele Arbeitgeber fürchteten, dass Hartz-IV-Empfänger ihren Ansprüchen nichtgenügen. Je mehr Menschen aber Ar-beitslose persönlich kennen, desto posi-tiver urteilen sie der Umfrage zufolgeauch über sie. Das Problem ist nur: Vielekennen keine.Wohl auch deswegen hat sich in den

Köpfen einiger Deutscher das Bild desarbeitsscheuen Hartz-IV-Empfängerseingebrannt. So meinen etwa 37 Prozentder Bundesbürger laut der Erhebung desInstituts für Demoskopie Allensbach,Langzeitarbeitslose wollten gar nicht ar-beiten. 55 Prozent der Befragten glauben,dass die Leistungsbezieher nicht selbstaktiv nach einem Job suchen. 57 Prozentmeinen, sie hätten zu hohe Ansprüchebei der Arbeitssuche – und 55 Prozentsind sich sicher, dass Empfänger derGrundsicherung nichts Sinnvolles zu tunhaben.Die BA will die Vorurteile mit Fakten

entkräften: Für 75 Prozent der Hartz-IV-Empfänger sei Arbeit das Wichtigste imLeben, hat eine Umfrage des Instituts

für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung(IAB) ergeben. Von Lethargie könne bei62 Prozent überhaupt nicht die Redesein: Sie klopften direkt beim Arbeitge-ber an. 71 Prozent seien bereit, eine Stel-le anzunehmen, die unter ihrem Leis-tungsniveau liegt. Zudem verfügten 44Prozent über eine abgeschlossene Be-rufsausbildung.

Die Kampagne namens „Ich bin gut“wurde just an dem Tag vorgestellt, andem bekannt wurde, dass die Zahl derSanktionen gegen Hartz-IV-Empfängerangestiegen ist. In diesem Jahr sind bisEnde Juni 520.792 Strafen verhängt wor-den. BA-Vorstand Alt bestätigte einenBericht der „Bild-Zeitung“, wies aber diePrognose des Blattes, bis Ende des Jah-

res würden über eine Million Strafen er-reicht werden, als spekulativ zurück. Daswäre der höchste Wert seit der Einfüh-rung der Hartz-Reformen im Jahr 2005.Im gesamten Jahr 2011 wurden 912.000Sanktionen ausgesprochen, im erstenHalbjahr 433.000.Bei den Strafen handelt es sich um ei-

ne Kürzung der Leistungen um mindes-tens zehn Prozent. Alt führte die stei-gende Zahl der Sanktionen in diesemJahr auf die gute wirtschaftliche Situati-on zurück. „Wir können jetzt mehr An-gebote machen“, sagte Alt. Deshalb gebees mehr Möglichkeiten, zu Terminennicht zu erscheinen und Arbeitsangeboteabzulehnen. Nur elf Prozent der Sank-tionen seien ausgesprochen worden,weil sich ein Langzeitarbeitsloser gewei-gert habe, eine angebotene Arbeit anzu-nehmen. Zwei Drittel der Strafen gingenauf Meldeversäumnisse zurück. „Wir ha-ben 95 Prozent der Kunden, die sichrechtskonform und regelkonform ver-halten.“„Es sind genau solche Schlagzeilen

über Sanktionen, die Vorurteile in derBevölkerung verstärken“, sagte Alt. Da-bei berichten Arbeitgeber wie etwa diePersonalchefin des Outdoor-HändlersGlobetrotter von guten Erfahrungen.Das Unternehmen beschäftigt 33 ehema-lige Hartz-IV-Empfänger. „Wir wollenein Spiegelbild der Gesellschaft sein“,sagt Personalchefin Katharina Benson.Während es Globetrotter um die Fir-menphilosophie geht, muss die Frisch &Faust Hoch- und Tiefbau aus purer Notauf jugendliche Hartz-IV-Empfänger zu-gehen. „Die Zeiten, als es hieß: ,Seischlau, geh zum Bau’, sind schon langevorbei“, sagt Dieter Mießen, kaufmänni-scher Leiter. Er spürt die Folgen des de-mografischen Wandels schon und hatNot, genügend Azubis zu finden.Die Umfrage des Allensbach-Instituts

zeigt auch, dass es zugleich ein großesVerständnis in der Bevölkerung für dieschwierige Lage von Hartz-IV-Empfän-gern gibt. So sind 90 Prozent der Befrag-ten der Meinung, dass sich Langzeitar-beitslose finanziell sehr einschränkenmüssen. 70 Prozent glauben, sie sind un-glücklich über ihre Situation.Für viele könnte das knapper werden-

de Arbeitskräfteangebot die große Chan-ce sein. Mehr als zwei Drittel der Ar-beitslosen kommen aus der Grundsiche-rung, der Aufschwung hat zunächst dieoft besser qualifizierten Kurzzeitarbeits-losen in Arbeit gebracht – im Septemberwaren fast zwei Millionen arbeitsloseHartz-IV-Empfänger, aber nur 861.000Kurzeitarbeitslose bei der BA registriert.Selbst wenn diese Zahlen anderes

vermuten lassen – eines seien vieleHartz-IV-Empfänger laut Alt ebennicht: faul. „Etwa ein Drittel ist er-werbstätig, die Hälfte in einem Minijob,andere in Teilzeit“, sagt Alt. Hinzu kom-men diejenigen, die Kinder betreuenoder einen Angehörigen pflegen. Arbeit-geber sollten sich besinnen und einfachmal denken: „Diese Menschen habenbei mir kein Plus, aber vielleicht auchkein Minus.“

Kampagne gegen das Bildvom faulen ArbeitslosenDie Arbeitsagentur kritisiert gängige Vorurteile gegenüberLangzeitarbeitslosen. Jetzt will sie das schlechte Image verbessern

INFOGRAFIK

DIE FÜNF GRÖSSTEN VORURTEILEÜBER HARTZ-IV-EMPFÄNGER

1.2.3.4.5.

QUELLE: JOBCENTER

VORURTEIL37 Prozentder Deutschen glauben:Hartz-IV-Empfänger wollennicht arbeiten.

VORURTEIL55 Prozentder Deutschen glauben:Hartz-IV-Empfängersuchen selbst nichtaktiv nach Arbeit.

VORURTEIL57 Prozentder Deutschen glauben:Hartz-IV-Empfängersind bei der Arbeits-suche zu wählerisch.

VORURTEIL55 Prozentder Deutschen glauben:Hartz-IV-Empfängerhaben nichtsSinnvolles zu tun.

VORURTEIL57 Prozentder Deutschen glauben:Hartz-IV-Empfängersind schlechtqualifiziert.

der Hartz-IV-Empfängerempfinden Arbeit alsdas Wichtigste im Leben

der arbeitsuchendenHartz-IV-Empfängerklopfen direktbeim Arbeitgeber an.

der arbeitsuchendenHartz-IV-Empfänger würdenArbeit annehmen, für die sieüberqualifiziert sind.

der Hartz-IV-Empfängergehen mindestens einergesellschaftlichrelevanten Tätigkeit nach.

der Hartz-IV-Empfänger verfügenüber eine abgeschlosseneBerufsausbildung.

REALITÄT:

REALITÄT:

REALITÄT:

REALITÄT:

REALITÄT:

75%

62%

71%

62%

44%

T Spekulation um Streit mit demVerwaltungsrat über Strategieund Leistung. Geldhaus wenigerprofitabel als Konkurrenz

MARTIN GREIVENEW YORK

P aukenschlag bei der US-GroßbankCitigroup: Einen Tag nach Be-kanntgabe der jüngsten Quartals-

zahlen ist Vikram Pandit völlig überra-schend als Vorstandschef zurückgetre-ten. „Ich habe beschlossen, dass es jetztdie richtige Zeit ist, dass jemand anderesdas Ruder bei der Citigroup über-nimmt“, erklärte Pandit. Weitere Gründefür seinen Rückzug nannte der 55-jährigeBanker nicht.Das „Wall Street Journal“ berichtete

ohne Quellenangabe, dass Pandit nacheinem Krach mit dem Verwaltungsratüber die Strategie und Leistung der Bankgegangen sei. Neben Pandit legte auchJohn Havens, Leiter des operativen Ge-schäfts und enger Vertrauter Pandits,sein Amt nieder. Neuer Chef der Citi-group wird Europachef Michael Corbat.Der in Indien geborene Pandit hatte

im Dezember 2007 das Ruder bei dem

Geldhaus übernommen, das sich damalsin turbulentem Fahrwasser befand. DieCitigroup hatte sich wie viele Konkur-renten am einbrechenden US-Hypothe-kenmarkt verspekuliert. Pandit wussteum seine schwere Aufgabe: Er wolltesich solange mit einem Gehalt von einerMillion Dollar im Jahr zufriedengeben,bis das Finanzhaus wieder Gewinne ein-fuhr. Auch war er einer der wenigenWall-Street-Banker, der neuen Regulie-rungsvorschriften für die Finanzbrancheoffen gegenüber stand.2008 musste die Bank vom Steuerzah-

ler mit 45 Milliarden Dollar gerettet wer-den. Kritiker hielten dies Pandit immerwieder vor, auch wenn das US-Finanzmi-nisterium seine letzten Anteile Ende2010 wieder abtrat – mit einem Gewinnvon zwölf Milliarden Dollar.Pandit versuchte in seiner fünfjähri-

gen Amtszeit, die Risiken in der Bi-lanz abzubauen und den Konzern indie Gewinnzone zurückzuführen.Aus dem Finanzkoloss, der speku-lierte und in Versicherungen mach-te, sollte wieder eine klassischeBank werden. Pandit fokussiertedie Bank auf Privat- und Fir-menkunden und das Ka-pitalmarktgeschäft undtrennte sich von Pro-

blemsparten, Zehntausende Stellen fie-len weg. Das deutsche Privatkundenge-schäft verkaufte er an die französischeGenossenschaftsbank Crédit Mutuel.Die einstige Citibank firmiert hierzulan-de nun unter dem Namen „Targobank“.Durch den Umbau gelang der Citigroupdie Wende. Sie verdiente wieder Geld.Allerdings war das Haus zuletzt weni-

ger profitabel als die Konkurrenz vonJPMorgan Chase oder Wells Fargo. AuchMorgan Stanley oder Goldman Sachs er-holten sich schneller von der Finanzkri-se. Das schlägt sich im Börsenkurs nie-der: Die Aktie kostet heute 36 Dollar,während es Anfang vergangenen Jahresnoch 50 Dollar waren. Seit Pandits Über-nahme hat die Aktie sogar 89 Prozent ih-res Wertes eingebüßt. Pandit musstesich auf der Hauptversammlung im April

deshalb viel Kritik anhören. DieAktionäre sprachen sich so-gar gegen seinen Millionen-bonus von 15 MillionenDollar aus – ein Novum an

der Wall Street. Es war nicht die einzigeNiederlage Pandits: Im März genehmigtedie US-Notenbank Fed nach einem Ban-ken-Stresstest die Pläne zur Kapitalaus-richtung der Citigroup nicht. Pandit hat-te zuvor Analysten und Investoren ge-sagt, die Pläne würden durchgewunken.Der jüngste Quartalsbericht zeigt zu-

dem, dass die Aufräumarbeiten bei derCitigroup länger dauerten als gedacht.So musste das Finanzhaus seine Beteili-gung am Vermögensverwalter MorganStanley Smith Barney um 4,7 MilliardenDollar berichtigen. Ohne die einmaligeAbschreibung hätte die Bank allerdingseinen Milliardengewinn eingefahren.Analysten sahen die Bank deshalb aufdem Weg zur Besserung.Umso überraschender kam nun der

Rücktritt. „Das ist total ungewöhnlich.Es gab keine Gerüchte, keine Hinweise“,sagte Bankenkenner William Cohan.„Ich hätte gedacht, dass er noch bleibenwürde, um die Früchte seiner Arbeit zuernten“, sagte Peter Jankovskis, Co-An-

lagechef bei Oakbrook Investments. Ander Wall Street kam die Nachricht nichtgut an: Die Citi-Aktie, die am Vortag or-dentlich zugelegt hatte, verlor vorbörs-lich fast zwei Prozent.Citigroup-Verwaltungsratschef Micha-

el O'Neill dankte Pandit dafür, dass erdie Citigroup durch die Krise geführt ha-be: „Vikram hat das Unternehmen re-strukturiert und rekapitalisiert, er hatunsere globale Aufstellung gestärkt unddas Geschäft neu ausgerichtet.“ Die Citi-group ist mit rund 200 Millionen Kun-den eine der größten Banken weltweit.Mit Corbat rückt ein erfahrener Citi-

group-Verteran an die Spitze der Bank.Corbat arbeitet seit fast 30 Jahren fürdas Finanzhaus. Bevor er für die RegionEuropa, Naher Osten und Afrika zustän-dig war, hatte er die Trennung der Pro-blemsparten verantwortet. Davor war erChef der Vermögensverwaltung. In die-sen Rollen habe der Manager „außerge-wöhnliche Führungsqualitäten“ bewie-sen, erklärte O'Neill. Außerdem kenne erdie Bank sehr gut. Corbat selbst sagte,die Citigroup stehe auf einem solidenFundament. In einer internen Mitteilungan die Mitarbeiter schrieb er, dass es „ei-nige Veränderungen“ geben werde. Wei-ter ins Detail ging er allerdings nicht.

Siehe Kommentar

Citigroup-Chef Vikram Pandit tritt zurückTop-Banker legt völlig überraschend Amt nieder. Auch sein Vertrauter John Havens gibt Vorstandsposten auf

„Jetzt ist die richtige Zeit“Vikram Pandit, Citigroup-Vorstandschef

REUTERS/BRENDAN MCDERMID

M12 Arbeitslos = Drückeberger? M13 Arbeitslose aktivieren! Nur wie?

Im März 2003 kündigte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungsrede umfassende und einschneidende Reformen (= so genannte „Agenda 2010“) insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpoli-tik an: […] Wir müssen den Mut aufbringen, in unserem Land jetzt die Veränderungen vorzunehmen, die not-wendig sind, um wieder an die Spitze der wirtschaftli-chen und der sozialen Entwicklung in Europa zu kom-men. [...] Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach Überzeugung der Bundes-regierung vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen – für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für die soziale Absicherung [...]. Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung för-dern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen ab-fordern müssen. [...] Um unserer […] Verantwortung […] gerecht zu wer-den, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein. Ent-weder wir modernisieren, und zwar als soziale Markt-wirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden. Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch unverändert geblieben. An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Ins-trumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Unge-rechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen. Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todes-stoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Subs-tanz des Sozialstaates zu erhalten. Deshalb brauchen wir durchgreifende Veränderungen. [...] Arbeit und Wirtschaft, das ist das Herzstück unserer Reformagenda. Eine dynamisch wachsende Wirtschaft und eine hohe Beschäftigungsquote sind die Vorausset-zungen für einen leistungsfähigen Sozialstaat und damit für eine funktionierende soziale Marktwirtschaft. Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt. [...] Meine Damen und Herren, wir können es nicht dabei belassen, die Bedingungen für die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte zu verbessern. Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brau-chen? Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, wäh-rend andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen. Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleicherma-ßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgrei-che Integration sein. Wir brauchen deshalb Zuständig

Bild-Zeitung, 6.4.2001

Quelle: Jobcenter, DIE WELT, 16.10.2012

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

13

keiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und So-zialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird. [...] Niemandem [...] wird künftig gestattet sein, sich zu-lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutba-re Arbeit ablehnt [...] der wird mit Sanktionen rechnen müssen. [...] [E]s wird unausweichlich nötig sein, An-sprüche und Leistungen zu streichen, Ansprüche und Leistungen, die schon heute die Jüngeren über Gebühr belasten und unserem Land Zukunftschancen verbau-en. [...] Durch unsere Maßnahmen zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme senken wir die Lohnne-benkosten. Das ist gewiss nicht immer einfach und die Maßnahme, die wir zusätzlich durchführen müssen, ist es erst recht nicht. Wir werden das Arbeitslosengeld für die unter 55-Jährigen auf zwölf und für die über 55-Jäh-rigen auf 18 Monate begrenzen, weil dies notwendig ist, um die Lohnnebenkosten im Griff zu behalten. Es ist auch deswegen notwendig, um vor dem Hintergrund ei-ner veränderten Vermittlungssituation Arbeitsanreize zu geben. […]

Regierungserklärung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) „Mut zum Frieden und zur Veränderung“ [„Agenda 2010“] vom 14.3.2003, Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 15/32, http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/15/15032.pdf

Aufgaben

A1 Analysieren Sie die Titelseite der BILD-Zeitung (M12) hinsichtlich ihrer Hauptaussage.

A2 Stellen Sie Ihr Ergebnis dem Schaubild M12 gegenüber und erörtern Sie mögliche Gründe für das negative Bild von Arbeitssuchenden in Deutschland.

A3 Geben Sie in eigenen Worten das Kernanliegen der „Agenda 2010“ (M13) wieder. Beziehen Sie sich dabei sowohl auf die Ziele als auch auf die einzelnen Maßnahmen.

A4 Schauen Sie sich unter www.youtube.com/watch?v=XG60rZn6Iac die 28-minütige ZDF-Reportage „Hart, härter, Hartz: Fünf Jahre Leben mit der Reform“ an. Erstellen Sie dabei eine tabellarische Übersicht über die Situation der dargestellten Hartz-IV-Empfän-ger bzw. -Empfängerin Hartmut Schlüter, Josef Siegel und Adi Wolff. Beziehen Sie sich dabei auf die Aspekte Ursachen der Arbeitslosigkeit; Einstellungen zu Arbeit; Einstellungen zu Hartz IV; Wirkungen der veränderten Arbeitsmarktpolitik.

Vergleichen Sie die Situationen mit dem gesellschaftli-chen Bild des Arbeitslosen/Hartz-IV-Empfängers (A2).

A5 Kernstück der Agenda 2010 waren die so genannten „Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, besser bekannt als Hartz-Gesetze I bis IV (benannt nach Peter Hartz, dem Vorsitzenden der sie entwerfenden Kommission). In diesen Gesetzen werden die in der Regierungsrede Gerhard Schröders angesprochenen Maßnahmen konkretisiert.

Bilden Sie Partner-Tandems und setzen Sie sich ge-meinsam näher mit den Hartz-Gesetzen auseinander.

Recherchieren Sie dafür unter www.tagesschau.de/wirtschaft/meldung73930.html (Partner/in A) bzw. www.tagesschau.de/inland/meldung147772.html (Partner/in B), welche Maßnahmen im Rahmen der Hartz-Gesetze ergriffen wurden, um den Arbeitsmarkt zu reformieren. Teilen Sie die einzelnen Maßnahmen den Grundsätzen „Fördern und Fordern“ zu.

Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse mit denen des/der Partner/in, der/die sich mit den gleichen Inhalten ausei-nandergesetzt hat wie Sie (A-A; B-B).

Tauschen Sie sich nun jeweils mit dem/der anderen Partner/in Ihres Tandems über die Inhalte der Hartz-Gesetze aus. Ergänzen Sie Ihre Übersicht über die Maßnahmen des Förderns und Forderns (A-B;A-B).

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

60

65

70

75

80

14

M14 Die Dunkelziffer der Armut

In Deutschland leben 3,1 bis 4,9 Millionen Men schen in verdeckter Armut. Das heißt, dass sie kein Hartz IV beantragen, obwohl sie wegen ge rin gen Ein kommens oder Vermögens Anspruch darauf hätten. Zu diesem Ergebnis kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in ak tu el len Simulationsrech-nungen für das Arbeits minis te rium. Umgerechnet ver-zichten zwischen 34 und 44 Prozent der Berechtigten auf staatliche Unter stüt zung, mehr als jeder dritte. Als mögliche Grün de, warum kein Leistungsantrag gestellt wird, nen nen die IAB-Forscher in der 247-seitigen Stu-die Un wissen heit, Scham oder eine nur sehr geringe zu erwartende Leistungshöhe oder -dauer. […] Linken-Chefin Katja Kipping forderte eine be darfs-deckende Mindestsicherung ohne Sanktio nen statt Hartz IV. „Angesichts der entwürdigen den Prozeduren auf den Jobcentern ist es kein Wunder, dass Millionen auf Leistungen verzichten. Die Abschreckung durch Diskriminie rung spart dem Staat pro Jahr mindestens 20 Milliarden Euro.“

Cordula Eubel, Verdeckte Armut in Deutschland. Mehr als jeder Dritte verzichtet auf Hartz IV, Tagesspiegel, 1.7.2013

M16 Wofür man die HartzIVler noch so alles ein-setzen könnte

M15 Entwicklung der Arbeitslosenquote im europäischen Vergleich, in Prozent

Deutschland Frankreich Griechenland Großbritannien Italien Portugal Spanien

2001 20072003 2005 2009 2011 20130

10

5

15

30

25

20

Eurostat 2014 © Hans-Böckler-Stiftung 2014

Klaus Stuttmann

5

10

15

20

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

15

M17 Die Agenda 2010 – eine Erfolgsgeschichte!

