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Eroberung und Widerstand | 13 D ie Provinz Gallia Lugdunensis war während der Kaiserzeit eine von drei gallischen Provinzen, in die die von Caesar zwischen 58 und 51 v. Chr. erober- ten Gebiete seit augusteischer Zeit aufgeteilt wurden. Der Vorwand für die Intervention in Gallien war ein Appell der Haeduer an den Senat in Rom gewesen, im Falle einer Bedrohung Hilfe zu leisten. In Rom wur- den die Haeduer vom Druiden und Vergobreten Divi- tiacus, dem Bruder des Haeduerfürsten Dumnorix vertreten (De bello Gallico 1, 35, 5; 18, 20; 31-32; Ci- cero, De Divinatione 1, 41-90). Ein Vergobret war der oberste Magistrat des Stammes, eine sehr hohe Funk- tion, die auch bei den Lexoviern auf gallischen Mün- zen der 2. Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. belegt ist. Die Ha- eduer, mächtig durch ihre zentrale Rolle in Gallien zwischen Saône und Loire, blieben während der ge- samten Eroberung (außer im Jahre 52 v. Chr.) Ver- bündete Caesars. Die Eroberung lief für die Gebiete der späteren Pro- vinz in mehreren Etappen ab: In den Jahren 58 bis 56 v. Chr. begann sie in den nordwestlichen Gebieten. Die Armorica revoltierte und sandte einen Hilferuf an die britannischen Stämme. Der entscheidende Sieg über die Veneter erfolgte 56 v. Chr.; die Armorica er- hob sich jedoch 54 v. Chr. erneut. In der Mitte und dem Osten der zukünftigen Provinz konnten die Rö- mer die Kontrolle in den Jahren 52–51 v. Chr. errin- gen (Aufstand des Andecavers Dumnacos im Jahr 51 v. Chr.). Das haeduische Gebiet weiter im Osten war seit dem Beginn des Konfliktes gesichert: Caesar be- stimmte für sie einen König (Viridomaros), und nur die Episode im Jahr 52 v. Chr. überschattete das Bündnis. Die Carnuten im Zentrum der späteren Pro- vinz, die am Ausbruch des großen Aufstandes von 52 v. Chr. beteiligt waren, wurden als letzter Stamm un- terworfen. Die meisten Stämme gehörten in diesem Jahr zu den Verbündeten des Vercingetorix (Caesar, De bello Gallico 7, 4, 6) und später zu den Hilfstruppen in Alesia (7, 75). Außerdem ließ Caesar während des Konflikts seine Legionen mehrmals bei den Stämmen überwintern, die in der Folge in die Provinz eingegliedert wurden: bei den Carnuten, Turonen und Andes am Ende des Jahres 57 v. Chr., bei den Aulerkern und Lexoviern 56 v. Chr., bei den Semnonen (in Agedincum [Sens]) 53 v. Chr., bei den Haeduern (in Cavillonum [Chalon- sur-Saône] und zum Teil in Matisco [Mâcon]) Ende 52 v. Chr. und schließlich noch einmal bei den Hae- duern und Turonen Ende des Jahres 51 v. Chr. Im Laufe des Konflikts setzte Caesar bei einigen Stämmen der späteren Lugdunensis Rom wohlgeson- nene Könige ein: Cavarinos bei den Semnonen zwi- schen 58 und 54 v. Chr., Tasgetios bei den Carnuten im Jahr 57 v. Chr. und schließlich vor 52 v. Chr. bei den Haeduern (De bello Gallico 5, 25, 1; 54, 2; 7, 39, 1). Außerdem erfährt man, dass im Jahre 58 v. Chr. das Volk der Boier durch Caesar im Gebiet um das oppi- dum Georgobina (ohne Zweifel Sancerre [Saint-Sa- tur, Cher]) angesiedelt wurde. (1, 28, 5). Die Boier waren mit den Helvetiern entlang der Loire bis an die Grenzen der Haeduer und Bituriger gezogen (7, 9, 6). Etwa 60% der von Caesar eroberten Gebiete wurden unter Tribut gestellt (civitates stipendiariae), die ande- ren Stämme blieben davon ausgenommen, da sie ei- nen Status als freie civitates erhielten (civitates liberae) oder weil sie einen Vertrag mit Rom geschlossen hat- ten (civitates foederatae). Ein erster Zensus für die Steuereintreibung wurde von Augustus 27 v. Chr. durchgeführt (Cassius Dio 53, 22, 5), ein zweiter im Jahre 12 v. Chr., der in den Tres Galliae zu einigen Unruhen führte. Im Gegensatz zur Vorstellung der senatorischen Geg- ner Caesars profitierten die gallischen Stämme nicht vom Bürgerkrieg, der Italien nach Ende des Galli- schen Krieges in Atem hielt. Die Stämme auf dem Gebiet der späteren Lugdunensis, die von Caesar als Prokonsul der Transalpina verwaltet wurden, unter- Die Entstehung der Provinz Eroberung und Widerstand

Gallia Lugdunensis

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Das Burgund, die Normandie und die Bretagne sind beliebte Reiseziele. Neben gutem Wein, hervorragendem Essen und herrlicher Landschaft wartet Frankreich hier zwischen Seine und Loire mit reichen Denkmälern römischer Zeit auf. Lyon, der Hauptort der römischen Provinz »Gallia Lugdunensis«, beweist neben Orten wie Chartres, Nantes, Tours, Autun oder das nicht erst seit Asterix berühmte Lutetia (Paris), dass römische Stadtkultur in den gallischen Provinzen heimisch geworden war. Die berühmten keltischen Oppida von Alesia und Bibracte schließlich spiegeln die vorrömisch-gallische Lebenswelt.

