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Gedenkstätte Plötzensee

Gedenkstätte Plötzensee · 2011. 11. 21. · hingerichtet. Unschuldige. Für jeden Kopf hatte er 80 Mark Prä-mie kassiert. Und Sonderrationen Zigaretten. Immer hatte er eine Zigarette

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  • GedenkstättePlötzensee

  • Brigitte Oleschinski

    GedenkstättePlötzensee

    Herausgegeben von derGedenkstätteDeutscher WiderstandBerlin

  • Luftaufnahme, vor 1945

  • Plötzensee:Ort der Opfer – Ort der Täter

    »An dieser Stelle sind in den Jahren der Hitlerdiktaturvon 1933 bis 1945 Hunderte von Menschenwegen ihres Kampfes gegen die Diktaturfür die Menschenrechte und politische Freiheit durchJustizmord ums Leben gekommen. Unter diesenbefanden sich Angehörige aller Gesellschaftsschichtenund fast aller Nationen.Berlin ehrt durch diese Gedenkstättedie Millionen Opfer des Dritten Reiches, diewegen ihrer politischen Überzeugung, ihresreligiösen Bekenntnisses oder ihrer rassischenAbstammung diffamiert, mißhandeltihrer Freiheit beraubt oder ermordet worden sind.«

    Gebäude der Richtstätte,1965

    Oben rechts:Gedenkmauer und Urnemit Erde aus ehemaligenKonzentrationslagern

    4 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • »Normalerweise kam der Henker zweimal in der Woche. Er hießRoettger. Er schlich mehr als er ging. Immer trug er eine dreivier-tellange Joppe. Was mochte in ihm vorgehen? Tausende hatte erhingerichtet. Unschuldige. Für jeden Kopf hatte er 80 Mark Prä-mie kassiert. Und Sonderrationen Zigaretten. Immer hatte er eineZigarette im Mund. Seine Helfer waren große und starke Männer.Sie mußten die auf dem Rücken gefesselten Opfer auf das Scha-fott befördern!

    Zwei Wachtmeister führten die Todeskandidaten von der Zellezum Hinrichtungsschuppen! Dafür gab es für jeden acht Zigaret-ten. [...] Im Todeshaus wirkte als Vorsteher ein Mann namens Ap-pelt. die Gefangenen nannten ihn den Fuchs. Er liebte es, plötz-lich aufzutauchen, die Fesseln zu kontrollieren. Er lag stets aufder Lauer.«

    Was bleibt sichtbar? – Nicht viel. Ein langer breiter Gang mündetauf einen Hof, in dessen Mitte eine graue Mauer aufragt, die alsMahnmal »Den Opfern der Hitlerdiktatur 1933–1945« gewidmetist. Dahinter verborgen liegt ein roter Ziegelschuppen, unterteiltin zwei Räume; im kahlen Inneren des einen zieht sich ein eiser-ner Träger mit fünf Haken von Wand zu Wand.

    Das ist alles, was von der einstigen Hinrichtungsstätte des Straf-gefängnisses Berlin-Plötzensee übriggeblieben ist. Erst wer sicherklären läßt, was hier geschah, wird das Grauen nachempfindenkönnen, das diesen Ort geprägt hat. In dem unscheinbarenSchuppen wurden zwischen 1933 und 1945 über zweitausend-achthundert Menschen ermordet. Sie starben durch die Guillotineoder durch den Strang. Viele von ihnen waren politische Gegnerder nationalsozialistischen Diktatur. Sie wurden vom Volksge-richtshof und von anderen Gerichten zum Tode verurteilt, weil siesich dem Regime widersetzt hatten. Manche gehörten zu kom-munistischen Widerstandsgruppen, andere zählten zu den op-positionellen Netzen der Harnack/Schulze-Boysen-Organisa-tion, des Kreisauer Kreises und der Verschwörung vom 20. Juli1944. Aber es gab auch andere Opfer, die von der deutschen Ju-stiz wegen kleinster Delikte hingerichtet wurden, und viele aus-ländische Gefangene aus den besetzten Ländern Europas, diehier sterben mußten.

    5 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

    Kein Gedenkenohne Fragen

  • Das Berliner Strafgefängnis am Plötzensee wurde in den Jahren1869 bis 1879 gebaut. Die unverputzten Backsteingebäude ge-hörten zu einem über fünfundzwanzig Hektar großen Areal undwaren von einer sechs Meter hohen Mauer umgeben. Außerhalbder Ummauerung lagen die Dienstwohnungen der Beamten. In-nerhalb gab es fünf dreigeschossige Zellenhäuser, die rund tau-sendvierhundert Gefangene aufnehmen konnten. Die Bauweiseentsprach dem sogenannten panoptischen System, bei dem diein der Mitte offenen Geschoßdecken und eine kreuzförmige An-lage der Zellenflügel für Übersichtlichkeit sorgen sollten. Zusam-men mit den Arbeitsbetrieben, der Anstaltskirche und den um-mauerten Innenhöfen bildeten die Zellenhäuser eine in sich ab-geschlossene Welt. Sie war immer schon von unerbittlicher Kon-trolle und Disziplin in der Tradition des preußischen Militärs be-stimmt. Was hinter den hohen Mauern von Plötzensee geschah,machten sich nur wenige Menschen »draußen« bewußt.

    Haupteingang derStrafanstalt Plötzensee,1950

    6 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • Unter dem nationalsozialistischen Regime entwickelte sich - ne-ben dem neugeschaffenenen System der Konzentrationslager,das nicht der Justiz unterstand - auch der herkömmliche Straf-vollzug zu einem politischen Instrument der Unterdrückung undAusgrenzung von sogenannten Volksfeinden. Ständige Überbe-legung, militärischer Drill und mangelhafte Ernährung prägtenden Alltag in den Zuchthäusern und Gefängnissen des DrittenReiches. Aber die Leiden der Gefangenen fanden in der gleich-geschalteten Öffentlichkeit keinen Widerhall. Dazu trug nicht nurdie gezielte Propaganda bei, durch die die Gefängnisinsassenvon den Nationalsozialisten pauschal als »Gemeinschafts-fremde« und »Berufsverbrecher« diffamiert wurden. Viele Men-schen hatten ohnehin tiefsitzende Vorurteile gegenüber Gefan-genen und glaubten unbesehen, daß sie eine harte Behandlungverdienten. Auch die nach der Reichsverfassung unabhängigenRichter konnten oder wollten politische Gegner nicht vor dem Zu-griff der staatlichen Verfolgung schützten. Drakonische Strafenund die bewußte Gleichsetzung von kriminellen und politischenDelikten wurden zur Regel. Immer häufiger und immer beden-kenloser verhängten die deutschen Gerichte die Todesstrafe. DieZahl der Todesurteile stieg von 1933 bis zum Kriegsende auf minde-stens 16.560, von denen bis April 1945 über zwölftausend voll-streckt waren. Ein Viertel der Hinrichtungen fand in Plötzensee statt.

    Geländeplan derStrafanstalt Plötzensee;»Lagerschuppen-rechts von »Gefängnis III«:Gebäude der Richtstätte,um 1935

    7 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • Urne mit Erde ausKonzentrationslagern zumGedächtnis an die Opfer,1956

    Zu den Ermordeten zählten Menschen aller sozialen Schichtenund politischen Richtungen, deren Absichten, Taten und Wün-sche nicht in das nationalsozialistische System paßten. Von vie-len kennen wir aus der Hinrichtungskartei kaum mehr als die Na-men. Der gleichförmige Tod durch Enthaupten oder Erhängenbildete den schrecklichen Schlußpunkt einer unerbittlichen, ge-fühllosen Prozedur. Sie war bis in die letzten Einzelheiten durchVerordnungen geregelt und wurde mit der steigenden Zahl derHinrichtungen immer weiter »rationalisiert«. So wurden nachBombenangriffen im September 1943 in einer einzigen Nachthundertsechsundachtzig Gefangene erhängt, um ihr Entkom-men aus dem halb zerstörten Gefängnis zu verhindern. (Doku-mente Seite 56 bis 63.) Und ein knappes Jahr später starben hier,neben zahlreichen anderen Opfern, die Beteiligten und Mitwis-ser des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944, deren qualvol-les Sterben Hitler eigens von Kameraleuten filmen ließ.

    Im und um den ehemaligen Hinrichtungsschuppen befindet sichheute die Gedenkstätte Plötzensee. Sie liegt mitten zwischenden modernisierten Vollzugsanstalten der Berliner Justizverwal-tung. Die im Krieg teilweise zerstörten Gefängnisbauten wurdenabgetragen - unter ihnen das Haus III, in dem die Todeskandida-ten die letzten Stunden vor der Hinrichtung verbrachten – oder in-standgesetzt, und später moderne Neubauten hinzugefügt.

    Erste Pläne, in Plötzensee eine Gedächtnisstätte und ein Mahn-mal einzurichten, entstanden im Sommer 1946 als der Hauptaus-schuß Opfer des Faschismus beim Magistrat der Stadt Berlinhierfür einen Wettbewerb auslobte. Die Entwürfe wurden zwar imFebruar 1947 im Weißen Saal des Berliner Schlosses ausgestellt,doch keiner von ihnen verwirklicht. Erst 1951 wurde der Hinrich-tungsschuppen und das ihn umgebende Gelände von der Straf-anstalt abgetrennt und als stiller Ort der Erinnerung in eine Ge-denkstätte umgewandelt. Ein schmiedeeisernes Eingangsportalam Hüttigpfad, das zwei hohe Steinpfeiler flankieren, eröffnet ei-nen langgestreckten Zugang zu dem um drei Stufen erhöhten Hofmit einer Gedenkmauer aus Steinquadern, die die Inschrift »DenOpfern der Hitlerdiktatur der Jahre 1933–1945« trägt. Hinter ihr liegtdas Gebäude der Richtstätte. Im Nordwesten des Hofes steht einegroße steinerne Urne mit der Inschrift »Den Opfern der Konzentra-tionslager in ehrendem Andenken gewidmet«. Das Gebäudeselbst, ein eingeschossiger Ziegelbau mit flachgeneigtem Sattel-dach, enthält zwei Räume. Im nördlichen fanden die Hinrichtungenstatt; er ist heute Gedenkraum. Im Raum daneben wird die Praxisder nationalsozialistischen Justiz dokumentiert. Am 14. September1952 wurde die Anlage eingeweiht.

    Es ist unumgänglich, am historischen Ort des zentralen Hinrich-tungsgefängnisses Plötzensee an alle von der nationalsozialisti-schen Justiz Ermordeten zu erinnern. Dabei dürfen freilich dietiefgreifenden Unterschiede zwischen den Absichten und Tatender Opfer nicht verschleiert werden. Weder ihre vielfältigen, oftkaum miteinander zu vereinbarenden politischen Ziele noch dienach Zeitpunkt und Richtung unterschiedliche Verfolgung durch

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  • das nationalsozialistische Regime erlauben einfache Gleichset-zungen. Damals wie heute rufen die Schicksale der einzelnen inden oppositionellen Kreisen und geheimen Netzen des Wider-stands beklemmende Fragen nach der Reichweite von politi-schem Engagement und persönlicher Verantwortung wach. Inzahllosen Facetten spiegeln sich darin die gewundenen Wegeder deutschen Gesellschaft in und durch die nationalsozialisti-sche Diktatur, unter der Anpassung und Widerstand, Zustim-mung und Verweigerung, Fahrlässigkeit und Ohnmacht oft dichtbeieinanderlagen.

    Rund fünfzig Jahre nach Kriegsende wird mit Mahnmalen undGedenkstätten an zahlreichen Orten in Deutschland der Opferdes Nationalsozialismus gedacht. Doch je größer der historischeAbstand wird, desto schemenhafter erscheint den meisten dieKatastrophe des Dritten Reiches. Immer mehr Menschen be-zweifeln die Notwendigkeit, sich noch nach Jahrzehnten an diemillionenfachen deutschen Verbrechen in ganz Europa zu erin-nern. Sie wollen nicht länger mit einer Vergangenheit identifiziertwerden, die durch die Nachkriegsentwicklung in den beidendeutschen Teilstaaten überholt und abgegolten scheint.

    Gebäude der Richtstätte,im Hintergrunddas zerstörte Haus III,um 1950

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  • Doch die Schrecken des nationalsozialistischen Terrors wirkeninner- und außerhalb der Bundesrepublik bis heute nach. Nochimmer ist die Gegenwart der europäischen Nachbarn von denNarben des Zweiten Weltkrieges gezeichnet. Noch immer kön-nen wir in der eigenen Familie, der eigenen Stadt, dem eigenenLand die Verstrickungen in Schuld und Versagen spüren. Über-all in Deutschland finden sich gestern wie heute - neben der obli-gatorischen Ablehnung der nationalsozialistischen Verbrechen -die Spuren heimlichen Einverständnisses und gedankenloserTraditionspflege. Hierzu gehört auch der gespenstische Rückfallin einen militanten Fremdenhaß und Antisemitismus.