Lob vom politischen Gegner gibt‘s selten – doch für die Hartz-Reformen zollt selbst die heutige Kanzlerin ihrem Amtsvorgänger Respekt. Bundeskanzlerin Angela Mer-kel zeigte sich Anfang des Jahres zufrieden mit dem, was ihr Vorgänger Gerhard Schröder vor zehn Jahren begon-nen hatte: „Nach zwei, drei Jahren haben diese Arbeits-marktreformen gewirkt und heute haben wir unter drei Millionen.“ Unter drei Millionen Arbeitslose – auch Arbeitsmi-nisterin Ursula von der Leyen findet im Rückblick die Arbeitsmarktreformen richtig: „Heute stehen wir mit einer halbierten Arbeitslosigkeit von 2,8 Millionen da. Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Eu-ropa. Wir haben einen sehr soliden Arbeitsmarkt, für den wir im Ausland beneidet werden“, lobt die CDU-Politikerin. Hubertus Pellengar von der arbeitgebernahen Stif-tung Neue Soziale Marktwirtschaft bescheinigt den Reformen ebenfalls Erfolg: „Die Rechnung ist aufge-gangen: Fördern und fordern, das war richtig. Und auch die Anreize zu verstärken, dass die Menschen eine Be-schäftigung aufnehmen.“ Einen Mindestlohn braucht es nach Angabe des Wirtschaftslobbyisten nicht: „Das Entscheidende ist, dass die Menschen im Niedriglohn-sektor nicht gefangen sind. Sie haben Aufstiegsmöglich-keiten. Wir haben das im vergangenen Jahr untersucht: Ein Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor schafft jedes Jahr den Aufstieg in eine besser bezahlte Beschäftigung.“ Und sogar der DGB-Arbeitsmarkt-Experte Wilhelm Adamy, der die Reformen der Agenda 2010 sonst scharf kritisiert, räumt ein: „Es ist zweifelsohne richtig, dass [...] eine bessere Betreuung der Arbeitslosen eingesetzt hat.“

verändert nach: Christoph Käppeler, Bilanz nach 10 Jahren: Baustelle Hartz-Reformen, tagesschau.de, 16.8.2012

M18 Die Agenda 2010 – keine Erfolgsgeschichte

41,6 Millionen Menschen waren im Jahresdurchschnitt 2012 als Arbeitnehmer oder Selbstständige erwerbstätig. Das waren rund 2,7 Millionen mehr als 2003. Doch der Wachstums-Trend begann bereits viel früher, zeigen For-scher des Instituts für Makroökonomie und Konjunktur-forschung (IMK). Seit dem Beschäftigungs-Tiefstand im Jahr 1994 stieg die Zahl – mit konjunkturellen Schwan-kungen. Gleichzeitig veränderte sich aber die Struktur der Erwerbstätigkeit: Die Vollzeitbeschäftigung ging spürbar zurück. „Atypische Beschäftigung wie auch die Niedriglohnbeschäftigung haben stark zugenommen und sich auf einem vorher nicht gekannten Niveau ein-gependelt.“ Die positive Beschäftigungsentwicklung sei insgesamt eher auf die Konjunktur zurückzuführen. Außerdem sei die Jobsicherung in der Krise der Schlüssel Beschäfti-gungserfolg. „Denn der tiefe Einbruch der Produktion in den Jahren 2008 und 2009 hätte unter früheren Um-ständen zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit weit über die Fünf-Millionengrenze führen müssen,“ sagt IMK-Direktor Gustav Horn. Mit den Hartz-Reformen habe der gelungene Erhalt von Beschäftigung aber wiederum nichts zu tun. „Wesentliche Teile wie beispielsweise die Deregulierung der Leiharbeit zielten ja genau in die an-dere Richtung: Leichter einstellen im Aufschwung, leich-ter entlassen im Abschwung war das Modell.“ Dass es ausgerechnet in der schwersten Wirtschafts-krise seit den 1930er-Jahren anders kam, wird mit zwei Faktoren erklärt: Erstens betrieb die Regierung eine Stabilisierungspolitik aus Konjunkturprogrammen und erweiterter Kurzarbeit. Die machte es vielen Unterneh-men leichter, mit dem Nachfrageausfall fertig zu werden. Zweitens wurden vor allem in größeren Betrieben Rege-lungen ausgehandelt, nach denen Mehr- oder Minderar-beit auch über längere Zeiträume über Arbeitszeitkonten abgerechnet werden konnten. Im Abschwung profitier-ten davon vor allem die Arbeitnehmer. „Sie wurden nicht entlassen, sondern ihre Arbeitszeit wurde bei nahezu un-verändertem Einkommen gekürzt.“ Zusammen mit den Impulsen durch die Regierungsprogramme stabilisierte das nicht nur die Beschäftigung, sondern es verhinderte einen Einbruch des privaten Verbrauchs. Horns Fazit: „Der zweite Blick enthüllt, dass die gute Beschäftigungsentwicklung in Deutschland primär das Ergebnis einer guten Konjunktur und von flexiblen Ar-beitszeiten ist.“ Die Reformen der Agenda 2010 hätten wahrscheinlich die Effizienz der Arbeitsvermittlung ver-bessert und den Druck auf Arbeitslose, sich eine neue Be-schäftigung zu suchen, erhöht. Dies reiche aber nicht, um das „Arbeitsmarktwunder“ zu erklären.

gekürzt und verändert nach: Jobwunder kein Effekt der Agenda 2010, Böckler Impuls 5/2013

Aufgaben

A1 Fassen Sie die Kernaussage des Textes M14 zusammen und interpretieren Sie die Grafik M15 sowie die Karikatur M16.

A2 Benennen Sie mit Hilfe der Quellen M17 und M18 zentrale Argumente, die für bzw. gegen einen Erfolg der Hartz-Reformen sprechen. Ordnen Sie hier auch Ihre Ergebnisse aus A1 ein.

A3 Beurteilen Sie auf Basis der Arbeitser-gebnisse aus Kapitel [B] „Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein“ den Erfolg der Agenda 2010. Beziehen Sie in Ihr Urteil auch die Frage ein, ob der Anspruch des „Förderns und Forderns“ eingelöst werden konnte.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

5

10

15

20

25

30

5

10

15

20

25

30

35

40

16

[C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

M19 Kinder, Kinder – von Ansprüchen und Wirklichkeiten

Zahl der gewünschten Kinder bei Kinderlosen unter 30 Jahren, 2012, in Prozent

keine Kinder

1 Kind

2 Kinder

3 Kinder

4 Kinder und mehr

Durchschnitt 2,0 Kinder

3 78

68

14

Institut für Demoskopie Allensbach 2012 © Hans-Böckler-Stiftung © GiZGRAPHICS – Fotolia.com

M20 Jetzt bloß ruhig sein!

Regelmäßig lese ich Artikel über die Familienpolitik in Deutschland. Da werden mehr Kitaplätze gefordert, mehr Kindergeld – anscheinend hofft man, die Gebur-tenrate mit finanziellen Anreizen ankurbeln zu können. […] Ich […] bin Mutter eines Sohnes und habe oft das Gefühl, das eigentliche Problem des Kindermangels in Deutschland ist kein finanzielles oder politisches. Vor ei-nigen Tagen habe ich das auf schmerzhafte Weise erfah-ren müssen. Um 6.30 Uhr steige ich mit meinem zwei-einhalbjährigen Sohn […] in den ICE […]. [W]ir sind seit 35 Stunden unterwegs. Im Zug sitzen vor allem Ge-schäftsreisende, wir passen hier ganz eindeutig nicht ins Bild. Bei all meiner Müdigkeit nach 35 Stunden auf der Reise respektiere ich die schlafenden oder arbeitenden Menschen, so gut es mit einem Kleinkind geht. Nach [einer Weile] beginnt es hinter mir zu zischeln, ich höre ein recht laut gestöhntes „Sooo nervig“. Wir verlassen den Großraumwagen, damit wir auch mal etwas lauter werden können. Durch die Glastür beobachte ich, wie die Männer, die auf den Plätzen hinter unseren sitzen, den vorbeikommenden Schaffner aufhalten. Sie zeigen mit dem Finger auf mich, obwohl ich sie direkt ansehe, und fordern vom Zugpersonal, mich aus dem Abteil zu entfernen. So offen wird mir also gezeigt, dass ich als Mutter mit Kleinkind unerwünscht bin. […]

Sigrid Gassler, Deutsche finden Kinder nervig, ZEIT ONLINE, 21.8.2013

Aufgaben

A1 Vergleichen Sie die beiden Abbildungen aus M19. Beschreiben Sie spontan die bei Ihnen geweck-ten Eindrücke.

A2 Fassen Sie die Kernaussage von M20 zusam-men und interpretieren Sie die Karikatur M21. Stellen Sie diese in einen Zusammenhang mit den Ergebnissen aus A1.

M21 Jetzt bloß nicht wackeln

Burkhard Mohr

5

10

15

20

25

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

17boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

M22 Frauen, Kinder und Karriere = Rabenmütter?

Gaelle Olivier fällt auf. Ihr Bauch wölbt sich unter dem cremefarbenen Top, das sie zum blauen Hosenanzug trägt. Aufrecht steht sie im lichten Foyer im Hauptsitz des Versicherungskonzerns Axa, Avenue Matignon, Pa-ris. Als sie ihre Besucherin in Empfang nimmt, läuft eine Kollegin vorbei und ruft: „Wie geht‘s? Wann ist es denn soweit?“ Olivier lächelt und antwortet: „Einen Monat noch.“ Sechs Wochen später wird sie eine E-Mail schrei-ben: „Der kleine Achille ist vor vierzehn Tagen auf die Welt gekommen. Es geht ihm sehr gut. Ich habe bereits wieder angefangen, ein wenig von zu Hause aus zu ar-beiten.“ Karriere, ja. Und das mit Kindern. Achille ist bereits der dritte Sohn von Olivier. Die beiden anderen Jungen sind drei und vier Jahre alt. […] Der berufliche Ehrgeiz [ist nicht] das ausschlagge-bende Argument gegen Kinder, wie viele Deutsche es im-mer noch vermuten. Im Gegenteil: Französinnen haben nicht nur mehr Kinder. Die französischen Mütter sind in der Regel auch viel häufiger berufstätig als deutsche Mütter. […]“ Meine beiden älteren Jungs haben zu Hau-se ein Kindermädchen“, erzählt Olivier. Die Betreuerin kommt morgens um acht. Oft ist Olivier dann schon im Büro. Aber ihr Mann wartet zu Hause, bis die Kinder-frau kommt. Sie bleibt bis abends um sieben. Dann kehrt Olivier zurück. Ihr Mann, der in der Autoindustrie ar-beitet, kommt später. „Einer von uns beiden ist immer da, wenn die Kinderfrau kommt oder geht“, sagt Olivier. Seitdem die Kinder drei Jahre alt sind, besuchen sie zudem die staatliche französische Vorschule. Sie ist kei-ne Pflicht. Aber 99 Prozent der Franzosen besuchen die Vorschule vom dritten Lebensjahr an. Vielen Eltern ist gar nicht mehr bewusst, dass die Schulpflicht erst mit sechs Jahren beginnt. Selbstverständlich bleiben die Kinder bis nachmittags in der Vorschule. Ganz anders in Deutschland. Zwar gehen fast alle Dreijährigen mittlerweile in den Kindergarten. Aber in den alten Ländern der Bundesrepublik sind nicht einmal ein Fünftel Ganztagseinrichtungen. Die französische Familienforscherin Jeanne Fagna-ni hat untersucht, warum Französinnen mehr arbeiten und mehr Kinder haben als Deutsche. Sie kommt zu dem Schluss, dass die unterschiedliche Kinderbetreuung eine Rolle spielt – aber nicht die entscheidende. Gewiss, schreibt Fagnani in einer Studie, sei die französische Politik, anders als die deutsche, mit zunehmend besse-ren Kinderbetreuungseinrichtungen seit den siebziger Jahren auf die arbeitende Mutter ausgerichtet. Bei den deutschen Frauen dagegen fiel ihr ein großes Misstrau-

en gegen jegliche Versorgung der Kinder außerhalb des eigenen Hauses auf: „Die Mehrheit der westdeutschen Frauen glaubt immer noch an die Theorie, dass ein Kind unter drei Jahren ständig bei der Mutter sein sollte, und dass jede Trennung traumatisch für das Kind sei.“ Da-bei entbehrt dieser Glaube jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. [...] „Eine Rabenmutter? Was ist das?“ fragt Sandrine Cailleteau […] erstaunt. Das Wort gibt es nicht im Fran-zösischen. Die 38 Jahre alte Pariser Strategieberaterin in der Pharmaindustrie hat drei Kinder im Alter von zehn, vier und zwei Jahren. Nach kurzem Nachdenken fügt sie hinzu: „Eine gute Mutter zeichnet sich dadurch aus, dass sie Qualitätszeit mit ihren Kindern verbringt, ihnen zuhört, mit ihnen spielt und diskutiert, wenn sie da ist.“

Imke Henkel, Adieu Rabenmutter, Süddeutsche Zeitung, 26.7.2003

Mittelmaßmama, www.mama-nagement.blogspot.com, 2014

Fortsetzung S. 18

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

18

M23 Männer, Kinder und Karriere = fürsorglicher Familienvater?

Statistisches Bundesamt 2013 © Hans-Böckler-Stiftung

Erwerbsbeteiligung von Paaren mit Kind(ern) unter 18 Jahren in Deutschland 2012*, in Prozent

Vater in Vollzeit, Mutter in Teilzeit

Nur Vater erwerbstätig

Beide Partner in Vollzeit tätig

Keiner erwerbstätig

Nur Mutter erwerbstätig

Beide in Teilzeit tätig

Vater in Teilzeit, Mutter in Vollzeit

38,4

29,4

13,8

10,3

5,3

1,6

1,0

* Basis 6,45 Mio. Paare mit Kind(ern) unter 18 Jahren

Wenn Väter zu Hause bleibenAnteil der Väter an Elterngeld-Beziehern

Mütter

bis zu2 Monaten

0,8 %

78,7 %

3 bis 9Monaten

4,3 %

13,3 %

10 bis 12Monaten

92,9 %

8,0 %

13 bis 14Monaten

2,1 %

0,0 %Väter

Elterngeld bezogen über eine Dauer von ...

300 €

300 bis1.000 €

1.000 bis1.800 €

1.800 €und mehr

25,4 %

52,1 %

18,3 %

4,1 %

11,9 %

27,4 %

41,8 %

19,0 %Mütter 706 €

Väter 1.148 €

Höhe des Elterngeldes

eld-Beziehernnn

4. Quartal2008

15,5%

3. Quartal2010

22,4%

3. Quartal2012

23,5%

4. Quartal2006

3,5%

Statistisches Bundesamt 2014 © Hans-Böckler-Stiftung

Aufgaben

A1 Lesen Sie zunächst den Text M22. Sammeln Sie dann im Plenum, was Sie unter einer Rabenmutter verstehen. Recherchieren Sie anschließend, wie sich der Vogel Rabe gegenüber seinen Jungen tatsächlich verhält. Verfassen Sie auf dieser Basis einen Lexikon-eintrag, mit dessen Hilfe Sie Sandrine Cailleteau den Begriff erklären können.

A2 Bestimmen Sie Merkmale, die eine fürsorgli-che Mutter und einen fürsorglichen Vater ausmachen, und stellen Sie diese in einer Tabelle gegenüber.

A3 Fassen Sie die in M22 aufgezeigten Gründe, warum sich insbesondere junge deutsche Frauen gegen ein Kind entscheiden, zusammen. Sammeln Sie anschließend mögliche Gründe, warum sich junge deutsche Männer gegen Kinder entscheiden könnten.

A4 Interpretieren Sie die Grafiken M23. Nutzen Sie hierfür auch die Ergebnisse aus A1 bis A3.

A5 Nehmen Sie aus Sicht der beiden franzö-sischen Mütter (M22) zur Kleinkindererziehung in Deutschland, insbesondere zu den Rollen von Müttern und Vätern, Stellung.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

19

M24 Wann ist Familienpolitik erfolgreich?

© Götz Wiedenroth, www.wiedenroth-karikatur.de

Unterstützung für Familien und Ehen, 2010, in Mrd. Euro

familienbezogene Leistungen ehebezogene Leistungen

Realleistungen 27,4 Realleistungen – Tagesbetreuung 16,2 Hilfe zur Erziehung 6,3 sonstige 4,9

Geldleistungen 25,1 Geldleistungen 3,2 Rentenversicherung für Erziehungszeiten 11,6Elterngeld 4,6 sonstige 8,9

Sozialversicherung 27,3 Sozialversicherung 51,4 Krankenversicherung 21,7 Witwenrente 38,1 Pflege-, Unfall-, Arbeitslosen- und sonstige 13,3 Rentenversicherung 5,6

steuerliche Maßnahmen 45,6 steuerliche Maßnahmen 20,3 Kindergeld 38,8 Ehegattensplitting 19,8 sonstige 6,8 sonstige 0,5

Gesamt 125,5 Gesamt 74,9

rundungsbedingte Differenz Bundesfamilienministerium, nach: Badische Zeitung, 5.2.2013

Die ehe- und familienbezogenen Leistungen des Staates und der Sozialversicherung umfassten 2010: 200,4 Mrd. Euro.

Fortsetzung S. 20 f.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

20

M25 Zusammengefasste Geburtenziffer* in Deutschland 1960 – 2012** Durchschnittliche Zahl der Kinder je Frau im gebährfähigen Alter (15 – 49 Jahre)

Statistisches Bundesamt © Hans-Böckler-Stiftung

** berechnet nach der Geburtsjahrmethode

3,0

2,5

2,0

0,5

1,5

1,0

1960 1970 1980 1990 2000 2006 2008 2010 2012

2,51

1,28 1,37

0,84

1,94

1,45

* Zusammengefasste Geburtenziffer:

Kennzahl, die angibt, wie viele Kinder eine Frau im gesamten Leben bekommen würde, wenn sie sich so verhält, wie alle Frauen im betrachteten Zeitraum

Am Beispiel: Von 1.000 30 – 34-jährigen Frauen haben 2011 469 ein Kind bekommen. Die Geburtenziffer für diese altersspezifische Grup-pe beträgt deswegen 0,469 (= 469/1000). Die zusammengefasste Ge-burtenziffer enthält nun nicht nur die Geburten der 30 – 34-Jährigen, sondern die aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren. Es wird dafür zunächst berechnet wie viele von 1.000 Frauen in den Altersgruppen 15 – 9, 20 – 24, 25 – 29, 30 – 4, 35 – 39, 40 – 44 und 45 – 49 ein Kind be-kommen haben. Diese Zahlen werden anschließend addiert.

Wenn nun 2011 jede 30 – 34-jährige Frau im Durchschnitt 0,469 Kinder bekommen hat, geht die zusammengefasste Geburtenziffer davon aus, dass eine Frau, die 2011 20 – 24 Jahre alt ist, 2021 (also wenn sie dann 30 – 34 Jahre alt ist) im Durchschnitt auch 0,469 Kinder bekommt.

Kritik: Solche Berechnungen sind hoch spekulativ, denn keiner kann genau vorhersagen, was in zehn Jahren passieren wird. Insbesonde-re ist davon auszugehen, dass ältere Frauen in Zukunft mehr Kinder bekommen als bisher. Das wäre ein Trend, der sich fortsetzt. Hat 1991 eine Frau der Altersgruppe 30 – 34 im Durchschnitt gerade einmal 0,12 Kinder bekommen, hat sich diese Zahl bis heute fast vervierfacht (siehe oben). Daher wird eine Frau im Durchschnitt wahrscheinlich mehr als 1,36 Kinder bekommen. Außerdem zeigt die zusammenge-fasste Geburtenziffer nicht an, wie viele Kinder ein Mann hat.

Autorentext

Alte Bundesländer DDR/Neue Bundesländer Deutschland

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

21

M26 Zitate zur Familienpolitik

Dr. Kristina Schröder, Bundesfamilien-minsterin a.D.