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Eroberung und Widerstand | 13

Die Provinz Gallia Lugdunensis war während der Kaiserzeit eine von drei gallischen Provinzen, in

die die von Caesar zwischen 58 und 51 v. Chr. erober-ten Gebiete seit augusteischer Zeit aufgeteilt wurden. Der Vorwand für die Intervention in Gallien war ein Appell der Haeduer an den Senat in Rom gewesen, im Falle einer Bedrohung Hilfe zu leisten. In Rom wur-den die Haeduer vom Druiden und Vergobreten Divi-tiacus, dem Bruder des Haeduerfürsten Dumnorix vertreten (De bello Gallico 1, 35, 5; 18, 20; 31-32; Ci-cero, De Divinatione 1, 41-90). Ein Vergobret war der oberste Magistrat des Stammes, eine sehr hohe Funk-tion, die auch bei den Lexoviern auf gallischen Mün-zen der 2. Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. belegt ist. Die Ha-eduer, mächtig durch ihre zentrale Rolle in Gallien zwischen Saône und Loire, blieben während der ge-samten Eroberung (außer im Jahre 52 v. Chr.) Ver-bündete Caesars. Die Eroberung lief für die Gebiete der späteren Pro-vinz in mehreren Etappen ab: In den Jahren 58 bis 56 v. Chr. begann sie in den nordwestlichen Gebieten. Die Armorica revoltierte und sandte einen Hilferuf an die britannischen Stämme. Der entscheidende Sieg über die Veneter erfolgte 56 v. Chr.; die Armorica er-hob sich jedoch 54 v. Chr. erneut. In der Mitte und dem Osten der zukünftigen Provinz konnten die Rö-mer die Kontrolle in den Jahren 52–51 v. Chr. errin-gen (Aufstand des Andecavers Dumnacos im Jahr 51 v. Chr.). Das haeduische Gebiet weiter im Osten war seit dem Beginn des Konfl iktes gesichert: Caesar be-stimmte für sie einen König (Viridomaros), und nur die Episode im Jahr 52 v. Chr. überschattete das Bündnis. Die Carnuten im Zentrum der späteren Pro-vinz, die am Ausbruch des großen Aufstandes von 52 v. Chr. beteiligt waren, wurden als letzter Stamm un-terworfen. Die meisten Stämme gehörten in diesem Jahr zu den Verbündeten des Vercingetorix (Caesar, De bello Gallico 7, 4, 6) und später zu den Hilfstruppen in Alesia (7, 75).

Außerdem ließ Caesar während des Konfl ikts seine Legionen mehrmals bei den Stämmen überwintern, die in der Folge in die Provinz eingegliedert wurden: bei den Carnuten, Turonen und Andes am Ende des Jahres 57 v. Chr., bei den Aulerkern und Lexoviern 56 v. Chr., bei den Semnonen (in Agedincum [Sens]) 53 v. Chr., bei den Haeduern (in Cavillonum [Chalon-sur-Saône] und zum Teil in Matisco [Mâcon]) Ende 52 v. Chr. und schließlich noch einmal bei den Hae-duern und Turonen Ende des Jahres 51 v. Chr.Im Laufe des Konfl ikts setzte Caesar bei einigen Stämmen der späteren Lugdunensis Rom wohlgeson-nene Könige ein: Cavarinos bei den Semnonen zwi-schen 58 und 54 v. Chr., Tasgetios bei den Carnuten im Jahr 57 v. Chr. und schließlich vor 52 v. Chr. bei den Haeduern (De bello Gallico 5, 25, 1; 54, 2; 7, 39, 1).

Außerdem erfährt man, dass im Jahre 58 v. Chr. das Volk der Boier durch Caesar im Gebiet um das oppi-dum Georgobina (ohne Zweifel Sancerre [Saint-Sa-tur, Cher]) angesiedelt wurde. (1, 28, 5). Die Boier waren mit den Helvetiern entlang der Loire bis an die Grenzen der Haeduer und Bituriger gezogen (7, 9, 6). Etwa 60% der von Caesar eroberten Gebiete wurden unter Tribut gestellt (civitates stipendiariae), die ande-ren Stämme blieben davon ausgenommen, da sie ei-nen Status als freie civitates erhielten (civitates liberae) oder weil sie einen Vertrag mit Rom geschlossen hat-ten (civitates foederatae). Ein erster Zensus für die Steuereintreibung wurde von Augustus 27 v. Chr. durchgeführt (Cassius Dio 53, 22, 5), ein zweiter im Jahre 12 v. Chr., der in den Tres Galliae zu einigen Unruhen führte. Im Gegensatz zur Vorstellung der senatorischen Geg-ner Caesars profi tierten die gallischen Stämme nicht vom Bürgerkrieg, der Italien nach Ende des Galli-schen Krieges in Atem hielt. Die Stämme auf dem Gebiet der späteren Lugdunensis, die von Caesar als Prokonsul der Transalpina verwaltet wurden, unter-

Die Entstehung der Provinz

Eroberung und Widerstand

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Abb. 3Die «Table Claudi-enne» von Lyon. Die Bronzeinschrift enthält den Text einer Rede, die Kaiser Claudius vor dem römischen Senat gehalten hat (Musée Gallo-Romain de Lyon-Fourvière).

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stützten diesen sogar, indem sie Auxiliartruppen (Rei-terei) schickten, die von Mitgliedern ihrer Aristokratie befehligt wurden. Decimus Brutus und später, etwa im Jahr 50 v. Chr., L. Domitius Ahenobarbus waren die Nachfolger Cae-sars als Prokonsuln der eroberten Gebiete, der zu-künftigen Tres Galliae. Kurz vor seinem Tod im Jahre 44 v. Chr., ernannte Caesar L. Munatius Plancus zum Prokonsul der drei Gallien (ohne die Transalpina). Plancus gründete 43 v. Chr. die Kolonie Lugdunum (Lyon). Ab November 43 v. Chr. musste er die Ver-waltung des inneren Gallien an Marcus Antonius ab-treten; sie ging später an Octavian über (Cassius Dio, 48, 1, 20 u. 28), der sie Q. Salvidienus Rufus und spä-ter an M. Vipsanius Agrippa (38-39 v. Chr.) übertrug (Cassius Dio, 48, 49). Agrippa leistete dort unter Au-gustus eine zweite Amtszeit zwischen 20 und 18 v. Chr. Während der Herrschaft des Augustus wurden schließlich auch die kaiserlichen Provinzen der Tres Galliae geschaffen, darunter die Gallia Lugdunensis in den Jahren 16–13 v. Chr. (Cassius Dio, 53, 12; 54, 4; 19, 1; 25, 1). Bis zur Regierungszeit des Tiberius (14–37 n. Chr.) herrschte in der Provinz Gallia Lugdunensis Frieden. Der Aufstand des Jahres 21 n. Chr., angeführt von ei-nem Treverer und dem Haeduer C. Iulius Sacrovir (Tacitus, Annales 3, 40-47), stellte keine «nationale» Reaktion gegen den Eroberer dar, sondern scheint durch Unzufriedenheiten provoziert worden zu sein, die in den civitates der Gallier durch die Abschaffung der Steuerbefreiung durch Tiberius für manche Städte, darunter zweifellos die der Haeduer, ausgelöst wur-den. Die Unruhen wurden durch den Aufstand von zwei Stämmen im Westen der Lugdunensis eingelei-tet, den Andekavern und Turonen. Er wurde jedoch schnell von einer Kohorte aus Lyon und Auxiliartrup-pen, darunter die Haeduer mit Sacrovir, niederge-schlagen. Letzterer erhob sich seinerseits mit einem guten Teil der Haeduer (ca. 40.000 Mann) und einer Gruppe gut ausgebildeter Gladiatoren. Er nahm den Nachwuchs der gallischen Aristokratie, der an der neuen Hochschule von Autun studiert hatte, als Gei-seln und marschierte gegen die aus Obergermanien angerückten römischen Truppen des Legaten Silius. Der Zusammenstoß fand an einer Stelle östlich von Autun statt. Sacrovir wurde besiegt und fl oh in seine Villa, wo er Selbstmord beging.Der 10 v. Chr. in Lyon geborene Claudius – der Le-gende nach wurde er am Tag der Einweihung des Bundesheiligtums der Ara trium Galliarum geboren – ,

