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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 1 Geplatzte Vermittlung Popgesellschaft und Medienkritik {Erste Fassung} Roger Behrens Das Funkloch im ICE Böhse Onkelz. Nach den Medien Die unheimliche Beschleunigung des Medienzeitalters, die vollständig entfaltete Popkultur einer längst schon wieder verabschiedeten Postmoderne: Ein Hochgeschwindigkeitszug rast von Stadt zu Stadt, die Haltestellen heißen Erlebnis- oder Kulturbahnhof, Verkehrsknotenpunkte am Ende des Zeitalters des Sozialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus und der Jugend. 1 Jeder Sitzplatz ist mit einem Kopfhöreranschluss ausgestattet. Ein von Universal bestücktes Musikprogramm bietet hier auf bis zu acht Kanälen etwa »Friedrich Gulda spielt Beethoven: Klaviersonaten Nr. 7, 8, 9 & 10« und »Various: ›Impulsive! Revolutionary Jazz Reworked‹« (beide im Januar 2006 unter Klassik/Jazz), oder »Various Artists: ›Unsere Besten – Jahrhundert-Hits‹, »Harald Schmidt: ›Livemitschmidt‹« und »The Cardigans: ›Super Extra Gravity‹« (alle drei CDs als Rock/Pop), dazu Kinderprogramm und Literatur; an den Sitzplätzen, die mit Video ausgestattet sind, gibt es im Januar 2006 zum Beispiel »Spitzenpreise mit Spitzenkunst: Impressionen von der Art Cologne« (n-tv Service: Geld) oder »Das Miniaturwunderland in der Speicherstadt Hamburg« (Bahnen der Welt). Viele Reisende haben allerdings ihr eigenes Unterhaltungsprogramm dabei, lesen ein Taschenbuch oder die Zeitung und hören Musik auf CD- und Mp3-Spielern, oder beschäftigen sich mit ihrem Laptop, sei’s zum Vergnügen, sei’s um zumindest den Anschein 1 Vor fast einhundert Jahren schreibt Walter Benjamin: »Wir leben im Zeitalter des Sozialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus. Gehen wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen? Ö Die Jugend aber ist das Dornröschen, das schläft und den Prinzen nicht ahnt, der naht, es zu befreien.« (›Das Dornröschen‹, in: Gesammelte Schriften Bd. II1, Franfurt am Main 1991, S. 9.)

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 1

Geplatzte Vermittlung

Popgesellschaft und Medienkritik

{Erste Fassung}

Roger Behrens

Das Funkloch im ICE Böhse Onkelz. Nach den Medien

Die unheimliche Beschleunigung des Medienzeitalters, die vollständig

entfaltete Popkultur einer längst schon wieder verabschiedeten

Postmoderne: Ein Hochgeschwindigkeitszug rast von Stadt zu Stadt, die

Ha l t e s t e l l en he ißen E r l e b n i s - o d e r Kulturbahnhof,

Verkehrsknotenpunkte am Ende des Zeitalters des Sozialismus, der

Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus und der Jugend.1

Jeder Sitzplatz ist mit einem Kopfhöreranschluss ausgestattet. Ein von

Universal bestücktes Musikprogramm bietet hier auf bis zu acht Kanälen

etwa »Friedrich Gulda spielt Beethoven: Klaviersonaten Nr. 7, 8, 9 & 10«

und »Various: ›Impulsive! Revolutionary Jazz Reworked‹« (beide im

Januar 2006 unter Klassik/Jazz), oder »Various Artists: ›Unsere Besten –

Jahrhundert-Hits‹, »Harald Schmidt: ›Livemitschmidt‹« und »The

Cardigans: ›Super Extra Gravity‹« (alle drei CDs als Rock/Pop), dazu

Kinderprogramm und Literatur; an den Sitzplätzen, die mit Video

ausgestattet sind, gibt es im Januar 2006 zum Beispiel »Spitzenpreise mit

Spitzenkunst: Impressionen von der Art Cologne« (n-tv Service: Geld)