    Ohne Zweifel verurteilt die Mehrzahl der Deutschen heute diestaatliche Verfolgung politischer Gegner und ethnischer Minder-heiten, wie sie seinerzeit das nationalsozialistische Regime prak-tiziert hat. Doch allzu selten ist damit die Einsicht verbunden, daßdas nationalsozialistische System inmitten der deutschen Ge-sellschaft der Weimarer Republik entstehen konnte. Es fiel nichtvom Himmel, sondern entwickelte sich schrittweise aus politi-schen Fehlentscheidungen und nationalen Illusionen in einerZeit drückender sozialer Schwierigkeiten. Die Täter und die Nutz-nießer, die Mitläufer und die Zuschauer kamen aus denselbenStraßen und Städten, aus denen auch ihre ersten Opfer stamm-ten. Von Anfang an bedienten sich die Nationalsozialisten nichtnur der rohen Gewalt gegen Andersdenkende, sondern nutztenzugleich die juristischen und bürokratischen Mittel eines autori-tären, politisch einäugigen Rechts- und Verwaltungsstaates. Un-ter diesem Aspekt ist die Gedenkstätte Plötzensee nicht nur einOrt der Erinnerung an die Opfer. In den Schicksalen der hier Er-mordeten werden auch die Verfahrensweisen der Täter in denAmtsstuben und Gerichtssälen sichtbar. Es waren Richter undStaatsanwälte, Ministerial- und Justizbeamte, Henker und ihreGehilfen, die Recht und Gesetz aus jeder Bindung an Menschen-würde, Freiheit und Demokratie herauslösten und in den Dienstder nationalsozialistischen Machthaber stellten. Auch davonmuß die Rede sein, wenn wir der Opfer gedenken.

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  • Als Adolf Hitler im Januar 1933 zum Reichskanzler einer Koali-tionsregierung ernannt wurde, bestand das demokratische Sy-stem der Weimarer Republik noch. Zwar waren die parlamentari-schen Regeln durch Notverordnungen und geheime Absprachender nationalkonservativen Parteien weitgehend außer Kraft ge-setzt worden. Doch die NSDAP verfügte über keine parlamentari-sche Mehrheit und hatte kaum Einfluß in den staatlichen Verwal-tungen. Erst eine verhängnisvolle Wechselwirkung zwischendem geduldeten Terror der »braunen Bataillone« und der freiwil-ligen »Gleichschaltung« in vielen Institutionen brachte die Natio-nalsozialisten endgültig an die Macht. Daran waren neben Politi-kern und Militärs auch Juristen und Verwaltungsfachleute maß-geblich beteiligt. Sie erst schufen, duldeten und handhabten je-nes »nationalsozialistische Recht«, das Deutschland in eine töd-liche Falle für alle diejenigen verwandelte, die eine falsche Ge-sinnung aufwiesen oder einer unerwünschten Rasse ange-hörten.

    Von Anfang an hatte dieses »nationalsozialistische Recht« mittraditioneller Rechtsstaatlichkeit nichts gemein. Die neuen Ge-setze beriefen sich nicht mehr auf die Reichsverfassung und be-saßen keine parlamentarische Legitimation, sondern fußten aufRechtsquellen wie dem »Willen des Führers« oder der »national-sozialistischen Weltanschauung«. Die sogenannten deutschenRechtswahrer setzten ihre Erlasse und Verordnungen als Waffegegen Andersdenkende, »Fremdvölkische« und politische Geg-ner ein. Sie forderten eine vollständige Abkehr vom »liberalisti-schen« Weimarer Verfassungsstaat: »Die ganze Vorstellungs-welt der Grundrechte, der Entgegensetzung von Individuum undStaat, der Idee eines ursprünglichen und unverletzlichen Frei-heitsbereiches der Einzelperson [...] widerspricht der national-sozialistischen Auffassung grundsätzlich.« Folgerichtig solltedas nationalsozialistische Recht einzig dazu dienen, die »kon-krete völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlingeauszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden undStreit unter Gemeinschaftsmitgliedern zu schlichten«.

    Die Umgestaltung der bereits schwer angeschlagenen WeimarerDemokratie in eine Diktatur vollzog sich 1933 in den Bahnen ei-ner »legalen Revolution«. Gesetzlichkeit und Terror griffen aufunheilvolle Weise ineinander. Obwohl damit Geist und Buchsta-ben der Reichsverfassung verletzt wurden, stimmten die imReichstag noch vertretenen Parteien - mit Ausnahme der SPD -am 24. März 1933 dem »Gesetz zur Behebung der Not von Volkund Reich« zu. Die Mandate der KPD waren bereits für ungültigerklärt und zahlreiche kommunistische Abgeordnete in Haft ge-nommen worden. Dieses »Ermächtigungsgesetz« übertrug derRegierung das Recht der Gesetzgebung ohne parlamentarischeBestätigung. Damit war eine »Brücke vom alten zum neuenStaat« geschaffen, die der Rechtsphilosoph Carl Schmitt 1934offen begrüßte: »Es war von großer praktischer Bedeutung, daßdieser Übergang legal erfolgte. Denn [...] die Legalität [ist] einFunktionsmodus des staatlichen Beamten- und Behördenappa-rates und insofern von politischer und juristischer Bedeutung.«

    Die Strafjustiz imNationalsozialismus

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  • Das »Ermächtigungsgesetz« setzte die republikanische Grund-rechtsordung, die schon durch die »Verordnung des Reichsprä-sidenten zum Schutz von Volk und Staat« vom 28. Februar 1933suspendiert war, außer Kraft. Die Freiheit der Person, das Rechtauf Meinungsäußerung und andere Grundrechte galten nichtmehr. Eine beispiellose Verhaftungs- und Verfolgungswelle ge-gen Kommunisten, Sozialisten, Juden, Sozialdemokraten, Ge-werkschafter und andere mißliebige Personen, unter denen sichauch gewählte Politiker und Abgeordnete befanden, begann. Anvielen Orten wurden SA-Schlägertrupps offiziell zu Hilfspolizistengemacht. Sie verschleppten, mißhandelten und ermordeten ihreOpfer, ohne bei Polizei und Justiz auf nennenswerten Widerstandzu stoßen. Die Justiz reagierte nur, wenn ihre eigenen Belangeberührt wurden. So empörten sich 1933 zwar einige Gerichtsprä-sidenten, als die SA in Gerichtsgebäuden jüdische Richter undAnwälte überfiel. Doch als das »Gesetz zur Wiederherstellungdes Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 die Entlassung derjüdischen Beamten vorschrieb, rührte sich dagegen kein Protestmehr.

    Wie ein Großteil der deutschen Bevölkerung fühlten sich auch dieJustiz- und Verwaltungsbeamten mitgerissen von der »natio-nalen Erhebung«. Eine weit verbreitete staatsgläubige Haltungbeeinträchtigte vielfach die Fähigkeit der Menschen zu Kritik.Zwar wich das nationalsozialistische Rechtsdenken von der her-gebrachten Berufsauffassung ab. Doch die meisten Beamtenfügten sich ohne Bedauern der neuen Rechtsordnung. Die we-nigsten von ihnen waren darin geübt, Zivilcourage zu zeigen. Jedeutlicher sich abzeichnete, daß in Zukunft der berufliche Auf-stieg von der »bedingungslosen Gefolgschaft« für den »Führer«abhängen sollte, desto häufiger wählten sie den Weg der Anpas-sung, ja den des »vorauseilenden Gehorsams«. Bestärkt wurdensie darin durch das »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Parteiund Staat« vom 1. Dezember 1933, das die traditionelle Staats-treue der Beamtenschaft ganz in den Dienst der NSDAP stellte:»Nach dem Sieg der nationalsozialistischen Revolution«, heißtes im Paragraph 1, »ist die Nationalsozialistische Deutsche Ar-beiterpartei die Trägerin des deutschen Staatsgedankens undmit dem Staat unlöslich verbunden.«

    Eine besondere Rolle bei der Durchsetzung und Festigung dernationalsozialistischen Diktatur spielte die Strafjustiz. Dabeiüberschnitten sich langfristige Entwicklungslinien in Strafrechtund Strafvollzug mit den neuen Instrumenten des nationalsoziali-stischen Polizeirechts. Bezeichnend waren dafür die Schutzhaft-verordnungen der Innenministerien der Länder. Danach konntenbeliebige Menschen von der Geheimen Staatspolizei ohne ge-richtliche Anordnung und Kontrolle auf unbestimmte Zeit in Kon-zentrationslagern und Haftanstalten gefangengehalten werden.Für diese Opfer versagten die rechtsstaatlichen Bindungen derJustiz von Anfang an. Weder Gerichte noch Justizverwaltungenvermochten die politische Polizei oder SA und SS in die Schran-ken zu verweisen. Statt dessen bemühten sich die leitenden Be-amten des Reichsjustizministeriums sogar, politische Gegner

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  • und Andersdenkende durch ein neues Gesinnungsstrafrecht zuFall zu bringen, um damit ihren Einfluß auf die Bekämpfung von»Volksfeinden« zu erhöhen. So zählte bei der Strafzumessunghäufig nicht mehr das tatsächliche Ergebnis einer Tat, das heißtder eingetretene Schaden, sondern der »verbrecherischeWille«, der sich im Versuch oder der bloßen Absicht der Tat aus-drücken konnte. Ebenso wurden politische Motive für ein- unddenselben Straftatbestand als strafverschärfend gewertet.

    In Konkurrenz zur Gestapo und den Konzentrationslagern wur-den seit April 1933 in allen Oberlandesgerichtsbezirken Sonder-gerichte geschaffen. Ein Jahr später kam der Volksgerichtshofhinzu, der wie die Sondergerichte politische Delikte verfolgte.Hier wurde erstmals die später auch an anderen Gerichten ge-übte Einschränkung prozessualer Rechte der Angeklagten undihrer Verteidiger institutionalisiert. Vor den Sondergerichten ent-fielen die gerichtliche Voruntersuchung und die Pflicht, demAngeklagten die Anklageschrift zuzustellen. Die Richter wurdenermächtigt, entlastende Beweisangebote für den Angeklagtenzurückzuweisen. Seit 1935 konnten die zugunsten des Ange-klagten eingelegten Rechtsmittel auch dazu führen, daß der An-geklagte zu einer härteren Strafe als vorher verurteilt wurde. Ab1939 gab es darüber hinaus die Möglichkeit, zu »milde« Urteiledurch den »außerordentlichen Einspruch« der politischen Exe-kutive zu kassieren und eine Nachverhandlung zur Verhängungeines höheren Strafmaßes anzuordnen.

    Doch es ging nicht nur um die von ideologischer Willkür be-stimmte Ahndung politischer Gesinnungen. Auch für andereGefangene änderten sich seit 1933 die Verhältnisse in denZuchthäusern und Gefängnissen, die den Justizverwaltungenunterstanden. Während in der Weimarer Republik eine lebhafteDiskussion um die Reform des Strafvollzugs stattfand, in dervor allem nach Wegen zur Resozialisierung und Besserung vonStrafgefangenen gefragt wurde, setzten die Nationalsozialistenganz auf die publikumswirksame Härte von Abschreckung,Sühne und Vergeltung. Doch der Meinung, im Dritten Reich seidurch rigorose Strafen die Kriminalität deutlich gesunken, wider-sprechen die Statistiken. Sie zeigen, daß die Abnahme nur fürwenige Delikte galt. Viel bedeutsamer war offenbar, daß dieBerichterstattung über Verbrechen eingeschränkt und nach poli-tischen Kriterien gelenkt wurde. So prägen geschönte Bilder dieErinnerung der Zeitgenossen.