war den Tres Galliae und insbesondere der Lugdunen-sis wohl gesonnen: In den Hauptorten der Stämme wurden zahlreiche öffentliche Gebäude errichtet und das Straßennetz z. B. in den westlichen civitates merk-lich verbessert, wie die Weihungen von Meilensteinen belegen. Die Urbanisierung erfuhr nun einen wahren Aufschwung. V. a. Claudius förderte die Verleihung des römischen Bürgerrechts an zahlreiche Gallier und die Zulassung zu einer senatorischen Karriere. Seine Rede zum Umgang mit den provinzialen Städten ist auf der sog. Table Claudienne, einer Bronzeinschrift in Lyon, festgehalten (CIL XIII, 1668; vgl. Tacitus, Annales 11, 24; Abb. 3). Im Jahre 68 n. Chr., fast ein halbes Jahrhundert nach dem Aufstand des Sacrovir, zog das Ende der Herr-schaft des Nero und die von ihm ausgelösten Unzu-friedenheiten die Revolte des Vindex nach sich, der damals Legat in der Gallia Lugdunensis war. Mit der Unterstützung bestimmter Mitglieder der gallischen Aristokratie führte sie zur Ernennung Galbas zum Kaiser (Plutarch, Galba 4-23; Sueton, Nero 40; Galba 9, 4; 11, 1; 12, 1; 16, 4; Cassius Dio. 63, 22-26; Taci-tus, Historiae 1, 8, 51-54; 65; 1, 16; 51; 65; 2, 94; 4, 17). In der Lugdunensis wurde Vindex v. a. von den Haeduern unterstützt, ein Großteil der Stämme schloss sich an, aber Lyon weigerte sich, ihm zu fol-gen. Vindex wurde jedoch bald von den Legionen des Verginius Rufus geschlagen und beging Selbstmord. Galba, als Kaiser bestätigt, favorisierte daraufhin zu sehr diejenigen Stämme, die sich ihm unterworfen hatten, woraufhin die anderen civitates, an ihrer Spitze Lyon, an die Rheinarmee appellierten. Sie versuchten im Januar 69 n. Chr. einen anderen Kandidaten, Vi-tellius, zum Kaiser auszurufen, zur gleichen Zeit, als in Rom die alten Parteigänger des Vindex Otho gegen Galba unterstützten. Vitellius schickte daraufhin Truppen vom Rhein nach Italien, die u. a. das Saône- und Rhônetal an den Ostgrenzen der Provinz durch-zogen und dort plünderten (Tacitus, Historiae 1, 59 ff.). Nachdem Otho geschlagen war, konnte Vitellius für einige Monate regieren: Er schiffte sich, aus Oberger-manien kommend, in Chalon-sur-Saône ein, um sei-nen triumphalen Einzug in Lyon zu feiern, wo er sei-nen Parteitag abhielt (2, 57-62). Diese Wirren förderten die Revolte des Mariccus, ei-nes Boiers, der von den Westgrenzen des Haeduerge-biets stammte. Mit einer Truppe aus «Bauern» richtete er sich gegen Autun und Lyon, doch nur ein Teil der Haeduer unterstützte ihn. Er wurde schnell von Vitel-lius geschlagen, der von den Einwohnern von Autun

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In den Jahren 16–13 v. Chr. nahm Augustus die ei-gentliche Organisation der Territorien im Inneren

Galliens in Angriff: Die ehemalige senatorische Pro-vinz der Gallia Transalpina wird jetzt als Narbonnen-sis und Tres Galliae bezeichnet (Livius 134; Plinius d. Ä., Naturalis Historia 4, 105). Die «drei Gallien» (Tres Galliae) werden geschaffen: von Nord nach Süd die Belgica, die Lugdunensis und die Aquitania. Laut Strabo (4, 3 u. 4), der der Lugdunensis kein eigenes Kapitel widmet, hat ein erster Versuch der Organisation

der drei Provinzen durch Augustus – zweifelsohne den ersten Entscheidungen Caesars folgend – zu-nächst zur Schaffung der Provinz Gallia Belgica ge-führt, die sich nach Osten bis zur Mündung der Loire erstreckte. Sie umfasste daher die Armorica, die später in die kaiserzeitliche Provinz Gallia Lugdunensis ein-gegliedert werden sollte. Die Grenze zwischen dieser ersten Belgica und einer ersten Lugdunensis hätte die Haeduer (Lugdunensis) von den Semnonen und Tri-cassiern (Belgica) getrennt und sich danach mit dem