oder »Das Miniaturwunderland in der Speicherstadt Hamburg« (Bahnen

der Welt). Viele Reisende haben allerdings ihr eigenes

Unterhaltungsprogramm dabei, lesen ein Taschenbuch oder die Zeitung

und hören Musik auf CD- und Mp3-Spielern, oder beschäftigen sich mit

ihrem Laptop, sei’s zum Vergnügen, sei’s um zumindest den Anschein

1 Vor fast einhundert Jahren schreibt Walter Benjamin: »Wir leben im Zeitalter

des Sozialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus. Gehen

wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen? Ö Die Jugend aber ist das Dornröschen,

das schläft und den Prinzen nicht ahnt, der naht, es zu befreien.« (›Das

Dornröschen‹, in: Gesammelte Schriften Bd. II�1, Franfurt am Main 1991, S. 9.)

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 2von Geschäftigkeit zu erwecken. Telefoniert wird viel, lange und laut;

immer wieder reißt je nach Netz und Empfang die Verbindung ab und

Gespräche verrauschen ins Nichts – nur selten wird zurückgerufen und

die ohnehin bedeutungslose Konversat ion fortgesetzt .

Großraumabteilwagen: Alle sind medial mit dem Fernsten verschaltet, die

Nächsten sind immer die Störenden: die Sitzplätze sind eng,

insbesondere die mit Tisch. Teilnahmslos versucht man, wie aus

Versehen die Beine des Gegenübers wegzuschieben, desinteressiert wird

auf den Bildschirm des Nachbarn geschielt; der Platz für den eigenen

Rechner ist schon von einem anderen Laptop okkupiert. Einige stellen

sich genervt schlafend, hangeln sich von Funkloch zu Funkloch. Klingelt

nicht gerade irgendwo ein Mobiltelefon, gibt es Ansagen über die

weiteren Anschlüsse am nächsten Bahnhof oder Entschuldigungen für

Verspätungen. In manchen ICEs informiert ein Bordcomputer mit

Drucker über weitere Bahnverbindungen; Fahrkarten kann man im Zug

lösen, mit Kreditkarten auch ohne Bargeld zahlen. Schließlich informiert

ein kostenlos ausliegendes Magazin des Bahnunternehmens mit dem

programmatischen Titel ›Mobil‹ über Reiseziele, Kulturevents, Bestseller,

Bands und vor allem Erfolgsgeschichten von Unternehmern,

Schauspielern, Musikern etc. Hier im Zug scheinen die Techniken, die

man heute allgemein als Medien bezeichnet, wirklich »Ausweitungen

unserer Körperorgane und unseres Nervensystems« zu sein, selbst

schon Verlängerungen ihrer eigenen Ideologie, dass eben die Medien

»dazu dienen, Macht und Geschwindigkeit zu vergrößern«.2 Tatsächlich

ist die einzige Macht, die hier vergrößert wird, die eigene Ohnmacht

gegenüber der Unbequemlichkeit; die mediale Beschleunigung

komprimiert menschliche Sinnlichkeit, macht sie stumpf. Es ist so, wie

Brecht es über den Rundfunk 1932 schrieb: »Man hatte plötzlich die

Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich

überlegte, nichts zu sagen.«3 Nur, was Brecht zu Beginn des

Medienzeitalters formulierte, erfährt heute – nach den Ende der Medien

2 Marshall McLuhan, ›Die magischen Kanäle. Understanding Media‹,

Düsseldorf 1992, S. 109.

3 Bertolt Brecht, ›Der Rundfunk als Kommunikationsapparat‹, in: Claus Pias,

Joseph Vogl, Lorenz Engell et al. (Hg.), ›Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen

Theorien von Brecht bis Baudrillard‹, Stuttgart 1999, S. 259.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 3– seine Wendung: die Technik, die von den Medien noch übrig ist, dient

weder der Kommunikation noch der Distribution, sondern schlichtweg:

ihrer Verhinderung. Was hier vor allem nicht stattfinden soll, ist

Kommunikation – darauf sind die vorteilhaft inszenierten Medien

ausgerichtet. Dass mithin der Mensch es vermag, mit Werkzeugen seinen

Körper zu erweitern, hatten längst Marx und Engels materialistisch

erkannt: Ihnen ging es um die Technik der Produktion. Sofern mit der

Medientechnik der produktive Zugang zur Welt ersetzt wird, sind diese

Ausweitungen der Körperorgane nur Prothesen, wie es Günther Anders

nannte, – gefühllose Ersatzorgane. Medien schaffen hier einen Raum frei

von jeder Sensibilität, eine kalte Aura der Empfindungslosigkeit.