„Mit der Vielfalt der monetären Leistungen ist die deutsche Famili-enpolitik auf dem richtigen Weg“, sagt [die ehemalige Bundesfami-lienministerin] Kristina Schröder (CDU). „Wahlfreiheit“ sei von entscheidender Bedeutung. Fami-lienpolitik dürfe nicht so anmaßend sein, Familien eine bestimmte Lebensweise vorgeben zu wollen. […] „Ehe- und familienbezogene Leistungen begleiten die Familien zuverlässig.“

Süddeutsche Zeitung, 20.6.2013

Prof. Dr. Holger Bonin, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH

Darf Wahlfreiheit [zwischen Er-werbstätigkeit (unterstützt z. B. durch Anspruch auf Betreuung ab dem ersten Geburtstag) und län-gerfristiger Kinderbetreuung (un-terstützt zum Beispiel durch das Betreuungsgeld)] denn [ein] Ziel der Familienpolitik sein? „Die Zielvorgaben sind Aufgabe der Politik. Aller-dings habe ich den Eindruck, dass die Wahlfreiheit ein-fach nur beschworen wird, um eine inkonsistente Poli-tik zu rechtfertigen. Die eine Leistung soll Müttern die Erwerbstätigkeit erleichtern, eine andere schafft einen Anreiz, zu Hause beim Kind zu bleiben. Beide Ziele wi-dersprechen sich, aber man kann einfach behaupten, sie dienten dem übergeordneten Ziel der Wahlfreiheit.“

die tageszeitung, 1.7.2013

Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzender

„Kinder aus wohlhabenden El-ternhäusern [sind] der [ehemali-gen] Koalition [aus CDU/CSU und FDP] mehr wert als Kinder, die Förderung nötig hätten.“

Der Tagesspiegel, 21.6.2013

Aufgaben

A1 Pro Jahr werden in Deutschland etwa 200 Mrd. Euro für familienpolitische Leistungen ausgege-ben (siehe M24). Über den Erfolg dieser Leistungen wird aber heftig diskutiert.Benennen Sie mögliche Maßstäbe bzw. Ziele, an denen sich der Erfolg von Familienpolitik messen lassen kann. Ordnen Sie diese Maßstäbe und Ziele den Interessen:a] der Bürger/innenb] des Staatesc] der Wirtschaft zu.Nutzen Sie hierfür auch die Karikatur auf S. 19.

A2 Ergänzen Sie Ihre Liste, indem Sie mit Hilfe der Abbildung M25 sowie der neben stehenden Zitate in M26 weitere Maßstäbe und Ziele herausarbeiten.

A3 Bilden Sie Kleingruppen à drei Personen. Re-cherchieren Sie in Ihren Gruppen Funktionsweisen der folgenden familienpolitischen Maßnahmen:• Elterngeld• Ausbau der Kinderbetreuung• Betreuungsgeld• Ehegattensplitting

A4 Bewerten Sie den Erfolg der Maßnahmen, in-dem Sie die Funktionsweise den von Ihnen gefundenen Zielen bzw. Interessen gegenüberstellen.

Dr. Wido Geis, IW Köln

„Politik [sollte] Rahmenbedingun-gen schaffen, die es Paaren erleich-tert, bestehende Kinderwünsche zu realisieren. Die Gestaltung dieser Rahmenbedingungen ist zu großen Teilen Aufgabe der Fa-milienpolitik. Damit kommt ihr auch im Umgang mit dem demo-grafischen Wandel eine wichtige Rolle zu. Konkret sind familienpolitische Maßnahmen notwendig, die verhin-dern, dass die Entscheidung für Kinder starke negative ökonomische oder soziale Auswirkungen für die Eltern haben.“

www.mitreden.buergerdialog-bmbf.de/demografischer-wandel/blog/2012/10/familienpolitik-als-mittel-gegen-den-demografischen-wandel, 9.7.2013

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

5

10

15

20

25

30

35

40

45

22

M27 Unterhaltsrecht als Mittel gegen den demo-grafischen Wandel?

Bis 2008 waren Ehepartner (meist Frauen), die aufgrund von Ehe bzw. Familie ihre Berufstätigkeit aufgaben oder zumindest einschränkten, auch nach dem Ende der Ehe sozial abgesichert, getreu dem Motto: „Einmal Chefarztgattin, immer Chefarztgattin.“ Die 2008 ein-geführte Reform des Unterhaltsrechts verlangt von Ex-Partner(inne)n, dass sie wieder weitestgehend selbst für sich sorgen. Das heißt für eben jene/n Partner/in, die/der sich während der Ehe um Haushalt und Familie küm-merte, dass sie/er sich nun schnellstmöglich wieder um Arbeit bemühen muss – auch wenn zu Hause weiterhin Kinder zu betreuen sind. Ein Vollzeitjob ist immer dann zumutbar, wenn entsprechende Kinderbetreuungsmög-lichkeiten vorhanden sind. Dies sagt freilich noch nichts über die Chancen aus, tatsächlich eine angemessene Stel-le und damit den Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu finden. Außerdem wird nicht bedacht, dass die/derjenige Ehepartner/in, die/der maximal ein paar Stunden pro Woche gearbeitet hat, kaum Beiträge in die Rentenversi-cherung gezahlt hat und ihm/ihr nun erhebliche finanzi-elle Probleme auch im Alter drohen. Die Meinungen zur Reform gehen weit auseinander. Während auf der einen Seite von einer Anpassung an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse (zunehmen-de Erwerbsbeteiligung von Frauen) gesprochen wird, warnt die andere Seite vor dem sozialen Absturz des/der bisher nicht/ nicht in Vollzeitbeschäftigung arbeitenden Partners/Partnerin. In der Tat führten die öffentliche Kritik, aber auch die zahlreichen eingereichten Wider-sprüche gegen Scheidungsurteile auf Basis des neuen Rechts zu einer Reform der Reform. Vor allem die Dauer der Ehe spielt nun bei der Berechnung der Unterhalts-zahlungen eine bedeutsame Rolle.

Autorentext

M28 Ehen in Deutschland, in Tsd.

Eheschließungen Ehescheidungen

019601950 19901970 1980 2000 2012

200

100

300

700

500

800

600

400

Statistisches Bundesamt, 2013 © Hans-Böckler-Stiftung

Teilzeitbeschäftigung vor allem bei Frauen 2012, in Prozent

Statistisches Bundesamt 2013 © Hans-Böckler-Stiftung

Männer

Frauen

91,1 8,9

54,7 45,3

Vollzeit Teilzeit

M29 Frauenarbeit = Teilzeitarbeit?

Gründe für Teilzeitarbeit nach Geschlecht 2012, in Prozent

Vollzeit aus anderen Grün-den nicht gewünscht

Sonstige familiäre oder persönliche Verantwortung

Betreuung von Kindern/ pflegebedürftigen Personen

Vollzeittätigkeit nicht zu finden

Aus- oder Weiterbildung

Krankheit oder Unfall-folgen

Insgesamt Männer Frauen

25,1

22,1

16,6

10,5

3,5

28,7

3,1

26,6

28,2

8,1

24,3

22,25,4

25,9

26,3

14,4

6,6

2,5

Statistisches Bundesamt 2014 © Hans-Böckler-Stiftung

5

10

15

20

25

30

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

23

Aufgaben

A1 Erläutern Sie unter Nutzung von M27 bis M29 mögliche Wirkungen des veränderten Unterhalts-rechts auf den Arbeitsmarkt. Gehen Sie dabei insbe-sondere auf den demografischen Wandel ein.

A2 Benennen Sie die Grenzen der Ziele des neuen Unterhaltsrechts. Verwenden Sie hierfür M27 sowie M29 und M30.

A3 Beurteilen Sie auf Basis von A1 und A2 die Be-deutung des neuen Unterhaltsrechts für geschiedene Eheleute, den Staat und die Wirtschaft.

A4 Diskutieren Sie auf Basis Ihrer Aufzeich-nungen zu Teil [C], ob und inwiefern die familienpoliti-schen Leistungen und das veränderte Unterhalts- und Scheidungsrecht in den Kontext der Aktivierung (siehe dazu auch M4) einzuordnen sind.

M30 Männerarbeit = Vollzeitarbeit?

Männerarbeit Angaben in Prozent

Welche Arbeitszeitmodelle sind in Ihrem Betrieb möglich?

Vollzeit

Teilzeit 30-35 Std. pro Woche

Teilzeit 25-29 Std.

Teilzeit 20-24 Std.

Teilzeit weniger als 20 Std.

96 3 1

58 29 13

48 34 18

46 35 19

39 38 23

möglich nicht möglich weiß nicht

SZ-Grafik: Julia Kraus; Quelle: ELTERN-Studie „Väter in Deutschland“

Vollzeit

Teilzeit 30-35 Std.

Teilzeit 25-29 Std.

Teilzeit 20-24 Std.

Teilzeit weniger als 20 Std.

64

22

6

3

2

Welches Arbeitsmodell ist Ihnen persönlich am liebsten?

Süddeutsche Zeitung, 13.2.2014

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

24

[D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

Aufgaben

A1 Beschreiben Sie Ihre Vorstellungen vom guten Alter(n)/von Lebensqualität auch im höheren Alter. Überlegen Sie dafür, was Sie im fortgeschrittenen Alter alles erleben wollen. Nutzen Sie hierfür ggf. die Bilder aus M31 oder fragen Sie Ihre Eltern, Großeltern und/oder weitere Bekannte nach deren Vorstellungen eines gelungenen Rentenalters.

A2 Tragen Sie die Vorstellungen im Plenum zusammen.

A3 Diskutieren Sie (ebenfalls im Plenum) über notwendige Voraussetzungen zur Gewährleistung von Lebensqualität im Alter.

M31 Wenn ich einmal alt bin…

1

4 5

1. – 6.: picture-alliance

6

3

2

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

25

M32 Altersvorsorge = Altersversorgung

Will es eine Gesellschaft ihren Mitgliedern ermöglichen, ab einem bestimmten Alter nicht mehr arbeiten zu müs-sen und dennoch am gesellschaftlichen Leben teilzuha-ben, müssen Wege gefunden werden, wie diese Menschen finanziell abgesichert werden können. In Deutschland baut die Alterssicherung auf drei Säulen auf:

Die zunehmende Alterung der Gesellschaft stellt die gesetzliche Alterssicherung vor finanzielle Herausforde-rungen. Spätestens mit der Rentenreform von 2001 wur-de deswegen ein stärkeres Gewicht auf den Ausbau vor allem der privaten Altersvorsorge gelegt, während die gesetzliche Rentenversicherung geschwächt wurde. Die damit einhergehende Einführung staatlicher Zuschüsse zur privaten Vorsorge im Rahmen der „Riester-Rente“ soll mehr Menschen dazu bewegen, sich selbst zusätzlich zur gesetzlichen Rente abzusichern.

Autorentext

M33 Altersvorsorge durch Konsumverzicht

[…] Bei der Überlegung, wie das optimale Anlagepro-gramm fürs Alter aussieht, denken die meisten Anleger an die Rendite. Je höher die Verzinsung […], desto vor-teilhafter sei auch die Investition. Die Meinung ist vom Grundsatz her richtig. Noch wichtiger ist aber die Ein-sicht, dass […] es bei der Altersvorsorge in erster Linie um die Anlage von Überschüssen geht, und das bedeutet frühen und stetigen Konsumverzicht. […] Das ist vielen Menschen nicht zu vermitteln, wie in folgendem Beispiel deutlich wird. Zwei Anleger sind je-weils 40 Jahre alt. Beide wollen keine Eigenheime, und beide könnten jeden Monat ungefähr 500 Euro auf die hohe Kante legen. Der kleine Unterschied ist die Anla-gepolitik der beiden Herren. Der eine legt das Geld in Pfandbriefe und Aktien an, und der zweite investiert den halben Tausender in Autos, Frauen und Freizeit.[Für den Investor ist] die Zeit das größte Kapital […] Die insgesamt 324 Monatsraten von jeweils 500 Euro führen durch [angenommene] Zinsen [von 3%] und Zin-seszinsen zu einem Endwert von 248.000 Euro. [D]er Altersgenosse […] will das Leben weiter in vol-len Zügen genießen und […] nach dem 50. Geburtstag mit dem Sparen […] beginnen. […] 37 Prozent weniger Sparzeit kürzen das Endvermögen um 46 Prozent, weil 204 Sparraten à 500 Euro, angelegt zu 3 Prozent, nach 17 Jahren zu einem Vermögen von 132.000 Euro führen.

Volker Looman, Altervorsorge ist für viele ein mentales Problem, 18.6.2011 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt

Alterssicherung

[1]Gesetzliche

Rente

[2]Betriebliche

Altersvorsorge

[3]Private

Altersvorsorge

M34 Sparen Sie sich den Konsumverzicht!

Manchmal, wenn ich mich mit Vorständen von Le-bensversicherern unterhalte, habe ich den Eindruck, ich hätte es mit selbsternannten Rettern unseres So-zialsystems zu tun. […] [G]anz zentral ist der Begriff des „Konsumverzichts“. „Man muss die erst mal dazu bringen Konsumverzicht zu leisten“ – mit „die“ sind natürlich die Altersvorsorgeverweigerer gemeint. Dabei wird stets ausgeblendet, was mit dem durch Verzicht frei gewordenen Geld passieren soll. Es ist meinen Ge-sprächspartnern in solchen Diskussionen meistens egal, ob eine Lebensversicherung, eine Riester-Rente oder ein Fondssparplan bespart wird. Hauptsache das Geld fließt zu einem Finanzdienstleister. […] Hauptsache es wird gespart. Streng nach der Devise (und schlecht gereimt): „Auch wenn die Zinsen fließen nicht, das Ziel ist der Konsumverzicht.“ Woher dieser Wunsch zum unkontrollierten Sparen kommt, darüber kann man nur spekulieren. […] Aus [ei-nem asketischen] Blickwinkel [etwa] ist Konsumverzicht […] Pflicht. Zum anderen wäre es auch möglich, dass die Finanz-dienstleister – mit den Versicherern an der Spitze – eine geschickte Propagandamaschinerie ins Rollen gebracht haben, um an die Spargelder heranzukommen. […] Ich befürchte, dass […] ein böses Erwachen kommt, wenn viele Sparer bemerken, dass sie um den Wert ih-rer Spareinlagen gebracht wurden. Es wird bitter, wenn die Versicherungsnehmer schmerzlich feststellen müs-sen, dass sie viel Konsumverzicht geleistet haben, um im Alter deutlich weniger konsumieren zu können, als das, worauf sie zuvor verzichtet haben. […]

Axel Kleinlein, Sparen Sie sich den Konsumverzicht, www.handels-blatt.com, 21.11.2012 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Aufgaben

A1 Beschreiben Sie mit Hilfe von M32 die Bedeu-tung privater und betrieblicher Altersvorsorge.

A2 Erklären und erörtern Sie mit Hilfe der Mate-rialien M33 und M34 die Wirkungen eines Konsum-verzichts zugunsten der Altersvorsorge aus Sicht der Konsument(inn)en, des politischen und wirtschaftli-chen Teilsystems heute und in Zukunft. Erstellen Sie hierfür eine Tabelle.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

5

10

15

5

10

15

20

25

5

10

15

20

25

30

26

M35 „Riestern ist ganz einfach“

M36 Die Tücken der Riester-Rente

Ob der Abschluss einer Riester-Rente sinnvoll ist oder nicht, ist selbst unter Experten heftig umstritten. […]

SicherheitWer in einen Riester-Vertrag spart, erhält nach Renten-eintritt bis zu seinem Lebensende eine garantierte Ren-te. Diese Garantie ist ein Versprechen, wie es auch die gesetzliche Rentenversicherung bietet: Sollte der Sparer besonders lange leben, bezieht er auch dann noch seine Rente, wenn seine Einzahlungen und Kapitalerträge rein rechnerisch schon längst aufgebraucht beziehungsweise verrentet sind. […] Anbieter von Riester-Produkten [sind] gesetzlich ver-pflichtet, zumindest die eingezahlten Sparbeiträge für die Rentenbezugsphase zu garantieren. Die Sicherheit der Vorsorge ist daher gegenüber anderen Formen des privaten Sparens ein klarer Vorteil. Anders als bei nicht riesterfähigen Fonds oder Aktiensparplänen kann der Sparer bis zum Rentenbeginn also nominell kein Geld verlieren.

Sparkasse Herford, Prospekt Riester-Rente, Stand: 1.5.2014, www.sparkasse-herford.de/pdf/prospekte/W657_Prospekt_Riester-Rente_web.pdf

Riestern ist ganz einfachDas Grundprinzip der Riester-Rente ist im Grunde einfach: Wenn der Riester-Sparer jährlich eine Mindestsumme anspart, erhält er eine Zulage vom Staat, die seinem Ries-ter-Guthaben gutgeschrieben wird. Eltern bekommen dabei auch Zulagen für jedes einzelne Kind und junge Riester-Sparer da-neben einmalig einen Berufsstarter-Bonus.

Riestern kann fast jederEinen Anspruch auf Förderung hat jeder, der in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert ist. Auch Arbeitslose oder ALG-II-Empfänger können in den Genuss der Riesterförderung kommen.

Riestern schon mitkleinen Beträgen möglich Sie erhalten die vollen staatlichen Zulagen, wenn Sie 4 % Ihres sozialversicherungs-pflichtigen Vorjahres-Bruttoeinkommens sparen - maximal 2.100 Euro im Jahr. Insbesondere bei kleinen Einkommen oder ALG-II-Empfängern (Hartz-IV) reichen mitunter sogar 5 Euro monatlich, um die volle Riesterförderung zu erhalten.

Riestern ist ganz einfach

Riestern lohnt sich

Der Staat fördert die Altersvorsorgemit attraktiven Zulagen:

Grundzulage 154 Euro p.a.

Kinderzulage 185 Euro p.a.für bis 31.12.2007geborene Kinder

Kinderzulage 300 Euro p.a.für ab 1.1.2008geborene Kinder

Starterbonus 200 Euro einmalig

Den Starter-Bonus gibt es für alle, dievor Vollendung des 25. Lebensjahres einen Riester-Vertrag abschließen.

Auch für Gutverdienende lohnt sich die Riester-Rente, da in vielen Fällen Steuervorteile entstehen.

SicherheitRiester-Förderung gibt es nur für staatlich zertifizierte Produkte. Die eingezahlten Sparbeiträge inklusive der Zulagen sind garantiert. Verluste sind ausgeschlossen.

FlexibilitätBei finanziellen Engpässen kann man den Vertrag ruhen lassen oder die Beiträge reduzieren. Auch für den Bau oder Kauf der eigenen vier Wände kann das Riester-Kapital verwendet werden.

RenditeDank der staatlichen Förderung liegt die Rendite deutlich über vergleichbaren Anlagen – und das ohne jedes Risiko. Bei unseren Riester-Produkten kommen zudem noch attraktive Zinsen bzw. Ertragschancen hinzu.

Riestern istsicher, flexibelund ertragsstark

Riestern – sicher, flexibel, ertragsstark

5

10

15

20

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

27

Eine gesetzlich garantierte Rendite […] gilt für Riester-Policen. Derzeit liegt dieser Garantiezins auf die Vor-sorgeersparnisse bei 1,75 Prozent pro Jahr. Das ist im Niedrigzinsumfeld zwar immer noch besser als nichts, aber dürfte kaum genügen, um den schleichenden Kauf-kraftverlust der Ersparnisse durch Inflation zu verhin-dern. Insofern bietet „riestern“ zwar Sicherheit, schützt aber nicht davor, dass die spätere Rentenlücke durch Geldentwertung wieder größer wird.

Rendite vs. KostenDass die Renditen von Riester-Verträgen häufig in der Kritik stehen, hat gleich mehrere Ursachen. Zum einen werden häufig Renditen der Riester-Verträge beworben, aber dabei vornehm verschwiegen, welche effektiven Verwaltungs- und Abschlusskosten mit den Verträgen einhergehen. Vor allem bei Riester-[…] Ren-tenversicherungen schlagen Provisionen in den ersten fünf Jahren der Ansparphase massiv zu Buche und re-duzieren den angesparten Betrag. Diese Kosten müssen durch die Zinsen auf die Ersparnisse erst wieder herein-geholt werden. […] Für die Rentabilität einer Riester-Rente spielen je-doch die staatlichen Zulagen eine wichtige Rolle – vor allem für Geringverdiener und Kinderreiche. […] Wer wenig verdient, kann [...] mit 60 Euro loslegen, darunter geht nichts. Axel Kleinlein vom Bund der Versicherten […] zufol-ge hätte ein Vergleich der Angebote von 2001 bis 2011 gezeigt, dass die Produkte für den Kunden schlechter geworden seien. Versicherte müssten mittlerweile sehr alt [laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung mind. 87 Jahre] werden, um von ihren Einzahlungen zu profitieren. […]

Mangelnde TransparenzKaum jemand versteht [die Riester-Verträge] zur Gänze. Das umfangreiche Regelwerk mit zahlreichen Ausnah-men und Sonderregeln überfordert den Normalsparer – und damit den größten Teil der Adressaten der staatlich geförderten Vorsorge. Hinzu kommen noch die in den Produktverträgen enthaltenen Spielregeln der Anbieter, die ebenfalls häufig Übersichtlichkeit und Verständlich-keit vermissen lassen. […] „Kaum ein Vorsorgesparer dürfte wissen, was er eigentlich abgeschlossen hat“. […]

Andreas Toller, Die Tücken der Riester-Rente, Wirtschaftswoche, 8.10.2012

M37 Belastung für Arbeitnehmer, Entlastung für Arbeitgeber?