Reglementierung, Verwaltung und Neuzuschnitt der Grenzen

unterstützt wurde. In Lyon wurde er den Tieren im Amphitheater zum Fraß vorgeworfen, wurde jedoch von ihnen verschmäht, so dass ihm schließlich die Kehle durchgeschnitten werden musste (Tacitus, His-toriae 2, 61). Der Historiker Camille Jullian hat in ihm einen zweiten Vercingetorix gesehen, der den Willen zur gallischen Unabhängigkeit verkörperte, doch sein Aufstand scheint eher dem Bandenwesen zuordenbar zu sein als der hohen Politik. Nach der Eroberung und vor den Unruhen der Spät-antike erscheint die Lugdunensis – sicher auch auf-grund des Fehlens historischer Quellen für die Zeit der Pax Romana – zwischen der Mitte des 1. und des 3. Jhs. n. Chr., also während nahezu der gesamten Kaiserzeit, weitgehend als Provinz «ohne Geschich-te». Einzig die Ereignisse der Jahre 21 und 68–69 n. Chr. betrafen die Provinz, und selbst dies nur am Rande. Erst am Ende des 2. Jhs. n. Chr. taucht die Provinz wieder in der Geschichte auf: Gegen 186–188 n. Chr. war eine Räuberbande unter Führung des Maternus für einige Verwüstungen verantwortlich, wurde aber von der römischen Armee unter Führung der Provinz-statthalter besiegt; einer der Statthalter der Lugdunen-sis war der spätere Kaiser Septimius Severus, (Historia Augusta, Septimius Severus 3, 8-9 ff.).Nur wenige Jahre später, von 192 bis 197 n. Chr., kämpften besagter Septimius Severus, gewöhnlich un-terstützt von den germanischen Legionen, und der mit den Städten Nordgalliens verbündete Clodius Albinus um die kaiserliche Macht. Severus wurde zunächst in Lyon empfangen und belagerte später Trier. Bei der Rückkehr nach Lyon am 19. Februar 197 n. Chr.

schlug er bei Tournus und in der Umgebung von Lyon die entscheidende Schlacht. Septimius Severus blieb Sieger, seine Truppen plünderten Lyon und steckten es in Brand (Cassius Dio 75, 5; 6, 1-2 u. 7, 2-3 etc.; Herodian 3, 7, 7). Es ist möglich, dass einige in Lyon gefundene Soldatengräber – beispielsweise das von der Place des Célestins – mit diesen Ereignissen zu-sammenhängen. Im 3. Jh. n. Chr. mit seinen «Krisen» fanden dagegen zahlreiche wichtige historische Ereignisse in der Pro-vinz statt. Am Anfang des Jahrhunderts bewilligte das Dekret des Caracalla allen freien Einwohnern der Provinzen des Reiches das römische Bürgerrecht. In der 2. Hälfte des 3. Jhs. n. Chr. entstand das sog. Gal-lische Sonderreich (259–274 n. Chr.: Kaiser Postu-mus, später Victorinus und Tetricus), aufgrund der Schwäche der römischen Zentralmacht: Gallienus war in die Donauprovinzen abgereist, wenig später wurde Aurelian im Orient gefangen genommen und getötet, woraufhin die in Gallien zurückgebliebenen Armeen und ihre Offi ziere die Verteidigung dieser Provinzen selbst in die Hand nehmen wollten. Wenn man den archäologischen Quellen glauben kann (Münzprägung und Meilensteine), so betraf diese Usurpation vorwiegend einige Städte im Westen und der Mitte der Tres Galliae – in der Lugdunensis war die Armorica betroffen – sowie, in kleinerem Rah-men, das Zentralmassiv und seine Ränder (hier zwei-fellos die Haeduer und Segusiaver). Meilensteine aus Rennes und der andauernde Wohlstand der mögli-cherweise von da an wieder mit den Haeduern ver-bundenen Siedlungen (z. B. Mâlain und Alesia) bele-gen dies (vgl. Abb. 67).

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Rhein im Osten auf Höhe der späteren Grenze zwi-schen den beiden Germanien vereinigt. Eine erste Re-form, die mit der in der Regel akzeptierten Beschrei-bung Plinius’ d. Ä. übereinstimmt, datiert ohne Zweifel erst in die Regierungszeit des Tiberius (vgl. Frontispiz). Danach erfuhren die Grenzen der galli-schen Provinzen bis zur Spätantike nur noch zwei weitere größere Reformen. Schon 43 v. Chr. hatte Plancus die Kolonie Lugdunum (Lyon) gegründet, ursprünglich um Allobroger aus Vi-enne (Transalpina) bzw. römische Kolonen aufzu-nehmen. Im Jahre 12 v. Chr. entschloss sich Drusus, damals Statthalter der Galliae, zur Errichtung eines Bundesaltars für die 60 Stämme der Tres Galliae am Zusammenfl uss von Saône und Rhône (Abb. 4). Er wurde am 1. August des Jahres 10 v. Chr. geweiht, dem Tag, an dem der spätere Kaiser Claudius in dieser Stadt geboren worden sein soll und der Provinzial-landtag der Tres Galliae (concilium Galliarum) einge-richtet wurde. Erster vorsitzender Priester des conci-lium war der Haeduer C. Iulius Vercondaridubnos (Livius 50, 139). In der Folge ist die Priesterweihe für etwa 20 aus verschiedenen civitates stammende Perso-nen belegt (Veneter, Coriosoliten, Viducassier, Sem-nonen, Haeduer u. a.). Im 1. Jh. n. Chr. bezeichnete Seneca Lugdunum als «Metropole Galliens» (Epistulae 14, 91, 10), und auf der Tabula Peutingeriana wird die Stadt als caput Galliarum, Hauptstadt Galliens, er-wähnt. Eine «Bundeshauptstadt» mehrerer Provinzen ist in der Verwaltungsorganisation des Reiches ein au-ßergewöhnlicher Fall. Weiter unten wird man im Ka-

