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8/8/2019 Gebet an den Wolf
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Gebet an den Wolf Christof Wahner 2009
http://knottsmurals.com/image/landscapes/moon_over_piney_woods
John Knotts (2004): Mond ber Kiefernwald, 24" 36"
http://knottsmurals.com/image/landscapes/moon_over_piney_woodshttp://knottsmurals.com/image/landscapes/moon_over_piney_woods8/8/2019 Gebet an den Wolf
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VorwortEs war ein Mal im dunklen Wald ein junges Reh.
Es war zugleich erfllt von Fern- und Heimatweh1.
Es traf auf einen Wolf2, der seine Runden machte
und eben dieses Reh dabei zum Staunen brachte.
Geschlecht und Alter beider Tiere sind nicht wichtig.
Auch Zeit und Ort sind gleichermaen eher nichtig.
Die Reime sollen keine blden Lcken fllen,
doch einen trgerischen Heldentraum enthllen.
Zum wesentlichen Teil enthlt die Zeilenflut
germanisches und griechisches Gedankengut.
Hier gibt es viele tiefere Zusammenhnge
und eine Unzahl stufenloser bergnge
von Tod und Leben3, Kampf und Liebe4, Schmerz und Lust5,von Macht und Demut6, Leib und Seele7, Schwei und Durst8.
Durch Schicksalsfden9 wird dies alles eng verwoben
und manchmal sogar miteinander aufgehoben.
Das Reh erzhlte mir im folgenden Gedicht
ausfhrlich und von Angesicht zu Angesicht vom Drang, verbaute Bindungen hinweg zu raffen
und dafr deutliche Verhltnisse zu schaffen.10
Die schlimmen Zeilen sollten niemanden erschrecken
und niemals einen Zuspruch fr Gewalt erwecken.
Dem soll man wenig wrtliche Bedeutung geben.
Es dient vielmehr als Sinnbild fr das Liebesleben11.
8/8/2019 Gebet an den Wolf
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VerzckungMit zauberhafter2 Anmut ziehst du leicht und leise
in Wald12 und Wiese deine groen Kreise.
Um dich herum herrscht Grabesstille weit und breit.
Die Nacht versinkt in frchterlicher Einsamkeit.
Auf einen Schlag beginnst du mit den Eulen2
gemeinsam Herz zerreiend loszuheulen.
Allmhlich kommst du herrlich nah heran
und ziehst mein Augenlicht in einen bsen Bann2.
Im Schein des prchtig prallen Mondes12 flackert hell
dein wunderschnes, dichtes, langes, glattes Fell13.
Zwei Raubtieraugen12 glitzern wie Geschmeide.
Fr mich bist du die auserwhlte Augenweide.
Vor lauter Staunen steht mein Maul weit offen.Dein Liebreiz macht mich, grob gesagt, besoffen.
Du lssig-wildes, liebenswertes Lebewesen!
An dir ist alles zeitlos edel und erlesen.
Ich habe bisher jeden Augenblick genossen
und dich inzwischen in mein Herz geschlossen.Ich wrde dich am allerliebsten zrtlich streicheln
und leidenschaftlich deinen sieben Sinnen schmeicheln.
Der schleierhafte Dunst im Fhrengrunde
entwickelt sich zur groen Gunst der hehren Stunde,
indem er mir erlaubt, an dich heran zu treten
und dich wie meine hchste Gottheit anzubeten.
8/8/2019 Gebet an den Wolf
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FurchtIch hoffe insgeheim, dass du mich nicht bemerkst.
Doch hoff ich auch, dass du mein Pirschgelst bestrkst.14
Bald wirst du deutlich meinen Angstschwei wittern
und vielleicht auch, wie alle meine Glieder zittern.
Mit nichts als leisem Winseln und verzagtem Schnurren
entgegne ich dein strenges, ungestmes Knurren.
Du bist zu schn als dass ich mich von dir entferne.
Hast du mich etwa nicht zum Fressen gerne?
Ich wei es nun: Ich treff15 dich hier im tiefen Tal16
zum ersten und gewiss zum letzten Mal.
Schon fast erstarrt das Blut in meinen Adern.
Was bringt es schon, mit deiner stolzen Macht zu hadern?
Mein Schicksal war der dunkle Anfang dieser Nacht.Die Dmmerung kam schneller als gedacht.
