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Kausser. Funktionelle Kr~ifte. ihre Nutzung und Auswirkung 467 Aus der Kieferorthopfidisehen Abteilung der Universitiits-Klinik und Poliklinik fflr Zahn-. Mtmd- und Kieferkrankheiten Hamburg (Direktor: Professor Dr. Dr. Dr. h.e. Karl Sehu- ehardt) Funktionelle Kr/ifte, ihre Nutzung und Auswirkung Von E. Hausser, Hamburg 3lit 8 Abbildungen Herr~ Pro/e,s,s'or Dr. Dr. G. Korkhau.s' zum 75. Geburt.s'tag .~[it der Entwieklung yon der Orthodontie zur, Kieferorthoptidie haben aueh die Erkenntnisse fiber die besondere Bedeutung der funktionellen Einflfisse auf das Kauorgan in zunehmendem 5IaBe eine Erweiterung erfahren. Die Verwendung flmktioneller Krg fte als vorteilhaft e therapeutisehe tIilfsmittel ist zwar schon lange bekannt ; die wissensehaftliehen Orundlagen dieser Behandlungsweise werden aber noeh immer diskutiert und sie sind erst in letzter Zeit dureh die Ausftihrungen F r/i n k e 1 s sogar erneut wieder in den Mittelpunkt der Diskussion therapeutiseher Probleme gerfiekt wooden. Ohne auf die einzelnen besonderen Fragen, die bei diesen Auseinandersetzungen fiber die theoretisehen Grundlagen diskutiert werden, ngher einzugehen, steht es naeh den klinisehen Erfahrungen auger ]?rage, dab dureh sinnreieh konstruierte Hilsfmittel muskulgre Kr/ifte in vorteilhafter Weise zur Zahnbewegung und zu knfehernen Umformungen genutzt werden k6nnen, indem dureh die kiefer- orthopgdisehen Behelfe kfrpereigene Impulse fibertragen werden, die im Sinne Virehows als funktionelle Reize besondere Leistungen der Zellen ausl6sen. Die Rouxsehe Lehre yon der funktionellen Anpassung und das Wolffsehe Trans- formationsgesetz bilden daher aueh die theoretisehe Grundlage fiir die Funktions- kieferorthop~idie yon A n dr e s e n- H/i u p I und ffir die Erkl/irung der Wirkungs- weise des Aktivators. Die 516gliehkeit einer klinisehen Ausnutzung muskul/irer Krafte zur Zahn- bewegung ist allerdings im Prinzip keineswegs neuartig, denn bereits Brunner (1771), F a u e h a r d (1728) und Hunter (1770) empfahlen die Verwendung einer sehiefen Ebene zur Progenie-Behandlung und das ,,Planum inelinatum" Cata- l ans (1808) diente insbesondere zur Vorbewegung und i2"berstellung der oberen Frontz/ihne dureh eine gesteuerte, dosierte Einwirkung der Kaukr/ifte (Abb. 1). Aueh heute wird zur l)berstellung einzelner verfangener oberer Sehneidez~thne noeh vielfaeh eine sehiefe Ebene benutzt, sofern der Zahn bereits weir genug durehgebroehen ist und die Protrusionsbewegung der oberen Sehneidez/ihne nieht dutch einen Engstand behindert wird. F fir die ~Virkungsweise ist es dabei ohne besondere Bedeutung, ob die sehiefe Ebene aus Metall oder Kunststoff gefertigt als Sehiene auf den unteren Frontziihnen fest zementiert wird, oder ob sie an einer unteren Platte mit oder ohne seitliehenAufbig angebraeht ist, wenn aueh dureh einen seitliehen AufbiB das Ausmag der Krafteinwirkung- wie sehon yon Ca t a- l an angegeben --gesteuert und dosiert werden kann. Vielfaehe Untersuehungen

Funktionelle Kräfte, ihre Nutzung und Auswirkung

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Kausser. Funktionelle Kr~ifte. ihre Nutzung und Auswirkung 467

Aus der Kieferorthopfidisehen Abteilung der Universitiits-Klinik und Poliklinik fflr Zahn-. Mtmd- und Kieferkrankheiten Hamburg (Direktor: Professor Dr. Dr. Dr. h.e. Karl Sehu-

ehardt)