pitel Religion die Ziele sowie die politischen und reli-giösen Auswirkungen des Kaiserkultes für die Provinz sehen. Mit den Reformen des Augustus kurz vor der Zeiten-wende wird die neue Provinz – mehr oder weniger in den Grenzen, die uns Plinius d. Ä. überliefert (Natu-ralis Historia 4, 107) – sehr vorsichtig zugunsten der vorrömischen Aquitania beschnitten, aber zugleich um mehrere Gebiete erweitert, die zuvor an die caesa-rische Belgica angeschlossen waren (Gebiete der Ca-leten, Veliocasser, Melder u. a.), so dass die gallischen Provinzen ungefähr gleich große Einheiten bildeten, die grob durch die auf Lyon, die Hauptstadt der Tres Galliae, zufl ießenden größeren Flüsse (Loire, Seine) getrennt wurden. Übereinstimmend mit dem Grundmuster der römi-schen Reichsverwaltung hatte die Provinz an ihrer Spitze einen Statthalter, der seinen Sitz in der Haupt-stadt Lugdunum (Lyon) hatte, von der die Provinz ihren Namen Gallia Lugdunensis ableitete. Es han-delte sich um eine kaiserliche Provinz, was bedeutete, dass ihr Statthalter vom Kaiser, nicht vom Senat aus-gewählt (und eventuell zurückgerufen) wurde, woher der Titel eines legatus Augusti pro praetore stammt. Dieser Legat war ein Senator von praetorischem Rang, was bedeutet, dass er in Rom das Amt des Pra-etor (zuständig für die Justiz) ausgeübt hatte. Der Le-gat erhielt kein Gehalt, wurde aber von dem Personal seines offi cium unterstützt, bestehend aus Sekretären, Schreibern, Herolden, Liktoren, Protokollführern, Archivaren, einer Leibwache u. a., und von Verwal-tungsfachleuten unterschiedlicher Grade vom Freige-lassenen bis zum eques (Ritter). An erster Stelle der Beamten stand der mit der Leitung der Provinzfi nan-zen betraute Prokurator, der zum Ritterstand gehörte und ein Gehalt erhielt. Für bestimmte sporadische oder regelmäßige Aufgaben wie den Zensus wurden spezielle Verwaltungsfachleute ernannt. Der Statthal-ter reiste aus unterschiedlichen Gründen (Kontrolle, Inspektion, religiöse Belange, Einweihungen, Stadtvi-sitationen) oft in seiner Provinz umher. Die Provinzverwaltung blieb recht klein, da die meis-ten Aufgaben und Weisungsbefugnisse an die munizi-pale Verwaltung der civitates übertragen wurden: Die Lugdunensis war wie alle Provinzen des Reiches in ci-vitates unterteilt, die die untere, aber grundlegende Ebene der Reichsverwaltung bildeten (vgl. Frontis-piz). Zwischen diese lokale Verwaltungsebene und die Provinzverwaltung waren keine weiteren Instanzen zwischengeschaltet. Bei den civitates handelte es sich

Abb. 4Darstellung des Bun-desaltars am Zusam-menfl uss von Rhône

und Saône in Lyon auf einem As des Augustus

(Rs., Bronze, Musée Gallo-Romain de Lyon-

Fourvière).

Reglementierung, Verwaltung und Neuzuschnitt der Grenzen | 19

nicht um einfache Gemeinden, wie das Wort zunächst vermuten lässt, sondern um Verwaltungsbezirke, die von einer Hauptstadt oder einem Hauptort verwaltet wurden. In dem Hauptort saßen die Institutionen, die für die Bevölkerung und ein Gebiet unterschiedlicher Ausdehnung zuständig waren. In diesem Gebiet be-fanden sich zahlreiche Siedlungen, von denen einige sogar eine größere Bedeutung als der Hauptort erlan-gen konnten. Die Einteilung der civitates wurde von der römischen Autorität auf der Grundlage der Vertei-lung der Stämme Galliens vorgenommen, deren Ge-biete den neuen Gegebenheiten angepasst wurden. In der Kaiserzeit gab es in der Gallia Lugdunensis 25 ci-vitates (Tab. 1, siehe nächste Seite).Die Stadt Lyon besaß als einzige Stadt dieser Liste den Status einer deduzierten Kolonie. Ihr Name war Co-lonia Copia Claudia Augusta Lugdunum. Es gibt keine sicheren Quellen, aus denen der Umfang des vom Ge-biet der Segusiaver für die Errichtung der Kolonie ab-getrennten Territoriums ermittelt werden könnte. Die Stadt Lyon wurde um das Jahr 18 v. Chr. – einige Zeit nach Einrichtung der Kolonie – von Strabo (4, 3, 2) als Hauptstadt der Segusiaver bezeichnet. Plinius d. Ä. (Naturalis Historia 4, 107) lokalisiert fast ein Jahrhun-dert später Lyon hingegen auf dem Gebiet (in agro) der Segusiaver. Ohne Zweifel lag das Territorium von Lyon ursprünglich hauptsächlich in der Ebene im Os-ten der Stadt und erstreckte sich nicht bis zu den Ber-gen des Lyonnais im Westen. Bei der civitas der Lingonen (Hauptort Andematun-num [Langres]), die zunächst in der Belgica und nach 89 n. Chr. dann in der Germania Superior lag, handelt es sich um einen etwas eigentümlichen Fall: Es scheint, dass sie erst durch die diokletianische Reform Bestandteil der Provinz Lugdunensis Prima wurde (Laterculus Veronensis 8). Das Auxois (die Region von Alesia, ehemaliges Mandubier-Gebiet) war ohne Zweifel ebenfalls an die Provinz angeschlossen, aber damals in die civitas der Haeduer integriert. Auch das mandubische Gebiet kann in unserem Zusammen-hang erst in der Spätantike betrachtet werden. Es ist auffällig, dass die Provinz sauber in zwei Teile geteilt wurde: Im Zentrum, im Süden und Osten be-fanden sich civitates mit ausgedehnten Territorien (Carnuten, Senonen und Haeduer), die eine Beson-derheit der Nordwestprovinzen im Vergleich zum Rest des Reiches darstellen. Im Norden und Westen gab es hingegen eine Ansammlung von civitates gerin-gerer Fläche (eine Ausnahme stellte die civitas der Osismer dar). Die Lugdunensis wies die größte Anzahl