Zugleich schafft diese Aura keine Distanz, sondern stellt einen Raum der

Unmittelbarkeit dar. Von der Definition, dass »Medien Unterschiede

[seien], die einen Unterschied machen«,4 ist mithin nicht einmal mehr das

Gegenteil richtig. Nach einer fast zweihundertjährigen Geschichte der

modernen Medien gibt es nichts mehr zu Vermitteln. Alles klebt

aneinander, so wie die Reisenden in den engen Sitzplätzen; dass die

geplatzte Vermittlung ihr Bild in den medial perfekt ausgestatten

Hochgeschwindigkeitszügen findet, dürfte selbst noch eine mediale

Nachwirkung der Fortschrittsideologie sein, die einmal in der Eisenbahn

ihr Urbild fand. Die vermeintliche Medienrevolution bedeutet wie jede

technische Umwälzung, die über die Gesellschaft bloß hinwegrollt, die

Umkehrung eben des berühmten Satzes von Marx, 1850: »Die

Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.«5 Für die auf die

Technik beschränkte und verkürzte Veränderung der Welt heißt das

also dem entgegen: die Lokomotiven sind die Revolutionen der

Geschichte, beziehungsweise – weil die Eisenbahn auch nichts weiter als

ein technisches Medium war (ein Medium der Vermittlung, ein Mittel

des Transports, der Übersetzung etc.): Die Medien sind die Revolution

der Geschichte. Leicht lässt sich unter dieser Prämisse die Behauptung

4 Martin Seel ›Medien der Realität und Realität der Medien‹, in: Sybille

Krämer, (Hg.), ›Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue

Medien‹, Frankfurt am Main 1998, S. 245; hier zitiert nach: Georg Christoph Tholen,

›Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen‹, Frankfurt am Main 2002, S.

24.

5 Karl Marx, ›Klassenkämpfe in Frankreich‹, MEW Bd. 7, S. 85.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 4aufstellen, dass das Medium die Botschaft ist – weil sowieso die Botschaft

im Medium vollständig aufgeht.

»Medien sich gegenwärtig das Thema . Medientheorie kann als

Begleiterscheinung einer spannenden Transformation aufgefasst werden:

Die Technologie der Informationsgesellschaft verändern unseren Begriff

von Wissen, von Bildung und von Kultur.«6 So ist es einleuchtend zu

behaupten: »Medientheorie und Medienkunst haben seit mindestens

zwanzig Jahren Konjunktur.«7 Nichtsdestotrotz: »Der Beliebtheit des

Medienbegriffs in aktuellen geisteswissenschaftlichen Diskussionen

entspricht seine Unschärfe.«8 Alles ist in bodenloser Beliebigkeit zum

Medium erklärt worden. Kaum eine Medientheorie, die nicht versucht,

sich selbst und die medientheoretische Konkurrenz in ihrer

pseudowissenschaftlichen Assoziationswut zu überbieten. Typisch in

den medientheoretischen Publikationen sind dabei Einleitungssätze wie

dieser: »Medien sind Mittel der Kommunikation. Ohne sie ließen sich

keine Sender und Empfänger vermitteln oder Botschaften übertragen

und verbreiten. Sie prägen und verändern das Milieu unserer

Wahrnehmung von Welt. Doch die vertrauten Definitionen des

Mediums – Mittel, Vermittlung, Milieu – reichen nicht aus, um der

Eigenart und Dynamik medialer Welterschließung gewahr zu werden.«9

Doch am Ende des Medienzeitalters entpuppt sich, wie wenig Medien

tatsächlich Mittel oder Vermittlung der Kommunikation waren. Wo alles

potenziell zum Medium werden kann, ist nichts mehr Medium. Im

nachhinein zeigt sich, das längst nicht alles Medium war, was von den

Medientheorien als solches bezeichnet wurde; vor allem die zahllosen

und bedeutungslosen wie redundanten Metaphern bleiben als

6 Frank Hartmann, ›Mediologie‹, Wien 2003, S. 15

7 Norbert M. Schmitz, ›Medialität als ästhetische Strategie der Moderne. Zur

Diskursgeschichte der Medienkunst‹, in: Ders., Peter Gendolla, Irmela Schneider und