Funktionelle Kr/ifte, ihre Nutzung und Auswirkung

Von E. Hausser, Hamburg

3lit 8 Abbildungen

Herr~ Pro/e,s,s'or Dr. Dr. G. Korkhau.s' zum 75. Geburt.s'tag

.~[it der Entwieklung yon der Orthodontie zur, Kieferorthoptidie haben aueh die Erkenntnisse fiber die besondere Bedeutung der funktionellen Einflfisse auf das Kauorgan in zunehmendem 5IaBe eine Erweiterung erfahren. Die Verwendung flmktioneller Krg fte als vorteilhaft e therapeutisehe tIilfsmittel ist zwar schon lange bekannt ; die wissensehaftliehen Orundlagen dieser Behandlungsweise werden aber noeh immer diskutiert und sie sind erst in letzter Zeit dureh die Ausftihrungen F r/i n k e 1 s sogar erneut wieder in den Mittelpunkt der Diskussion therapeutiseher Probleme gerfiekt wooden.

Ohne auf die einzelnen besonderen Fragen, die bei diesen Auseinandersetzungen fiber die theoretisehen Grundlagen diskutiert werden, ngher einzugehen, steht es naeh den klinisehen Erfahrungen auger ]?rage, dab dureh sinnreieh konstruierte Hilsfmittel muskulgre Kr/ifte in vorteilhafter Weise zur Zahnbewegung und zu knfehernen Umformungen genutzt werden k6nnen, indem dureh die kiefer- orthopgdisehen Behelfe kfrpereigene Impulse fibertragen werden, die im Sinne Virehows als funktionelle Reize besondere Leistungen der Zellen ausl6sen. Die Rouxsehe Lehre yon der funktionellen Anpassung und das Wolf f sehe Trans- formationsgesetz bilden daher aueh die theoretisehe Grundlage fiir die Funktions- kieferorthop~idie yon A n dr e s e n- H/i u p I und ffir die Erkl/irung der Wirkungs- weise des Aktivators.

Die 516gliehkeit einer klinisehen Ausnutzung muskul/irer Krafte zur Zahn- bewegung ist allerdings im Prinzip keineswegs neuartig, denn bereits B r u n n e r (1771), F a u e h a r d (1728) und H u n t e r (1770) empfahlen die Verwendung einer sehiefen Ebene zur Progenie-Behandlung und das ,,Planum inelinatum" C a t a - l ans (1808) diente insbesondere zur Vorbewegung und i2"berstellung der oberen Frontz/ihne dureh eine gesteuerte, dosierte Einwirkung der Kaukr/ifte (Abb. 1). Aueh heute wird zur l)berstellung einzelner verfangener oberer Sehneidez~thne noeh vielfaeh eine sehiefe Ebene benutzt, sofern der Zahn bereits weir genug durehgebroehen ist und die Protrusionsbewegung der oberen Sehneidez/ihne nieht dutch einen Engstand behindert wird. F fir die ~Virkungsweise ist es dabei ohne besondere Bedeutung, ob die sehiefe Ebene aus Metall oder Kunststoff gefertigt als Sehiene auf den unteren Frontziihnen fest zementiert wird, oder ob sie an einer unteren Platte mit oder ohne seitliehenAufbig angebraeht ist, wenn aueh dureh einen seitliehen AufbiB das Ausmag der K r a f t e i n w i r k u n g - wie sehon yon Ca t a- l an angegeben - -ges teuer t und dosiert werden kann. Vielfaehe Untersuehungen

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haben auch erwiesen, dab durch diese Art der Ausnutzung muskul/irer Kr/ifte zur Zahnbewegung biologisch durchaus giinstige Bewegungsimpulse therapeutiseh verwandt werden, sofern dutch die schiefe Ebene w~thrend der ganzen Zeit der An- wendung eine Desorientierung des Bisses gew/ihrleistet ist und somit ein ,,Jigg- ling" der bewegten Z/ihne vermieden wird.