an civitates aller gallischen Provinzen auf. Fast die Hälfte (12 von 25) besaß mindestens eine gemeinsame Grenze mit einer anderen Provinz (die Belgica im Nordosten, Obergermanien im Osten, die Narbon-nensis im Südosten und die Aquitania im Süden); Elf civitates grenzten darüber hinaus an die Küste. Die Grenzen der Lugdunensis scheinen im Osten nicht durch die Einrichtung der Provinzen von Ober- und Niedergermanien in den 80er Jahren n. Chr. be-einträchtigt worden zu sein, wenn man der Beschrei-bung von Plinius d. Ä. glaubt, die etwa 10 Jahre zuvor entstand (Naturalis Historia 4, 107). Er beschreibt da-rin eine Situation, die eher mit der Topografi e der Jahre 22-14 v. Chr. übereinstimmt als mit der Einrich-tung der Provinzen unter Augustus. Der Status einer civitas stellte eine Ehre dar, die eine gewisse Autonomie garantierte, die aber durch Anglie-derung an eine andere civitas verloren gehen konnte. Die meisten Grenzen der civitates sind nicht gesichert. Man stützt sich für ihre Bestimmung hauptsächlich auf die Grenzen der mittelalterlichen Diözesen. Dar-aus folgt, dass die Defi nition der Grenzen der in der Spätantike aufgelösten civitates, die kein Bistum her-vorbrachten, Schwierigkeiten bereiten; so z. B. die Grenzen der civitates der Diablinter, Baïocasser und Caleten. Die Grenzen der civitates folgten zum Teil den Stammesgebieten vor der römischen Eroberung. Allerdings gab es entscheidende Anpassungen, die durch politische, demografi sche und wirtschaftliche Überlegungen motiviert waren. Rom hat die Ethnien nach eigenen Vorstellungen neu angeordnet oder von-einander getrennt. Die Benennung der civitates nach den gallischen Stämmen verschleiert, dass es sich um eine komplett veränderte Realität im Vergleich zu der Zeit vor der Eroberung handelte. Mehrere Stämme können in römischer Zeit nicht nachgewiesen werden, weil sie keine eigene gallo-rö-mische civitas erhielten (z. B. die Ambivareter). Dies spiegelt jedoch schlicht die Verwaltungsreform wider und bedeutet keineswegs das Verschwinden der Stämme. So wurden die Ambarres (im heutigen Ain) im Osten in die civitas der Segusiaver eingegliedert, später in die der Sequaner. Die Mandubier von Alesia wurden in die civitas der Lingonen integriert, was die bereits er-wähnten Probleme hervorrief. Die Boier wurden, ob-wohl sie von Plinius d. Ä. (Naturalis Historia 4, 107) in der Liste der civitates der Lugdunensis erwähnt wer-den, zweifellos der civitas der Haeduer angeschlossen. Eine von Caesar (De bello Gallico 2, 34; 3, 29, 3; 7, 4, 6, 8, 7, 7) im Augenblick der Eroberung als Aulerker

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Tabelle 1 Die civitates mit ihrem lateinischen Namen; die Hauptorte mit ihrem heutigen und ihrem antiken Namen.

Civitas Hauptort

deutscher Name

römischer Name

römischerName

heutiger Name Bemerkungen

Kolonie Lyon Colonia Copia / Claudia

Augusta / Lug(u)dunum

Lug(u)dunum Lyon

Abricantes Abricanti Ingena / Legedia Avranches

Andres / Andekaver Andes / Andecavi /

gavi

Iuliomagus Angers

Baïocasser Baïocasses / Bodio- Augustodurum Bayeux Name nur in der

Spätantike belegt

Caleten, Colonia Caleti Iuliobona Lillebonne

Carnuten Carnutes / ti / teni Autricum Chartres

Cenomanen (Aulerker) Cenomani Vindinum / Suin Le Mans

Coriosoliten Coriosolites Fanum Martis Corseul

Diablinter (Aulerker) Diablintes Noviodunum Jublains

Eburoviker (Aulerker) Eburovices Mediolanum Évreux

Eduer / Haeduer Aedui / Hae Augustodunum Autun

Esuvier / Sagier Esuvii / -bii

Sagii / Saii / Arvii /

Atesui (?)

(Sagii?) Sées zunächst vielleicht auch

Exmer (Uxismis) direkt

nach der Eroberung

Lexovier Lexovii No(v)iomagus Lisieux

Melder Meldii Ia(n)tinum / Fixtui Meaux

Namneten Namnetes/ tae Condevincum / vicnum

/ Portus Namnetum

Nantes zunächst vielleicht auch

Rezé (Ratiatum) direkt

nach der Eroberung

Osismer Os(s)ismi(i) Vorgium / Vorganium Carhaix-Plouguer

(Pariser) Parisi(i) Parisi(i) Paris

Riedonen Ri(e)dones Condate Rennes

Segusiaver Segusiavi Forum Segusiavorum Feurs vielleicht zuvor Lyon

Senonen Senones / ni Agedincum Sens

Tricassier Tricasses / sii Augustobona Troyes

Turonen Turones / ni Caesarodunum Tours

Uneller Unelli Cro(u)ciatonum Carentan oder St. Côme-du-

Mont?

Veliocasser Veliocassi / Vello Rotomagus Rouen zunächst vielleicht auch

Pîtres (Petromanta-

lum) direkt nach der

Eroberung

Veneter Veneti Darioritum Vannes

Viducassier Viducasses Aregenua Vieux

Reglementierung, Verwaltung und Neuzuschnitt der Grenzen | 21

beschriebene Gruppe von Stämmen (die Aulerker Di-ablinter, Cenimanen und Eburovicer zwischen der modernen Maine und Normandie) gaben alle drei ei-ner neuen civitas ihren Namen, während die Aulerker Brannoviker weiter im Osten möglicherweise an die ci-vitas der Haeduer angeschlossen wurden (7, 75, 2).In den Randgebieten der Provinz bleibt unklar, wie die Grenzen der civitates der Namneten und Piktonen in der heutigen Normandie (Ptolemaios, Geographia 8,2: 5 u. 7–9) sowie der Carnuten im Süden der Pro-vinz (Caesar, De bello Gallico 7, 11, 9) verliefen. Der Status einer civitas ist nicht an dem Wort selbst ablesbar. Die Einwohner der civitates galten immer als «peregrin», d. h. besaßen den Status von Fremden ge-genüber der Gemeinschaft der römischen Bürger. In der Verfassung verwendet man für Peregrine das indi-gene, nichtrömische Bürgerrecht (ius gentium), aber wie überall im Reich sind die römischen Bürger vom römischen Recht abhängig. Einige peregrine civitates verfügten über einen privilegierten Status, weil sie eine von Rom anerkannte Stellung angenommen hatten. Die Tres Galliae, und darunter die Lugdunensis, wur-den privilegiert behandelt, weil Caesar mit dem Wunsch, die Zusammenarbeit der Volksgruppen si-cherzustellen, diesen Sonderstatus großzügig verge-ben hatte. So wurden die Remer und die Haeduer foederati, d. h. sie schlossen mit Rom einen Vertrag (foedus), in dem die Rechte, Pfl ichten und Beziehun-gen zu Rom festgeschrieben wurden. Die «freien» civitates verfügten mehr oder weniger über dieselben Rechte, außer dass der fi skalische Druck dort leichter war. Das Abkommen war bei die-sen nicht durch einen Vertrag geregelt, sondern still-schweigend anerkannt, weshalb es jederzeit durch eine unilaterale Entscheidung Roms verändert werden konnte. Beispielsweise besaßen die Turonen oder die Viducassier den Status einer freien civitas: Obwohl es seit der Zeit des Tiberius keine direkten Hinweise mehr über ihren konkreten Status und insbesondere ihre fi skalische Situation gibt, blieb die prestigeträch-tige Benennung der civitas bestehen: civitas Turorum libera. Die zweite Statuskategorie umfasst die römischen Städte, bei denen es sich um Munizipien oder Kolonien handeln konnte. Bis heute gibt es keine gesicherten Belege für die Existenz von Munizipien in der Lugdu-nensis. Die einzige Kolonie im eigentlichen Sinne war, wie bereits erwähnt, Lugdunum. Andere Städte haben jedoch den Ehrentitel Kolonie erhalten: Einige peregrine Städte wurden ohne Ansiedlung von römi-