Peter M. Spangenberg, ›Formen interaktiver Medienkunst‹, Frankfurt am Main 2001,

S. 95.

8 Albert Kümmel und Petra Löffler (Hg.), ›Medientheorie 1888–1933‹,

Frankfurt am Main 2002, S. 11.

9 Tholen, ›Die Zäsur der Medien‹, a.a.O., S. 7.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 5Worthülsen zurück, als Ruinen einer Epoche der Kommunikation, in der

die Kommunikation nicht stattfand. Tabu ist in jeder Medientheorien

bereits der Verdacht, dass das von ihnen beschriebene Zeitalter vorüber

ist und ihre Zentralvokabel »Medien« längst substanzlos verrauscht sein

könnte; schon das Wort »Medien« ist Mythos geblieben und findet sich

nirgends als Reflexionsbegriff. »Medien« ist ein leerer Begriff und eine

blinde Anschauungen, weil Begriff und Anschauungen der Medien

nicht vermittelbar erscheinen. Kategorisch wird Kritik, kritisches

Bewusstsein und Reflexion über den Gegenstand hinaus ausgeschlossen;

Medien bilden immer schon den hermeneutischen Zirkel ihrer

metaphorischen Reichweite – und die ist unendlich, weitet sich

zunehmend aus: eine Art metaphorische Entropie. Der Mediologe

moniert das »McLuhan-Bashing«, welches »heute wieder zum

vornehmen Ton akademischer Diskurse« gehöre, und weiß apodiktisch,

dass sämtliche Kritik an McLuhans Thesen »ihnen den epochalen

Verdienst nicht nehmen [kann], mit der kulturapokalyptischen Fassung

von Medientheorie gebrochen zu haben«.10 Realitätsblindheit wird zur

pseudowissenschaftlichen Ideologie vom medialen Verschwinden der

Realität. Grundsätzlich verweigern Medientheorien den kritischen

Anspruch, die Totalität des gesellschaftlichen Seins begrifflich zu fassen,

und dennoch setzen sie kategorisch, dass mit der Medialität der Welt

bereits das Weltganze erschlossen sei.

Dass sich Medien über ihre Inhalte nicht begreifen lassen, ist nachgerade

zur Maxime aller Medientheorie geworden – sie wird allerdings nicht

dadurch wahrer, dass der Umkehrschluss, die Medien lassen sich über

ihre Form begreifen, bloß assoziativ und metaphorisch beschworen

wird. Zwangsläufig mündet dieser Zuschnitt von der Bedeutung der

Medien in Ontologie und Positivismus gleichermaßen, und die kritische

Frage nach dem Problem der Medien – wonach Vermittlung nur als

Kritik zu denken ist – bleibt ausgespart. »Medien sind indifferent

gegenüber dem, was sie speichern, übertragen und verarbeiten«,11

10 Hartmann, ›Mediologie‹, a.a.O., S. 19.

11 Tholen, ›Die Zäsur der Medien‹, a.a.O., S. 8 f.; Tholen definiert damit die

»Metaphorologie der Medien«; »lesbar« sei dies als »In-Differenz, d. h. als

Dazwischenkunft der teilenden und dadurch verbindenden Medien« (S. 9).