Abb. 1 Abb. 2

Abb. 1. Planum inclinatum zur Progenie-Behandlung yon Catalan (1808 nach Pfaff)

Abb. 2. Obere Platte mit VorbiBebene und frontaler Schlinge

Ein anderes, in vieler Hinsicht bew/~hrtes ttilfsmittel zur Bil3verschiebung durch Ausnutzung muskul/~rer Kr~fte ist die yon K i n g s l e y angegebene Vorbil3- platte, die im Gegensatz zu der unteren im Frontzahngebiet angebrachten schiefen Ebene im Oberkiefer palatinal der oberen Schneidez/ihne eine etwa um 30 bis 400 zur Kauebene geneigte Aufbil3fl/iche ffir die unteren Frontz/ihne besitzt, so dal3 beim Mundschlul3 die unteren Frontz/~hne bis zum Kontakt mit den oberen Schnei- dez/thnen daran entlanggleiten k6nnen. Diese Vorbil3ebene, die sowohl an einer obe- ren Gaumenplatte wie auch an einem Lingualbogen als Vorbil3gitter oder auch in anderer Form an den oberen Schneidez~hnen angebracht werden kann, client beim MundschluB der Ffihrung der unteren Schneidez/~hne (Abb.2). Es wird dadurch der ganze Unterkiefer nach vorne geffihrt, wobei geichzeitig eine Niveaudifferenz zwischen den Schneidez/ihnen und dem Seitenzahngebiet im Unterkiefer zum Aus- gleich kommt, da zun/ichst nur die unteren Frontz/~hne auf die VorbiBebene auf- treffen und dabei der Okklusionskontakt im Seitenzahnbereich verlorengeht. Vor- aussetzung fiir die Verwendung einer Vorbil3ebene iSt daher auch das Vorhanden- sein eines tiefen Frontzahnfiberbisses, da nut dadurch eine guteFfihrung der unteren Schneidez/thne durch die Vorbil3ebene gew/~hrleistet ist. Die Vorbil3ebene kann glatt gestaltet oder aber - - nach der Empfehlung yon H o t z - - yon vornherein mit Fiihrungsfl/ichen und einer Einbil3rille ffir die unteren Frontz/ihne versehen werden; bei Verwendung einer Platte k6nnen auch gleichzeitig mittels Feder-

Hausser. Funktionelle Krhfte. ihre Nutzung und Auswirkun~ 4(~9

elementen und Sehrauben noeh aktive Zahnstellungsver/inderungen durehgefiihrt werden. Die Ffihrung der sehiefen Ebene ist jedoeh begrenzt, sie reieht aueh unter gfinstigen Voraussetzungen im allgmeinen nur zum Ausgleieh einer Distalokklu- sion yon etwa einer halben Pr/~molarenbreite aus, da bei einem gr6Beren Ausmag der Okklusionsabweiehung die sehiefe Ebene zu weir naeh dorsal verl/ingert werden mug, um noeh einen ausreiehenden AufbiB ffir die unteren Frontz/ihne darzustellen. Aueh wird mit zunehmender Distalokklusion (lie Belastung ffir die unteren Frontz/ihne dureh (lie Ffihrung immer gr6ger, sie kSnnen dadureh im Sinne einer Protrusion beeinfluBt werden, bis sie am Ende des Vorgleitens ge- gen die oberen Sehne dez/ihne treffen. Diese Portrusionsbewegung der unteren Sehneidez/ihne ist bei Vorhandensein einer Einbigrille in noeh st/irkerem Mage zu beffirehten, da dann die ganze Retropulsionskraft des Unterkiefers auf die un- teren Frontz/ihne einwirken kann. Es ist daher dabei aueh die Gefahr der Entsteh- ung eines Doppelbisses vorhanden, wenn nieht dieser Rfiekbewegung des Unter- kiefers noeh besonders etwa dureh intermaxill/ire Gummizfige - - entgegen- gewirkt wird.