schen Bürgern zu einer Kolonie erhoben, z. B. die Hauptorte der Segusiaver, Viducassier, Sequaner, Se-nonen (CIL XIII, 1684) und Haeduer (Panegyricus 5, 5 u. 18). Die städtische Verwaltung befand sich im Hauptort der civitas. Ein Teil dieser Siedlungen wurde mögli-cherweise zum Zeitpunkt der Umgestaltung der galli-schen Provinzen in den Jahren 16–13 v. Chr. gegrün-det, aber das gilt nicht für alle. Die Existenz einer Hauptstadt ist immer von der civitas abhängig. Aus-schlaggebend ist der Sitz der munizipalen Instanzen; es genügt ein Umzug des munizipalen Verwaltungssit-zes, damit auch die Hauptstadt wechselt. Die im Hauptort ansässigen munizipalen Institutio-nen bestanden aus Beamten und Versammlungen. Die Städte stellten die Grundlage für die Provinzverwal-tung dar, da sie für die Einhaltung der vorgeschriebe-nen Gewichts- und Maßeinheiten verantwortlich wa-ren, die Steuerbemessungsgrundlage aufstellten, den alle fünf Jahre stattfi ndenden Zensus durchführten, für die Instandhaltung der Straßen und der öffentli-chen Einrichtungen sorgten und Recht sprachen. Sie führten diese Aufgaben mithilfe der Magistrate, Volks-versammlungen und der curia durch (bei den Seno-nen: senatus populi Senonensis). Die Bürgerschaft setzte sich aus freien Stadtbürgern zusammen, die die Magistrate wählten. Es ist sicher, dass die Kurie (curia), also die Dekurionenversamm-lung oder der ordo decurionum, eine Liste der dem Volk zur Wahl vorgeschlagenen Kandidaten aufstellte, die ohne Zweifel aus ihrer Mitte ausgewählt wurden; auch die Durchführung von Wahlen ist inschriftlich nachgewiesen («Sex. Ligurius Marinus, designierter duumvir auf Antrag des Volkes in Lyon», CIL XIII, 1921). Die Dekurionen waren Bürger der Stadt, vor-geschlagen von den Duumvirn in der Kurie, die sie nach Vorrang unter die aus dem Amt geschiedenen Magistrate hinzuwählten, außerdem die Söhne der Dekurionen; ihre Anzahl variierte gemäß der Bedeu-tung der civitas. Die Dekurionen sind zahlreicher überliefert als die Magistrate, etwa T. Flavius Postu-minus, der von seiner civitas der Riedonen geehrt wurde (AÉ 1969/70, 405a-b). Der cursus – die städti-sche bzw. politische Karriere – wird oft durch eine allgemeine Formel von der Art wie «er hat alle Ehren auf sich genommen» in Erinnerung gerufen. Alle Äm-ter waren kollegial, für ein Jahr mit der Möglichkeit zur Verlängerung festgesetzt und hierarchisiert. Es handelt sich, geordnet nach der Rangfolge, um fol-gende Ämter:

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- Das Duumvirat: Rat aus zwei Magistraten, von de-nen einer für die Rechtsprechung im gesamten Gebiet der civitas zuständig war, der andere für die Verwal-tung der öffentlichen Güter. Inschriftlich belegt ist u. a. ein duumvir bei den Senonen, der für die öffentli-chen Finanzen zuständig war (CIL XIII, 1632); alle vier Jahre führten die Duumvirn einen Zensus durch, d. h. eine Aufl istung des Vermögens und des öffentli-chen Status’ aller Bürger.

- Die Quaestur war für die Finanzverwaltung zustän-dig (z. B. «T. Iulius Couribocalus, aus der civitas der Tricassier, quaestor seiner Stadt», AÉ 1953, 56).- Die Aedile waren zuständig für die Aufrechterhal-tung der öffentlichen Ordnung, für die Instandhaltung des Straßennetzes und der öffentlichen Gebäude, die Brandbekämpfung. Sie werden nur in Ausnahmefällen inschriftlich erwähnt (z. B. «Sex. Vagirius Martianus, quaestor et aedilis» in der Stadt Lyon, CIL XIII, 1900).

Der Senone Gaius Amatius Paterninus hat zwei Arten von Ämtern ausgeführt: Bürgerliche, das

heißt die ganze civitas betreffende, und mehr lokale, das heißt begrenzt auf Unterteilungen der civitas, des pagus oder vicus. Sie sind in chronologischer Ordnung aufgezählt. Sein wichtigstes Amt ist das des Aedil der Einwohner des vicus von Sens, das heißt Magistrat der Hauptstadt der Senonen, einer Stadt, die den Status eines vicus hatte und eine Verwaltung, die ihr eigen und in den Quellen der gallischen Provinzen einzigartig ist, was nicht bedeutet, dass es nicht auch andere gab. Da Amatius präzisiert, dass er später Aedil der civitas der Senonen wurde, kann man nicht daran zweifeln, dass

diese erste Aedilität allein zum Wohl der Stadt Sens übernommen wurde. Später repräsentierte er, nach und nach oder gleichzeitig, den pagus von Toucy nahe Auxerre und unter dem Titel eines quinquennalis (viel-leicht in Verbindung mit dem Zensus) die civitas der Senonen. Das fi skalische Duumvirat, im Laufe dessen er Spiele veranstaltete, woher das Bestimmungswort munerarius stammt, und die Präfektur der Annona (der Nahrungsmittelversorgung) betrafen die ganze civitas. Seine beiden Angestellten sind seine Freigelassenen, die ihn gemäß gängiger Praxis in seiner öffentlichen Rolle unterstützten.