Um das Rentenniveau bis 2030 zu halten, veranschlagen Experten Versicherungsbeiträge von maximal 26 % der Entgelte – davon zahlen ...

11%

13%

Arbeitgeber

Arbeitnehmer

ohne Reform mit Reform

Beiträge fürRiesterrente*

gesetzlicheRenten-versicherung

gesetzlicheRenten-versicherung

4%

IMK 2012 | Böckler Impuls 14/2012

*maximaler Förderbetrag

Aufgaben

A1 Lesen Sie zunächst den Prospekt zur Riester-Rente (M35) aufmerksam durch. Benennen Sie anschließend die dargestellten Vorteile.

A2 Lesen Sie anschließend M36 und geben Sie die dargestellten Kritikpunkte wieder. Interpretieren Sie außerdem die Grafik M37 und ergänzen Sie auf dieser Basis die Kritikpunkte.

A3 Würden Sie eine Riester-Rente abschließen? Begründen Sie Ihren Entschluss. Beziehen Sie sich dabei auf die Ergebnisse aus A1 und A2.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

25

30

35

40

45

50

55

60

65

28

M38 Betriebliche Altersversorgung – eine Defini-tion

Die betriebliche Altersvorsorge ist klassischerweise eine freiwillige Leistung des Arbeitgebers. Seit Januar 2002 gibt es jedoch eine entscheidende Neuerung. Seither ha-ben Beschäftigte grundsätzlich das Recht, einen Teil ihres Lohns oder Gehalts zugunsten einer betrieblichen Altersvorsorge umzuwandeln, um später eine Betriebs-rente zu erhalten (Entgeltumwandlung). Die Beiträge zum Aufbau einer Betriebsrente können vom Arbeitgeber oder vom Arbeitnehmer allein oder aber auch von beiden gemeinsam aufgebracht werden.In immer mehr Branchen haben sich die Tarifparteien dazu entschlossen, die Altersvorsorge durch Entgeltum-wandlung tariflich zu regeln. Die Arbeitnehmer haben so die Option, Teile des tarifvertraglichen Lohns für ihre Altersvorsorge einzusetzen. In den Tarifverträgen ist zudem häufig vorgesehen, dass die Arbeitgeber sich am Aufbau der Betriebsrente finanziell beteiligen. Ne-ben der „klassischen“ arbeitgeberfinanzierten Betriebs-rente […] wird somit häufig ergänzend eine Finanzie-rung über Entgeltumwandlung genutzt. […]

Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Betriebliche Altersversor-gung, www.bmas.de, 11.1.2013

M39 Verbreitung und Finanzierung der Leistungen

Tabelle 1: Anteil sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigter in der Privatwirtschaft mit betrieblicher Altersversorgung, in Prozent

Dezember 2001 Dezember 2011

Beschäftigte Deutschland gesamt 38 50

Beschäftigte alte Bundesländer 42 54

Beschäftigte neue Bundesländer 19 37

beide Tabellen: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Situation und Entwicklung der betrieblichen Altersversorgung in Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst (BAV 2011), Forschungsbericht 429, 2012

5

10

15

20

Tabelle 2: Finanzierung betrieblicher Altersversor-gung durch Arbeitgeber (AG) und Arbeitnehmer (AN), Nennung in Prozent*

Finanzierung Dezember Dezember durch 2001 2011

Deutschland gesamt AG 54 31 AN + AG 27 52 AN 26 33

alte Bundesländer AG 51 28 AN + AG 28 54 AN 28 34

neue Bundesländer AG 69 43 AN + AG 22 40 AN 18 30

* Zahlen von mehr als 100 % ergeben sich durch die Möglichkeit der Mehrfachnennung, zum Beispiel durch unterschiedliche Versorgungs-modelle für unterschiedliche Beschäftigtengruppen.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

29

M40 Betriebliche Altersversorgung – nur die zweitbeste Lösung?

In Großbetrieben ist die betriebliche Altersversorgung recht weit verbreitet. Doch dies reicht nicht aus, um die reformbedingten Lücken in der gesetzlichen Rentenver-sicherung zu schließen. [...] Seit den Rentenreformen von 2001 hat betriebliche Altersversorgung eine neue Funktion: Sie ist keine reine Zusatzleistung mehr. Statt-dessen soll sie […] „im Zusammenspiel mit der gesetzli-chen Rentenversicherung den Lebensstandard im Alter sichern“, so WSI-Sozialversicherungsexperte Dr. Florian Blank und Sabrina Wiecek. […] [Es gibt] „bei weitem nicht in allen Betrieben“ ein Angebot zur Altersversorgung […]. Und selbst wenn im Betrieb entsprechende Möglichkeiten existieren, […] [macht] weniger als die Hälfte der Mitarbeiter von der so genannten Entgeltumwandlung Gebrauch […]. Ange-sichts dieser Befunde raten die Wissenschaftler: „Eine einheitliche und flächendeckende Lösung für das Prob-lem der absehbaren unterschiedlichen Absicherung im Alter sollte in erster Linie in einer Rückkehr zur Lebens-standard sichernden und armutssicheren öffentlichen Rentenversicherung bestehen.“ Nur falls dies politisch nicht durchsetzbar sein sollte, halten die Experten einen forcierten Ausbau der betrieblichen Altersversorgung für sinnvoll. Darüber hinaus weist WSI-Forscher Blank auf neu-este Zahlen des Statistischen Bundesamtes hin, die zei-gen, dass die Beteiligung an betrieblicher Altersversor-gung stark vom Einkommen abhängt: Nur 6,2 Prozent der Beschäftigten mit einem Bruttostundenlohn um 10 Euro oder weniger nutzen die Möglichkeit zur Entgelt-umwandlung. Bei Besserverdienenden, die über 23 Euro je Stunde bekommen, ist es dagegen ein gutes Drittel. „Bislang geht die betriebliche Altersversorgung, genau-so wie die Riester-Rente, gerade an denen vorbei, die sie am nötigsten hätten“, so der Wissenschaftler.

Nur eine Minderheit sorgt betrieblich vor, Böckler Impuls 15/2012

Aufgaben

A1 Erklären Sie unter Zuhilfenahme von M38 Intentionen, Funktionsweise und Aufbau der betriebli-chen Altersversorgung. Gehen Sie dabei auch auf die unterschiedlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten ein.

A2 Analysieren Sie die Tabellen aus M39 hinsicht-lich der Entwicklungen der betrieblichen Altersversor-gung seit 2001.

A3 Fassen Sie die in M40 benannten Kritikpunkte an der momentanen Ausgestaltung der betrieblichen Altersversorgung zusammen.

A4 Nehmen Sie dazu Stellung, ob die betriebliche Altersversorgung „nur die zweitbeste Lösung“ zur Sicherung des Lebensstandards im Alter ist. Erläutern Sie hierfür zunächst unter Nutzung Ihrer bisherigen Arbeitsergebnisse, warum die betriebliche Alters-versorgung ggf. nur die zweitbeste Lösung darstellen könnte.

A5 Erörtern Sie, ob die veränderten Bedin-gungen der Altersvorsorge nach 2001 (drei Säulen der Altersversorgung, M32) in den Kontext des aktivie-renden Sozialstaats einzuordnen sind. Gehen Sie in diesem Zusammenhang vor allem auf die geänderten institutionellen Rahmenbedingungen und deren Aus-wirkungen auf a]den Bürger/die Bürgerin (was wird von ihm/ihr im Vergleich zu früher nun verstärkt verlangt? Welche Entscheidungen muss er/sie treffen und wovon hängen diese ab?) b] den Staat ein. (Tipp: Nutzen Sie hierfür Ihre Arbeitsergebnisse aus der Auseinandersetzung mit Riester-Rente und betrieblicher Altersvorsorge.)

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

5

10

15

20

25

30

35

30

Soziale GerechtigkeitWirtschaftspolitik

ArbeitsmarktpolitikSteuerpolitik

Außen- und EuropapolitikFamilienpolitik / Kinderbetreuung

Innere Sicherheit / KriminalitätEnergiepolitik

Schul- und BildungspolitikUmwelt- und Klimapolitik

Bundestagswahl 2013 – NachwahlbefragungWahlentscheidende Themen*, in Prozent

Infr

ates

t d

imap43

77

99

1218

2028

32

3

M41 Der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit – Dauer-brenner im Wahlkampf

Jede/r hat den Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“ schon einmal gehört – nicht zuletzt in Talkshows, Reden unter anderem von Politker(inne)n und natürlich auch im Wahlkampf. Aber: Wann geht es eigentlich sozial ge-recht zu?

(1) SPD-Parteivorstand, (2) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Hessischen Landtag, (3) FDP-Bundesge-schäftsstelle, (4) DIE LINKE Hessen, (5) CDU Baden-Württemberg, (6) Infratest dimap

4

1

2

Gemeinsam für Baden-Württemberg.

BILDUNG

AUFSTIEGDURCH

5

[E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

5

6

* bis zu zwei Nennungen möglich

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

31boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

M42 Was heißt hier eigentlich (sozial) gerecht?

[…] Unter „sozialer Gerechtigkeit“ sind allgemein ak-zeptierte und wirksame Regeln zu verstehen, die der Verteilung von Gütern und Lasten durch gesellschaft-liche Einrichtungen (Unternehmen, Fiskus, Sozial-versicherungen, Behörden etc.) an eine Vielzahl von Gesellschaftsmitgliedern zugrunde liegen, nicht aber Verteilungsregeln, die beispielsweise ein Ehepaar unter sich ausmacht. […]

Arten sozialer GerechtigkeitVorstellungen von Leistungsgerechtigkeit fordern, dass Menschen so viel erhalten sollen (Lohn, Schulnoten, Lob etc.), wie ihr persönlicher Beitrag und/oder ihr Aufwand für die jeweilige Gesellschaft ausmachen. Konzepte der Leistungsgerechtigkeit sehen also ungleiche Belohnun-gen vor, um die Menschen für ungleiche Bemühungen und ungleiche Effektivität zu belohnen, sie zur weiteren Anstrengung zu motivieren und so für alle Menschen bessere Lebensbedingungen zu erreichen. Vorstellungen von (Start-)Chancengerechtigkeit zie-len darauf ab, dass alle Menschen, die im Wettbewerb um die Erlangung von Gütern und die Vermeidung von Lasten stehen, die gleichen Chancen haben sollen, Leis-tungsfähigkeit zu entwickeln und Leistungen hervorzu-bringen. […] Als bedarfsgerecht gelten Verteilungen, die dem „ob-jektiven“ Bedarf von Menschen entsprechen, insbeson-dere ihren Mindestbedarf berücksichtigen. […]. Hinter diesem Konzept steht die Einsicht, dass Chancen- und Leistungsgerechtigkeit nicht in der Lage sind, dem jewei-ligen Bedarf der nicht Leistungsfähigen, das heißt der Kranken, Alten, Kinder etc. gerecht zu werden. Dem Konzept der egalitären Gerechtigkeit zufolge sollen Güter und Lasten möglichst gleich verteilt wer-den. […] Empirisch äußern sich egalitäre Gerechtigkeits-vorstellungen zum Beispiel in der Kritik an bestimmten Managergehältern allein aufgrund ihrer enormen Höhe […].

Stefan Hradil, Soziale Gerechtigkeit, Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de, 31.5.2012

Aufgaben

A1 Wann geht es für Sie sozial gerecht zu? Halten Sie zunächst in Einzelarbeit für Sie zentrale Aspekte von Gerechtigkeit stichwortartig auf Moderationskar-ten fest. Sammeln Sie anschließend alle Antworten an der Tafel und diskutieren Sie gemeinsam über Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit.

A2 Analysieren Sie die Wahlplakate der einzelnen Parteien aus M41 bezüglich ihrer Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. Vergleichen Sie diese mit den im Plenum diskutierten Vorstellungen.

A3 Ordnen Sie die Ergebnisse aus A1 und A2 den theoretischen Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit aus M42 zu.

A4 Erläutern Sie, welche Auswirkungen eine Dominanz einzelner Vorstellungen sozialer Gerechtig-keit (etwa Leistungsgerechtigkeit oder egalitäre Ge-rechtigkeit) für Bürger/innen und Gesamtgesellschaft, den Staat und das Teilsystem Wirtschaft haben.

5

10

15

20

25

30

35

32

M43 Der Umbau des Sozialstaats – Notwendig-keit oder Fehler?

Kurt Lauk

Kurt Lauk ist Präsident des Wirtschaftsrats der CDU, ein Gremium, das unter-nehmerische Interessen ge-genüber Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit vertritt. Lauk saß im Vorstand zahl-reicher großer Unterneh-men wie der Audi AG. Er wendet sich, vor allem aus Gründen der Generationen-gerechtigkeit, gegen zu hohe sozialstaatliche Leistungen.

Die ausufernde Diskussion um immer neue soziale Wohl-taten wirft die bedrückende Frage auf: Hat die Politik in unserem Lande eigentlich nichts dazugelernt? Wann, wenn nicht jetzt, in guter wirtschaftlicher Zeit mit kon-junkturell bedingten Steuermehreinnahmen von 41 Mil-liarden Euro, soll denn das Staatsdefizit überhaupt abge-baut werden? […] Der Wirtschaftsrat der CDU wendet sich entschieden gegen den Wettbewerb der Parteien, immer neue Sozialprogramme zu beschließen: Dazu ge-hören das Betreuungsgeld mit Kosten von 1,5 bis zwei Milliarden Euro; Zuschussrenten für alleinerziehende Mütter schlagen mit einer Milliarde zu Buche; Lohn-steigerungen für den öffentlichen Dienst mit zwei Mil-liarden; Rentenerhöhungen mit zwei Milliarden; mehr Leistungen für Pflegebedürftige mit einer Milliarde […]. Der deutsche Sozialstaat hat ohnehin die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht. In den letzten 40 Jah-ren haben sich die Sozialausgaben von ungefähr 80 auf schwindelerregende rund 800 Milliarden Euro fast verzehnfacht. Mittlerweile gibt es etwa so viele Sozial-leistungsempfänger wie sozialversicherungspflichtig Be-schäftigte. Im Bundeshaushalt 2012 sind derzeitig drei von vier Euro Steuereinnahmen für Soziales und für Zinszahlungen vorgesehen. Damit verliert die Politik die dringend erforderlichen Handlungsspielräume zur Stär-kung zentraler Zukunftsfelder wie Bildung, Forschung und Infrastruktur. Bei der offen ausgewiesenen Staatsverschuldung von rund zwei Billionen Euro sind die größten Belastungen durch die Alterung unserer Gesellschaft noch gar nicht berücksichtigt: Durch das Umlageverfahren in der Ren-ten-, Kranken- und Pflegeversicherung erwerben heutige Versicherte Ansprüche, die in der Zukunft bedient wer-den müssen. […] Sicherlich ist es für die handelnden Po-litiker immer schön und erfreulich, Wohltaten zu vertei-len. Unverantwortlich ist es jedoch, wenn das auf Pump zulasten nächster Generationen gemacht wird […].

Mit zu hohen Schulden kann man die Wirtschaftskraft eines Landes ruinieren. Fatalerweise haben wir seit der sozialliberalen Bundesregierung unter Brandt diesen Weg eingeschlagen – oftmals mit der Begründung, durch höhere Ausgaben soziale Gerechtigkeit herstellen zu wollen. Dass dies im Unsozialen endet, sehen wir schon, denn letztlich zahlt der Steuerzahler die unvermeidliche Zeche. […] Es ist unsozial, Menschen an den staatlichen Dauer-tropf zu hängen! Stattdessen geht es darum, die erfor-derliche Solidarität durch die mögliche und notwendi-ge Wahrnehmung von Eigenverantwortung zu sichern. Gleichzeitig müssen die Bürger die Chance und das Rüstzeug erhalten, sich aus eigener Kraft von staatlicher Unterstützung zu befreien und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Nur so können wir den Paradigmenwechsel schaffen und soziale Gerechtigkeit künftig ohne Neuverschul-dung finanzieren!

Kurt Lauk, „Der Sozialstaat hat seine Grenzen erreicht“, www.handels-blatt.com, 17.4.2012. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

33

Kurt Beck

Kurt Beck war bis Janu-ar 2013 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Der SPD-Politiker steht für das Konzept des vorsorgenden Sozialstaats, in dem soziale Sicherung nicht nur Betrof-fene sozialer Notlagen auf-fangen soll (= Nachsorge). Vielmehr soll systematisch verhindert werden, dass sol-che Notlagen überhaupt erst entstehen.

Es gibt soziale Gegensätze, die eine Mehrheit der Men-schen in Deutschland beunruhigen. […] Das weiß jeder, der die Härte erlebt hat, ohne Begünstigung seinen Weg zu gehen. Wer seine Zukunft durch eigene Anstrengung erst gewinnen muss, der spürt, welches Gewicht die Forderung nach gleichen Rechten hat. Nicht Besitz darf den Ausschlag geben, sondern die immer neue Chance des Erwerbs, nicht Ort oder Status der Geburt dürfen entscheiden. […] [Wir] brauchen […] eine starke und energische Politik, die in der Lage ist, die sozialen Bar-rieren der Herkunft zu überwinden und neue Risiken, neue Formen der Ausgrenzung mit neuen Chancen und Sicherheiten zu beantworten. Dafür brauchen wir einen vorsorgenden Sozialstaat, der stärker als bisher die Ur-sachen sozialer Probleme angeht, anstatt nur die Symp-tome zu kurieren. […] Viele Menschen sehen die positive, zum Teil äußerst dynamische Wohlstandsentwicklung unseres Landes und beobachten, dass dabei die Lebenschancen ver-schiedener sozialer Gruppen stärker auseinanderfallen. Sie hören die Nachrichten von großen wirtschaftlichen Gewinnen und merken in der Nachbarschaft, dass junge Leute ohne Ausbildungsplatz bleiben, dass gestandene Facharbeiter über 50 Jahre keinen Zugang zu Arbeit mehr finden oder dass die Post jetzt von Zustellern ge-bracht wird, die sich für einen Hungerlohn abstram-peln. Mittelständische Betriebe, die hierzulande bemüht sind, Angestellte nach Tarif zu entlohnen, werden von Konkurrenten verdrängt, die nur einen Bruchteil der Lohnsumme zahlen. Von dieser Art sind die wirklichen Gegensätze in Deutschland, die Menschen verunsichern und verbittern. […]

[Die] Floskel „im Zweifel für die Freiheit des Marktes“ […] bedeutet nichts anderes, als dass jeder selbst zusehen soll, wie er mit den Risiken klarkommt. […] Freiheit ist ein herausragender Wert. Die liberale Bewegung ist eine wichtige Kraft des Fortschritts. Aber das Wegducken vor den sozialen Herausforderungen unserer Zeit ist […] eigentlich nicht mehr „liberal“, es ist nur noch marktra-dikal zu nennen. […] Wo früher der Gewinn zwischen Kapital und Arbeit mehr oder weniger fair aufgeteilt wurde, erwarten die internationalen Finanzmärkte nun eine Maximalrendite auf eingesetztes Kapital und neh-men auf prekäre Löhne oder Arbeitsbedingungen kaum Rücksicht. […] Dabei stimmt es keineswegs, dass wir die soziale Spaltung zwingend in Kauf zu nehmen haben, um hohes Wachstum zu ermöglichen. […] Moderne Be-triebe wissen längst um die Vorteile des regulären Kün-digungsschutzes, des Arbeitsfriedens, der Mitbestim-mung und der flachen teamorientierten Hierarchien.

Kurt Beck, Das soziale Deutschland, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.6.2007

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

34

Guido Westerwelle

Der FDP-Politiker Guido Westerwelle war bis 2013 Bundesaußenminister. Er und seine Partei vertreten das Konzept des liberalen, aktivierenden Sozialstaats. Danach sollen zwar existen-zielle Lebensrisiken abgesi-chert werden, prinzipiell aber die Anstrengungsbe-reitschaft eines jeden Ein-zelnen stärker gefördert werden.