    Der Alltag in den Haftanstalten des Dritten Reiches war von dra-konischer Strenge bestimmt. Für die Gefangenen begann mit Hit-lers Machtantritt eine qualvolle Zeit. Zwar gab es in den Gefäng-nissen und Zuchthäusern keine ständigen Mißhandlungen undErmordungen wie in den Konzentrationslagern, doch schufenverschärfte Arrestregeln, ungenießbares Essen, militärischerDrill in den Freistunden, mangelnde Hygiene und vielfältige Schi-kanen in den überbelegten Anstalten unerträgliche Verhältnisse.Im Strafvollzug blieb ein Teil der früheren Vollzugsvorschriften inKraft. Auch die Beamten wurden zum großen Teil aus der Weima-

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  • Gang mit den Gefängniszellenin Plötzensee

    rer Republik übernommen. Viele von ihnen ließen jedoch die poli-tischen Gefangenen besondere Härte spüren. Nur ein geringerTeil der Gefangenen galt den Nationalsozialisten als »besse-rungsfähig« und sollte nach Verbüßung seiner Strafe in die»Volksgemeinschaft« zurückkehren dürfen. Die meisten Gefan-genen, unter ihnen vor allem die politischen Verurteilten und»Gewohnheitsverbrecher«, auch »Asoziale«, hatten nach derEntlassung aus der Haft weitere Repressalien zu fürchten. Ihreüberwiegende Zahl wurde anschließend in Konzentrationslagerverschleppt und später auch als »Sicherungsverwahrte« bei denMordaktionen an Kranken in Heil- und Pflegeanstalten getötet.

    Die tatsächlichen Verhältnisse in den Strafanstalten verschärftensich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs noch einmal deutlich.Zwölfstündige Arbeitszeiten, zusätzliches militärisches Exerzie-ren und eine noch mangelhaftere Ernährung gehörten bald zumÜblichen. Die systematische Eskalation des Tötens an den Fron-ten stumpfte auch das Gefängnispersonal im Inland ab. Unterdem Druck der Kriegswirtschaft entwickelte sich in den Haftan-stalten eine immer schärfere Selektion der Gefangenen. Nur einTeil erhielt überhaupt noch eine Chance zum Überleben. Vieleandere wurden bewußt der Vernichtung durch Hunger, Krankheitund Überanstrengung preisgegeben. Gleichzeitig mit der Ein-richtung von Vernichtungslagern in den besetzten Ländern desOstens und den Massenmorden an vielen Orten Europas weitetesich auch im Inneren Deutschlands der nationalsozialistischeTerror aus. In den staatlichen Verwaltungen ging das Verständ-nis dafür verloren, daß die permanent erweiterten »Maßnahmen«im In- und Ausland Hunderttausende von Menschen das Lebenkosteten. Die Opfer galten in den Augen der Beamten nichts.Sie waren »Juden«, »Marxisten«, »Ausländer«, »Parasiten«,»Staatsfeinde«, »Volksschädlinge«. Immer bedenkenlosere Vor-schriften beschleunigten ihre physische Ausgrenzung und Ver-nichtung. Daran beteiligte sich der gesamte Justizapparat. Alleinin den Kriegsjahren wurden in Deutschland von den zivilen Straf-gerichten mindestens fünfzehntausendachthundertundsechzigTodesurteile gefällt. Doch diese Verbrechen verübten nicht SSund Gestapo. Es waren Juristen und Justizbeamte, deren Han-deln nach dem Krieg in der Bundesrepublik ungebrochen alsrechtmäßig galt. Nahezu unbekannt blieben auch die über drei-ßigtausend Todesurteile, die von den Wehrmachtgerichten ge-gen Militärangehörige verhängt wurden. Hinzu kamen die zahllo-sen Morde von SS und Gestapo in den Konzentrationslagern undpolizeilichen Gewahrsamen, die bis heute nicht beziffert werdenkönnen.

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  • »Man muß also sehen - das muß durch Belehrung geschehenund durch einen Eingriff der obersten Justizbehörden -, daß mandie Nation in Kenntnis setzt davon, daß der Staat entschlossenist, mit den barbarischsten Mitteln jeden Versuch der Störungauszulöschen, wobei man immer die zwangsläufige Gering-schätzung des menschlichen Lebens an der Front und die Über-schätzung des Lebens der schlechten Elemente als eine gege-benheit vor Augen haben muß, die eine Gesamtgefahr bedeutet:Der Richter ist der Träger der völkischen Selbsterhaltung. [...]Wenn ich auf der anderen Seite nicht rücksichtslos das Ge-schmeiß ausrotte, dann tritt eines Tages eine Krise ein. [...] Esgibt gewisse Gesinnungsverbrechen, damit scheidet ein Menschaus der Volksgemeinschaft aus. [...] Ausrotten muß man den Ge-danken, der Richter sei dazu da, ein Recht zu sprechen, selbstauf die Gefahr hin, daß darüber die Welt zugrunde geht.«

    Plötzensee ist der Ort, an dem diese Drohungen Hitlers verwirk-licht wurden, die er in einem Tischgespräch am 20. August 1942gegenüber seinem Reichsjustizminister ausstieß.

    Zu einer der schlimmsten Waffen der Justiz unter dem National-sozialismus entwickelte sich die Todesstrafe. Zwar gab es dieTodesstrafe in Deutschland schon, bevor die Nationalsozialisten1933 die Macht übernahmen, doch wurde sie seit Mitte des 19.Jahrhunderts restriktiv gehandhabt und in der Regel nur wegenMordtaten verhängt. In den vierzehn Jahren der Weimarer Repu-blik wurden im Deutschen Reich tausendeinhunderteinundvier-zig Todesurteile ausgesprochen, von denen hundertvierund-achtzig tatsächlich vollstreckt wurden. Damals bezweifeltenbedeutende Fachleute allerdings die ethische Zulässigkeit undden kriminalpolitischen Nutzen der Todesstrafe. Sie forderten,sie abzuschaffen. Publikumswirksam verlangten hingegen Natio-nalsozialisten wie Alfred Rosenberg oder Roland Freisler das un-eingeschränkte Recht des Staates, mit »Strick und Galgen« einepolitische »Säuberung« vorzunehmen und so in der Gesellschafteine »Aussonderung fremder Typen und artfremden Wesens«durchzusetzen. Dafür fand die NSDAP breite Zustimmung beiden Wählern. Als Hitler im Januar 1933 an die Macht kam, wurdedie Todesstrafe ein bevorzugtes Mittel, um staatliche Härte zudemonstrieren und mit politischen Gegnern abzurechnen.

    In der »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volkund Staat« vom 28. Februar 1933, die der nationalsozialistischenRegierung erstmals freie Hand für die diktatorische Umgestal-tung des öffentlichen Lebens verschaffte, wurden unverzüglichneue Straftatbestände mit dem Tode bedroht, so vor allem Hoch-verrat, Brandstiftung und Sabotage. Einen Monat später folgteein Gesetz, das neben der Hinrichtung durch das Handbeil dieVollstreckung von Todesurteilen durch Erhängen gestattete. Eserlaubte außerdem die rückwirkende Anwendung dieser Bestim-mung und verletzte damit einen der zentralen Grundsätze einesjeden Rechtsstaates. Zur selben Zeit begann die Einrichtung vonSondergerichten, die zunächst für die Ahndung politischerDelikte nach dem »Heimtückegesetz« vom 20. Dezember 1934

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    Hinrichtungen inPlötzensee

  • Kirche der Strafanstalt undGebäude der Richtstätte (links),im Vordergrund das zerstörteHaus III, das »Totenhaus«,nach 1945

    zuständig waren. Damit wurden Angriffe gegen die NSDAP vompolitischen Witz bis zum Mißbrauch der Uniform unter schwereStrafen gestellt. Die Sondergerichte und der im Mai 1934 einge-richtete Volksgerichtshof konnten Todesurteile aussprechen.Aber auch für andere Straftaten wurde in neuen Verordnungenund Gesetzen zunehmend die Todesstrafe angedroht oder zwin-gend vorgeschrieben.

    Von den ersten Maßnahmen der NSDAP zur Vereinnahmung derJustizverwaltungen und der Gerichte bis zu den staatlichen Mas-senhinrichtungen der Jahre 1943 und 1944 führte allerdings einlanger Weg. Bei demVersuch, mit der Zahl der Todesurteile auchdie Zahl der Vollstreckungen zu erhöhen, gab es zunächst prakti-sche Schwierigkeiten. Im ganzen Reich fehlte es an festen Hin-richtungsstätten. Viele Monate brachten deshalb die Beamtender Justizverwaltungen damit zu, die Vollstreckungsverfahren inanderen Staaten zu studieren und sich ein Bild von alten undneuen Hinrichtungsmethoden zu machen. So dauerte es bis zueiner einheitlichen Regelung des Vollstreckungsvorgangs, ander dem Reichsjustizministerium besonders lag, zweieinhalbJahre. Im Oktober 1935 bestimmte schließlich eine Rundverfü-gung des Reichsministers der Justiz Franz Gürtner den Vollzugder Todesstrafe für das gesamte Reichsgebiet nach ein- unddemselben Muster. Allerdings zählte das Berliner StrafgefängnisPlötzensee schon vorher zu den Hinrichtungsstätten des DrittenReiches. Erstmals 1933 vollstreckte hier in einem Hof der Scharf-richter mit dem Handbeil die Todesurteile an vier Raubmördern.Insgesamt wurden 1933 in Deutschland vierundsechzig Todes-urteile vollstreckt (davon vier in Plötzensee), 1934 waren esneunundsiebzig (davon zwölf in Plötzensee) und 1935 bereitsvierundneunzig (davon zwanzig in Plötzensee).

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  • In der Regel fanden Vollstreckungen in Plötzensee wie in ande-ren Hinrichtungsstätten am frühen Morgen statt. Die bevorste-hende Hinrichtung mußte den Verurteilten am Abend vorher voneinem Staatsanwalt im Beisein von weiteren Beamten mitgeteiltund darüber ein Protokoll angefertigt werden. Danach wurdendie Todeskandidaten in einem besonderen Flügel des Hauses III,dem »Totenhaus«, streng bewacht, später auch gefesselt, underhielten nur noch den Besuch ihres Anwalts und des Anstalts-geistlichen. Bei Tagesanbruch führten Gefängnisbeamte die Ge-fangenen einzeln, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, inden Hinrichtungsschuppen unmittelbar neben dem Haus I I I . Dortwurde vor den Anwesenden das Urteil verlesen und dem Geistli-chen Gelegenheit für ein kurzes Gebet gegeben. Danach ergrif-fen die Gehilfen des Scharfrichters das Opfer, und der Henker tatseine Arbeit. Die eigentliche Enthauptung dauerte nur wenigeSekunden. Anschließend wurde wieder ein Protokoll aufgesetztund der Leichnam dem Anatomisch-Biologischen Institut derBerliner Friedrich-Wilhelms-Universität übergeben.

    Dieses Verfahren wurde in den folgenden Jahren erheblich ver-kürzt und vereinfacht. So wurde die Anwesenheit der Anstalts-geistlichen in Plötzensee, denen wir wichtige Zeugenaussagenverdanken, am 15. Oktober 1942 durch eine Rundverfügung desReichsministers der Justiz verboten. Je mehr Hinrichtungenstattfanden, desto rascher und effizienter sollten sie gehandhabtwerden. (Dokument Seite 46/47.)

    Am 28. Dezember 1936 verfügte Reichsjustizminister Gürtner,daß die Todesurteile künftig mit dem Fallbeil zu vollstreckenseien. Nicht einmal die zuständige Abteilung im Reichsjustizmi-nisterium war davon unterrichtet worden und erfuhr erst nach-träglich davon. Die neue Bestimmung ging offenbar auf einenpersönlichen Befehl Hitlers zurück. Unter den erstmals festge-legten elf Hinrichtungsgefängnissen des Reiches war Plötzen-see offiziell für die Vollstreckungen im KammergerichtsbezirkBerlin, im Oberlandesgerichtsbezirk Stettin und in verschie-denen angrenzenden Landgerichtsbezirken zuständig. (Doku-ment Seite 43.) Gleichzeitig wurde eine Scharfrichter-Ordnungerlassen, die in allen Einzelheiten die Pflichten und Ansprücheder zunächst drei hauptamtlichen Henker in Deutschland re-gelte. Danach erhielten die Scharfrichter ein Jahresgehalt vondreitausend Reichsmark und für jede Hinrichtung eine Sonder-vergütung von sechzig bis fünfundsechzig Reichsmark, die auchden Gehilfen zugestanden wurde.

    Am 17. Februar 1937 traf das aus dem ehemaligen Hinrichtungs-gefängnis Bruchsal stammende Fallbeil in Berlin-Plötzensee einund wurde im Hinrichtungsschuppen aufgestellt. Seitdem nah-men hier und anderswo die Hinrichtungen rasch zu. Bis zum März1940 waren es in Plötzensee bereits zweihundertsiebenundsieb-zig Vollstreckungen seit 1933. Doch drei Jahre später rechneteder Berliner Scharfrichter solche »Leistungen« längst nicht mehrjährlich sondern in Monatsfrist ab: hundertvierzehn Hinrichtun-gen im März, hundertvierundzwanzig im Mai 1943. Ende 1942

    Das Fallbeilgerät nachder Befreiung des Gefängnissesdurch sowjetische Truppen,Mai 1945

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  • Der zerstörteGebäudeflügel des Hauses III,

    des »Totenhauses«,um 1950

    wurde darüber hinaus im Hinrichtungsschuppen die Möglichkeitgeschaffen, bis zu acht Menschen gleichzeitig zu erhängen. Dieersten Opfer, die auf diese Weise ermordet wurden, waren Ange-hörige des Widerstandskreises Harnack/Schulze-Boysen.