Ich hab den Weg zurck nach Haus17 verloren
und darum dich als meine Rettung auserkoren.
Nun brauch ich gar nicht mehr damit beginnen
mich auf den Sinn und Zweck des Lebens zu besinnen,zumal sich dieser Sinn erst daran misst,
was leider lngst gelaufen und vorber ist.
Ich hoffe lngst nicht mehr auf irgendwelche Elfen18,
die mir hier pltzlich aus der Patsche helfen.
So leg ich meine Lufe sanft ins kalte Gras
und beuge mich vor dir im ehrfurchtsvollsten Ma.
8/8/2019 Gebet an den Wolf
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HingabeIch strecke dir gefllig meinen Hals entgegen.
Nun kannst du deine Beute mhelos erlegen.
Du darfst mich nach Belieben kratzen, beien 19,
als Spielzeug brauchen20, auf den Boden schmeien21,
mich gnadenlos an meinen zarten Gliedern zerren,
mir jede Mglichkeit zur Flucht versperren22,
mich immer wieder durch die ganze Gegend jagen23.
Ich aber will es mit dem tiefsten Dank24 ertragen.
Doch will ich endlich deinen warmen Atem25 spren
und dann, wie deine Zhne meine Haut berhren,
wie mich dein Maul mit kriegerischer Kraft verletzt
und meine Wunden sanft mit Speichelsaft benetzt26,
wie schlielich deine gut gebauten Backenmit einem Biss Genick und Halsschlagader knacken27.
Doch musst du deine Krallen schn in Unschuld waschen,
bevor sie mich gewissenhaft vernaschen.
Nun darfst du meinen leckren Leib zerschrfen28.
Gensslich sollst du aus den Blutgefen schlrfen,dein Maul tief in mein unbeflecktes Fleisch vergraben,
dich mrderisch an meinen Eingeweiden29 laben,
mit liederlicher Lust an meinen Sehnen sabbern30
und wtend-wild an meinen Knochen knabbern31.
Gar alles an mir solltest du ins Auge fassen
und mglichst wenig von mir brig lassen.
8/8/2019 Gebet an den Wolf
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VerklrungWas ist?! Lass mich doch bitte nicht so lange warten
in diesem grauenvollen, finstren Felsengarten32!
Das blasse Blau am Himmelsrand wird bald errten!
Der Morgenstern33 befiehlt: Du sollst mich tten,
mir helfen meinen letzten Atem auszuhauchen34
und dann in eine andre Welt hinein zu tauchen35,
in jene Welt erfllt von lauter Wundertten,
so sagenhaft wie Linden36- und Holunderblten37!
Um mein beschrnktes38 Leben wirklich zu verwandeln,
darfst du mich nicht wie laue Luft behandeln.
Du kamst zur Welt, um mich nun zu bezwingen.
Mein Schicksal heit hingegen, mit dem Tod zu ringen.
Hilf mir dabei, mich selbst zu berwinden39
und mich fr alle Ewigkeit an dich zu binden!
Erkennst du nicht in meinen feuchten Augen
die se Sehnsucht, dir als Schmaus zu taugen?
Nun komm, nimm endlich deine starken Pranken
und hau sie rasch hinein in meine zarten Flanken!Bereite meinem Dasein ein erflltes Ende
beziehungsweise: eine wonnigliche Wende!
Lass mich doch im Gewahrsam deiner Zellen leben40
und dich allein zu meinem Heiligtum erheben!
Mein Seelenleben wird dich gern zu allen Zeiten
gefhl- und ehrenvoll auf Schritt und Tritt begleiten.