Die […] politischen Strömungen, die in Deutschland von Bedeutung sind, haben gemeinsame Grundwerte: Frei-heit, Gleichheit und Ordnung. […] Liberale [entschei-den] sich im Zweifel immer für die Freiheit. […] Gleich-heit und Ordnung mögen verständliche Sehnsüchte sein, beide Leitwerte waren aber nie realitätsferner als heute, unter den Bedingungen der Globalisierung. […] Heute muss die Konjunktur als Entschuldigung für politische Passivität herhalten. Ein Aufschwung […] ist willkommenes Valium […]. Mehr als zwei Prozent Wirtschaftswachstum und Steuermehreinnahmen füh-ren sofort zu einer erneuten Verteilungsdebatte. […] Die Agenda 2010 war nicht zu ehrgeizig, sondern ein viel zu später Versuch, das Regierungshandeln der Realität anzupassen. Schlimmer aber noch ist, dass aufgrund des „Agenda-2010-Schocks“ eine massive Gegenbewegung gegen die Modernisierungsversuche eingesetzt hat. […] Der Versuch, wärmende Herdfeuer gegen die kalte Glo-balisierung zu entzünden, hat fatale Konsequenzen. Die Sozialdemokratie feiert gerade die […] Erbschaftsteuer in Deutschland als Identitätsthema. Der sozialdemokra-tische Bundeskanzler Österreichs teilt dagegen […] mit, dass man in Österreich die Erbschaftsteuer abschaffen werde. Mehr als 5000 deutsche Unternehmen sind be-reits nach Österreich abgewandert. In der Globalisie-rung hat Deutschland schmerzhaft erfahren: Erst geht das Kapital, dann geht die Arbeit. Gelernt haben daraus die wenigsten. […] Die Freiheit der Gesellschaft ist nicht etwas Abstrak-tes, Übergeordnetes, sondern besteht aus der persönli-chen Freiheit der einzelnen Bürgerinnen und Bürger. […] „Nicht der Staat gewährt den Bürgern Freiheit, sondern die Bürger gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit.“ […] Wir haben […] zu viel Staat in Deutsch-land.

Wir haben über Jahrzehnte mit einer Verteilungspolitik Schulden aufgehäuft. Wir haben beim Bürger die Illu-sion geschaffen, der Staat könne Daseinsfürsorge be-treiben, anstatt für die großen Risiken des Lebens Da-seinsvorsorge zu organisieren. Die Globalisierung gibt die Chance, die verstaatlichte Verantwortung wieder zu-rück in die Hände der Bürgerinnen und Bürger zu geben. Eigenverantwortung ist der Schlüssel zum Erfolg in der Globalisierung. Eigenverantwortlich kann aber nur der sein, der sein Glück in die eigenen Hände nehmen darf. Gute Bildung und Ausbildung sind die Voraussetzungen dafür. Eigenverantwortung oder, in der angelsächsi-schen Tradition, das „Streben nach Glück“: Das ist die Triebkraft der Globalisierung. […] Während wir hierzu-lande über Antidiskriminierungsgesetz und die 35-Stun-den-Woche debattieren, ist ein rasanter Wettbewerb im Gange. In diesem Wettbewerb besteht unsere zentrale ökonomische Chance darin, die Mittelschichten der glo-balisierten Welt zu Kunden unserer Hightech-Produkte zu machen. Doch in Deutschland werden weniger die Chancen als die Risiken gesehen. […] Mit immer mehr Leistungsempfängern und immer weniger Leistungserbringern sind wir nicht fit für die Globalisierung. Ob wir die Globalisierung annehmen oder ob wir sie verdrängen – das wird über die soziale Fairness in Deutschland entscheiden. […] [Wir wollen] einen bescheidenen Staat, der sich auf sei-ne Kernaufgaben konzentriert. […] Staat ist statisch. Gesellschaft ist dynamisch. Erst die Kraft der Freiheit schafft gerade auch in der Globalisierung Wohlstand für alle.

Guido Westerwelle, Zuversicht statt Zukunftsangst, Frankfurter Allge-meine Zeitung, 20.5.2007

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

70

75

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

35

Jürgen Trittin

Jürgen Trittin war bis 2005 bundesdeutscher Umwelt-minister. Marktmechanis-men alleine sind in den Au-gen des Mitglieds der Partei Bündnis 90/Die Grünen auch und gerade in Zeiten der Globalisierung ungeeig-net, soziale Gerechtigkeit zu schaffen.

Die Hegemonie der naiven Marktgläubigkeit ist vorbei. […] Die einseitige Entfesselung globaler Marktdynamik [wirkt] zerstörerisch. […] Man scheint sich einig zu wer-den: Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern Mittel. Marktwirtschaft benötigt die sichtbare Hand demo-kratischer Regulierung. […] Das international kaum regulierte Marktgeschehen produziert mittlerweile […] soziale Schäden, die kaum mehr kalkulierbar sind. […] Die sozialen Folgen der Globalisierung sind hoch ambi-valent. Globalisierung macht reich – man schaue nach Schanghai, Mumbai oder in reiche Wohngegenden hier-zulande. Globalisierung macht relativ arm – man denke an die ausgeschlossenen Globalisierungsverlierer in den Unterschichten der westlichen Gesellschaften. Globa-lisierung macht absolut arm – mehr als eine Milliarde Menschen müssen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. […] Mobile und wirtschaftlich starke Akteure – Kapi-taleigner, multinationale Großunternehmen – erleben einen ungeheuren Zuwachs an Verhandlungs- und Ver-fügungsmacht. Nichtbesitzende und nichtmobile Ak-teure – Arbeitnehmer, Kleinunternehmer – geraten in immer stärkere Abhängigkeit. Verstrickt sind auch die Mittel- und Unterschichten. Als Konsumenten belohnen sie den Niedrigpreis („Geiz ist geil“), als Kleinanleger fordern sie Rendite. Alle folgen rationalen Kalkülen, das Gesamtergebnis ist – auch von den Einzelnen – uner-wünscht. Der Markt allein kann dieses Dilemma nicht lösen. […] Unregulierter Markt führt zu Abgründen zwischen Arm und Reich und zum Ausschluss breiter Schichten von Arbeit, gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung. Von selbst stellt er weder Verteilungs- noch Teilhabegerechtigkeit her. […]

Man muss Mut haben, Standards zu setzen, auch bei Steuern und in der Sozialpolitik. […] Ein beliebtes Mo-tiv im sogenannten „bürgerlichen Lager“ ist […] die Leistungsgerechtigkeit. Doch möchte man ernsthaft die derzeitige Einkommensverteilung in Deutschland als Ausfluss von Leistung und Wert des Einzelnen vertei-digen? Seit Jahren geht die Schere zwischen Arm und Reich auseinander, und niemand kann glaubwürdig behaupten, das gehe auf unterschiedliche „Leistungen“ der Gewinner und der Verlierer zurück. Man denke an die unverdienten Reichtumsgewinne durch überhöhte Kapitalrenditen oder an den leistungslosen Gewinn von Status und Sicherheit durch Erbschaften gegenüber dem vollkommen unverdienten Arbeitsplatzverlust durch Standortverlagerung. Reallöhne stagnieren, Vermögen und Einkommen aus Kapital explodieren. Der gesell-schaftlich erarbeitete Reichtum wird nicht mehr über Steuer-, Sozial- und Lohnsysteme fair verteilt. […] Ein zweites Lieblingsmotiv der konservativ-liberalen Parteien ist die Freiheit. Gerne porträtieren sich ihre Protagonisten als Freiheitskämpfer. Doch sie kämpfen bisher immer nur für die – negative – Freiheit der Privile-gierten von Eingriffen in ihre Eigentumsrechte, ergänzt durch die Freiheit der Besitzlosen, auf möglichst unge-regelten Arbeitsmärkten ihre Fähigkeiten zu verwerten, so sie denn gerade gefragt sind. […] Den meisten wird Freiheit durch Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik überhaupt erst ermöglicht. Aus unserem Freiheitsbegriff leitet sich eine emanzipative Sozialpolitik ab, die auf Be-fähigung zur Teilhabe zielt. Reale Freiheit und Selbst-bestimmung für alle hat materielle (finanzielle Grundsi-cherheit) und nichtmaterielle (Bildung, gesellschaftliche Teilhabe) Voraussetzungen. Gerade unter den Bedingun-gen eines global zusammenwachsenden Marktes kann man die reale Freiheit aller nur durch massive öffentliche Investition ermöglichen.

Jürgen Trittin, Die sichtbare Hand, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.7.2007

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

70

75

80

36

Oskar Lafontaine

Oskar Lafontaine ist Mit-glied des saarländischen Landtags und führt dort die Fraktion der Linken. Lafontaine stellt das Sys-tem des Kapitalismus als Ganzes in Frage. Für die Linke führen die mit der Globalisierung einherge-henden Veränderungen im Bereich der Wirtschaft zu Unfreiheit und sozialer Not. Er plädiert daher für die Beibehaltung und den Ausbau staatlicher Schutzrechte.

Der globale Kapitalismus wird von immer mehr Men-schen in Frage gestellt […]. Den Gegenentwurf zum kapitalistischen Wirtschaftssystem nennt „Die Linke“ demokratischen Sozialismus. Sie versteht darunter mehr als eine Wirtschaftsordnung. Demokratischer Sozia-lismus setzt aber eine Wirtschaftsordnung voraus, die dem Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Le-ben ermöglicht, den Frieden bewahrt und die Umwelt schützt. Seit der Aufklärung ist die Utopie der Linken die Weltgemeinschaft der Freien und Gleichen. Der zen-trale Wert, für den die Linke politisch eintritt, ist die Freiheit, ist das Recht aller Menschen, ihr Leben selbst zu bestimmen. Die sozialistischen Staaten des Ostens, darunter die DDR, sind gescheitert, weil sie weder de-mokratisch noch rechtsstaatlich verfasst waren. Mit dem Versprechen einer besseren Zukunft missachteten sie die Freiheit. Sie waren daher weder sozialistisch noch demokratisch. Die Neoliberalen, die heute die Politik der westlichen Industriestaaten bestimmen, sind der festen Überzeugung, dass Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung mehr Freiheit bedeuten. Für die Linke führen diese Strukturveränderungen der Gesellschaft eher zu Unfreiheit und sozialer Not. […] Die Linke beruft sich auf den Aufklärer Jean-Jacques Rousseau: […] „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Ge-setz, das befreit.“ Wir brauchen global und regional eine Wirtschafts- und Sozialordnung, die die Schwachen vor den Starken schützt. […] Schlüsselbereiche der Wirt-schaft [müssen] einer demokratischen und gesellschaft-lichen Kontrolle [unterworfen werden]. […] [Wird] die Marktwirtschaft sich selbst überlassen, dann [führt] sie zu einer stets größer werdenden Machtkonzentration.

[…] Die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht un-tergräbt die Demokratie. Macht, die demokratisch nicht legitimiert ist, darf aber die gesellschaftlichen Verhält-nisse nicht bestimmen. Die Linke will das Primat der Politik. […] [Denn] das Ergebnis [der Tendenzen zuneh-mender Privatisierung und Vermarktlichung] ist immer dasselbe: mehr Privilegien und Reichtum für eine Min-derheit, weniger Freiheit und soziale Sicherheit für die Mehrheit. Soziale Sicherheit und Freiheit gehören aber un-trennbar zusammen. Wenn Tarifverträge und Kündi-gungsschutz, Regeln also, die die Schwachen schützen, durchlöchert oder abgeschafft werden, dann entstehen prekäre Arbeitsverhältnisse. Menschen, die am Monats-ende nicht wissen, ob sie ihre Miete oder die Strom-rechnung bezahlen können, die Angst haben, ihr Geld reiche nicht mehr, um Brot zu kaufen, verlieren ihre Freiheit. Sie können am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilnehmen und ihre Zukunft nicht mehr planen. Ihre Widerstandskraft erlahmt. Sie resignieren […]. Erst ein starker Staat, der die Schutzrechte der Schwachen sichert, ermöglicht eine freie Gesellschaft. […]

Oskar Lafontaine, Freiheit durch Sozialismus, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.7.2007

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

65

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

37

M44 Bürger wollen auch in Zukunft weitreichende soziale Sicherung

Eine Untersuchung der Universität Frankfurt zeigt, dass die Zustimmung der Bürger/innen zum Umbau des So-zialstaats in Richtung Aktivierung und Eigenverant-wortung relativ gering ist. Akzeptiert werden vielmehr egalitäre (= auf Gleichheit gerichtete) Verteilungsregeln. Dies gilt für die neuen Bundesländer noch stärker als für die alten.

Akteure der sozialen Sicherung*, 2008, in Prozent

* Es wird ja zur Zeit viel darüber diskutiert, wie stark der Staat, die privaten Haushalte, die Arbeitgeber oder andere Einrichtungen wie z. B. Kirchen oder Wohlfahrtsverbände für die soziale Sicherung verantwortlich sein sollten. Bitte sagen Sie mir für jede dieser Institutionen, ob diese für die soziale Sicherung sehr stark verantwortlich, mit verant-wortlich, weniger verantwortlich oder auf keinen Fall verantwortlich ist.

Staat

Arbeitgeber

Private Haushalte

Andere Einrichtungen

59 37 4

26 62 12

33 53 14

11 46 43

sehr stark verantwortlich mitverantwortlich weniger / gar nicht verantwortlich

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

5

Individualistische Gerechtigkeitsvorstellungen*, 1991 – 2008 Antwortkategorien „eher / volle Zustimmung“, in Prozent

70

60

50

40

30

10

20

1991 1996 2000 2005 2006 2007 2008

Leistungsanreiz (West) Leistungsanreiz (Ost) Unternehmensgewinne (West) Unternehmensgewinne (Ost)

* Nur wenn die Unterschiede im Einkommen und im sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistung. Es hat schon seine Richtigkeit, wenn Unternehmen große Gewinne machen, denn am Ende profitieren alle davon.

38

(M44) alle Grafiken: EZS 2005 und 2008, Nüchter et al., Der Sozialstaat im Urteil der Bevölkerung, Opladen & Farmington Hills 2010

Erwünschte Staatsausgaben*, 2005 – 2008Antwortkategorien „viel mehr / etwas mehr“, in Prozent

90

80

70

60

10

30

20

50

40

Familien Gesundheit Alter Arbeitslose

2005 2006 2007 2008

* Und für welche Ziele sollte der Staat mehr oder weniger Geld ausgeben? Bitte geben Sie für die folgenden Bereiche an, ob die Regierung sehr viel mehr ausgeben, etwas mehr ausgeben, die Ausgaben auf dem jetzigen Stand halten, etwas weniger oder viel weniger ausgeben sollte. Bedenken Sie dabei, dass höhere Ausgaben auch höhere Steuern und Abgaben erfordern können.

Verantwortung für unterschiedliche Sicherungsbe-reiche*, 2008, in Prozent

viel mehr/mehr gleichbleibende weniger/keine Verantwortung Verantwortung Verantwortung

Lebensstandard im Alter 64 29 7

Pflege im Alter und bei Krankheit 59 31-10

Gesundheitliche Versorgung 54 35 11

Lebensstandard bei Erwerbsunfähigkeit 53 36 11

Lebensstandard bei Arbeitslosigkeit 52 38 10

Aufgaben

A1 Bearbeiten Sie in arbeitsteiliger Gruppenarbeit das Material M43 mithilfe folgender Teilaufgaben:a] Fassen Sie die Aussagen des jeweiligen Textes bezüglich der zukünftigen Gestaltung des Sozialstaats zusammen.b] Ordnen Sie die dargestellten Meinungen aktivieren-der oder fürsorgender Sozialpolitik zu. Begründen Sie Ihre Zuordnung mit Hilfe des Textes.c] Weisen Sie mit Hilfe der Darstellungen nach, welche Gerechtigkeitsvorstellungen (M42) die Politiker bei ihren Überlegungen zur Ausgestaltung des Sozial-staats leiten.Fassen Sie die Ergebnisse anschließend im Plenum zusammen, so dass Sie über alle dargestellten Mei-nungen informiert sind.

A2 Interpretieren Sie die Schaubilder des Materi-als M44.

A3 Nehmen Sie mithilfe Ihrer Lösungen aus den Aufgaben A1 und A2 Stellung zur Zukunft des Sozialstaats. Gehen Sie dabei insbesondere auf die Bedeutung von Markt und Staat sowie die sich daraus ergebenden Chancen und Probleme ein.

* Es wird ja auch diskutiert, dass die Menschen selbst in größerem Ausmaß private Verantwortung für die Absicherung von Risiken übernehmen sollten. Inwieweit sollte der Einzelne für die folgenden Dinge mehr Verantwortung übernehmen, das heißt auch mehr Eigenfinanzierung leisten?

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

39boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [F] Zusatzmaterialien

[F ] Zusatzmaterialien

M45 Karikaturen

Karikaturen sind satirische Darstellungen von Menschen oder gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftli-chen Zuständen. Damit diese anschaulich wirken, zum Teil aber auch schockieren, übertreiben, polarisieren und verfremden die Zeichner/innen in ihren Karikatu-ren. Das Ziel ist, mit Hilfe eines Bildes eine Aussage auf das Wesentliche zu reduzieren.

2

1. Marie Marcks

2. Heiko Sakurai

3. Burkhard Mohr

3

1

5

40

4. Franziska Becker

5. Barbara Henniger

6. Klaus Stuttmann

7. Roger Schmidt

5

6

7

Aufgaben

A1 Interpretieren Sie die auf dieser und der vorhe-rigen Seite abgebildeten Karikaturen.

A2 Geben Sie jenen Karikaturen ohne Untertitel einen passenden Untertitel. Achten Sie dabei darauf, dass auch der Untertitel überspitzt und auf das We-sentliche reduziert ist.

4

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [F] Zusatzmaterialien

41boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | [F] Zusatzmaterialien

M46 Filme

Willkommen im Club (Holger Borggrefe, 2005) Die Low-Budget-Produktion begleitet drei arbeitslose Hamburger, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Alle verlieren völlig unerwartet ihre Arbeit, und sind von dieser Situation schwer getroffen. Tonja, Kerstin und Joachim geben sich alle Mühe, mit der neuen Situation zurecht-zukommen, aber so einfach ist das nicht. Das Geld wird zusehends knapper und die Bemühungen Arbeit zu finden werden immer absurder.

Nichts ist besser als gar nichts (Jan Peters, 2010)In diesem Film, den die „ZEIT“ eher als Kunstprojekt denn als Dokumentarfilm bezeichnet, geht es vor allem um den Wert von Geld und Arbeit, um Nebenjobs und das Geschäftsmodell der Selbstständig-keit. Jan Peters, die Hauptfigur des Films, macht sich mit einer scheinbar obskuren Geschäftsidee selbstständig. Über sein Gruppenticket der Frankfurter Verkehrsbe-triebe begleitet er Reisende gegen kleines Entgelt von einer Haltestelle zur nächsten.

Ein Schnitzel für drei (Manfred Stelzer, 2010)Die Komödie schildert in satirischer Weise den Umgang zweier arbeitsloser Freunde mit ihrer Arbeitslosigkeit. Während der ge-lernte Herrenausstatter Wolfgang bemüht mit der Arbeitsagentur zusammenarbeitet, verweigert Ex-Tierpfleger Günther jedwe-de Kooperation. Als die beiden voller Skru-pel auf kriminelle Abwege geraten, fangen die Komplikationen erst richtig an.

Montags in der Sonne (Fernando León de Aranoa, 2002)Der spanische Film begleitet entlassene Arbeiter einer in Konkurs gegangenen Werft, deren Leben gekennzeichnet ist durch zu viel Freizeit, zu wenig Geld und fehlende Perspektiven. Es handelt sich um eine Persönlichkeitsstudie, die vor allem die jeweiligen Einzelschicksale hinter der Arbeitslosigkeit beleuchtet.

Unter Null (Günter Wallraff / Pagonis Pagonakis, 2009)Sechs Wochen lang hat Günter Wallraff für diese Reportage das Leben eines Obdach-losen geführt und dieses Leben mit Hilfe versteckter Kameras dokumentiert. Der Fokus liegt hier vor allem auf den Men-schen, die jeden Tag auf der Straße leben. Gezeigt wird, dass Armut und Obdach-losigkeit entgegen gängigen Vorurteilen Schicksale sind, die auch die Mittelschicht treffen können.

Die Hartz-IV-Fabrik – Geschäfte mit der Arbeitslosigkeit (Rita Knobel-Ulrich, 2012)Der Film dokumentiert das Milliarden-geschäft mit der Arbeitslosigkeit. Private Bildungsträger bieten nicht mehr vermit-telbaren Arbeitslosen „Maßnahmen“ an, etwa Strickseminare, Telefoncoachings oder Theaterkurse. Supermärkte lassen auf Kosten der Tafeln und gegen Spendenquit-tung welkes Gemüse und faule Lebensmit-tel erst abholen und schließlich auch noch kostenlos entsorgen.

Das Riester-Dilemma – Porträt einer Jahrhundert-Reform (Ingo Blank/ Dietrich Krauß, 2011)Zehn Jahre nach der Einführung der steu-erlich geförderten privaten Altersvorsorge fragt der Film nach den Nutznießern der Riester-Rente und jenen, die kaum von den Reformen profitieren. Dabei wird zugleich hinterfragt, welche Alternativen es für die private Absicherung fürs Alter gibt.