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 6versucht die Medientheorie plausibel zu behaupten. Dass allerdings

Medien sich nicht über Inhalte begreifen lassen, bezeichnet das Problem

der Medientheorien und mitnichten die Lösung. Wo Medientheorie den

Inhalt nicht ignorieren dürfte, wird sie indes zynisch. Etwa so: In der

Bahn sitzt neben mir ein junger Bundeswehrsoldat, ein Wehrpflichtiger

mit Freifahrtausweis für Familienheimfahrten, adrett gekleidet mit

Fassonschnitt, Anorakjacke, Jeans und Reisetasche mit Schriftzug ›Just

Do it!‹. Ein Hooligan, schmächtig, aber nicht schwächlich; ein

konformistischer Charakter, ein Mitläufer, keine Autorität, aber

autoritär. Ein Sammler und Experte, wie sich herausstellt: Die letzten

beiden Stunden im Zug klappt er seinen Laptop auf und beginnt sein

Musikdatenbank zu ordnen. Ob offizielle Veröffentlichungen oder

inoffizielle Demotapes: Er hat scheinbar alles auf seinem Rechner, was die

Böhsen Onkelz jemals aufgenommen haben; die Mp3-Liste auf seinem

Bildschirm wird immer länger. Reinhörend klickt er sich durch die

Musikgeschichte von fünfundzwanzig Jahren Rechtsrockentwicklung:

Ein Nebenstrang im auslaufenden Mainstream der Medien im

postmodernen Jahrzehnt der Achtziger, von jeder Medientheorie

ignoriert, weil es in ihrem Blickfeld jenseits von dem liegt, was

Medientheoretiker mal abfällig, mal euphemistisch die Wirklichkeit

nennen.12 Baudrillard hat seine buchstäblich schwachsinnige

Simulationstheorie vom medialen Realitätsverschwinden schließlich nicht

am brennenden Sonnenblumenhaus in Rostock expliziert, sondern an

den Nachtangriffen während des zweiten Golfkriegs: am Fernsehapparat.

Gleichgültig, ob man die Botschaft zum Medium erklärt oder das

Medium zur Botschaft; egal, ob man sich auf die Information oder die

Funktion der Medien kapriziert – medientheoretisch spielt der

12 Einen umfassenden Einstieg undÜberblick über die konstruktivistische und

systemtheoretische Medientheorie bieten: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und

Siegfried Weischenberg (Hg.), ›Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die

Kommunikationswissenschaft‹, Opladen 1994. Bezeichnend für das systemtheoretisch

gebräuchliche Wirklichkeitsverständnis sind die Einleitungssätze von Niklas

Luhmann, ›Die Realität der Massenmedien‹, Opladen 1996, S. 9: »Was wir über

unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die

Massenmedien.« Mit dem Wirklichkeitsbegriff einer kritischen Theorie hat diese

Auffassung freilich nichts zu tun.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 7ideologische Inhalt sowenig eine Rolle wie die materiale Form. Der

Rechtsrockfan ist mit jeder Medientheorie kompatibel: »Medien stellen

das Wissen, das sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter

die Bedingungen, die sie selbst geschaffen haben … Medien sind keine

abstrakten Träger eines fremden Sinns, sondern sind konkret und

haben einen materialen Eigensinn … Medien kommunizieren nicht nur

Ereignisse, sondern kommunizieren zugleich sich selbst als Ereignis

mit.«13 Für den Positivismus, der die Medien ontologisierend auf ihre

Selbstreferenzialität reduziert, ist der Inhalt nicht einmal als Sonderfall

relevant.14 Nach derselben Ideologie, so proklamiert es die Mediologie,

erfordern die Neuen Medien »eine neue Rezeptionshaltung: immersiv

statt lesend/dechiffrierend, […] eine neue Darstellungsform:

metaphorisch/ikonisch statt rational, […] eine neue Ästhetik: taktil statt

distanziert, […] ein neues Weltbild: kybernetisch/konstruktivistisch

statt linear, […] eine neue Erkenntnistheorie: multi- statt

monoperspektivisch.«15 In diesem Sinne ist der wehrpflichtige

Rechtsrockfan nicht weniger Medienexperte als die vielen anderen

Mitreisenden, die sich der unterschiedlichsten Neuen Medien bedienen.

13 Claus Pias, ›Poststrukturalistische Medientheorien‹, in: Stefan Weber (Hg.),

›Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus‹, Konstanz

2003, S. 287 f.