8/8/2019 Gebet an den Wolf
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Anmerkungen
1 Fern- und Heimatweh = Drang, seine Heimat in der Ferne zu suchen
2 Wolf, zauberhaft, Eule, Bann = Hekate: griech. Gttin der bergnge (Geburt, Tod, Weggabelungen) und
Verwandlungen (Magie, Zauberei) und damit auch von Metamorphose (Wechsel der Daseinsform) und
"schpferischer Zerstrung" (Friedrich NIETZSCHE)
3 Tod und Leben = Mischungsverhltnisse von 'Eros' [Lebenstrieb] und 'Thanatos' [Todestrieb] (Sigmund FREUD)
4 Kampf und Liebe = "liebevoller Kampf" (Harald SCHULTZ-HENCKE)5 Schmerz und Lust = auch: Lustschmerz, "Leidenschaft", "Domantik"
6 Macht und Demut = Dominanz und Unterwerfung
7 Leib und Seele = Endpunkte einer stufenlosen materiell-spirituellen Skala
8 Schwei und Durst = auch: Angst und Hoffnung
9 Schicksalsfden = die drei german. und griech. Schicksalsgttinnen, die an den Wurzeln des Weltenbaumes
sitzen und Fden spinnen, weben, bemessen und durchtrennen; vgl. "Mutterarchetyp" (Carl Gustav JUNG)
10 Auflsung und bernahme von Identifikationen (Erik H. Erikson)
11 ganzheitliche Erotik (mit animalischen Aspekten), die sich bei weitem nicht auf die Sexualorgane beschrnkt
12 Wald, Mond, Raubtier = Artemis: griech. Gttin der Jagd, des Mondes, des Waldes und der Nachkommen
13 dichtes, langes, glattes Fell = ausgeprgte Urwchsigkeit / Spiritualitt
14 Empfindung / Einstellung mit strkster Ambivalenz (Verzckung & Angst) = Tabu (polynesisch: = "Ehrfurcht")
15 treffen = 'in Kontakt treten' Gegenteil: 'eine Bindung eingehen'
16 tiefes Tal = Rahmenbedingung fr tiefgreifende Selbsterfahrung
17 Weg zurck nach Haus = Lebenskonzept bzw. -sinn, Geborgenheit
18 Elfen (Lichtgestalten, Naturgeister) = Krfte, die positiv oder negativ wirken knnen oder in beide Richtungen,
also unter Umstnden irritieren oder sogar in guter Absicht die Lebenssituation "verschlimmbessern"
19 kratzen, beien = kaptatives Petting
20 als Spielzeug brauchen = fr Doktorspiele etc.
21 auf den Boden schmeien = flachlegen22 jede Mglichkeit zur Flucht versperren = an sich binden
23 immer wieder durch die ganze Gegend jagen = Verfolgungsspiele
24 tiefster Dank = masochistische "Identifikation mit dem Aggressor" (Anna FREUD), starke lustvolle Erregung
25 warmer Atem = vitale Prsenz als spirituelle Grundlage fr die Verwirklichung und bertragung von
Identifikationen (latein. 'spiritus' = griech. 'pneuma' = Atem, Geist)
26 mit den Zhnen die Haut berhren, ... = Wechselbad von Zrtlichkeit und Draufgngertum
27 Genick und Halsschlagader knacken = vollstndig willenlos machen
28 den Leib zerschrfen = "aufreien"
29 Eingeweide = Vorrte an Lebensenergie, Elan
30 an den Sehnen sabbern = das Leistungsvermgen ausbeuten
31 an den Knochen knabbern = Besitz ergreifen, an die Substanz gehen
32 grauenvoller, finsterer Felsengarten = "Geworfenheit" (Martin HEIDEGGER)
33 Morgenstern =Aphrodite: griech. Gttin der Liebe, Lust und Schnheit
Als Geliebte des Kriegsgottes Ares flte Aphrodite ihrer Rivalin Eos (Gttin der Morgendmmerung) aus
Rache ein unstillbares Verlangen nach jungen Mnnern ein, so dass Eos immerzu vor Scham errtete.
34 helfen den letzten Atem auszuhauchen = alle bisherigen Identifikationen bzw. Verstrickungen auflsen
35 in eine andre Welt hinein tauchen = bereit werden zur bernahme neuer Identifikationen
36 Linde = Freya (islnd.: = "Herrin"): german. Gttin der Liebe, des Frhlings, der Fruchtbarkeit und des Glcks
37 Holunder = Symbol fr Frau Holle bzw. Hel: germanische Gttin der "Anderswelt" (vgl. Holle Hlle)38 bezieht sich auf das Leben als Gefge von "Grenzsituationen" (Martin HEIDEGGER)
39 sich selbst berwinden = ber sich selbst "hinaussteigen" (Friedrich NIETZSCHE), Transzendenz, Erlsung
40 im Gewahrsam von jemands Zellen leben = "genetische Transzendenz" (durch Fortpflanzung)