Sehr viel gfinstigere Voraussetzungen sind dagegen bei einem Akti~ator ge- geben, denn beim funktionskieferorthop/idisehen Ger/it naeh A n d r e s e n- H/i u p 1 sind die unteren Frontz/ihne dutch ein K/ippehen und eine frontale Sehlinge gefaBt und werden alle unteren Z/ihne dureh die lingualen Ffihrungselemente in die Ver- ankerung einbezogen. Der Aktivafor hat sieh daher aueh als ein ganz besonders geeignetes Behandlungsmittel zur Bigversehiebung bei Ffillen der Klasse I I er- wiesen, da mit dem Akfivator der Ausgleieh einer Distalokklusion yon einer ganzen Pr/~molarenbreite in gfinstiger Weise innerhalb einer tragbaren Behandlungszeit erm6glieht wird. Die Umformung der BiNage erfolgt dabei allm/ihlieh, indem w/ihrend der Verwendung des Aktivators aus der disfalen Okklusion eine neutrale Okkusionsbeziehung der Seitenz/ihne ~4rd. Am Ende der Behandlung ist es aueh nieht mehr m6glieh, in die distale Okklusion zurfiekzubeil3en, und es besteht - - entgegen der Annahme yon H a 1 d e n - - kein Doppelbig, denn bei einem behandelten DistalbiB dart keine Rfiekbigm6gliehkeit fiber das allgemein bekannte AusmaB des Spiels des Condylus in der Fossa artieularis hinaus mehr vorhanden sein (Ab- bildung 3).

Dieses Ergebnis einer Distalbigbehandlung mit dem Aktivator wird dureh muskul/tre Tfitigkeit bewirkt, denn der Aktivator ist bekanntlieh ein zwisehen den Zahnreihen liegendes passives Behandlungsger~tt, das dureh Einsehleifen ]~'fihrungsfl/iehen ffir die Seitenz/ihne erhiilt. Dureh den Konstruktionsbif~ wird der Unterkiefer aus der distalen Position naeh frontal verlagert, und so werden dann dureh das Geritt (tie muskulfiren Kr/ifte auf die Z/ihne, an denen der Akti- vator in besonderer V~reise anliegt, und den Unterkiefer fibertragen. Das Kiefer- gelenk wird dabei dutch eine Vor- und Abw/irtsbewegung des Proeeessus artieu- laris an der Bigversehiebung beteiligt, da naeh R6ntgenaufnahmen der Condytus aus der Fossa heraus auf das Tuberkulum artieularis gleitet. Naeh durehgeffihrter Bigversehiebung liegt jedoeh im Kiefergelenk der Proeessus artieularis wieder in der Tiefe der Fossa, der Condylus ist also wieder in seiner riehtigen Lage in der Gelenkgrube, und diese korrekten Lagebeziehungen maehen es naeh K o r k h a u s aueh verst/indlieh, dab der Unterkiefer nieht mehr - - aueh nieht unter Druek - - in den Distalbig zurfiekgebraeht werden kann.

Bestehen somit keine Zweifel fiber die M6gliehkeit eines klinisehen Ausgleiehs eines Distalbisses yon einer ganzen Pr/imolarenbreite mit dem Aktivator dutch Ausnutzung muskul~irer Kr'afte (Pet r ik), so wird jedoeh noeh immer heftig dar-

470 Fortschritte der Kieferorthop~die Bd. 30 (1969) Heft 4

Abb. 3. Kieferkompression mit liiekiger Protrusion bei DistalbiB eines 11 Jahre alten Jungens. Behandlung mit aktiven Plattenbehelfen und Aktivator. Fernr6ntgen-Profilaufnahmen: a) bei Behandlungsbeginn; b) bei AbschluB der Retention 3~2 Jahre sp~iter; c) weitere 4 Jahre

sparer bei der Nachkontrolle

Abb. 4. Kieferkompression mit engstehender t)rotrusion bei DistalbiB eines 11 Jahre alten M~tdehens. Behandlung mit Dehnungsplatten, Federelementen und Aktivator zur BiBver- schiebung. FernrSntgen-Profllaufnahmen: a) bei Behandlungsbeginn; b) bei AbschluB der

Retention 3 ~'2 Jahre sp~ter; c) FernrSntgen-Profil aufnahmen weitere 3 Jahre sp/iter

fiber diskutiert, wie und wo die daffir erforderlichen Umformungen zustande kommen. W/~hrend eine Gruppe yon Autoren den Aufbau des Gesichtssch~idels ffir eindeutig determiniert und unbeeinflul~bar h~ilt, ist eine Reihe anderer Autoren der Uberzeugung, dal~ bei der Bil~verschiebung mit funktionskieferorthop/idischen Behelfen der Unterkiefer vorentwickelt oder sogar vorverlagert werden kann. So ist insbesondere H ~ u pl auf Grund tierexperimenteller ~ntersuchungen mit P s a n s k y der Ansicht, dab mit Hilfe des Aktivators lJmbauvorg/inge im Gelenk ausgel6st werden, die zu einer Vorverlagerung des ganzen Lrnterkiefers ffihren.