    Als in der Nacht vom 3. auf den 4. September 1943 bei einemBombenangriff das Fallbeil in Plötzensee beschädigt wurde, be-fanden sich im gleichzeitig stark zerstörten Haus III über dreihun-dert Menschen, die auf ihre Hinrichtung warteten. Während desAngriffs konnten drei von ihnen fliehen, die jedoch kurz daraufgefaßt wurden. Das wirkte wie die Bestätigung einer erst am 27.August 1943 ergangenen Rundverfügung des neuen Reichsmi-nisters der Justiz Otto Thierack, in der wegen der Gefahr durchdie Luftangriffe eine beschleunigte Vollstreckung von Todesur-teilen angeordnet worden war. Am 7. September 1943 beschloßdaher das Reichsjustizministerium auf Hitlers persönlichenWunsch, den Gnadenweg in der von Thierack vorgeschlagenenWeise zu verkürzen und alle in Plötzensee inhaftierten Todeskan-didaten hintereinander hinrichten zu lassen. Um bei der Über-mittlung von Vollstreckungsanordnungen Zeit zu sparen, wurdendie Namen aus dem Reichsjustizministerium telefonisch durch-gesagt und vom zuständigen Staatsanwalt in Plötzensee mit vor-bereiteten Listen verglichen. Dabei kam es zu folgenreichen Miß-verständnissen, so daß in der ersten Nacht unter den hundert-

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  • sechsundachtzig Ermordeten auch vier Menschen hingerichtetwurden, deren Begnadigungsverfahren noch nicht abgeschlos-sen war. Die an diesem Irrtum beteiligten Beamten durften je-doch bei der nachfolgenden disziplinarischen Untersuchung aufdas Wohlwollen ihrer Vorgesetzten rechnen. Ihnen geschahnichts, und zwar »mit Rücksicht darauf, daß die Todesurteile ge-gen die vier Verurteilten ohnehin binnen kurzem zu vollstreckengewesen wären«. (Dokumente Seite 60 bis 63.)

    Weil das Fallbeil erst einige Wochen später repariert werdenkonnte, wurden die Gefangenen erhängt. Über die Hinrichtun-gen in der Nacht vom 7. auf den 8. September haben Augenzeu-gen später berichtet. Zu ihnen gehörten auch die beiden Ge-fängnisseelsorger, der evangelische Geistliche Harald Poelchauund sein katholischer Amtskollege Peter Buchholz. Von HaraldPoelchau stammt eine eindringliche Beschreibung dieser furcht-baren Nächte, in denen über zweihundertfünfzig Menschen er-mordet wurden:

    »Mit Einbruch der Dunkelheit am 7. September begann der Mas-senmord. Die Nacht war kalt. Ab und zu wurde die Dunkelheitdurch Bombeneinschläge erhellt. Die Strahlen der Scheinwerfertanzten über den Himmel. Die Männer waren in mehreren Glie-dern hintereinander angetreten. Sie standen da, zunächst unge-wiß, was mit ihnen geschehen sollte. Dann begriffen sie. Immer jeacht Mann wurden namentlich aufgerufen und abgeführt. Die Zu-rückbleibenden verharrten fast bewegungslos. Nur hin und wie-der ein Flüstern mit mir und meinem katholischen Amtsbruder.[...] Einmal unterbrachen die Henker ihre Arbeit, weil Bomben inder Nähe krachend niedersausten. Die schon angetretenen fünfmal acht Mann mußten für eine Weile wieder in ihre Zellen einge-schlossen werden. Dann ging das Morden weiter. Alle dieseMänner wurden gehängt. [...] Die Hinrichtungen mußten bei Ker-zenlicht durchgeführt werden, da das elektrische Licht ausge-setzt hatte. Erst in der Morgenfrühe, um acht Uhr, stellten die er-schöpften Henker ihre Tätigkeit ein, um sie am Abend mit fri-schen Kräften wieder aufnehmen zu können.«

    In den folgenden Monaten wurden die meisten Hinrichtungenaus Plötzensee in das Zuchthaus Brandenburg-Görden verlegt.(Dokument Seite 58.) Erst als der Volksgerichtshof im August1944 mit der Verurteilung der Beteiligten des gescheiterten At-tentats vom 20. Juli 1944 begann, stieg die Zahl der Vollstrek-kungen in Plötzensee wieder deutlich an. Die Hinrichtungen wur-den bis in die letzten Kriegstage fortgesetzt. Noch am 18. April1945, wohl dem letzten Tag, an dem Hinrichtingen stattfanden,wurden achtundzwanzig Menschen hingerichtet. Wenige Tagespäter, am 25. April, besetzten sowjetische Truppen das Gefäng-nis und befreiten die Häftlinge.

    Harald Poelchau

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    Peter Buchholz

  • Menschen im Widerstandgegen denNationalsozialismus

    Zellengänge im Haus III,vor 1940

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  • Die über zweitausendachthundert Menschen, die zwischen 1933und 1945 in Plötzensee ermordet wurden, kamen aus den unter-schiedlichsten sozialen Schichten, politischen Gruppen undweltanschaulichen Richtungen. Nicht alle waren Gegner der na-tionalsozialistischen Diktatur, obwohl die Richter sie als angeb-liche Staatsfeinde zum Tode verurteilten. Wichtiger als die politi-schen Ansichten waren oft menschliche Bindungen oder daspersönliche Schicksal, das ihren Widerstand gegen den Natio-nalsozialismus bestimmte. Vielen gab aber darüber hinaus ihrepolitische oder religiöse Überzeugung den entscheidendenRückhalt. (Dokument Seite 65.)

    Zu den ersten Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft ge-hörten Kommunisten und Sozialdemokraten. Zehntau-sende Kommunisten wurden nach dem Reichstagsbrand vom27. auf den 28. Februar 1933 von SA und Polizei verhaftet und indie provisorisch für diesen Zweck eingerichteten Konzentra-tionslager verschleppt, wo sie grausam mißhandelt wurden.Schon in der Weimarer Republik hatten die Nationalsozialistenden schrankenlosen Haß auf Andersdenkende propagiert. Diegezielte Gewalt gegen schwächere und wehrlose Gegner ge-hörte zum politischen Alltag der »Bewegung«. Seit dem 30. Ja-nuar 1933 gab es für Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokra-ten, Juden und andere, die die NSDAP willkürlich zu ihren Fein-den erklärte, keinen rechtlichen Schutz mehr.

    Auch die Justiz beteiligte sich gleich nach der Machtergreifungan der Verfolgung von politischen Gegnern der Nationalsoziali-sten. Mit drakonischen Urteilen gegen die Mitglieder der kommu-nistischen und sozialdemokratischen Organisationen setzten dieRichter auf verschärfte Weise eine lange Tradition der politi-schen Einseitigkeit fort. Die ersten politischen Hinrichtungen inPlötzensee betrafen Kommunisten. Am 14. Juni 1934 wurde Ri-chard Hüttig in einem Hof des Gefängnisses unter freiem Himmelmit dem Handbeil enthauptet. Zu diesem Zeitpunkt war Hüttigsechsundzwanzig Jahre alt. Er gehörte dem kommunistischenRotfrontkämpferbund an und wurde vor dem Sondergericht Ber-lin angeklagt, weil er im Februar 1933 bei einer »Strafexpedition«von SA und SS in seinem Wohnbezirk einen SS-Führer erschos-sen haben sollte. Das Sondergericht gestand in der Urteilsbe-gründung ein, daß dem unbewaffneten Hüttig die Tat nicht nach-zuweisen war. Dennoch wurde Richard Hüttig am 16. Februar1934 »wegen schweren Landfriedensbruchs« und »versuchtenMordes« zum Tode verurteilt.

    Viele Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten wähltennach 1933 den Weg in die Illegalität. Trotz der ständigen Verfol-gung wurden regionale Parteiverbindungen oder Gesinnungsge-meinschaften aufrecht erhalten, heimlich Flugblätter verteilt undBroschüren aus dem Ausland nach Deutschland geschmuggelt.In großangelegten Verhaftungswellen versuchte deshalb die Ge-stapo mit Hilfe der Polizei und der SA, illegale Parteigruppen auf-zuspüren. Soweit die Verhafteten nicht in Konzentrationslagereingeliefert wurden, wurden sie der Justiz zur Aburteilung über-

    Kommunisten, Sozialistenund Sozialdemokraten

    Richard Hüttig

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  • geben und oft zu unverhältnismäßig hohen Gefängnis- oderZuchthausstrafen verurteilt. Zur Abschreckung erhielten wich-tige Funktionäre die Todesstrafe, auch wenn der ihnen vorgewor-fene »Hoch-« oder »Landesverrat« einer Prüfung nach rechts-staatlichen Grundsätzen nicht standgehalten hätte.

    Am 4. November 1937 wurden Adolf Rembte und Robert Stammin Plötzensee hingerichtet. Sie gehörten der deutschen Landes-leitung der KPD in Berlin an und verfügten über gute Verbin-dungen zu den kommunistischen Exilgruppen in Moskau und an-derswo. Ihnen wurde »Vorbereitung zum Hochverrat« zur Lastgelegt. Diese Anschuldigung reichte aus, um das Todesurteil zubegründen. Zur Zeit der Urteilsvollstreckung war Stamm sieben-unddreißig und Rembte fünfunddreißig Jahre alt. Beide ent-stammten traditionellen Arbeiterfamilien und beeindruckten ihreUmgebung durch persönliche Geradlinigkeit und Überzeu-gungstreue. Pfarrer Harald Poelchau berichtete später, daß dieHinrichtung von Menschen, die wie Stamm und Rembte nur ihrepolitische Arbeit fortgesetzt hatten, selbst die hartgesottenenGefängnisbeamten nachdenklich gestimmt habe.

    Ein anderer Fall, der im In- und Ausland große Bestürzungweckte, war die Hinrichtung von Lieselotte Herrmann. Sie warachtundzwanzig Jahre alt und Mutter eines vierjährigen Sohnes.Als Jugendliche hatte sie sich dem Kommunistischen Jugend-verband angeschlossen, studierte seit 1931 in Berlin Biologieund wurde 1933 von der Friedrich-Wilhelms-Universität relegiert,weil sie der KPD angehörte. Nach der Geburt ihres Sohnes arbei-tete sie in Stuttgart im Ingenieur-Büro ihres Vaters und beteiligtesich an der kommunistischen Untergrundarbeit. Im Dezember1935 wurde sie von der Gestapo verhaftet. Man fand den Grund-riß eines Rüstungsbetriebs bei ihr, der ins Ausland gelangensollte. Nach anderthalbjähriger Polizei- und Untersuchungshaftwurde Lieselotte Herrmann am 12. Juni 1937 vom Volksgerichts-hof zum Tode verurteilt.

    Ebenfalls zum Tode verurteilt wurden ihre Mitangeklagten StefanLovasz, Josef Steidle und Arthur Göritz. Auch sie gehörten derKPD an. Nach dem Urteil entfachten kommunistische Exilgrup-pen eine internationale Solidaritätskampagne. Hunderte vonMenschen aus zahlreichen Ländern schrieben Briefe an diedeutsche Regierung, in denen sie eine Begnadigung von Liese-lotte Herrmann forderten. Doch alle Bemühungen blieben ohneErfolg. Noch nach dem Todesurteil verhörte die Gestapo Liese-lotte Herrmann in einem weiteren Verfahren. Als diese Ermittlun-gen abgeschlossen waren, wurde sie am 20. Juni 1938 unter demFallbeil enthauptet. Auch Lovasz, Steidle und Göritz wurden andiesem Tag hingerichtet.