Die Ämter des Gaius Amatius Paterninus

Abb. 5Inschrift auf einer bronzenen tabula ansata (CIL XIII, 2949) aus Sens, der civitas-Hauptstadt und dem vicus der Senonen. «Gewidmet dem Gaius Ama-tius Paterninus, dem Sohn des Gaius Amatius Paternus, Aedil der Einwohner des vicus von Sens, Aedil der civitas der Senonen, offi zieller Repräsentant des pagus von Toucy, und mit dem Titel eines quinquennalis offi zieller Reprä-sentant der civitas der Senonen, mit dem Finanzwesen betrauter duumvir, designierter praefectus annonae, sehr ehrenhafter junger Mann. Maternius Eucharistus und Paternius Pollio Sil-lanus, seine beiden Angestellten, haben ihm diese Weihung aus öffentlichen Mitteln gesetzt, um seine Verdienste zu rühmen, unter dem zweiten Konsulat des Kaisers Decius, unserem Herrn, und des Gratus, an den Kalenden des April [= 1. April 250] » (Musée de Sens).

Einheimische Kultur und Romanisierung | 23

Obwohl die civitas das grundlegende Gliederungsprin-zip der Provinz darstellte, existieren auch Belege für eine Unterteilung des Territoriums in pagi. Das Wort ist unübersetzbar und deckt je nach Provinz sehr ver-schiedene Realitäten ab. In der Lugdunensis scheinen die pagi jedoch Teile der civitas gewesen zu sein. Ein typisches Beispiel stellt die civitas der Riedonen dar, von denen mehrere pagi beim Hauptort Rennes ge-funden wurden und deren Weihungen belegt sind (CIL XIII, 3148-3150): der pagus Matans, der pagus Sextanmanduus und der pagus Carnutenus. Entspre-chende Inschriften kennt man auch aus anderen civi-tates (z. B. der pagus Toutiacus bei den Senonen; Abb. 5). Unsicher ist jedoch, ob pagi überall existierten. Auch ihre Rolle ist kaum abzuschätzen; vielleicht waren es Fiskalbezirke. In jedem Fall ging die Organisation des politischen Lebens vom Hauptort aus und die pagi dienten nur als weitere Instanz. Sie werden oft, möglicherweise zu Unrecht, mit den vici in Verbin-dung gebracht, da diese keine Territorien, sondern ur-banisierte Siedlungen waren, die von vicani bewohnt wurden.Der Status der einzelnen Bewohner war in der Regel unabhängig von dem Status der civitas. Neben den Sklaven gab es zwei Kategorien: die Peregrinen und die römischen Bürger. Alle einheimischen Bewohner der Provinz besaßen nach der Eroberung den Status von peregrinen Nichtbürgern, aber die Erlangung des Bürgerrechts war vorgesehen und organisiert. Alle Städte waren wie in den anderen gallischen Provinzen

sehr früh mit dem latinischen Recht versehen worden (spätestens unter Vespasian, vermutlich bereits unter Claudius in der Mitte des 1. Jhs. n. Chr.). Der Status sah vor, dass die aus dem Dienst ausgeschiedenen Ma-gistrate das römische Bürgerrecht erhielten, wenn sie es nicht schon besaßen. Folglich gelangten die Pere-grinen der Lugdunensis im Laufe der Jahrhunderte regelmäßig zum römischen Bürgerrecht. In den Jah-ren 212–213 n. Chr. erhielten schließlich alle freien Bewohner des Reiches das römische Bürgerrecht von Caracalla. Ein außergewöhnliches Dokument belegt die Ent-wicklung: Die sog. «Table Claudienne » (vgl. Abb. 3). Die in Lyon gefundene Bronzeinschrift überliefert eine Rede des Kaisers Claudius, einem gebürtigen Lugdunenser, die er im Jahr 48 n. Chr. vor dem Senat in Rom gehalten hatte (CIL XIII, 1668; eine andere Fassung der Rede bei Tacitus, Annales 11, 23–25). Claudius forderte von der Versammlung, Gallier in den Senat aufzunehmen, damit sie an der Verwaltung des Reiches teilnehmen konnten. Die Senatoren wehrten sich gegen die Aufnahme der gallischen Eli-ten in ihren Stand. Ohne jeden Zweifel aber erlangten Lugdunenser Zugang zu dem zweiten ordo des Rei-ches, dem ordo equester oder Ritterstand. Beispiele sind der Viducassier T. Sennius Solemnis und der Tri-cassier T. Iulius Curibocalus, der selbst Zugang zum Ritterstand anstrebte, den sein Sohn T. Iulius Lenti-nus mit Sicherheit erlangte (AÉ 1953, 56; Abb. 6, siehe nächste Seite).

Einheimische Kultur und Romanisierung

Unter dem umstrittenen Begriff Romanisierung versteht man das Phänomen der Akkulturation,

das die gallo-römische Gesellschaft ab der Eroberung immer stärker geprägt hat, indem es tief greifende, aus der mediterranen, griechisch-römischen Kultur stam-mende materielle und kulturelle Veränderungen mit sich brachte. Die bereits vor der caesarischen Eroberung feststell-bare Akkulturation beschleunigt sich seit der Einrich-tung der Provinz der Tres Galliae im vorletzten Jahr-zehnt vor Christus. Man kann jedoch erst ab der Mitte des 1. Jhs. n. Chr. von einer «gallo-römischen» Kultur sprechen, d. h. von einer Verfl echtung der exogenen

und indigenen Elemente. Diese «Romanisierung» ging mit einer Verwandlung der gallischen Gesell-schaft einher, jedoch nicht mit einer massiven Ein-wanderung fremder Bevölkerungsgruppen aus dem Römischen Reich. Ihre Nachwirkungen waren in der gesamten Lugdunensis spürbar, wurden in den abge-schiedenen westlichen Grenzgebieten jedoch im Ver-gleich zu Lyon und den großen Hauptorten der civita-tes wie dem der Haeduer sicherlich mit einiger Verspätung aufgenommen. Dennoch kann die treibende Kraft dieser Akkultura-tion in der Lugdunensis nicht wie in der Belgica oder den beiden germanischen Provinzen das Militär gewe-