Auch Sic h e r ist der Auffassung, dal~ die Wachstumszone im Kiefergelenk eine Sonderstellung einnimmt, indem sie sowohl autonomes enchondrales Wachstum als auch Anpassungs/inderungen durch Wachstumsvorgfi,nge erm6glicht, Diese Auf-

I4ausser, Funktionelle Krfifte, ihre Nutzung und Auswirkung 471

fassung wird auch dureh die vorl~ufigen Ergebnisse vergleichender tierexperi- menteller Untersuchungen yon L i e b, fiber die er im vergangenen Jah r berichtete, gestfitzt. Insbesondere weisen aber die klinischen Ergebnisse der DistalbiBbehand- lungen und ihre Untersuchungen daraufhin , daBderAusgleichder BiBabweichung mit funktionskieferorthop~dischen Mitteln im Zusammenhang mit einer Beein- flussung und Frontaleritwicklung des ganzen Unterkiefers erfolgt (Abb. 4). So konnte H e r r e n durch Untersuchung des Ablaufs der BiBverschiebung diese Vor- gi~nge ebenso veranschaulichen, wie sie durch vergleichende meBtechnische Aus- wertung yon FernrSntgen-Profflaufnahmen verdeutlicht werden konnten.

Abb. 5. Kieferkompression mit liickiger Protrusion bei Dist albil3 eines 15 Jahre alten Jungens. Behandlung ausschlieBlich mit Aktivator und Federelementen. FerniSntgen-l%ofilaufnahmen: a) bei Behandlungsbeginn; b) bei Abschlul3 der Retentien 4 Jahre slJ~iter und c) 2 Jahre

sp~ter bei der Nachkontrolle

/Die Schwierigkeiten dieser Untersuchungen liegen in der Kli~rung der fiberaus komplizierten, sich fiberlagernden VorgKnge, denn w~hrend der Zeit der kiefer- orthop~dischen Behandlung finden im allgemeinen auch intensive Waehstums- und Entwicklungsvorg~nge start, so daB die getrennte Feststellung der dadurch eingetretenen Ver~nderungen und der dureh die BehandlungsmaBnahmen er- zielten Umformungen im arehitektonischen Aufbau des Gesichtsschiidels be- sonders schwierig ist (Abb. 5).

Vergleiehende eephalometrische Untersuehungen des kraniometrischen und gnathometrischen Bereiches unbehandelter, mi t Akt ivatoren behandelter und auf andere Weise behandelter F~lle der Klasse l I haben jedoch gezeigt, dab bei den mit funktionskieferorthop~dischen Ger~ten behandelten F~llen eine statistisch gesicherte Tendenz zur Vorentwicklung des Pogonions, verbunden mit einer Ab- nahme der GrSfle des MM-Winkels ( F r e u n t h a l l e r ) einer entspreehenden Ver- Knderung des AB-Winkels ( N a w r a t h ) und des Winkels Sn-Pgo (Meach) , vor- handen ist. Weiterhin sieht K o r k h a u s auch in der Beobachtung, dab die oberen Molaren bei den mit Aktivatoren behandelten DistalbiBfitllen - - im Vergleich zur Gaumenkurvatur und zur Fossa pterygomaxillaris - - verbunden mit einem entsprechenden alveolKren HShenwaehstum dem physiologischen Mesialschub folgen, den Beweis ffir die MSgliehkeit einer Beeinflussung der Lage des Unter-

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kiefers zum Oberkiefer dureh funktionskie.ferorthop/idisehe Magnahmen. Ferner konnte dureh ~-ergleiehende Longitudinaluntersuehungen aueh der Naehweis er- braeht werden, dab die sagittaien Abst/inde der kraniometrisehen und gnatho- metrisehen Bezugspunkte w/ihrend der Beobaehtungszeit untersehiedliehe Or6fien- ver/inderungen erfahren und daf3 zwisehen den einzelnen Gr6genzunahmen ge- wisse Relationen mit naehweisbarer korrelativer Signifikanz bestehen. Das Aus- mag dieser gr6Benzunahme ist jedoeh individuell versehieden, und es ist aueh weitgehend vom Alger abh/ingig.