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    Lilo Herrmann

  • Schon in der Weimarer Republik versuchten die Nationalsoziali- Jugendgruppensten gezielt, den großen Jugendorganisationen der sozialisti-schen Parteien, der bündischen Bewegungen und der KirchenKonkurrenz zu machen. Nach 1933 wurden die meisten Jugend-verbände verboten oder gleichgeschaltet und in die neuge-schaffene Hitler-Jugend integriert. Dagegen beteiligten sichkommunistische und sozialistische Jugendliche schon in den er-sten Tagen und Wochen nach dem Machtantritt Hitlers ent-schlossen am Widerstand gegen das nationalsozialistische Re-gime. Gestapo und Gerichte antworteten darauf mit Härte undverurteilten die jungen Funktionäre zu hohen Strafen. Dennochgelang es einigen Gruppen, die sich zum Teil von den illegalenParteiführungen abgespalten hatten, noch über Jahre hin, ihreverbotene Arbeit fortzusetzen. Als nach Kriegsbeginn die Richterimmer häufiger Todesurteile verhängten, fielen auch zahlreichejunge Menschen dem Terror der Justiz zum Opfer.

    Am 3. Dezember 1942 wurden in Plötzensee der einundzwanzig- Rütli-Gruppejährige Hanno Günther sowie seine Freunde Elisabeth Pungs,Wolfgang Pander und Bernhard Sikorski hingerichtet. (DokumentSeite 68.) Nach dem Sieg der deutschen Wehrmacht über Frank-reich hatten Günther, die Kommunistin Pungs sowie Pander, einJungkommunist jüdischer Abstammung, Flugblätter hergestelltund verteilt, die sie »Das Freie Wort« nannten und als »DeutscheFriedensfront« unterzeichneten. Darin verbreiteten sie Nachrich-ten über die Kriegslage, verlangten Frieden und Meinungsfrei-heit und forderten Rüstungsarbeiter zur Sabotage auf. Späterzog Günther zusammen mit Sikorski, Emmerich Schaper und an-deren ehemaligen Schülern der Neuköllner Rütli-Schule, einerReformschule, einen kleinen Widerstandskreis auf. Im Juli undAugust 1942 wurden alle mit Günther in Kontakt getretenen Per-sonen verhaftet. Die jungen Leute unter ihnen bezeichnete dieGestapo wegen ihrer gemeinsamen Schulzeit als »Rütli-Gruppe«.

    Bekanntmachung derHinrichtung von Hanno Günther,Plakat

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  • Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof warf den Beteilig-ten in seiner Anklage vom 26. Mai 1942 Hochverrat und das Ab-hören ausländischer Sender vor. Ein besonders schlimmes Ver-brechen der jungen Leute sah er darin, daß sie bei regelmäßigenZusammenkünften marxistische Schriften gelesen und mit Hilfevon Elisabeth Pungs Kontakte zu dem im Widerstand tätigen Her-bert Bochow, einem KPD-Funktionär, aufgenommen hatten. Bo-chow, der in den Vernehmungen schwer mißhandelt wurde, hattedie Gestapo auf die Spur der jungen Leute gebracht. Am 9. Okto-ber 1942 wurden von den sieben Angeklagten sechs zum Todeverurteilt, Dagmar Petersen erhielt sieben Jahre Zuchthaus. AuchHerbert Bochow wurde zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1942in Plötzensee hingerichtet.

    Zur selben Zeit befanden sich die Angehörigen einer Gruppe jü-discher Kommunisten um das Ehepaar Herbert und MarianneBaum in Gestapo-Haft. Herbert Baum sammelte seit Mitte derdreißiger Jahre Gleichgesinnte um sich, die wie er jüdischer Her-kunft waren. Weil sie in den geheimen Netzen der illegalen KPDals besonders gefährdet galten, blieben sie von den Verbin-dungswegen der Partei weitgehend isoliert. Dennoch bemühtesich die Gruppe, gegen das nationalsozialistische Regime ge-richtete Flugschriften herzustellen. Im Mai 1942 verübte sie ei-nen Brandanschlag auf die antikommunistische Propaganda-Ausstellung »Das Sowjetparadies« im Berliner Lustgarten. Kurzdarauf wurden Herbert und Marianne Baum, Werner Steinbrink,Hildegard Jadamowitz und zahlreiche andere Mitglieder derGruppe verhaftet. Herbert Baum und zwei weitere Menschen be-gingen nach Mißhandlungen in der Haft Selbstmord. In sechsgroßen Prozessen wurden über zwanzig Beteiligte zum Tode ver-urteilt. Andere, deren Schicksal nie geklärt wurde, kamen ver-mutlich in Konzentrationslagern um. Die Verurteilten der Baum-Gruppe wurden in mehreren Gruppen am 18. August 1942, am4. März 1943, am 11. Mai 1943, am 18. Juni 1943 und am 7. Sep-tember 1943 in Plötzensee hingerichtet.

    Gruppe Baum

    Kundgebung zurEröffnung der Ausstellung»Das Sowjetparadies«im Berliner Lustgarten,8. Mai 1942

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  • Zwischen dem 22. Dezember 1942 und dem 5. August 1943 wur-den in Plötzensee die meisten Angehörigen eines weitverzweig-ten Widerstandskreises, der Harnack/Schulze-Boysen-Organi-sation, hingerichtet, der später unter dem Namen »Rote Kapelle«bekannt wurde. Diesen Namen benutzte ursprünglich die Ge-stapo. Die Gruppen umfaßten mehr als hundert Mitglieder. Sieentstanden Mitte der dreißiger Jahre um den Berliner Wissen-schaftler und Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium Ar-vid Harnack und den Oberleutnant im ReichsluftfahrtministeriumHarro Schulze-Boysen. Das gemeinsame Interesse an Alternati-ven zum nationalsozialistischen System führte Harnack undSchulze-Boysen erstmals 1940 zu Gesprächen im geselligenKreis zusammen, aus denen sich bald vielfältige Verbindungenund politische Vorhaben entwickelten.

    Arvid Harnack und seine amerikanische Frau Mildred Harnack-Fish, die ihm 1929 nach Deutschland gefolgt war, bildeten vor1933 den Mittelpunkt eines Studienkreises, der sich auf Anre-gung Arvid Harnacks mit Fragen der sowjetischen Planwirtschaftbeschäftigte. Die beiden lebten seit 1930 in Berlin. 1935 tratHarnack in das Reichswirtschaftsministerium ein und wurde dortfür wirtschaftspolitische Grundsatz- und Amerikafragen zustän-dig. Mildred Harnack arbeitete als Literaturdozentin und Über-setzerin für die 1940 eingerichtete AuslandswissenschaftlicheFakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität. Beide verstandensich als entschlossene Gegner der Nationalsozialisten. Sie such-ten deshalb ihren privaten Gesprächskreis, dem der ehemaligepreußische Kultusminister und religiöse Sozialist Adolf Grimme,der Schriftsteller Adam Kuckhoff, seine Frau Greta und auch derArbeiter Karl Behrens angehörten, durch Kontakte zu anderenRegimegegnern zu erweitern.

    Einen ähnlichen Kreis sammelten Harro Schulze-Boysen undseine Frau Liberias geborene Haas-Heye seit ihrer Heirat im Jahr1936 um sich. Schulze-Boysen stand vor 1933 nationalrevolutio-nären Gruppierungen nahe. Er war Redakteur der Zeitschrift»gegner«, die nach Hitlers Machtantritt alsbald verboten wurde.Schulze-Boysen und sein Freund und Mitarbeiter Henry Erlangerwurden von der SA in ein Konzentrationslager verschleppt und soschwer mißhandelt, daß Erlanger an den Folgen starb. Nach derFreilassung begann Schulze-Boysen eine Ausbildung an derVerkehrsfliegerschule in Warnemünde und erhielt im April 1934eine Anstellung im Reichsluftfahrtministerium. Libertas Schulze-Boysen arbeitete zunächst als Presseassistentin eines amerika-nischen Filmkonzerns, dann freiberuflich und wurde 1941 Dra-maturgien in der Kulturfilmzentrale des Reichsprogagandamini-steriums. Ebenso wie ihr Mann nutzte sie ihre beruflichen Verbin-dungen, um Regimegegner zu finden und den gemeinsamenKreis zu erweitern.

    Der WiderstandskreisHarnack/Schulze-Boysen

    Harro und seine FrauLibertas Schulze-Boysengeb. Haas-Heye

    Anfang 1942 begannen die Organisation um Arvid Harnack undHarro Schulze-Boysen mit der Produktion von Flugschriften, dieneben Harnack und Schulze-Boysen vor allem Wilhelm Guddorf,Adam Kuckhoff und John Sieg verfaßten. Darin wurden die

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  • Clara, Mildred und Arvid Harnackin Neubabelsberg, 1931

    Greuel beschrieben, die die Einsatzgruppen und einzelne Ein-heiten der Wehrmacht hinter den Fronten an Kriegsgefangenenund Zivilisten der besetzten Gebiete begingen. Die Texte riefenzu Kritik und Zivilcourage auf und prophezeiten einen schlimmenAusgang des Krieges, der von dem Regime nicht zu gewinnensei. Es gelang der Gruppe, die regelmäßig erscheinenden Flug-blätter in viele Gegenden Deutschlands und bis an die Front zuversenden.

    Zu den Mitteln der illegalen Arbeit, die einige Mitglieder derGruppe nutzten, gehörte auch die Zusammenarbeit mit der So-wjetunion. Harnack stand mit Angehörigen der sowjetischen undamerikanischen Botschaft in einem vertraulichen Meinungsaus-tausch. Er und Schulze-Boysen warnten die sowjetische Führungvor dem für den Juni 1941 geplanten Angriff. Um eine Beendi-gung des Krieges zu beschleunigen und einer außenpolitischenVerständigung mit der Sowjetunion den Weg zu bahnen, berei-teten sie auch eine Funkverbindung nach Moskau vor, die HansCoppi übernahm, der damit aber über Versuche nicht hinaus-kam. Im Herbst 1941 schickte der sowjetische militärische Nach-richtendienst seinen Brüsseler Residenten nach Berlin. Die Infor-mationen aus einem Gespräch mit Schulze-Boysen funkte er vonBrüssel nach Moskau. Die Dechiffrierung eines Funkspruchs mitBerliner Adressen aus Moskau durch die deutsche Abwehr imSpätsommer 1942 besiegelte das Schicksal der Organisation mitihre unterschiedlichen Freundeskreisen.

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  • Nicht alle Gefährten der Ehepaare Schulze-Boysen und Harnackwußten von den Kontakten mit der Sowjetunion oder waren anden Flugblattaktionen beteiligt, mit denen zum Beispiel im Mai1942 der Anschlag auf die antisowjetische Propaganda-Ausstel-lung »Das Sowjetparadies« unterstützt wurde. Manche von ihnensuchten lediglich das Gespräch über politische und soziale The-men oder waren bereit, ihren Freunden ohne Fragen nach demWoher und Wohin zu helfen, indem sie etwa Briefe versandten,Sendegeräte bei sich versteckten oder unbekannte Menschenbei sich aufnahmen. Dazu zählten unter anderen Frida und Sta-nislaus Wesolek, Klara Schabbel, Else Imme oder Anna Krauss.Andere wie der Schriftsteller Adam Kuckhoff oder die Journali-sten Walter Husemann, Günter Weisenborn und John Graudenzbeteiligten sich maßgeblich an der Abfassung von Flugschriften,die in den Wohnungen und Ateliers von Kurt und Elisabeth Schu-macher, Oda Schottmüller, Cato Bontjes van Beek und anderenGefährten abgeschrieben und vervielfältigt wurden.

    An einzelnen Aktionen oder Gesprächskreisen waren Menschenmit unterschiedlichsten politischen und religiösen Anschau-ungen beteiligt. Eine wichtige Rolle spielte der Journalist undReichsbahnarbeiter John Sieg, der der KPD angehörte und langein den Vereinigten Staaten gelebt hatte. Er arbeitete eng mitHarnack und Schulze-Boysen zusammen und nutzte vor allemVerbindungen zu Zellen der illegalen KPD. Ein anderer Kreishatte sich um den Arzt und Psychotherapeuten John Rittmeistergebildet, dem sich junge Leute wie Ursula Goetze, Liane Berko-witz und Fritz Rehmer zurechneten. Sie unterstützten französi-sche Zwangsarbeiter und waren an Flugblattaktionen beteiligt.Religiöse und philosophische Motive bestimmten Menschen wieMarie Terwiel, Heinz Himpel und Eva-Maria Buch. Marie Terwieletwa versandte Hunderte von Nachschriften der Predigten deskatholischen Bischofs von Münster, Clemens August Graf vonGalen, der sich im Sommer 1941 in klaren Worten gegen die na-tionalsozialistischen Morde an Kranken und Hilflosen (»Euthana-sie«-Aktionen) gewandt hatte.