Bei der Vorführung von Filmen in Schu-len muss gegebenenfalls die lizenzrecht-liche Seite mit dem entsprechenden DVD-Anbieter bzw. Filmverleih abgeklärt werden.

42

Didaktisch-methodischer Kommentar

Einleitung

Spätestens im Bundestagswahlkampf 2013 wurde deutlich, dass Sozialpolitik nach wie vor ein Themenfeld von herausragender Bedeutung ist. Die umfassenden Sozialstaats-reformen der frühen 2000er-Jahre – besser bekannt unter dem Begriff „Agenda 2010“ – sind dabei Kern der kontroversen politisch-gesellschaftlichen Diskussion. Während die eine Seite den wirtschaftlichen Erfolg des ehemals „kranken Mannes Europas“ auf diese Strukturreformen zurückführt, fordert die andere Seite die Reform der Reform.

Am stärksten betroffen von den Reformen war der Arbeitsmarkt. Sein Umbau erfolgte in Richtung Aktivierung. „Fordern und Fördern“ sind die zentralen Ansprüche, es wird eine stärkere Verantwortungsteilung zwischen Bürger(inne)n und Staat angestrebt. Diese ma-nifestiert sich wohl am deutlichsten in den „Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, auch bezeichnet als Hartz-Gesetze. In ihnen offenbart sich in besonderem Maße, dass an die Bezieher/innen von Leistungen des Sozialstaates neue Anforderungen gestellt werden. Über „verhaltensstützende und -beeinflussende Maßnahmen“ soll er-wünschtes Verhalten hergestellt werden – im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik namentlich das aktive Bemühen Arbeitsloser um Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.

Marktfähigkeit herzustellen und über gezielte Investitionen die aktive Sorge um sich selbst anzuregen,1 ist aber nicht nur Aufgabe der veränderten Arbeitsmarktpolitik. Auch andere Aufgabengebiete des Sozialstaats können zunehmend im Lichte der Aktivierung betrachtet werden. Maßnahmen der Gesundheits- und Renten(vorsorge)politik sind dabei ebenso zu nennen wie solche der Familienpolitik2, da auch diese teils dem zentralen Ziel der zunehmenden Integration möglichst breiter Bevölkerungsschichten in den Arbeits-markt dienen.

Das vorliegende Themenheft greift die Kontroverse um die Zukunft des Sozialstaats auf und versteht sich bewusst als Ergänzung zu bereits vorliegenden Schulbüchern und wei-terführenden Unterrichtsmaterialien. Inhaltsfelder wie rechtliche und normative Grund-lagen des Sozialstaats, seine Funktionsweisen und Leistungen (hier insbesondere die Sozialversicherungen) sowie grundsätzliche Probleme (etwa der demografische Wandel) werden aus diesem Grund nicht bzw. nur stark verkürzt im Sinne einer Wiederholung aufgegriffen. Die Lernenden sollen sich vielmehr eigenaktiv mit der aktuellen, aber auch zukünftig möglichen Gestaltung der Systeme sozialer Sicherung auseinandersetzen und auf diesem Weg zum Urteilen über Sozialpolitik befähigt werden. Ihnen soll ein Bewusst-sein darüber vermittelt werden, dass politische und gesellschaftliche Systeme nicht statisch, sondern veränderbar sind. Das Themenfeld der sozialen Sicherung eignet sich hierfür in besonderem Maße auch deshalb, weil Diskussionen um mögliche Reformen den Sozialstaat von Anfang an begleiten.

Inhaltlich gliedert sich das Heft in fünf Bausteine. Im ersten Baustein steht der Aktivie-rungsbegriff selbst im Fokus. Aufbauend hierauf werden in den folgenden drei Baustei-nen einzelne Politikfelder, die durch das Merkmal der Aktivierung gekennzeichnet sind, aufgegriffen. Hiermit wird das Verständnis der Lernenden von Aktivierung entsprechend dem Prinzip der Exemplarität vertieft. Abschließend sollen die gewonnenen Kenntnisse in ihre ökonomischen und politischen Zusammenhänge eingebettet werden. Demnach ergibt sich für die Behandlung des Themas „Sozialstaat und soziale Sicherung“ unter Nutzung des vorliegenden Heftes die folgende Struktur:

1 vgl. Lessenich 20092 als Interpretations-

möglichkeit des Konzepts aktivieren-der Sozialstaat vgl. Lessenich 2008

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

43boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

Aufbau Themenheft

Teil [A] Fürsorge versus AktivierungAktivieren, Fordern und Fördern – Soziale Sicherung als Aufgabenteilung zwischen Staat und Bürger/in?

Teil [E] Soziale Sicherung zwischen Markt und StaatDarstellung der Debatte um die Zukunft der sozialen Sicherung: ökonomische und politische Grundlagen

Basis aufbauend auf vorliegenden Schulbüchern und ergänzenden Materialien: grundlegende Informationen zu den Systemen sozialer Sicherung

Teil [F] Zusatzmaterialien

und / oder

und / oder

Teil [B] Hartz lV – Zumutung oder Meilenstein?

Teil [C] Familienpolitik –

Wie politisch ist das Private?

Teil [D] Leben im Alter –

Reicht die kollektive Vorsorge?

44

Didaktische Kommentierung der einzelnen Materialien

[A] Fürsorge versus Aktivierung

Der Begriff der Aktivierung steht im Mittelpunkt des vorliegenden Themenheftes, so dass der Lerngruppe zunächst eine Vorstellung darüber vermittelt werden sollte, was darunter insbesondere in Abgrenzung zum fürsorgenden Sozialstaat zu verstehen ist. Da der Begriff selbst jedoch sehr abstrakt ist, eignet sich die Zugangsweise über das Fallbeispiel „Sabine Meier“ (M1), die von Arbeitslosigkeit betroffen ist und damit auch Leistungen des Sozialstaats bezieht. Da, wie oben bereits erwähnt wurde, der Umbau in Richtung Aktivierung am deutlichsten im Bereich der Arbeitsmarktpolitik spürbar wurde, bietet sich die konkrete sozialstaatliche Leistung der Unterstützung im Falle der Arbeits-losigkeit in besonderem Maße an. Den Lernenden soll über den Vergleich der Ansprüche und Verantwortlichkeiten Sabine Meiers induktiv der Unterschied zwischen fürsorgender (vor den Hartz-Reformen) und aktivierender Sozialpolitik (nach den Hartz-Reformen) ver-ständlich gemacht werden. Das Schaubild aus M3 zeigt, dass Sabine Meier kein Einzelfall ist, da die Veränderungen der Hartz-Reformen weite Personenkreise betreffen. M3 trägt damit bereits zur Abstraktion bei.

M2 und M4 führen schließlich den abstrakten Begriff der Aktivierung in Abgrenzung zum Begriff der Fürsorge ein. Neben der Zusammenfassung des definierenden Textes und der Auseinandersetzung mit „typischen“ Schlagworten trägt vor allem die Übertragung der Begriffe Aktivierung und Fürsorge auf das Fallbeispiel M1 dazu bei, das Konzept des aktivierenden Sozialstaats zu erfassen. Sozialwissenschaftliches Lernen ist aber mehr als die bloße Schulung von Begriffsverständnis. Vielmehr sollte den Lernenden zusätz-lich deutlich werden, dass innerhalb von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft – und damit eben auch im Bereich der Sozialpolitik – kontroverse Positionen aufeinandertreffen. Die in Form eines Rollenspiels ausgetragenen Diskussionen um Chancen und Grenzen der Aktivierung setzen an dieser Stelle an und führen damit in das Konfliktpotenzial der Sozialpolitik ein. In den nachfolgenden Themenbausteinen, die einzelne sozialpolitische Inhaltsfelder näher beleuchten, soll das Lernziel verfolgt werden, „heutige sozialpoliti-sche Institutionen und gestaltungspolitische Alternativen zu diesen im Hinblick auf ihre Erzeugung und Verteilung von Lebensqualität und -chancen ausgewogen beurteilen zu können“.3

3 Hippe 2010, S. 210

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

45

[B] Hartz IV – Zumutung oder Meilenstein?

Hartz IV ist ein regelmäßig wiederkehrendes Thema der medialen Berichterstattung. Dabei setzen insbesondere Boulevardzeitungen, aber auch Talkshows auf Darstellungen von Typen, die Aufsehen erregen, etwa „Deutschlands glücklichsten Arbeitslosen“ Arno Dübel. Solche Formate beeinflussen das Denken, sie tragen unter anderem dazu bei, dass sich bei Lernenden Vorurteile entwickeln. Im Falle der Bezieher/innen von Leistungen nach dem SGB II wird demnach nicht das konkrete Einzelschicksal gesehen. Es sind eben vielmehr die Hartz-IV-Empfänger/innen, über die bestimmtes Wissen vorzuliegen scheint.

An dieser Stelle setzt der zweite Baustein des Themenheftes an. Zu Beginn wird die Lerngruppe in M5 mit dem Fall der Journalistin Undine Zimmer konfrontiert, die in einer „Hartz-IV-Familie“ aufgewachsen ist. Sie schildert Erfahrungen ihrer Kindheit und Ju-gend, die sie trotz verschiedener Schwierigkeiten durchaus als positiv erlebt hat. Darge-stellt werden aber auch die Situation der Eltern, ihre Probleme sowie ihre Bewältigungs-strategien. Durch das Hineindenken in den Fall und die Betrachtung der Situation aus dem Blickwinkel Undine Zimmers können die Lernenden zur sozialen Perspektivübernah-me angeregt werden, sie „können sich in die [gegebenenfalls, die Autorin] fremde Vor-stellungs-, Wert- und Gefühlswelt hineindenken. […] Sie [können] die Last der fremden Probleme selbst spüren und die Sorgen der anderen […] mit- und nachempfinden“4. Aber auch jenen Lernenden, die in ihrer eigenen Lebenswelt damit konfrontiert sind, in einer Familie aufzuwachsen, die Hartz IV bezieht, trägt die Methode der Fallanalyse Rechnung. Ihr Lernpotenzial eröffnet sich gerade dadurch, dass niemand zur Preisgabe persönlicher Lebensumstände verpflichtet wird.

Das Fallbeispiel selbst hat dabei zunächst einen motivierenden Charakter und dient dem Einstieg in die Thematik Hartz IV. Es weist jedoch auch über diese Funktion hinaus. Die Bedeutung der Arbeit mit Fällen ergibt sich gerade aus dem Wechselspiel von Konkretion und Abstraktion. Die politische und gesellschaftliche Kontroverse zum Thema Hartz IV, insbesondere die Frage der Menschenwürde bei Bezug der Leistungen kann auf diesem Weg lernwirksam aufgegriffen werden. Zudem können weiterführende Diskussionen um die Legitimität (etwa der in den Hartz-Gesetzen enthaltenen Maßnahmen zur Vermittlung von Arbeit) und die Effizienz (Erfolg) der Hartz-Reformen geführt werden.

Fallanalyse – Schrittfolge

AußenbetrachtungDer Fall wird mit Hilfe von Fragen von außen betrachtet, z. B.: Worum geht es hier? Wer ist beteiligt? Welche Ziele und Mittel? Lage? Ursachen? Usw.

InnenbetrachtungDie Lernenden versetzen sich in die Lage der handelnden Personen und versuchen, das Ereignis mit den Augen dieser anderen zu sehen (soziale Perspektivenübernahme). Gedanken/Gefühle der Personen? Es geht um das Mit- und Nacherleben fremder Schicksale, um Betroffenheit.

(Politische) UrteilsbildungDie Betroffenheit, die in Phase II aufgetreten ist, provoziert die Frage, ob politisches Handeln dem Problem der Akteure im Fall abhelfen könnte. […] Der konkrete Fall wird auf die Möglich-keit und Wünschbarkeit politischer Lösungen hin betrachtet.

Reinhardt 2005, S. 124.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

4 vgl. Breit 1992, S. 17

46

Eine zentrale Position in der Beschreibung der Fallsituation der Familie nehmen die ihnen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel ein. Daraus kann das allgemeinere Problem der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens für Empfänger/innen von Hartz IV abgeleitet werden. Die Materialien M6 bis M8 sollen die Lernenden befähi-gen, sich ein Urteil über die Diskussion nach der angemessenen Höhe sozialstaatlicher Leistungen zu bilden. Hierfür eignet sich die Analyse von Statistiken in besonderem Maß. Neben M7 und M8 werden im gesamten Themenheft immer wieder Schaubilder, Diagramme und Statistiken als Lernmaterial angeboten. Der Umgang mit (aufbereiteten) statistischen Daten zählt nicht zuletzt aufgrund ihrer medialen Präsenz zu einer Schlüs-selqualifikation, die es in der Schule zu erwerben gilt. Vor allem im Bereich der sozial-wissenschaftlichen Bildung sollten Lernende zu einer kritischen Nutzung von Schau-bildern und Statistiken befähigt werden, denn je nach den eingesetzten Daten können bestimmte Interpretationsmuster provoziert werden. Ein mögliches Analyseraster, das auch auf diese Gefahren aufmerksam macht, findet sich im Themenheft „Finanzkrise“ von „Böckler Schule“5.

Durch die Fragestellung nach den eigenen materiellen Bedürfnissen und Wünschen der Lernenden zu Beginn der Auseinandersetzung erfolgt eine Rückbindung des schu-lischen Unterrichtsgeschehens an eigene Erfahrungen. Lernende leben in der Regel im Elternhaus und müssen sich daher kaum die Frage nach den Kosten von Lebensnot-wendigkeiten wie Miete oder Nahrung stellen. Durch die Frage nach jenen Dingen, die ein menschenwürdiges Leben für sie persönlich ausmachen, kann ein Zugang zu der abstrakten Frage nach der angemessenen Höhe der Leistungen geschaffen werden. Er-gänzend kann hier der Rückbezug auf den Ausgangsfall genutzt werden. Gefragt werden kann zum Beispiel, ob im Falle der Familie Zimmer von einem menschenwürdigen Leben gesprochen werden kann oder inwiefern eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze das Alltagsle-ben der Familie Zimmer beeinflusst hätte.

Die Materialien M9 bis M11 lenken den Blick weg von den Mikrostrukturen einzelner Akteure/Akteurinnen hin zu den Makrostrukturen der Gesamtgesellschaft bzw. ihrer Teilsysteme und zeigen Wechselwirkungen zwischen diesen auf. Sie verbinden damit die verschiedenen Perspektiven des sozialwissenschaftlichen Unterrichts.

Didaktisch bietet sich deshalb die Einführung von bzw. die Arbeit mit sozialwissen-schaftlichen Basiskonzepten an. Diese sollen „den analytischen Blick für gemeinsame Foci verschiedener sozialwissenschaftlicher Zugänge öffnen und diese koordinieren hel-fen“6. Basiskonzepte dienen damit sowohl den Lernenden, den sozialwissenschaftlichen Zugang zu Themen des Unterrichts zu erhalten, als auch den Lehrenden im Hinblick auf „eine didaktische Fokussierung, Reduktion und Ordnung von Gegenständen“7. Sie bie-ten sich daher auch bei der Analyse der anderen Materialien des Themenheftes an.

5 Engartner 2012, S. 406 Autorengruppe Fach-

didaktik 2011, S. 1697 ebd., S. 168

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

47

Dass im Übrigen nicht nur Erwachsene (z.B. als Wähler/innen, siehe M10), sondern auch und vor allem Kinder und Jugendliche von diesen Wechselwirkungen betroffen sind, zeigen nicht nur die Materialien M9 und M11, sondern auch das folgende dem Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung entnommene Schaubild:

Lebensphasen – Übergänge

BMAS 2013, S. 24

Frühe JahreJüngeres Erwachsenenalter

Mittleres Erwachsenenalter

Älteres und ältestes Erwachsenenalter

Geburt

Schuleintrit t Schulform-wechsel

Berufs-einstieg

Wiedereinstieg nach Familiengründung

Weiterbildung Renten-eintrit t

Eintrit t von Pflege- bedürftigkeit

Inanspruchnahme früh-kindlicher Förderung

Berufsausbildung Arbeitslosigkeit Eintrit t von Behinderung

Autorengruppe Fachdidaktik 2011, S. 170

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

Recht Aggregation

Zukunftsunge-wissheit

(Nicht-intendierte) Handlungsfolgen

Historizität

Diversität

Kontingenz

Entscheidung Ressourcen

Interesse

Gewalt Knappheit

Soziale Milieus

Verfahren Arbeit

Kooperation

Deutungshoheit Ökologie

Konkurrenz

Öffentlichkeit Verteilung

Integration

Konflikt Konsum

Emotion

Werte

Sicherheit

Gleichheit

Freiheit

Sinn

GemeinwohlOrdnungsideen

LegitimationGerechtigkeit

Strategie Produktion

Anerkennung

Politik

Institution

HerrschaftLebenswelt

Wirtschaft

Staat

Gesellschaft

System

Herrschafts- und ordnungsbildende gesellschaftliche

Teilsysteme Akteure

Individuen und Gruppen mit

unterschiedlichen Partizipations-

chancen

Wandel

Gesellschaftliche Veränderungen als Ausdruck kontin-genter Wert- und Machtstrukturen

Macht

Kontextspezifi-sche Mittel und

Verfahren zur Durchsetzung allgemeiner Verbindlich-

keit

Bedürfnisse

Knappheit als gesellschaftliche Grundbedingung und Auslöser von

Kooperations- und Verteilungspro-

blemen

Grund- orientierungen

Gemeinsame und unterschiedliche Deutungsmuster

und Deutungskon-texte

Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte und ausgewählte Teilkonzepte bzw. Teilkategorien

48

Die Materialien M12 und M13 tragen ebenfalls dazu bei, dass die Lerngruppe das per-sönliche Problem der Familie – die Arbeitslosigkeit beider Elternteile – als gesamtge-sellschaftliches und damit auch als politisches Problem betrachtet. Gerade die Frage nach dem Umgang mit Arbeitssuchenden in der Gesellschaft bietet die Möglichkeit, dass Lernende eigene Vorurteile erkennen und ggf. sogar abbauen können. Dazu ist es auch notwendig, dass sie erkennen, woher zumindest ein Teil der Vor- und Einstellungen über Arbeitslose stammt. Die Nutzung der beiden Massenmedien (Boulevard-Zeitung) und Film (in Aufgabe A4, Seite 13) trägt daher nicht nur zum Informationsgewinn bei. Vielmehr kann mit Hilfe der beiden Beispiele die Rolle der Medien in der Generierung von Stereotypen und Vorurteilen kritisch hinterfragt werden. Für das konkrete Thema bedeutet dies, dass sich die Lernenden darüber bewusst werden sollen, dass es den/die Hartz-IV-Empfänger/in nicht gibt. Hier zeigen sich zudem Anknüpfungspunkte an das Fallbeispiel M5, etwa ob die dargestellten Vorurteile auch aus der Schilderung Undine Zimmers ersichtlich werden.

Der politische Umgang mit Arbeitslosigkeit im aktivierenden Sozialstaat wird durch die Regierungsrede des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder thematisiert. Die in-haltliche Analyse der Rede trägt dazu bei, die Probleme anhaltender Arbeitslosigkeit für den Staat zu verstehen und die angebotenen Lösungsmöglichkeiten kritisch zu diskutie-ren. Über die vorliegenden Arbeitsaufträge hinaus kann der Auszug aus der Regierungs-rede aber auch zum weiterführenden politischen Lernen genutzt werden. Eine Möglich-keit der systematischen Analyse der Rede stellt folgendes Schema vor:

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

49

Die Materialien M14 bis M18 schließen die Auseinandersetzung mit den aktivierenden Arbeitsmarktreformen ab, indem sie dazu anleiten, die Frage nach dem Erfolg der Re-formen zu stellen. Neben M14 bis M18 kann hier auch eine Retrospektive auf das Ge-samtkapitel erfolgen. Entsprechend dem didaktischen Prinzip der Kontroversität ergibt sich so eine mehrperspektivische Sicht auf die Reformen. So sollen Erfolge, etwa die gesunkene Zahl der Arbeitslosen, durch die Lernenden kritisch hinterfragt werden, in-dem zum Beispiel die Qualität der Arbeitsplätze beleuchtet wird. Methodisch können die Arbeitsergebnisse wirksam zum Beispiel in Form einer Talkshow, eines Fishbowls, einer Pro-Contra-Debatte oder einer Podiumsdiskussion genutzt werden8. Auch hier gibt es die Option, zum Abschluss den Erfolg der Reformen aus der konkreten Sicht der betrof-fenen Familie Zimmer zu beurteilen.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

8 Zu näheren Informati-onen zu den einzelnen Gesprächsformen im sozialwissenschaftli-chen Unterricht zum Beispiel: Massing 2005; Reinhardt / Richter 2007

Analyse politischer Reden

1. Inhalt• Worum geht es in der Rede? Was ist das zentrale Thema?• Welche zentralen Thesen werden aufgestellt?• Mit welchen Argumenten werden die Thesen belegt? Werden Gegenargumente aufgegriffen?• Werden Schlüsselbegriffe, Schlagworte, sprachliche Bilder genutzt?• Ist die Argumentation logisch und stringent?