14 Die Medientheorie formalisiert den Inhalt der Medien: Technische

Akzidenzien, zum Beispiel dieÜbertragungsrate, sind gleichzeitig Wesen und

Erscheinung; das Medium als Mittel wird zum Zweck an sich selbst – damit ist jede

mediale Erfahrung allerdings schon a priori auf das abstrakte Verfahren depotenziert.

Dies als demokratischen Charakter der Medien zu verteidigen, fungiert nicht anders

als die Verteidigung der Demokratie selbst: formale Gleichheit und Freiheit, die in

jedem konkreten Konfliktfall Gleichgültigkeit und Unfreiheit bedeutet. Nicht dass es

Nazis gibt, die sich der Medien oder der parlamentarischen Demokratie bedienen, ist

das politische Problem, sondern das Medien und Demokratie gleichermaßen es

strukturell überhaupt ermöglichen, dass auch Nazis sich ihrer bemächtigen. Es ist ein

politisches Problem, weil diese Struktur auf den wesentlichen Inhalt von sowohl

Medium als auch Demokratie verweist.

15 Hartmann, ›Mediologie‹, a.a.O., S. 146 (die eckigen Klammern mit

Auslassungspunkten bezeichnen im Original Absätze mit Spiegelstrichen).

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 8»Medialität drückt aus, dass unser Weltverhältnis und damit alle unsere

Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender – und nicht

einfach weltkonstruierender – Funktion geprägt sind von den

Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen.«16 Eine idiotische

Frage, ob der Rechtsrockfan diese Unterscheidungsmöglichkeiten

einfach gar nicht oder ganz explizit genutzt hat. Immerhin gehören alle

Formen des regressiven Bewusstseins zu den üblichen Modellen

moderner wie postmoderner Welterschließung; dass faschistische

Ideologie ihren exponierten Ort in den modernen Medien hat, vom

Volksempfänger bis zum Internet, wird medientheoretisch nicht erfasst,

weil die Medien als ontologisches oder positivistisches Faktum isoliert

werden: die Wirklichkeit der Moderne, die in der systematischen

Massenvernichtung kulminierte, hat mit der Realität der Medien nichts

zu tun. Die Zeit nach Auschwitz und Hiroshima als Medienzeitalter zu

benennen, konstruiert eine Epoche,17 in der es unbedeutend ist, ob es

Auschwitz und Hiroshima gegeben hat. Die kritische Frage, wie ein

Bewusstsein beschaffen ist, das strukturell die Massenvernichtung

dulde te , e rmögl i chte und durchführ te , wi rd zur

»kulturapokalyptischen Fassung von Medientheorie« herunter

gebrochen, als hätte die kritische Theorie (und die Medientheorie zielt

16 Sybille Krämer, ›Was haben die Medien, der Computer und die Realität

miteinander zu tun?‹, in: Dies. (Hg.), ›Medien. Computer. Realität.

Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien‹, Frankfurt am Main 1998, S. 15;

zitiert nach Tholen, ›Die Zäsur der Medien‹, a.a.O., S. 24. Bemerkenswert auch hier,

dass die welterschließende Funktion der Medien offenbar höher gewertet wird als die

weltkonstruierende Funktion; sofern dem Materialismus zugrunde liegt, begreift

dieser jedenfalls nicht den praktischen Menschen mit ein.

17 #ä# Die McLuhansche Medientheorie lebt wesentlich davon, ausgehend von

der Schrift und Sprache die Menschheitsgeschichte in Epoche einzuteilen: #ä# Zum

Begriff der Epoche: ›Epoche‹ meint, nach dem griechischen Wort, einen Haltepunkt –

so wie in der christlich-abendländischen Geschichtsschreibung das Jahr Eins den

Ausgangspunkt der Zeitrechnung darstellt; mit den Metaphern Pop, Postmoderne

und schließlich Medien werden solche Haltepunkte bezeichnet, die Geschichte nicht

neu schreiben oder eine neue Geschichtsschreibung etablieren, sondern Geschichte

selbst tendenziell annullieren. #ä# Epochalisierung keine Historisierung; Epoche =

Kunstgeschichte und Kulturgeschichte (Benjamin) #ä# Paradigma #ä#

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 9hierbei vor allem gegen Adorno) lediglich sich über Lüge, Schwindel

und Manipulation durch die Medien beschweren wollen, um die

wertvolle Hochkultur gegen die böse Massenkultur auszuspielen.