    Hans und Hilde Coppibeim Zelten

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  • Im August 1942 wurden die Gruppen um Harnack und Schulze-Boysen von der Gestapo aufgedeckt. Über hundert Menschenwurden innerhalb weniger Wochen verhaftet. Eine Sonderkom-mission der Abteilung Sabotageabwehr des Reichssicherheits-hauptamtes führte die Ermittlungen und ließ einzelne Beschul-digte bei verschärften Vernehmungen grausam foltern. Unterdem Druck der Mißhandlungen wurden von einigen Opfern Aus-sagen erpreßt. Andere Gefangene verwickelten sich in Wider-sprüche und verrieten unabsichtlich entscheidende Einzelhei-ten. Im Dezember 1942 klagte der Oberkriegsgerichtsrat Man-fred Roeder in einem ersten Prozeß die wichtigsten Mitglieder derOrganisation vor dem Reichskriegsgericht an, das in Fällen vonSpionage zuständig war. Darunter befanden sich die EhepaareHarnack und Schulze-Boysen, Coppi und Schumacher. Bis aufMildred Harnack und Erika Gräfin von Brockdorff wurden sie alleam 19. Dezember 1942 zum Tode verurteilt und bereits am 22.Dezember in Plötzensee hingerichtet.

    Hitler weigerte sich, das vergleichsweise milde Urteil gegen Mil-dred Harnack und Erika von Brockdorff hinzunehmen. Auf seinenBefehl hin verhandelte das Reichskriegsgericht erneut gegen diebeiden Frauen und verurteilte sie diesmal zum Tode. MildredHarnack wurde am 16. Februar und Erika von Brockdorff am 13.Mai 1943 in Plötzensee enthauptet. Nach weiteren Prozessen imJanuar und Februar 1943 starben in mehreren Gruppen rundvierzig Menschen unter dem Fallbeil, die meisten davon in Plöt-zensee. Zu ihnen gehörten am 13. Mai und am 5. August 1943auch die zahlreichen Frauen der Gruppe, die stets kurz vor derHinrichtung aus dem Frauengefängnis Barnimstraße im BezirkFriedrichshain nach Plötzensee gebracht wurden. (DokumenteSeite 52 und 66/67.) Hilde Coppi und Liane Berkowitz hatten imGefängnis Kinder geboren, die ihnen bald nach der Geburt fort-genommen wurden. Die Leichen der hingerichteten Frauen er-hielt das Anatomisch-Biologische Institut der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität; an den Leichen nahm anschließend derAnatom Hermann Stieve gynäkologische Sektionen vor.

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  • Einen Kernpunkt der nationalsozialistischen Weltanschauungbildete die Verachtung anderer Völker und Nationen. Im Laufedes Krieges schufen die Fachleute der Reichsjustizverwaltungeine Fülle von Bestimmungen, die wie etwa die »Polenstraf-rechtsverordnung« den Einwohnern der von Deutschen besetz-ten Gebiete Europas nur sehr eingeschränkte Rechte zubilligtenund als »dauerhaftes Fremdvolkstrafrecht« auch nach dem»Endsieg« fortbestehen sollten.

    Besonders gefährdet waren ausländische Zwangsarbeiter unddie Angehörigen von Widerstandsorganisationen in den besetz-ten europäischen Ländern, die zum Teil nach ihrer Verhaftung indas sogenannte Altreich gebracht und hier zum Tode verurteiltwurden. Hierfür bildete der geheime »Nacht-und-Nebel-Erlaß«vom Dezember 1941 – von Hitler befohlen und vom Chef desOberkommandos der Wehrmacht unterzeichnet – die Grundlage:Alle des Widerstands verdächtigen Personen, deren Verurtei-lung an Ort und Stelle nicht wahrscheinlich war, wurden bei»Nacht und Nebel« nach Deutschland deportiert. Während fürviele Widerstandskämpfer in den osteuropäischen GebietenSonderregelungen galten, nach denen sie ohne irgendein Ver-fahren an Ort und Stelle erschossen oder erhängt werden durf-ten, wurden westeuropäische Gefangene in deutsche Haftan-stalten verschleppt. Ihre Verurteilung durch die Sondergerichteoder den Volksgerichtshof wurde ebenso geheimgehalten wieihre Hinrichtung. Teilweise waren diese Gefangenen nur in provi-sorischen Listen erfaßt und wurden oftmals bereits bei den ge-heimzuhaltenden Transporten von Gestapo und SS willkürlich er-mordet.

    Zu den Ausländern, die seit Kriegsbeginn bis zu den »Blutnäch-ten« im September 1943 in Plötzensee hingerichtet wurden, zähl-ten auch polnische und tschechische Widerstandskämpfer. Un-ter den polnischen Verurteilten in Plötzensee befanden sich An-gehörige und Helfer der geheimen polnischen Heimatarmee (Ar-mia Krajowa), denen Waffen- und Sprengstoffbesitz, Sabotageund Hochverrat vorgeworfen wurde. Andere waren entfloheneKriegsgefangene oder Zwangsarbeiter, die von der Gestapo imReich aufgegriffen und zunächst noch den Sondergerichtenübergeben wurden. Auch Polen, die verfolgten Landsleuten zuhelfen versucht hatten, wurden zum Tode verurteilt und in Plöt-zensee hingerichtet. Von der großen Gruppe der tschechischenVerurteilten gehörten viele einer militärisch organisierten Wider-standsorganisation an, die den Namen »Volksverteidigung«(Obrana Národa) trug und sich aus ehemaligen Offizieren deraufgelösten tschechoslowakischen Armee rekrutierte. Allein zwi-schen April 1942 und September 1943 starben rund achtzigtschechische Offiziere in Plötzensee. lm selben Zeitraum wurdenüber zweihundertzwanzig weitere Tschechen hingerichtet, vondenen etwa achtzig kommunistischen und rund hundertvierziganderen zivilen Widerstandsgruppen zuzurechnen waren. Siekämpften mit verschiedenen Mitteln für eine unabhängige Tsche-choslowakei, was die deutschen Gerichte nach der Annexion derTschechei und der Errichtung des Protektorates Böhmen und

    Ausländische Gefangene

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  • Mähren im März 1939 als besonders verwerflich betrachteten.Unter den Verurteilten, die in der Nacht vom 7./8. September1943 ermordet wurden, befand sich der tschechische Kommu-nist Julius Fucik, der umfangreiche Aufzeichnungen unter demTitel »Reportagen, unter dem Strang geschrieben« hinterließ.

    Eine andere Gruppe von ausländischen Verurteilten in Plötzen-see bildete rund ein Dutzend junger Belgier und Franzosen, diewegen Einbruchdiebstählen zum Tode verurteilt worden waren.Sie gehörten zu den großen Kontingenten von Zwangsarbeitern,die aus vielen besetzten ost- und westeuropäischen Ländernteils nach Deutschland verschleppt, teils mit falschen Verspre-chungen dorthin gelockt worden waren. Die meisten von ihnenwaren um die zwanzig Jahre alt und hatten sich unterschiedlichlange in Berlin aufgehalten, ehe die Gestapo ihnen eine Serie vonEinbrüchen und Diebstählen zur Last legte. Zwei von ihnen, derFranzose Gaston Deflin und der Belgier Richard Havron, hattennoch nicht einmal das achtzehnte Lebensjahr erreicht. Deflin ar-beitete schon seit seinem fünfzehnten Lebensjahr in Deutsch-land und war, wie die meisten anderen, nicht vorbestraft. Er littsichtbar an Unterernährung und ließ seinen Dolmetscher in ei-nem Fragebogen versichern, daß er nur aus Hunger gestohlenhabe. Dennoch beantragte der Anklagevertreter des Sonderge-richts beim Landgericht Berlin im April 1943, Deflin und Havronzum Tode zu verurteilen, weil sie »unter Berücksichtigung ihrerfrühreifen südländischen Erbanlage« den über achtzehn Jahrealten Personen »offenbar gleichzuachten« seien. So wurden am23. Juli 1943 elf Verurteilte in Plötzensee hingerichtet, darunterauch Deflin und Havron.

    Auf ungeklärten Wegen hatte inzwischen die Mutter Deflins inFrankreich von der Verhaftung ihres Sohnes erfahren und wandtesich in einem eindringlichen Schreiben an den Gefängnisdirektorin Plötzensee mit der Bitte um Auskunft und Hilfe. Im August 1943ließ der Direktor ihr durch die deutsche Botschaft in Paris eineAntwort übermitteln, die in ihrer glatten Kälte für sich spricht:»Die durch den Kriegszustand gebotene besondere Ab-schreckung der Allgemeinheit zum Schutze der öffentlichen Si-cherheit hat dieses Opfer von Ihnen verlangt.«

    30 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

    Julius Fucik

  • Nicht alle, die während des Dritten Reiches in Plötzensee undden übrigen deutschen Hinrichtungsgefängnissen ermordetwurden, waren politische Gegner der nationalsozialistischenDiktatur. In den Kriegsjahren starben auch Tausende von Men-schen, die wegen geringfügiger Delikte – kleinen Diebstählenetwa, Mundraub oder »Schwarzschlachten« – zum Tode verur-teilt worden waren. Andere wurden als »Defätisten« denunziertund verwirkten ihr Leben, weil sie in privaten Gesprächen an Hit-lers Kriegsführung zweifelten oder politische Witze erzählten. Im-mer wieder gerieten der Gestapo auch Menschen ins Netz, dieaus ganz persönlichen Motiven handelten. Sie versteckten ver-folgte Juden oder wehrflüchtige Soldaten bei sich, unterstütztenausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene mit Lebens-mitteln oder sabotierten entschlossen die nationalsozialistischen»Durchhalteparolen«. (Dokumente Seite 65, 70 und 72.)

    Jugendliche Opfer gab es auch unter den Verurteilten, die sichkeiner größeren politischen Widerstandsgruppe zuordnen las-sen. Im August 1942 verhandelte der Volksgerichtshof gegen diesiebzehn- und achtzehnjährigen Freunde Helmuth Hübener, Karl-Heinz Schnibbe, Rudolf Wobbe und Gerhard Düwer aus Ham-burg, die seit 1941 mit Streuzetteln und Flugblättern die Öffent-lichkeit aufzurütteln versuchten. In ihren Texten schilderten siedie Kriegslage entsprechend ausländischen Rundfunkberichtenund kommentierten die Propagandalügen der deutschen Füh-rung. Helmuth Hübener gehörte der Religionsgemeinschaft Kir-che Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) anund kannte Rudolf Wobbe und Karl-Heinz Schnibbe aus diesemKreis. Im Februar 1942 wurden die vier Jugendlichen von der Ge-stapo festgenommen und bei den Vernehmungen schwer miß-handelt. Als angeblicher Rädelsführer wurde Helmuth Hübenerzum Tode verurteilt, während seine Freunde langjährige Haft-strafen erhielten. Am 27. Oktober 1942 starb Hübener unter demFallbeil in Plötzensee.

    Widerstand im Alltag

    Helmuth Hübener (Mitte),Rudolf Wobbe (links)und Karl-Heinz Schnibbe,Hamburg, vermutlich 1941

    Zu den über dreihundert Hinrichtungen, die mit den »Blutnäch-ten« im September 1943 zusammenhingen, gehörte der schreck-liche Fall des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten. 1916 in Bonnals Sohn eines niederländischen Musikers und seiner französi-schen Ehefrau geboren, galt er schon in sehr jungen Jahrenals Klaviervirtuose und errang internationale Musikpreise. Wieviele andere Menschen fiel er einer Denunziation aus seiner pri-vaten Umgebung zum Opfer. Im Gespräch mit einer Bekanntenäußerte er im März 1943 Zweifel an der Kriegsführung Hitlers undwurde daraufhin an die Gestapo verraten. Der Volksgerichtshofverurteilte ihn am 3. September 1943 zum Tode. Als seine Familiesich um die Unterstützung durch hohe staatliche Stellen be-mühte und den Eltern aus der Reichskanzlei eine Begnadigungzugesichert wurde, war das Urteil jedoch schon vollstreckt. Krei-ten gehörte zu jenen Fällen, für die in der Nacht vom 7. auf den 8.September 1943 in Plötzensee nicht einmal ein Vollstreckungs-befehl vorlag. Seine Hinrichtung war ein »Versehen«, für das frei-lich keiner der beteiligten Beamten zur Rechenschaft gezogenwurde.