Aus einem Vergleieh unbehandelter und behandelter F/ille ergab sieh weiter- hin, daft insbesondere im jugendliehen Alter die sagittale Entwieklung des Unter- kiet5rs w/ihrend der kieferorthop/idisehen Behandlung wesentlieh st/irker aus- gepr/igt ist als im Oberkiefer.

Zu einem /thnliehen Ergebnis gelangt aueh E. 5 f a d s e n auf Grund seiner Untersuehung yon 25 behandelten DistalbiBf/illen, denn bei 10 F/illen war der Ausgleieh des Distalbisses fast aussehlieBlieh mandibulgr, bei weiteren 10 F~llen vorwiegend mandibul/ir, bei 3 F/illen vorwiegend alveol/ir und bei 2 F~Ilen fast aussehlieglieh alveol/ir erfolgt, wobei mit zunehmendem Lebensalter aueh eine stgrkere alveolfire Auswirkung der funktionskieferorthop/idisehen Behan.dlungs- maBnahmen festzustellen war.

Diese Ergebnisse experimenteller, kliniseher und vergleiehender eephalo- metriseher Untersuehungen sind eindrueksvolle Beweise dafiir, dab es mittels funktionskieferorthop/idiseher Behelfe m6glieh ist, dureh muskul/ire Kr/ifte einen Distalbil3 zu beseitigen, wobei sieh die Distalbigbehandlung aueh um so g/instiger aufden Profflverlaufattswirkt, je jfinger der Patient ist (Abb. 6). 5Iit zunehmendem Alter werden jedoeh diese Auswirkungen auf den Verlauf des Profils geringer, so dab eine Indikation fiir einen frtihzeitigen Ausgleieh eines Distalbisses aueh dureh eine erforderliehe Harmonisierung der Gesiehtsumrisse gegeben ist.

I m Zusammenhang mit der Distalbiflbehandlung wird aber nieht nut der arehitektonisehe Aufbau des Gesiehtsseh/idels, insbesondere im gnathometrisehen Bereieh gfinstig beeinflul3t, sondern es seheint, dab dadureh aueh die Voraus- setzungen ffir die weiteren Waehstums- und Ent~deklungsvorg/inge verbessert werden, denn die Naehuntersuehungen der behahdelten F/ilie zeigen iiberein- s t immend aueh eine weitere gfinstige Entwieklungstendenz im Untergesieht bei den einzelnen F/illen (Abb. 7).

Die Naehuntersuehung einer grogen Zahl behandelter DistalbiBf/ille yon ire- nate R a l l ergab weiterhin, dab eine korrekte Neutralokklusion am Ende einer Distalbiflbehandlung die gr6f3te Sieherheit gegen ein Rezidiv darstellt; die Okklusionsbezeiehnungen versehleehtern sieh nur. wenn keine korrekte H6eker- Fissuren-Verzahnung erreieht oder die Retention nieht ordnungsgem/if~ dureh- geffihrt wurde.

Auf Grund dieser gtinstigen Auswirkungen haben sieh die funktionskiefer- orthop/idisehen Ger/ite zur Distalbigbehandlung als besonders geeignet erwiesen. zumal dabei gleiehzeitig noeh geringgradige Umformungen der Zahnb6gen dureh Anbringen entspreehender Hilfselemente durehgefiihrt werden kSnnen. Es er- seheint allerdings sinnvoll, wenn eine m6gliehst station/ire Verankerung ange- strebt wird, den Akt ivator in sagittaler Riehtung, zumindest im Unterkiefer, nieht einzusehleifen, so dab die ganzen Zahnb6gen dutch das Ger/it bloekartig gefagt werden. So kann dutch die Art des Einsehleifens in sagittaler Riehtung aueh erreieht werden, (lab der Umfang der ah'eol/iren Auswirkungen m6gliehst klein bleibt und in stfirkerem Ausmag eine mandibul/ire Beeinflussung erfolgt.