Dagegen zu behaupten, dass »Medien, einst von McLuhan bestimmt als

active metaphors, als handelnd wirksame Metaphern, … generell

Übersetzungsinstanzen für Erfahrungsformen und Weltbilder«18 sind,

eskamotiert schließlich jeden humanistischen Impuls der Moderne, also

jedes Problem kritischer Erkenntnis und Erfahrung, als hätte es den

Komplex des emanzipatorischen Subjekts – der aufgeklärte Mensch, die

Selbstentfaltung des Individuums, die Bildung des Selbstbewusstseins,

der sinnlich-praktisch Mensch, das Ich – nie gegeben. In der

Wirklichkeit der Medien kommt kein Subjekt-Objekt vor, kein

theoretisches Problem, keine Praxis. Die Affinität zwischen

Medientheorie und Poststrukturalismus oder Postmoderne, die vom

Tod des Subjekts redet, ist Ideologie derselben spätkapitalistischen

Gesellschaft, deren materielles Herrschaftsverhältnis zugleich und

wiederum ideologisch von Medientheorie, Poststrukturalismus und

Postmoderne bestritten wird. Dass sich mithin Medientheorie,

Poststrukturalismus, Postmoderne und schließlich die Popkultur seit

den fünfziger Jahren parallel und in zahlreichen Überschneidungen

entwickelt haben, bildet den Ausdruckszusammenhang einer Phase des

Kapitalismus, der sich zur selben Zeit endgültig als umfassendes

Weltsystem durchgesetzt hat . Gerade im ideologischen

Fundamentalismus der Massenmedien wurde bestätigt, dass der

Kapitalismus nicht fundamental kritisierbar ist; zugleich wurde medial

suggeriert, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, außer ihn

selbst. Spätestens mit dem Stalinismus war vom Realsozialismus nichts

mehr zu erwarten; die nachfolgenden Revolutionen des Kalten Krieges

waren nationale und nationalistische Befreiungen; die kapitalistischen

Gesellschaften konnten die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt

vollständig integrieren; mit der spätfordistischen Angestelltenkultur, die

sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als allgemeine Popkultur

ubiquitär ausbreitete, ist ohnehin die Frage kultureller Hegemonie

beantwortet. Dieselbe Technik und dieselbe technologische Rationalität,

die in der Organisation der Massenvernichtung und dem Zweiten

18 Hartmann, ›Mediologie‹, a.a.O., S. 143.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 10Weltkrieg perfektioniert wurde, erschienen plötzlich in Gestalt der

Medien als Beleg dafür, dass die Dialektik der Aufklärung bloß eine

Chimäre miesepetriger Pessimisten war. ›Understanding Media‹ – durch

die angeblich magischen Kanäle des Fernsehens schien es, als konnte die

Welt wieder neu interpretiert werden: Verändert wurde sie jetzt durch

die Medien; die Revolution war nur noch technologisch möglich in einer

Welt, die sich in ihrer sozialen Struktur als endgültig behauptete. Seit

dem Ende der politischen Revolutionen offenbart das bürgerliche

Medienzeitalter sein wirkliches revolutionäres Vermögen: Kein Tag

vergeht, an dem nicht ein neues Shampoo, eine neue Creme, ein neues

Waschmittel mit revolutionärer Formel auf den Markt kommt, an dem

nicht die Unterhaltungselektronik durch neue Gimmicks revolutioniert

wird, an dem die Warenwelt durch Waschkraft, Hautstrafung, grafische

Auflösung, Prozessorleistung oder Bremstechnik umgewälzt wird.