    Karlrobert Kreiten

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  • Elisabeth von Thadden

    Mit ebenso rücksichtsloser Härte gingen Justiz und Militärjustizauch gegen Wehrdienstflüchtige oder Deserteure vor, die in derRegel zum Tode verurteilt wurden. Dasselbe Schicksal konnteauch Menschen treffen, die ihnen halfen. Am Morgen des 9. Juni1944 wurde die vierundvierzigjährige Emmy Zehden aus demFrauengefängnis in der Barnimstraße zur Hinrichtung nach Plöt-zensee gebracht. Um 13.00 Uhr war das Urteil vollstreckt. EmmyZehden gehörte zu den Ernsten Bibelforschern (Zeugen Jeho-vas), und der Glaube bestimmte ihr Leben. Diese Religionsge-meinschaft wurde im Dritten Reich verboten und ihre Anhängerwurden verfolgt. Emmy Zehden versteckte 1942 ihren Pflege-sohn Horst Günter Schmidt und zwei seiner Glaubensgefährtenund Freunde in einem Quartier in Gatow, weil die jungen Männersich aus religiösen Gründen dem Wehrdienst entzogen hatten.Ihr Mann Richard Zehden, der jüdischer Herkunft war, mußte zudieser Zeit bereits schwere Zwangsarbeit leisten. Im Dezember1942 wurde Emmy Zehden mit anderen Zeugen Jehovas denun-ziert. Der Volksgerichtshof verurteilte sie am 19. November 1943wegen »Wehrkraftzersetzung« zum Tode. Richard Zehdenwurde in Auschwitz ermordet. Von den drei ebenfalls zum Todeverurteilten Wehrflüchtigen überlebte nur Schmidt das Kriegs-ende. (Dokument Seite 69.)

    Im Dritten Reich wurden viele Menschen von Nachbarn oder Be-kannten politisch denunziert. Darüber hinaus schleuste die Ge-stapo Spitzel in private Freundeskreise oder kirchliche Gruppenein, um regimefeindliche Äußerungen aufzuspüren. Im Herbst1943 verriet ein Spitzel den Kreis um Hanna Solf, die Witwe desDiplomaten Wilhelm Solf. Hanna Solf gab in Berlin regelmäßigTeegesellschaften für Angehörige des Auswärtigen Amtes undandere Bekannte oder Freunde, mit denen gemeinsam sie sichauch um die Hilfe für Verfolgte bemühte. Zu ihrem Kreis gehörteunter anderem die evangelische Pädagogin und SozialpflegerinElisabeth von Thadden. Anfang 1944 wurden Hanna Solf, der frü-here Gesandte Otto Carl Kiep, Elisabeth von Thadden und wei-tere Angehörige dieses Kreises verhaftet. Der Volksgerichtshofverurteilte zwei von ihnen – Elisabeth von Thadden und Otto CarlKiep – aufgrund von Spitzelaussagen zum Tode. Erst nach derVerurteilung erfuhr die Gestapo von Kieps Beteiligung an derVerschwörung vom 20. Juli 1944 und mißhandelte ihn bei erneu-ten Vernehmungen schwer. Kiep wurde schließlich am 15. Au-gust und Elisabeth von Thadden am 8. September 1944 in Plöt-zensee hingerichtet.

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  • Nachdem bei den Bombenangriffen im September 1943 die Hin-richtungsstätte in Plötzensee schwer beschädigt worden war,wurde das Zuchthaus Brandenburg-Görden zur neuen zentralenHinrichtungsstätte des Kammergerichtsbezirks Berlin erklärt. InPlötzensee sollten in der Regel nur noch die Urteile des Volksge-richtshofs und der Berliner Sondergerichte vollstreckt werden.Durch die Massenhinrichtungen nach dem Attentat vom 20. Juli1944 rückte Plötzensee jedoch noch einmal in das Zentrum dernationalsozialistischen Hinrichtungspraxis. Zwischen August1944 und April 1945 wurden, zusammen mit weiteren Urteilen,sechsundachtzig Todesurteile gegen Beteiligte und Mitwisserdes gescheiterten Anschlags vollstreckt.

    Der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 hatte eine lange Vorge-schichte. Er zielte nicht allein auf die Beseitigung Hitlers durcheinen Tyrannenmord. Vielen Mitverschwörern ging es ebenso umdie Planung für eine gesellschaftliche Ordnung nach dem SturzHitlers, der auch das Ende des Krieges und der nationalsozialisti-schen Diktatur bringen sollte. Die daran beteiligten Personenund Gruppen repräsentierten vielfältige politische und weltan-schauliche Traditionen in Deutschland, in denen sich Wider-standshaltungen und -bestrebungen aus der gesamten Zeit desDritten Reiches bündelten. In der Vorbereitung des Staats-streichs fanden sich zivile und militärische Oppositionsgruppenunterschiedlichster Prägung zusammen. Zu ihnen gehörten diekonservativen Kreise um Carl Friedrich Goerdeler, Ulrich vonHassell und Johannes Popitz, aber auch die sozialen Fragen ge-genüber aufgeschlossenen Mitgliedern des Kreisauer Kreises,die wichtige gewerkschaftliche und sozialdemokratische Verbin-dungen pflegten. An der militärischen Verschwörung um LudwigBeck, Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauf-fenberg beteiligten sich Offiziere aus allen Teilen des Reichesmit vielfältigen Motiven, unter denen wie in den meisten Gruppenauch die christliche Gedankenwelt eine große Rolle spielte.

    Die Abstimmung der verschiedenen Kreise untereinander bliebimmer schwierig, denn was die Mitwisser in geheimen Treffenund familiär wirkenden Zirkeln diskutierten, galt im nationalsozia-listischen Staat als Hochverrat. Nicht zuletzt deshalb kam derVersuch, den weit fortgeschrittenen Krieg mit seinen millionenfa-chen Verbrechen durch einen Umsturz zu beenden, so spät.Doch wäre er gelungen, hätte er selbst zu diesem Zeitpunkt nochgroße Opfer und viele Verbrechen verhindern können.

    Der über Monate hinweg geplante Anschlag am 20. Juli 1944scheiterte. Bereits wenige Stunden nachdem die von Stauffen-berg eingeschmuggelte Bombe im Führerhauptquartier Wolfs-chanze bei Rastenburg in Ostpreußen detoniert war, stand fest,daß Hitler das Attentat überlebt hatte. Damit war an ein Gelingendes Staatsstreichs nicht mehr zu denken. Noch in der Nacht aufden 21. Juli wurden in einem Innenhof des Bendler-Blocks in Ber-lin, dem Sitz des Befehlshabers des Ersatzheeres, Stauffenbergund drei seiner engen Mitverschwörer – Werner von Haeften, Al-brecht Ritter Mertz von Quirnheim und Friedrich Olbricht – er-

    Beteiligte am Umsturzversuchdes 20. Juli 1944

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  • schossen. Ludwig Beck, der militärische Kopf der Verschwö-rung, starb in einem Dienstzimmer des Gebäudes, nachdem ersich selbst schwer verwundet hatte, durch Erschießen.

    Am folgenden Tag begann die Gestapo mit systematischen Ver-haftungen von Verdächtigten und ihren Angehörigen. Eine vonErnst Kaltenbrunner, dem Chef des Reichssicherheitshauptam-tes, persönlich geleitete Sonderkommission nahm die Ermittlun-gen auf und berichtete darüber laufend Martin Bormann, demSekretär des Führers und Leiter der Parteikanzlei. Fahndung undFestnahmen umfaßten mehrere hundert Personen, die in Berlinund umliegenden Haftstätten gefangengehalten wurden. DieVernehmungen waren von schweren Folterungen begleitet undtrieben einige Gefangene in den Selbstmord.

    Mit einem ersten Schauprozeß vor dem Volksgerichtshof in Berlinunter Leitung des Präsidenten Roland Freisler begann am 7. und8. August 1944 eine Welle von Todesurteilen gegen die Beteilig-ten des 20. Juli 1944. Doch weder die Gesamtzahl der Angeklag-ten noch die der Verhandlungstermine und der gefällten Urteileoder Todesurteile haben sich nachträglich genau feststellen las-sen. Mit Sicherheit kann nur gesagt werden, daß zwischen dem 8.August 1944 und dem 9. April 1945 in Plötzensee mindestenssechsundachtzig Menschen in Folge des 20. Juli 1944 ermordetwurden.

    Bendlerblock, Flügel ander Bendlerstraße(heute Stauffenbergstraße),1944 Sitz des Befehlshabersdes Ersatzheeres,1942

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  • Die ersten acht Hinrichtungen von Hauptbeteiligten des Staats-streichsversuchs fanden am 8. August 1944 statt. Ihnen gingeine zweitägige Verhandlung vor dem Volksgerichtshof voraus,die in Teilen (wie einige weitere Verhandlungstage) als Filmdoku-ment erhalten ist. Nichts könnte den Unrechtscharakter der Ver-handlungen deutlicher vor Augen führen als diese Filmaufzeich-nungen. Die Angeklagten waren sichtbar von den Verhören undMißhandlungen gezeichnet. Freisler ließ sie dem Gericht in schä-biger Kleidung vorführen und jeden auf Schritt und Tritt von zweiWachtmeistern begleiten. Keiner von den Angeklagten durfteausreden, wenn ihm überhaupt das Wort erteilt wurde. Die Vertei-diger fanden sich zu keiner deutlichen Unterstützung für ihre Kli-enten bereit. Alle acht Angeklagten wurden zum Tode verurteiltund sofort nach der Urteilsverkündung zur Vollstreckung nachPlötzensee gebracht. Dort begannen die Hinrichtungen als so-genannte Sonderaktion, die im gesamten Gefängnis Unruhe undSchrecken auslöste.

    Am 8. August starben in Plötzensee durch Erhängen Erwin vonWitzleben, Erich Hoepner, Helmuth Stieff, Albrecht von Hagen,Paul von Hase, Robert Bernardis, Friedrich Karl Klausing und Pe-ter Graf Yorck von Wartenburg. Der in der Gefängnisbibliothekvon Plötzensee beschäftigte Gefangene Viktor von Gostomskinotierte später seine Beobachtungen:

    »Man raunte im Haus von einer Sonderaktion. Sonderaktion – dassind Prominente. Wachtmeister redeten von einer großen Sache.Ich vermutete, es seien Männer, die am 20. Juli beteiligt waren.Alle Gefangenen wurden gegen sechs Uhr abends in die Zelleneingesperrt. Keiner arbeitete mehr. Auch wir Bibliothekare warenin der Zelle. Wir stellten den Tisch unters Fenster und spähten aufden Hof. Es mochte sieben Uhr sein. Die schweren Eisentürendes Gefängnisses öffneten sich. Männer in gestreiften Sträflings-kleidern, an den Händen gefesselt, die nackten Füße in klap-pernden Holzpantoffeln, ohne Kopfbedeckung traten heraus. Je-der wurde von zwei Wachtmeistern geführt. Aber sie gingen auf-recht, sie brauchten keine Stütze. Hinter den Todeskandidatengingen viele Zivilisten, vermutlich Gestapo. SS-Männer filmten.Ein Wachtmeister hatte uns am Fenster entdeckt; er brüllte: >Vonden Fenstern weg!

  • Carl Friedrich Goerdeler Ludwig Beck

    Aus der Sicht des Gerichts gehörten alle acht Verurteilten zummilitärischen Umfeld der Verschwörung. GeneralfeldmarschallErwin von Witzleben, der ebenso wie Generaloberst Ludwig Beckseit 1938 gegen Hitler konspirierte, war nach den schriftlich aus-gearbeiteten Plänen der Militäropposition als Oberbefehlshaberder Wehrmacht vorgesehen. Auch Generaloberst Erich Hoepnerund Generalmajor Hellmuth Stieff gehörten zu den militärischenKöpfen der Verschwörung, die an den Planungen mitgewirkt hat-ten. Der Firmenjurist Albrecht von Hagen, der kein Berufsoffizierwar, hatte sich bereits bei einem früheren Attentatsversuch ander Beschaffung von Sprengstoff beteiligt. Die StabsoffiziereFriedrich Karl Klausing und Robert Bernardis erfüllten Verbin-dungsaufgaben im Rahmen der Operation Walküre, die unter derFederführung des schon am 20. Juli 1944 erschossenen Gene-rals Friedrich Olbricht und seines Stabschefs Oberst Albrecht RitterMertz von Quirnheim im Bendlerblock ausgearbeitet wordenwar. Generalleutnant Paul von Hase war Stadtkommandant vonBerlin und der Vorgesetzte eines nationalsozialistischen Majors,der befehlswidrig die Abriegelung des Regierungsviertels unddie Verhaftung der nationalsozialistischen Führungsspitze inBerlin verhinderte.