2. Redner• Wer ist der Redner/die Rednerin? In welcher Funktion spricht er/sie?• Welcher weltanschaulichen (ideologischen) Überzeugung ist der Redner/die Rednerin zuzu-

rechnen?• Vollzieht der Redner/die Rednerin bestimmte Sprachakte (etwa kritisieren, leugnen, rechtfer-

tigen)? Kann man daraus auf eine bestimmte Absicht, die der Redner/die Rednerin verfolgt, schließen?

3. Adressaten• An wen richtet sich die Rede? Politische Anhänger oder Gegner, politische Eliten, die Öffent-

lichkeit oder eine indifferente Gruppe?• Welche weltanschaulichen Überzeugungen sind bei den Zuhörer(inne)n zu erwarten? • Bezieht der Redner / die Rednerin die Adressat(inn)en in seine Rede ein? Wie geschieht dies

(etwa durch direkte Ansprache)?

4. Kontext• Wann und wo wird die Rede gehalten? Welche politische/ gesellschaftliche/ ökonomische

Situation liegt vor?• Ist die Rede geplant oder findet sie eher spontan statt?• Hat die Rede auf das nachfolgende (politische) Geschehen einen bedeutsamen Einfluss (etwa

indem sie meinungsbildend wirkt oder Diskussionen und Kontroversen hervorruft)?

5. Sprachliche und rhetorische Analysen• Welchem Redetyp ist die Rede zuzuordnen (etwa Wahlkampfrede, Parlamentsrede, Sachvor-

trag usw.)?• Ist ein sinnvoller Aufbau/ ein roter Faden erkennbar?• Werden besondere sprachliche und rhetorische Mittel eingesetzt (etwa Fremdwörter/ Fach-

sprache/ Metaphern/ Vergleiche)? Welche Wirkung soll damit vermutlich erzielt werden?

Verändert nach: Gora 1992, S. 60

50

[C] Familienpolitik – Wie politisch ist das Private?

Familien werden zunehmend unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehen: • als Ressource für den Arbeitsmarkt (neben den Kindern als Arbeitnehmer(inne)n und

Selbstständigen der nächsten Generation werden hier vor allem nicht oder nur gering-fügig bzw. in Teilzeit arbeitende Frauen angesprochen),

• als Kostenfaktor (zum Beispiel auf Grund von Verdienstausfällen in Folge von familiär bedingter Auszeit vom Beruf oder auf Grund von durch „bildungsferne“ Familien ver-ursachten Kosten für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft),

• als potenzielles Armutsrisiko9.

Aktivierende Familienpolitik soll dazu beitragen, die genannten Chancen zu nutzen bzw. die Risiken zumindest zu minimieren.

Für viele Lernende ist dieses Thema nicht zuletzt aufgrund der herausragenden Rolle der Familie auch ganz persönlich bedeutsam. Die letzte Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2010 zeigte, dass 76 Prozent der jungen Männer und Frauen eine Familie brauchen, um wirklich glücklich zu leben. Mehr als zwei Drittel aller Befragten wünschen sich eigene Kinder10. Vor allem aus diesem Grund ist anzustreben, dass sie sich ein Urteil über den Einfluss von Familienpolitik auf die eigenen Vorstellungen von gelingendem Familien-leben bilden können. Im Sinne der Interdisziplinarität sozialwissenschaftlicher Bildung muss den Lernenden aber gezeigt werden, dass Familienpolitik die Lebensweise von Familien nicht alleine zu beeinflussen vermag. Gesellschaftliche Wertvorstellungen und die sozioökonomische Situation prägen diese auch in entscheidendem Maß.

Das Kapitel folgt einem problemorientierten Aufbau. Dabei wird gezeigt, dass aus dem grundsätzlich privaten Problem der Frage nach der wünschenswerten Gestaltung des Familienlebens – Möchte ich Kinder oder eher nicht? Sollen beide Partner voll berufstätig sein? – durchaus Herausforderungen für die Gesamtgesellschaft erwachsen können. Die genauere Untersuchung des Problems verläuft mithilfe der Materialien entlang der folgen-den Fragen:

Fragen zur Untersuchung des Problemfeldes Familienpolitik (in Klammern die jeweils nutzbaren Materialien des Themenbausteins):

(1) Worin besteht das Problem? (M19 – M21)

(2) Wie ist das Problem entstanden? (M20 – M22)

(3) Wessen Interessen werden durch das Problem berührt? (M22 / M23)

(4) Welche Lösungen des Problems sind denkbar/ möglich? (M22 – M24)

(5) Woran könnte die Lösung des Problems scheitern? (M22 – 24)

(6) Welche Bedeutung haben die Lösungen für die Betroffenen? (v. a. M22 / M23, auch M24)

9 vgl. Ostner 200810 vgl. Shell 2010, S. 55

ff.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

51

M19 kontrastiert den Kinderwunsch vieler junger Deutscher mit einem Bild, auf dem ein Paar mit offensichtlich gescheitertem Kinderwunsch zu sehen ist. Es soll dazu bei-tragen, zu erkennen, dass Wunsch und Realisation auseinanderklaffen (können). Damit wird offensichtlich ein drängendes Problem angesprochen: Trotz Kinderwunsches gelingt es vielen Frauen und Männern nicht, eine Familie zu gründen. Da sich viele Ju-gendliche selbst Kinder wünschen (siehe Ergebnisse der Shell-Studie), dient die Frage nach den Gründen für Kinderwünsche als schülerorientierter Einstieg. Zudem soll ih-nen verdeutlicht werden, dass ein Kinderwunsch zunächst vor allem private Interessen und Werte betrifft. Die Frage nach der Entstehung des Problems thematisiert vor allem die Gründe, die zu einem Aufschieben oder sogar einer Aufgabe des Kinderwunsches führen. Neben Gründen wie einem/r fehlenden Partner/in ist das Problem der Verein-barkeit von Beruf und Familie eine zentrale und in der öffentlichen Debatte eine viel dis-kutierte Ursache. Sie wird in M21 aufgegriffen. M20 sowie M22 und M23 setzen sich mit weiteren möglichen Hindernissen bei der Erfüllung des Kinderwunsches auseinander. Im Mittelpunkt stehen dabei gesellschaftliche Wertvorstellungen bzw. die Frage danach, was eine gute Mutter bzw. einen guten Vater ausmacht. Die Lernenden sollen vor allem dazu angeleitet werden, gesellschaftliche Stereotype zu hinterfragen. Dies betrifft ins-besondere die Rolle von Männern und Frauen bei der (Klein)Kinderbetreuung.

Dass die Problematik der Erfüllung des Kinderwunsches nicht nur eine persönliche ist, wird durch die Einstiegsaufgabe zu M24 (Aufgabe A1, S. 21) verdeutlicht. Die Lernen-den sollen Maßstäbe zur Beurteilung erfolgreicher Familienpolitik aufstellen, sich dabei aber an den Interessen auch des Staates und der Wirtschaft orientieren. Damit wird verdeutlicht, welche Ziele Familienpolitik je nach Interessenlage verfolgen kann und sollte. Hier kann und soll vor allem auch die oben angesprochene Ökonomisierung von Familie eingebunden bzw. aufgegriffen werden. Auch kann hier hinterfragt wer-den, was für die Lernenden überhaupt eine Familie ausmacht. Denn etwa ein Drittel aller familienpolitischen Leistungen sind an den Status der Ehe und nicht an das Vor-handensein von Kindern gebunden. An diese Überlegungen schließen die Materialien M25 und M26 mit der Frage an, ob familienpolitische Instrumente zu einer Lösung des Problems beitragen können. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist aufgrund der vielfältigen Interessen in der heterogenen Gruppe derjenigen, die einen Kinderwunsch haben, kaum möglich.

M27 bis M30 zeigen, dass aktivierende Familienpolitik weitere Maßnahmen bein-haltet als jene, die Familien mit Kindern unterstützen sollen. Auch das im Jahr 2007 veränderte Unterhaltsrecht kann in diesen Kontext eingeordnet werden. Aktivierung ist vor allem deshalb zu vermuten, weil die finanzielle und zeitliche Begrenzung von Unterhaltszahlungen jene Ehepartner (i.d.R. die Ehefrauen), die in der Ehe zugunsten der familiären Fürsorge die Arbeit im Beruf ganz oder teilweise eingestellt haben, verpflichten, möglichst schnell wieder eine bezahlte Tätigkeit aufzunehmen. Ob das neue Unterhaltsrecht eine Lösung für die Probleme des vom demografischen Wandel betroffenen Arbeitsmarktes ist, kann und soll mithilfe der Materialien kritisch disku-tiert werden.

Als optionaler Abschluss dieses Teils und zur Vertiefung, die einen inhaltlichen Bogen vor allem zum einführenden Teil schlägt, bietet sich eine Diskussion darüber an, ob und warum die Familienpolitik aktivierend ist und sein kann. Basis zur Beantwortung dieser Aufgabe sind die Aufzeichnungen aus dem gesamten Kapitel.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

52

[D] Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?

Sich aktiv um sich selbst zu kümmern, ist wie weiter oben bereits dargestellt die zentra-le Forderung im aktivierenden Sozialstaat. Dies spiegelt sich auch in den Vorstellungen vom Alter(n) wider. Bereits weit vor der Verrentung sollen sich die Bürger/innen um ihre finanzielle Absicherung bemühen, um so den Sozialstaat von den Kosten der Rentenver-sicherung zum Teil zu entlasten. Tatsächlich wurde seit Einführung der Rentenreform im Jahr 2001 die (scheinbare) Alternativlosigkeit der privaten bzw. betrieblichen Vorsorge stets betont. Die Lernenden sollen im vierten Teil des Themenheftes vor allem dazu an-gehalten werden, diese Alternativlosigkeit zu hinterfragen, ohne dass ihnen die Proble-me der Alterssicherungssysteme vorenthalten werden.

Der Einstieg in das Themenfeld „Leben im Alter – Reicht die kollektive Vorsorge?“ erfolgt schülerorientiert. Die Lernenden sollen ihre Vorstellungen hoher Lebensqualität auch im fortgeschrittenen Alter darlegen. Dies können beispielsweise besondere Aktivi-täten wie etwa eine Weltreise oder ein neues Hobby sein, aber auch generelle Wünsche wie Gesundheit oder viel Zeit für die Familie ließen sich hier anführen. Hierfür kann sowohl auf Befragungen von Eltern, Großeltern oder sonstigen Verwandten / Bekannten, als auch auf das Bildmaterial M31 zurückgegriffen werden. Die Bilder transportieren be-stimmte Vorstellungen vom Alter(n) und tragen dazu bei, den Lernprozess zu initiieren. Durch sie kann an die Voreinstellungen, Erfahrungen und das Alltagswissen der Lern-gruppe angeknüpft werden. Ihre Verwendung erscheint vor allem beim Thema Alter, das für die Lernenden in der Regel weit entfernt ist, fruchtbar: Die Generation 65+ ist heute weit mehr als nur die Gruppierung potenziell oder tatsächlich Pflegebedürftiger. Sie stellt genauso potenziell nutzbare Arbeitskraft sowie eine bedeutsame Zielgruppe der Konsumgüterwirtschaft dar und ist deutlich freizeitorientierter, als dies noch vor weni-gen Jahrzehnten der Fall war. Besonders ergiebig gestaltet sich die Arbeit mit Bildern, wenn diese nicht nur stummer Impuls bleiben, sondern im gemeinsamen Kommunika-tionsprozess von der gesamten Klasse erschlossen und diskutiert werden. Eine syste-matische Interpretation des Bildmaterials trägt dazu bei, solche Kommunikations- und Diskussionsprozesse anzuregen.

Schritte der Bildanalyse

1. BildbeschreibungSammeln erster spontaner Eindrücke, die sich auf den Gesamteindruck des Bildes beziehen sowie Suche nach auffälligen Einzelheiten im Bild.

2. BildanalyseBeschreibung des Bildes mit Benennen aller Einzelheiten (Formen, Farben, Symbole, Perspekti-ve), daraus Schlussfolgerungen über den Inhalt des Bildes ziehen

3. BildinterpretationFestlegung auf den zentralen Gehalt des Bildes (= individuelle Deutung inklusive Begründung des subjektiv feststellbaren Bedeutungsgehalts)

4. BildüberschreitungFormulierung von Fragen, die sich aus dem Bild ergeben

Reinhardt 2005, S. 124

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

53

Neben der Formulierung eigener Fragen durch die Lernenden dient die Herausstellung des Zusammenhangs zwischen den (ggf. durch die Bilder transportierten) Vorstel-lungen hoher Lebensqualität im Alter und den hierfür notwendigen Voraussetzungen einer weiterführenden Erschließung des Themas. Gerade die angesprochene Freizeit-orientierung setzt neben Gesundheit vor allem eines voraus: ausreichende finanzielle Möglichkeiten.

M32 bis M40 behandeln das System der privaten und betrieblichen Altersvorsorge in Deutschland. Eine grundsätzliche Einführung in das System der gesetzlichen Alters-sicherung und deren Probleme auch für den/die einzelne/n Rentenbezieher/in sollte vorgeschaltet werden, um das Verständnis der Lernenden zu erhöhen. Dafür bietet sich der Einsatz der „Böckler Schule“-Unterrichtseinheit „Alt und arm? – oder: Wenn ich einmal alt bin…“ an11. Das vorliegende Material schließt hieran an und soll die Lernenden zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Reformen der gesetzli-chen Rentenversicherung anregen. Hierfür wird der Blick auch auf die Auswirkungen der Geldanlage zu Vorsorgezwecken nicht nur auf zukünftige Situationen gelenkt. Vielmehr tragen vor allem M33 und M34 dazu bei, über die sowohl positiven als auch negativen Auswirkungen des notwendigen Konsumverzichts – auch und gerade für das Teilsystem Wirtschaft – nachzudenken.

Die private Altersvorsorge, insbesondere die so genannte Riester-Rente, galt lange Zeit als „alternativlos“, sofern Altersarmut vorgebeugt werden sollte. Die Vorteile Rendite, Sicherheit und Flexibilität werden auch von Anbietern betont. Dies wird auch in den Auszügen aus dem Prospekt eines Finanzdienstleisters in M35 deutlich. In der jüngeren Vergangenheit wurde aber die Kritik am Produkt Riester-Rente zunehmend lauter. Vor allem die Intransparenz der Vertragsbestimmungen wird bemängelt (M36). Dies betrifft vor allem die Abschluss- und Verwaltungsgebühren und die damit einher-gehenden Auswirkungen gerade auf die Rendite. Durch die Beleuchtung auch dieser Aspekte sollen die Lernenden zu einem eigenständigen Urteil über Nutzen und Gren-zen der Riester-Rente gelangen.

Neben der privaten Altersvorsorge sehen die Reformbemühungen rund um die Alters-sicherung auch eine Stärkung der zweiten Säule, der betrieblichen Altersvorsorge, vor. Hierunter fallen all jene Leistungen, die Arbeitgeber/innen ihren Beschäftigten insbesondere zur Alters-, aber auch zur Invaliditäts- oder Hinterbliebenenversor-gung zusagen. Seit 2002 besteht für alle Beschäftigten ein gesetzlicher Anspruch auf betriebliche Altersvorsorge durch Entgeltumwandlung. Das heißt, dass Beschäftigte einen bestimmten Anteil ihres Bruttoentgelts direkt in eine Zusatzrente investieren können. Eine Verpflichtung zur Beteiligung des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin hin-gegen besteht nicht (siehe M38). Die weiterführenden Daten aus M37, M39 und M40 zeigen, dass eine zu starke Ausrichtung der Altersversorgung auf die dritte, vor allem aber auch zweite Säule, zu bedeutenden Ungleichgewichten in der finanziellen Absi-cherung des Alters führen kann. Insofern ist zu diskutieren, ob die betriebliche Alters-versorgung zwar eine sinnvolle Ergänzung zur gesetzlichen Rentenversicherung, aber eben aufgrund dieser Mängel nur die zweitbeste Lösung ist.

Zum Abschluss des Kapitels bietet sich analog zu den beiden vorhergehenden Kapiteln eine Einordnung der veränderten Altersvorsorgepolitik in den Kontext der Aktivierung durch die Lernenden an. Sie sollten hierzu die Auswirkungen der veränderten institu-tionellen Bedingungen auf Bürger/innen und Staat erörtern. Um die Veränderungen für die Bürger/innen zu diskutieren, bieten sich dabei Systematisierungsfragen an, die aufzeigen, was von den Einzelnen für Entscheidungen verlangt werden:

• Entscheidung pro/contra Vorsorge• Entscheidung für Weg, Produkt, Umfang• Entscheidung über Möglichkeiten und Grenzen der Finanzierung

(die auch langfristiger Art sind)

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

11 www.boeckler.de/pdf/schule_ue_ren-te_2013.pdf

54

[E] Soziale Sicherung zwischen Markt und Staat

Sozioökonomische Bildung verfolgt den Anspruch einer Integration politikwissenschaft-licher, soziologischer und ökonomischer Erkenntnisse und Theorien. Zur Vermeidung einseitiger Blickwinkel ist es didaktisch zielführend, das Thema der sozialen Sicherung entsprechend den Forderungen sozioökonomischer Bildung zu behandeln. Sozialstaat-liche Institutionen werden dann sowohl aus der gesellschaftlichen Perspektive (z.B. Auswirkungen auf Strukturen sozialer Ungleichheit) als auch aus der wirtschaftlichen Perspektive (z. B. Auswirkungen auf ökonomische Anreize) analysiert, um vor diesem Hintergrund die politische Perspektive hartnäckiger ideenpolitischer Kontroversen und Interessenskonflikte bzgl. der Gestaltung des Sozialstaats besser erkennen und verste-hen zu können12.

Soziale Gerechtigkeit – auf die sich die verschiedenen ideenpolitischen Konzeptionen zur Zukunft des Sozialstaats immer wieder berufen – ist ein schillernder Begriff, insbeson-dere weil keine allgemeingültige Definition existiert, die genau umreißt, was darunter zu verstehen ist. Jeder Mensch hat eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit, wenn-gleich es dennoch zu betonen gilt, dass es nur einige wenige Arten von Gerechtigkeit gibt, denen sich die Vielzahl individueller Vorstellungen zuordnen lassen13. Im Vorfeld sollen daher die Lernenden mit Hilfe der Frage „Wann geht es für Sie gerecht zu?“ über die eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen nachdenken und diese artikulieren. M41 zeigt, dass Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit nicht nur die Wahrnehmung einzelner Akteure/Akteurinnen, sondern auch politische Entscheidungen in unterschiedlichen Politikfeldern (unter anderem eben der Sozialpolitik) beeinflussen. Wahlplakate greifen das Thema deshalb oftmals auf. Sie sollen Aufmerksamkeit erwecken und zu Diskussio-nen über die jeweiligen politischen Standpunkte einzelner Parteien anregen. Methodisch kann die Arbeit durch eine Analyse von Wahlplakaten als einem typisch politischen Medium mit großer Präsenz im öffentlichen Raum ausgeweitet werden. Entsprechende Analysekriterien finden sich unter anderem auf der Internetplattform der Bundeszentra-le für politische Bildung14. M42 schließlich trägt dazu bei, das Konzept Gerechtigkeit und die zugehörigen Vorstellungen der Lerngruppe zu systematisieren, indem die angespro-chenen Arten sozialer Gerechtigkeit dargestellt werden. Eine Auseinandersetzung mit ihnen soll dazu beitragen, dass die Lernenden ihre eigene begründete Vorstellung von Gerechtigkeit (weiter)entwickeln. Des Weiteren werden sie befähigt, die Standpunk-te der in M43 dargestellten (sozial)politischen Debatte bezüglich der ihnen zugrunde liegenden Gerechtigkeitsvorstellungen zu analysieren. Dies erleichtert das Entwickeln eines eigenen Urteils zur Zukunft des Sozialstaats – gilt die analytische Durchdringung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Teilbereiche doch als notwendige Vor-aussetzung sozialwissenschaftlicher Urteilskompetenz15.