I-[ausser, Funktionelle Kriifte, ihre Nutzung und Auswirkung 473

Abb. 6. Kieferkompression mit frontalem Engstand bei Distalbig eines 8 Jahre alten Miid- chens. Behandlung mit aktiven Platten und Aktivatoren. Modelle und FernrSntgen-Profil- aufnahmen: a) bei Behandlungsbeginn; b) bei AbschluB der Retention 5 ~ Jahre sp~ter.

c) bei der Nachkontrolle im Alter yon 20 Jahren

Zur Vers t~rkung der Ve ranke rung im oberen Zahnbogen kSnnen wei te rh in s t a r r e F i ih rungsdorne vor den oberen e r s t en Pr / imolaren und den e r s t en Molaren d ienen ; sie w i rken / ihn l i ch wie die yon A n d r e s e n angegebenen Eckzahnsch lau fen an der f ron ta l en Schlinge. Beim Ausgle ich eines ungleichm/~Bigen Dis ta lb isses au f de r rech ten und l inken Seite s ind diese ve ranke rungs t echn i schen P rob leme yon be- sonders grol~er Bedeu tung , denn hierbei b e d a r f es n ich t nu r e iner un te r sch ied l i chen

31 "Fortschritte der Kieferorthoplidie Bd. 30 H. 4

474 Fortschritte der Kieferorthop~die Bd. 30 (1969) Heft 4

Abb. 7. DeekbiB bei DistalbiB bei einem 12~ Jahre alten Jungen. Die ]~ehandlung erfolgte zun[ichst mittelsDehnungsplatten und~ederelementen in] Ober- und Unterkiefer, anschlieBend wurde ein Aktivator zur BiBverschiebung benutzt. Modelte und FeInr6ntgen-larofilaufnahmen a) bei Behandlungsbeginn. b) bei Beginn der Retention 21/2 Jahre Sl~iter. e) bei der ~ach-

kontrolle weitete 21/2 Jah~e s~iter

Beeinflussung in sagittaler Richtung, sondern miissen gleichzeitig auch transver- sale und vertikale Umformungen zur Herstellung korrekter Beziehungen der Zahn- reihen durchgeffihrt werden. Durch sinnvolle Ausnutzung der GestaltungsmSg- lichkeiten des Aktivators kann aber auch der Ausgleich eines einseitigen Distal- bisses yon einer ganzen Pr/~molarenbreite in durchaus befriedigender Weise er- reicht werden (Abb. 8)

H:ausser, Funktionelle Kriifte, ihre Nutzung und Auswirkung 475

Die Ausnutzung funktioneller Kr~fte zur Zahnbewegung und Umformung der BiBlage hat sich somit als eine besonders giinstige Behandlungsweise erwiesen, nachdem es schon seit langem bekannt ist, dab die funktionellen Einfliisse w~ihrend der Entwicklung des Kauorgans fiir die Stellung der einzelnen Z~hne und die Form des ganzen Gebisses und wi~hrend der Nutzperiode des Gebisses ffir die

Abb. 8. Kieferkompression mit liickiger Protrusion bei einseitigem DistalbiB eines 9 Jahre alten M~dchens. Die Behandlung erfolgte zun~chst mit Hilfe einer Dehnungsplatte im Ober- kiefer, anschlieBend wurde sie zur BiBverschiebung mit einem Aktivator weitergefiihrt. Modelle: a) bei Behandlungsbeginn; b) bei AbschluB der Retention 4 gahre sp~ter; c) bei der

:Nachkontrolle weitere 4 Jahre sparer

Funktionsf~higkeit des Kauorgans yon iiberaus groBer, aussehlaggebender Be- deutung sind.

Es ist eines der groBen Verdienste yon K o r k h a u s , dab er immer wieder auf diese auBerordentlich weitreichenden, giinstigen Auswirkungen der DistalbiB- behandiung mit funktionskieferorthop~dischen Behelfen sowie auf die dadurch gegebene MSglichkeit einer Beeinflussung der Beziehungen des Unterkiefers zum Gesichtssch~del hingewiesen und sich ffir eine positive Beantwortung der l~rage ,,can the skeletal pattern be changed" an Hand wissenschaftliher Beweisfiihrung mit allem Nachdruck eingesetzt hat.

Sehri|ttum Fr~nkel, R., leunktionskieferorthop~die und der Mundvorhofals apparative Basis. ]~er-

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476 Fortschri t te der Kieferorthopiidie Bd. 30 (1969) Heft 4

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Anschrift des Verf.: Prof. Dr. E. H a u s s e r , 2 Hamburg 20, Lenhartzstr . 9