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  • Peter Graf Yorck von Wartenburg, der zusammen mit Helmuth Ja-mes Graf von Moltke den Kern des Kreisauer Kreises bildete,wurde zu einem Zeitpunkt hingerichtet, als die Bedeutung dieserGruppe den Ermittlern der Sonderkommission noch nicht bewußtwar. Moltke befand sich bereits seit einem guten halben Jahr inHaft, weil er mit den Ermittlungen gegen den früheren deutschenGesandten Otto Carl Kiep in Zusammenhang gebracht wurde.Dennoch wußte die Gestapo weder von Moltkes führender Rolle imKreisauer Kreis noch von den Verbindungen zur Attentatsplanung,an der er sich aus religiösen Gründen nicht beteiligte.

    Auch die Rolle von zwei Opfern, die zwei Tage später nach derVerurteilung in Plötzensee hingerichtet wurden, war der Gestaponoch nicht völlig deutlich. Der Völkerrechtler und Marineober-stabsrichter Berthold Schenk Graf von Stauffenberg war nicht al-lein der Bruder des am 20. Juli 1944 ermordeten AttentätersStauffenberg, sondern hatte bereits weit früher als dieser Kon-takte zur militärischen und zivilen Opposition. Ebenso wirkte derVerwaltungsjurist Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, der alsOberleutnant der Reserve zum Kriegsdienst eingezogen war, anden Verfassungsentwürfen der Gruppe um Carl Friedrich Goer-deler, dem ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig unddesignierten Reichskanzler, mit und vermittelte zwischen denverschiedenen Oppositionskreisen. Nach dem Staatsstreichsollte entweder Schulenburg oder der Sozialdemokrat JuliusLeber Innenminister der neuen Regierung werden. (DokumentSeite 74.)

    Weitere Beteiligte starben zwischen dem 15. und 25. August1944 in Plötzensee. Zu ihnen zählten der Berliner Polizeipräsi-dent Wolf Heinrich Graf von Helldorf, der über Jahre hinweg einüberzeugter Nationalsozialist gewesen war, verschiedene Offi-ziere und der Legationsrat Hans-Bernd von Haeften, ein BruderWerner von Haeftens. Auch Otto Carl Kiep wurde nun unter denVerschwörern des Attentats abgeurteilt und hingerichtet. Zu denwichtigsten Köpfen des Kreisauer Kreises zählte der im Auswärti-gen Amt beschäftigte Adam von Trott zu Solz, der sich als außen-politischer Botschafter der Oppposition verstand und für den Falldes Umsturzes Verhandlungen mit den Kriegsgegnern zustandebringen wollte. Er wurde am 26. August 1944 in Plötzensee hin-gerichtet.

    Mit Carl-Heinrich von Stülpnagel wurde am 30. August 1944 derfrühere Militärbefehlshaber in Frankreich verurteilt, in dessen Pa-riser Wehrkreis am 20. Juli 1944 die Operation Walküre wie ge-plant ablief und die örtlichen SS- und Gestapo-Führer verhaftetwurden, ehe sich herausstellte, daß Hitler noch lebte. Mit ihmstarben am selben Tage die ebenfalls in Paris stationierten Ober-sten Eberhard Finck und Hans-Otfried von Linstow sowie Oberst-leutnant Karl Heinz Rahtgens, der mit dem OberbefehlshaberWest, Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge, verwandtwar. Kluge verweigerte am 20. Juli 1944 den Verschwörern dieUnterstützung, obwohl sie ihn für die Mithilfe gewonnen glaub-ten.

    Peter Graf Yorck von Wartenburg

    Helmuth James Graf von Moltke

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  • Ulrich von Hassell

    Wilhelm Leuschner

    Die am 4. September 1944 hingerichteten sieben Beteiligten ge-hörten zu den Nachrichtenexperten und Verbindungsoffizieren,die in den Walküre-Befehlen für die einzelnen Wehrkreise ge-nannt wurden. Vier Tage später starben neben zwei General-stabsoffizieren auch der Diplomat Ulrich von Hassell und der Of-fizier Ulrich Graf Schwerin von Schwanenfeld. Hassell hatte 1940versucht, mit dem britischen Außenminister Lord Halifax Kontaktaufzunehmen und ihm das sogenannte Arosa-Memorandumüberreichen lassen, in dem er die Vorstellungen der deutschenOpposition für einen nach Westen orientierten Friedensschlußbeschrieb. Am selben Tag wurde auch der katholische Rechts-anwalt Josef Wirmer hingerichtet, der während seines Prozessesdem Volksgerichtshofpräsidenten Freisler mit überlegener Ruhestandhielt, wie es ein erhalten gebliebener Filmausschnitt doku-mentiert.

    Unter den am 14. September 1944 hingerichteten Beteiligten be-fand sich der katholische Geistliche Hermann Wehrle, desseneinzige Beziehung zur Verschwörung vom 20. Juli 1944 darin be-standen hatte, daß er bei einem Beichtgespräch von dem ge-planten Attentat erfahren und davon nicht abgeraten, sonderndie Frage dem Gewissen des einzelnen überlassen hatte. AlsLudwig Freiherr von Leonrod sich vor Gericht auf diese Auskunftberief, wurde Wehrle zunächst als Zeuge geladen, kurz darauf je-doch selbst wegen Mitwisserschaft angeklagt und zum Tode ver-urteilt. Seine Hinrichtung fand drei Wochen nach der HinrichtungLeonrods statt.

    Am 29. September 1944 starb unter anderen der Gewerk-schaftler und Sozialdemokrat Wilhelm Leuschner, der ebensowie sein Parteifreund Julius Leber eine Schlüsselrolle in den Ver-handlungen von Carl Friedrich Goerdeler um eine Beteiligungder Gewerkschaftsführungen aus der Weimarer Republik an ei-ner neuen Regierung spielte. Nach mehreren Verbindungsoffi-zieren, die am 12. und 13. Oktober hingerichtet wurden, traf das-selbe Schicksal am 20. Oktober auch den sozialdemokratischenPädagogen Adolf Reichwein, der den Gesprächen und Schriftendes Kreisauer Kreises wesentliche Impulse gegeben hatte.Reichwein befand sich wie Leber am 20. Juli 1944 bereits in Haft,weil seine Kontaktaufnahme mit der Führung der illegalen KPDvon einem Spitzel in den Reihen der Kommunisten verraten wor-den war.

    Der frühere deutsche Botschafter in Moskau, Friedrich-WernerGraf von der Schulenburg, wurde am 10. November 1944 hinge-richtet. Er oder Hassell sollten in der neuen Regierung das Amtdes Außenministers übernehmen. Am 14. November 1944 star-ben die ersten Beteiligten eines Kreises, der sich in Köln um dieehemaligen katholischen Gewerkschaftsführer Bernhard Letter-haus und Nikolaus Groß gebildet hatte und von Carl FriedrichGoerdeler in die Umsturzplanung einbezogen wurde. Einen an-deren erschütternden Fall bezeichneten die Hinrichtungen am30. November 1944. Mit dem Ehepaar Elisabeth und Erich Gloe-den und der Mutter von Elisabeth Gloeden, Elisabeth Kuznitzky,

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  • Julius Leber Adam von Trott zu Solz

    wurden drei Menschen ermordet, die nichts anderes getan hat-ten, als auf Bitten eines Freundes den auf der Flucht befindlichenGeneral Fritz Lindemann bei sich zu verstecken. Dafür wurdensie zum Tode verurteilt.

    Der ehemalige sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ju-lius Leber wurde am 5. Januar 1945 hingerichtet. Wie seinegleichgesinnten Freunde Theodor Haubach und Carlo Mieren-dorff hatte er mehrere Jahre in Konzentrationslagern zubringenmüssen. Nach seiner Freilassung knüpfte er neue Verbindungenzu früheren Sozialdemokraten und trat in engen Kontakt zumKreisauer Kreis um Moltke und Yorck. Moltke und Haubach wur-den gemeinsam mit acht weiteren Beteiligten des Umsturzver-suchs, darunter Nikolaus Groß und der ehemalige württembergi-sche Staatspräsident Eugen Bolz, am 25. Januar 1945 in Plötzen-see ermordet. Ebenfalls an diesem Tag starb der Studienrat Her-mann Kaiser, der seine ausgedehnten Reisen in Deutschlanddazu nutzte, für Goerdeler Kontakte zu knüpfen.

    Zu den letzten Hinrichtungen von Beteiligten des 20. Juli 1944 inPlötzensee zählte die Vollstreckung der Todesurteile gegen Al-fred Delp, Johannes Popitz und Carl Friedrich Goerdeler. Der Je-suitenpater Alfred Delp war am engsten mit dem Kreisauer Kreisverbunden. Wie seine Ordensbrüder Lothar König und AugustinRösch wirkte er maßgeblich an den sozialpolitischen Entwürfender Kreisauer mit. Während der langen Haftzeit im Zellengefäng-nis Lehrter Straße schrieb er trotz Handfesseln und strengen Ver-boten Hunderte von Seiten über theologische und philosophi-sche Fragen, die mit Hilfe verschiedener Personen aus dem Ge-fängnis hinausgeschmuggelt werden konnten. Während einerkurzen gemeinsamen Haftzeit im Strafgefängnis Tegel vertiefteer mit seinen evangelischen Mitgefangenen Moltke, EberhardBethge und Eugen Gerstenmaier die ökumenischen Grundüber-zeugen, die auch die Schriften des Kreisauer Kreises beeinflußthatten.

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  • Die Richtstätte,Februar 1955

    Die Einweihung des Mahnmalszum »Gedenken der Opfer derHitlerdiktatur der Jahre 1933–1945«am 14. September 1952

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  • Der ehemalige preußische Finanzminister Johannes Popitz, derim April 1933 in sein Amt gekommen war und auch nach der Auf-lösung der deutschen Länder hohe Staatsämter innehatte, bliebunter den Verschwörern des 20. Juli 1944 immer umstritten. AlsMitglied der konservativen Mittwochsgesellschaft in Berlin arbei-tete er für den Umsturz ein restauratives »Vorläufiges Staats-grundgesetz« aus, das bei den anderen Widerstandskreisen aufAblehnung stieß. Popitz setzte sogar auf eine Mitwirkung der SSunter Heinrich Himmler beim Staatsstreich. Als er nach dem 20.Juli 1944 verhaftet wurde, nutzten ihm die persönlichen Bezie-hungen zu Himmler nichts.

    Als einer der letzten Hauptbeteiligten starb am 2. Februar 1945 inPlötzensee Carl Friedrich Goerdeler. Nach seinem spektakulä-ren Rücktritt vom Amt des Leipziger Oberbürgermeisters im Jahr1937 wirkte er ab 1938 mit dem Aufbau eines Widerstandsnet-zes, aus dem die Planung für den Staatsstreich nach einem ge-lungenen Attentat auf Hitler hervorging. In Denkschriften undEntwürfen kritisierte Goerdeler die nationalsozialistische Wirt-schafts- und Rüstungspolitik und legte seine heftig diskutiertenVorschläge für eine Neuordnung nach dem Sturz Hitlers vor. Alseiner der führenden Köpfe der Verschwörung sollte er das Amtdes Reichskanzlers übernehmen. Bereits vor dem 20. Juli 1944schöpfte die Gestapo einen Verdacht gegen Goerdeler, der sichseitdem auf der Flucht befand. Nach dem gescheiterten An-schlag konnte er zunächst entkommen, wurde jedoch später de-nunziert und verhaftet. Nach seinem Todesurteil am 8. Septem-ber 1944 behielt ihn die Gestapo noch monatelang in Haft, umvon ihm Aussagen über das Ausmaß der Verschwörung zu er-pressen.

    An alle diese Menschen erinnert der historische Ort Plötzensee.Das Gedenken schließt ebenso die Opfer der unmenschlichenStrafpraxis unter dem Nationalsozialismus ein, wie es denen gilt,die bewußt und entschieden zum Widerstand gegen das natio-nalsozialistische Regime beigetragen haben. Ihre Wünsche undZiele für ein »anderes Deutschland« lassen sich nicht auf eineneinzigen Nenner bringen. Gemeinsam blieb ihnen jedoch dieHoffnung auf die Nachgeborenen. Ihnen schulden auch wir dieZukunft.

    41 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • Dokumente Von der Ausnahmezur Regel:Die Todesstrafeim Dritten Reich

    42 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • Der Reichsminister der Justiz legt1936 erstmals vierzehn Hinrich-tungsgefängnisse fest.Bis 1945 erhöht sich die Zahl aufeinundzwanzig Vollstreckungsorte.Rundverfügung,28. Dezember 1936

    43 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • 44 © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

  • Seit 1933 nehmen die Hinrichtun-gen in Plötzensee von Jahr zu Jahrzu. Einen steilen Anstieg zeigt dieStatistik in den ersten Monaten