Die fünf Statements aus M43 stammen von (ehemals) führenden Politikern fünf politi-scher Parteien [CDU (Kurt Lauk), SPD (Kurt Beck), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jürgen Trittin), FDP (Guido Westerwelle) und DIE LINKE (Oskar Lafontaine)]. In ihnen spiegelt sich das Spektrum der Positionen zur zukünftigen Organisation der sozialen Sicherung zwischen Markt und Staat wider. Während allen voran die FDP, aber auch die CDU die Eigenverantwortung jedes/r Einzelnen betont und soziale Absicherung verstärkt über den Markt organisiert wissen will, vertritt DIE LINKE die entgegengesetzte Position und fordert die Verantwortungsübernahme durch den Staat in weiten Teilen. SPD und Grüne unterstreichen ebenfalls die zentrale Bedeutung des Staates – vor allem seine Verant-wortung für die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit. Sie betonen aber auch, dass jede/r Einzelne zur Verantwortungsübernahme befähigt werden muss.

Organisation der sozialen Sicherung durch jeden Einzelnen über den Markt

Organisation der sozialen Sicherung durch den Staat

FDPCDU / CSUDIE GRünEnSPDDIE LInKE

12 In der öffentlichen Debatte dominiert in diesem Zusam-menhang häufig das Schlagwort des Neoliberalismus. Zur weiterführenden Auseinandersetzung um den Zusammen-hang von Neolibera-lismus, Sozialstaat und Globalisierung vgl. z. B. Butterwegge et al. 2007.

13 Zu den Gerechtig-keitsvorstellungen der Deutschen vgl. Lippl 2003

14 Bundeszentrale für politische Bildung 2013

15 Henkenborg 2012

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

55

M44 ergänzt die Diskussionen um die Ausgestaltung des Sozialstaats zwischen Markt und Staat um die von den Veränderungen am deutlichsten Betroffenen – die Bürger/innen. Hier wird ersichtlich, dass jenseits des Effizienzdenkens eine weit reichende soziale Sicherung für viele Deutsche ein Wert ist, der zu bewahren ist. Hierbei lassen sich, je nach Art sozialstaatlicher Leistungen, aber durchaus unterschiedliche Zustim-mungsraten zur Forderung nach mehr Eigenverantwortlichkeit feststellen. Während die Absicherung im Alter als vorrangig staatliche Aufgabe betrachtet wird, ist die Sicherung des Lebensstandards bei Arbeitslosigkeit eher durch Eigenverantwortung sicherzustellen. Solche Erkenntnisse lassen immer wieder Rückbezüge zu den vor-hergehenden Teilkapiteln des Themenheftes zu. So kann die Ablehnung vermehrter staatlicher Leistungen im Falle der Arbeitslosigkeit mit der medialen Darstellung von Hartz-IV-Empfänger(inne)n sowie den bestehenden Vorurteilen über Leistungsbezie-her/innen verknüpft werden.

Die Materialien M41 bis M44 lassen sich alternativ zu den vorgeschlagenen Aufgaben auch in Form einer Talkshow einsetzen. Die Talkshow personalisiert durch eingeladene Gäste (hier die Politiker) kontroverse und aktuelle politische Themen auf informative und zeitgleich unterhaltsame Art und Weise. Durch eine/n Moderator/in werden (unter möglichem Rückgriff vor allem auf M41, M42 und M44) immer wieder Gesprächsimpul-se gesetzt. Da der/die Moderierende eine Schlüsselrolle innerhalb der Unterrichtsme-thode innehat, sollte diese Rolle von leistungsstarken Lernenden mit hoher kommuni-kativer Kompetenz übernommen werden.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

Ablauf einer Talkshow

VorbereitungGestaltung eines Sendekonzepts durch die Lehrkraft; beinhaltet insbesondere die Planung der Sitzordnung: eindeutige Trennung des Raums in Publikum und Talk-Runde, Auseinandersetzen von Vertreter(inne)n fremder Positionen

zentrale Bedeutung der Hinführung zum Thema (Motivation, sich kontrovers mit dem Thema auseinanderzusetzen)

Vorbereitung der Rollen in arbeitsteiliger Gruppenarbeit:

• Gäste: Erarbeitung der zentralen Positionen, die später in der Talkshow vertreten werden• Moderator/in: Erarbeiten von Informationen über die Gäste (vor allem institutionelle, beruf-

liche oder funktionsbezogene Informationen sowie die jeweilige Grundposition), Gestaltung eines Gesprächsleitfadens (Fragen möglichst von verschiedenen Seiten)

DurchführungEinstieg in die Talkshow als „psychologische Schwelle, die erst überschritten werden muss“: Verringerung dieser Schwelle zum Beispiel durch eine kurze Vorstellungsrunde oder ein schrift-lich vorbereitetes Eingangsstatement

Steuerung des eigentlichen Gesprächs durch den/die Moderator/in: Initiierung des Gesprächs, Liefern neuer Stichworte bei „Hängern“ und Zurückführen von „Ausbrechern“ zum Thema

Beenden der Talkshow kann ebenfalls durch Moderator/in erfolgen (wenn keine neuen Argu-mente mehr genannt werden und die Gäste sich wiederholen)

AuswertungEinschätzung der kommunikativen Fähigkeiten der Akteure/Akteurinnen und der Überzeu-gungskraft der Positionen („Liegt Effekthascherei vor?“; „Reden Gäste applausversessen?“; „Wird das Publikum als rhetorisches Mittel einbezogen?“ usw.)

nach Kuhn 2004

56

[F] Zusatzmaterialien

Die in Teil [F] angebotenen zusätzlichen Materialien eignen sich sowohl für den Einsatz während der Erarbeitung der einzelnen Themen (etwa als visueller bzw. audiovisueller Impuls) als auch als Abschluss eben jener thematischen Teilaspekte.

Die Arbeit mit den in M45 dargestellten Karikaturen kann sowohl hinführender als auch kritisch reflektierender Natur sein. Als Unterrichtseinstieg kann eine Karikatur beispiels-weise mithilfe der folgenden Möglichkeiten eingesetzt werden:16

• Stummer Impuls: Die Karikatur wird ohne Kommentar von der Lehrkraft mittels Bea-mer oder Overheadprojektor an die Wand gebracht. Die Reaktionen der Lerngruppe werden abgewartet.

• Provokation: Die Kernaussage der Karikatur wird aufgegriffen, soll die Lernenden pro-vozieren und zu Widerspruch anregen. ACHTUNG: Die Lernenden sollten unbedingt in der Lage sein, die intendierte Provokation durch die Lehrkraft zu erkennen.

• Sukzessives Aufdecken: Die einzelnen Details der Karikatur werden nach und nach auf-gedeckt. Dies erzeugt Aufmerksamkeit und Neugier und hilft insbesondere bei Lernen-den, die im Umgang mit dem Medium Karikatur ungeübt sind, diesen zu erlernen.

• Fantasie: Die Lerngruppe soll sich in die Lage der Hauptfigur der Karikatur versetzen und beschreiben, wie diese sich fühlt bzw. was ihre Gedanken, Wünsche, Probleme etc. sind.

Als Abschluss der Unterrichtsreihe können die Karikaturen im Rahmen einer so genann-ten Karikatour interpretiert werden. Für diese Methode werden die Darstellungen an den Wänden des Klassenraums verteilt und von Kleingruppen der Reihe nach überblicksartig für je etwa zwei bis drei Minuten analysiert. Anschließend können die Karikaturen durch die einzelnen Kleingruppen entsprechend dem hermeneutischen Dreischritt Verstehen – Auslegen – Anwenden noch genauer interpretiert werden. So kann die Urteilskompetenz der Lerngruppe ausgebildet bzw. vertieft werden. Vorteil des Einsatzes der Karikatur am Ende der Behandlung eines Themas ist, dass die Lernenden bereits über ausreichend Hintergrundwissen verfügen, um sich eine eigenständige Meinung zu bilden. Ebenso wie beim Einsatz zu Beginn einer Unterrichtsreihe bietet die Darstellung mehrerer Kari-katuren zum Abschluss zudem einen Überblick über Interpretationen eines Themas.

Filme eignen sich als Unterrichtsmedium zu mehr als nur zur bloßen Belohnung der Lerngruppe nach erfolgreichen Unterrichtseinheiten oder als Verlegenheitslösungen am Schuljahresende17. Neben den eigens für den Unterricht konzipierten Filmen18 haben auch dokumentarische und fiktionale Filme erhebliches Potenzial. Insbesondere filmi-sche Satiren können für den sozialwissenschaftlichen Unterricht besonders ertragreich sein, da sie Gesellschaftskritik in Bilder fassen (in der angegeben Liste etwa „Ein Schnit-zel für drei“). Sie eröffnen daher vor allem Ansatzpunkte für die didaktischen Prinzipien der Kontroversität und Problemorientierung, können aber auch Ausgangspunkt einer Fallstudie bzw. Fallanalyse sein.

Damit eine vertiefende Auseinandersetzung mit Filmen gewährleistet werden kann, sind Arbeits- und Beobachtungsaufträge für die Lernenden unerlässlich. Dabei kön-nen sowohl die filmischen Mittel als auch die inhaltlichen Aspekte beleuchtet werden. Mögliche Analysekriterien beider Varianten finden sich bei Peter W. Schulze und Veit Straßner19. Auch können inhaltliche Kriterien entlang der oben dargestellten Basiskon-zepte sozialwissenschaftlicher Bildung entwickelt werden. Es bietet sich zudem eine Zusammenführung beider Aspekte an, indem die Inszenierung politischer Inhalte durch filmische Mittel hinterfragt wird. Mögliche Ansatzpunkte (inkl. zugehöriger Fragen) hierfür sind:

16 siehe zu diesen und weiteren Möglich-keiten des Einsatzes einer Karikatur in der Einstiegsphase Klepp 2011, S. 242 f.

17 zum Umgang mit Filmen im sozial-wissenschaftlichen Unterricht vgl. auch Straßner 2013

18 z. B. „GG 19 – 19 gute Gründe für die De-mokratie“ (Kurzfilme zu den Grundrechten des Grundgesetzes, www.gg19.de)

19 vgl. Schulze / Straßner 2013

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

57

• die Argumentationsstruktur und Werthaltungen des Films: Werden unterschiedliche Standpunkte dargestellt und kommen alle Positionen gleichberechtigt zur Geltung? Wie werden die Positionen filmisch dargestellt: Personifizierung, Exemplifizierung oder abstrakte Darstellung? Lässt sich dahinter eine politische Position des Regis-seurs/der Regisseurin vermuten?

• Wertungen durch filmische Mittel: Gibt es Personen, die für bestimmte Positionen stehen (= Personifizierung)? Wenn ja, wie werden diese filmisch in Szene gesetzt (z. B. als Sympathie- oder Antipathieträger)? Gibt es Kommentierungen und wirken diese wertend (Kommentierungen in Dokumentarfilmen zum Beispiel aus dem Off oder von eingeblendeten Expert(inn)en? Gibt es musikalische Einlagen, die den/die Zuschauer/in auf der emotionalen Ebene ansprechen?

Literaturverzeichnis

Autorengruppe Fachdidaktik (2011): Sozialwissenschaftliche Basiskonzepte, in: Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.): Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift, Schwalbach/Ts., S. 170

Breit, Gotthard (1992): Mit den Augen des anderen sehen – Eine neue Methode zur Fallanalyse, Schwalbach/Ts.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (Hrsg.) (2013): Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin

Bundeszentrale für politische Bildung (2013): Wahlplakate analysieren, 29.8.2013, abrufbar unter: www.bpb.de/lernen/unterrichten/grafstat/166836/z-05-01-wahlplakate-analysieren

Butterwegge, Christoph/ Lösch, Bettina/ Ptak, Ralf (2007): Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden

Engartner, Tim (2012): Denn wir wissen nicht, was sie tun – oder: Die Wirtschafts- und Finanzmarktkrise 2008ff., Düsseldorf 2012

Gora, Stephan (1992): Grundkurs Rhetorik. Eine Hinführung zum freien Sprechen, Stuttgart.

Henkenborg, Peter (2012): Politische Urteilsfähigkeit als politische Kompetenz in der Demokratie. Der Dreiklang von Erkennen, Urteilen und Handeln. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 02/2012, Schwalbach/Ts.

Hippe, Thorsten (2010): Wie ist sozialwissenschaftliche Bildung möglich? Gesellschaftliche Schlüsselprobleme als integrativer Gegenstand der ökonomischen Bildung, Wiesbaden

Klepp, Cornelia (2011): Karikaturen. In: Besand, Anja/ Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Medien in der politi-schen Bildung, S. 242 f., Schwalbach/Ts.

Krieger, Annet (2007): Bildmaterial. In: Reinhardt, Sibylle/ Richter, Dagmar (Hrsg.): Politik-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin

Kuhn, Hans-Werner (2004): Die Talkshow. In: Ferch, Siegfried/ Kuhn, Hans-Werner/ Massing, Peter (Hrsg.): Me-thodentraining für den Politikunterricht, Schwalbach/Ts.

Lessenich, Stephan (2009): Krise des Sozialen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) (52/2009), S. 31

Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld

Lippl, Bodo (2003): Soziale Gerechtigkeit aus Sicht der deutschen Bevölkerung. Ergebnisse der empirisch-sozial-wissenschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellung, Berlin

Massing, Peter (2005): In Gesprächen lernen. Gesprächsformen in der politischen Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/ Ts., S. 498–508

Ostner, Ilona (2008): Ökonomisierung der Lebenswelt durch aktivierende Familienpolitik? In: Evers, Adalbert/ Heinze, Rolf G. (Hrsg.): Sozialpolitik. Ökonomisierung und Entgrenzung, Wiesbaden, S. 49–66

Reinhardt, Sibylle/ Richter, Dagmar (Hg.) (2007): Politik-Methodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin

Reinhardt, Sibylle (2005): Politik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin

Schulze, Peter W./ Straßner, Veit (2013): Politikdidaktische und filmanalytische Erschließung von Filmen – ein Praxisleitfaden. In: Straßner, Veit (Hrsg.): Filme im Politikunterricht, S. 33–53

Shell Holding Deutschland (Hrsg.): Jugend (2010). Eine pragmatische Generation behauptet sich, 16. Shell-Jugendstudie, Frankfurt am Main

Straßner, Veit (Hrsg.) (2013): Filme im Politikunterricht. Wie man Filme professionell aufbereitet, das filmanalyti-sche Potenzial entdeckt und Lernprozesse anregt – mit zehn Beispielen, Schwalbach/Ts.

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Didaktisch-methodischer Kommentar

58

Bild- und Quellenverzeichnis

U1 Agentur für Arbeit: picture-alliance / Keystone; Kinder: Heike Berse / pixelio.de; Rentnerin: Shelby Ross / getty images

4 Foto: picture-alliance

6 Foto: Andreas Labes

7 Karikatur: Klaus Stuttmann

8 M6: Autorentext, Definition soziokulturelles Existenzminimum, verändert nach: BMAS (Hrsg.): Lebenslagen in Deutschland. Vierter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2013

9 Foto: picture-alliance / ZB

10 Grafik nach: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, www.biaj.de

12 M12: Foto: Bild-Zeitung, 6.4.2001, Fotograf: 014873 - Müller; Schaubild: Daten: Jobcenter, aus: DIE WELT, 16.10.2012

14 M15: Daten: Eurostat 2014, © Hans-Böckler-Stiftung; M16: Klaus Stuttmann

16 M19: l.: Daten: Institut für Demoskopie Allensbach (Hrsg.), Monitor Familienleben 2012 © Hans-Böckler-Stiftung; r.: © GiZGRAPHICS – Fotolia.com; Karikatur: Burkhard Mohr

17 Karikatur: Mittelmaßmama, www.mama-nagement.blogspot.com, 2014

18 M23: o.: Statistisches Bundesamt 2014 © Hans-Böckler-Stiftung; Statistisches Bundesamt 2013 © Hans-Böckler-Stiftung

19 Daten: Bundesfamilienministerium, Tabelle nach: Badische Zeitung 5.2.2013; Karikatur: © Götz Wiedenroth, www.wiedenroth-karikatur.de

20 Statistisches Bundesamt © Hans-Böckler-Stiftung

21 M26: Fotos: Schröder: © Laurence Chaperon, Geis: Dennis Strassmeier / IW Köln, Bonin: ZEW, Gabriel: picture-alliance / dpa

22 M28: Statistisches Bundesamt © Hans-Böckler-Stiftung; M29: o.: Statistisches Bundesamt 2013 © Hans-Böckler-Stiftung, u.: Statistisches Bundesamt 2012 © Hans-Böckler-Stiftung

23 M30: Süddeutsche Zeitung, 13.2.2014

24 Fotos: 1: picture-alliance / dpa, 2: picture-alliance / Sueddeutsche Zeitung Photo, 3: picture-alliance / Bildagentur-online / Tetra-Images, 4: picture-alliance / dpa, 5: picture-alliance / blickwinkel / F. Hecker, 6: picture-alliance / dpa

25 M33: Volker Looman, Altervorsorge ist für viele ein mentales Problem, 18.6.2011 © Alle Rechte vorbehal-ten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

32 Foto: picture-alliance

33 Foto: picture-alliance/dpa

35 Foto: © Laurence Chaperon

36 Foto: Fraktion DIE LINKE Saarland

39 Karikaturen: 1. Marie Marcks, 2. Heiko Sakurai, 3. Burkhard Mohr, 4. Franziska Becker, 5. Barbara Henniger, 6. Klaus Stuttmann, 7. Roger Schmidt

boeckler-schule.de | Themenheft Soziale Sicherung | Bild- und Quellenverzeichnis

Mitbestimmungsförderung und -beratungDie Stiftung informiert und berät Mitglieder von Betriebs- und Personalräten sowie Vertreterinnen und Vertreter von Beschäftigten in Aufsichtsräten. Diese können sich mit Fragen zu Wirtschaft und Recht, Personal- und Sozialwesen, zu Aus- und Weiterbildung an die Stiftung wenden.

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI)Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung forscht zu Themen, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Bedeutung sind. Globalisierung, Beschäftigung und institutioneller Wandel, Arbeit, Verteilung und soziale Sicherung sowie Arbeitsbeziehungen und Tarifpolitik sind die Schwerpunkte. Das WSI-Tarifarchiv bietet umfangreiche Dokumentationen und fundierte Auswertungen zu allen Aspekten der Tarifpolitik.

Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)Das Ziel des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung ist es, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu erforschen und für die wirtschaftspolitische Beratung einzusetzen. Daneben stellt das IMK auf der Basis seiner Forschungs- und Beratungsarbeiten regel mäßig Konjunkturprognosen vor.

Forschungsförderung Die Forschungsförderung finanziert und koordiniert wissenschaftliche Vorhaben zu sechs Themenschwerpunkten: Erwerbsarbeit im Wandel, Strukturwandel – Innovationen und Beschäftigung, Mitbestimmung im Wandel, Zukunft des Sozialstaates/Sozialpolitik, Bildung für und in der Arbeitswelt sowie Geschichte der Gewerkschaften.

Studienförderung Als zweitgrößtes Studienförderungswerk der Bundesrepublik trägt die Stiftung dazu bei, soziale Ungleichheit im Bildungswesen zu überwinden. Sie fördert gewerkschaftlich und gesellschaftspolitisch engagierte Studierende und Promovierende mit Stipendien, Bildungsangeboten und der Vermittlung von Praktika. Insbesondere unterstützt sie Absol-ventinnen und Absolventen des zweiten Bildungsweges.

ÖffentlichkeitsarbeitMit dem 14-tägig erscheinenden Infodienst „Böckler Impuls“ begleitet die Stiftung die aktuellen politischen Debatten in den Themenfeldern Arbeit, Wirtschaft und Soziales. Das Magazin „Mitbestimmung“ und die „WSI-Mitteilungen“ informieren monatlich über Themen aus Arbeitswelt und Wissenschaft.

Mit der Homepage www.boeckler.de bietet die Stiftung einen schnellen Zugang zu ihren Veranstaltungen, Publikationen, Beratungsangeboten und Forschungsergebnissen.

Hans-Böckler-StiftungHans-Böckler-Str. 3940476 Düsseldorf

Telefon 0211- 7778 - 0 Telefax 0211- 7778 - 120www.boeckler.de

Hans-Böckler-StiftungDie Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Gegründet wurde sie 1977 aus der Stiftung Mitbestimmung und der Hans-Böckler-Gesellschaft. Die Stiftung wirbt für Mitbestimmung als Gestaltungsprinzip einer demokratischen Gesellschaft und setzt sich dafür ein, die Möglichkeiten der Mitbestimmung zu erweitern.

Das Lehrerportal zur sozioökonomischen Bildungwww.boeckler-schule.de

Materialien für einen guten Unterricht: fachlich und didaktisch geprüfte Einheiten zum PDF-Download

aktuell Materialien für Mittel- und Oberstufe Themen: Mindestlohn, Mitbestimmung, Ständige Erreichbarkeit u.a. Grafik-Datenbank online

Kostenlos

verfügbar!