Insofern war es der epochale Verdienst McLuhans und anderer,

überhaupt die Signatur der Epoche – losgelöst von der sozialen

Vergangenheit – rein technisch zu bestimmen, zugleich aber diese

technische Epoche (Medienzeitalter, Informationszeitalter,

Kommunikationszeitalter etc.) als neue Gesellschaftsformation zu

proklamieren. Das ist schon 1951 im Titel von McLuhans ›The

Mechanical Bride: Folklore of Industrial Man‹ angelegt. Herbert Marcuse

schreibt vier Jahre später, 1955, in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹:

»Die westliche Philosophie endet mit dem Gedanken, mit dem sie begann.

Zu Anfang und zu Ende, bei Aristoteles und bei Hegel, erscheint die

höchste Form der Vernunft und der Freiheit als nous, als Geist … Mit

Hegel hat sich der Hauptstrom der westlichen Philosophie erschöpft.

Der Logos der Herrschaft hat sein System gebaut und was nachfolgt, ist

Epilog: die Philosophie lebt als eine spezielle (und nicht sehr

lebenswichtige) Funktion in den akademischen Einrichtungen weiter.«19

In der Epoche nach Hegel wird der Geist, der nicht verwirklicht wurde,

zum Medium: erst im Sinne des Spiritualismus, dann als Technizismus

instrumenteller Rationalität, dann – heute – als digitales Gespenst und

beliebig ausdehnbares Spektakel. »Das Spektakel hat die ganze Schwäche

des abendländischen philosophischen Projekts geerbt, das in einem von

19 Herbert Marcuse, ›Triebstruktur und Gesellschaft‹, Werke Bd. 5, Springe

2004, S. 104 f.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 11den Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit bestand;

sowie es sich auch auf die unaufhörliche Entfaltung der genauen,

technischen Rationalität, die aus diesem Gedanken hervorgegangen ist,

gründet. Es verwirklicht nicht die Philosophie, es philosophiert die

Wirklichkeit. Das konkrete Leben aller ist es, welches sich zu einem

spekulativen Universum degradiert hat.«20 Aus dem Idealismus des

Geistes wird die Ideologie des Mediums (und aus dem deutschen

Idealismus wird die deutsche Ideologie).

Zauberflöte. Das Medium als Instrument des tätigen Geistes

»Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn

der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beym Buchstaben stehn

geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung

verlohren. Formularwesen.« Novalis21

»Vergiss also das so genannte Populare nicht …«,22 schreibt Leopold

Mozart 1780 an seinen Sohn Wolfgang Amadeus; mit Mozart beginnt,

wie Peter Wicke überzeugend nachzeichnet, die Geschichte der

Popmusik (als populäre Musik): Der Schritt von der Kunst zur

Unterhaltung kennzeichnet Aufklärung, Sturm und Strang, Klassik und

Frühromantik gleichermaßen. Aber auch der umgekehrte Schritt

bestimmt die Logik der bürgerlichen Kultur, die sich in dieser Zeit

entfaltet: Was zuvor auch der Unterhaltung diente, wird zur Kunst

erhöht; kraft des gebildeten Geschmacks wird Unterhaltung selbst zur

Kunst erhoben, als Distinktionsmittel. Die philosophische Ästhetik, die

sich Mitte des 18. Jahrhunderts herausbildet, beginnt Wahrnehmung

und Sinnlichkeit zunehmend auf die Kunst zu beziehen, reflektiert die

Kunst schließlich unter dem Gesichtspunkt der Autonomie des Werkes;

20 Guy Debord, ›Die Gesellschaft des Spektakels›, Berlin 1996, S. 20.

21 Novalis, ›Werke‹, Bd. 2: ›Das philosophisch-theoretische Werk‹, Hans-

Joachim Mähl (Hg.), München und Wien 1978, S. 383.

22 Peter Wicke, ›Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der

Popmusik‹, Frankfurt am Main 2001, zit. n. S. 7; vgl. S. 7 ff.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 12Wahrheit, Schönheit und das Sittliche verleihen nunmehr dem

Kunstwerk Souveränität, Eigensinn und Authentizität. Mit dem

Populären steht das Kunstwerk indes allein deshalb in

Wechselbeziehung, weil durch die Revolution der Bürger in der

bürgerlichen Gesellschaft als Masse auftritt; das Massenpublikum wird

selbst ein ästhetisches Phänomen. Ein Jahrzehnt nach der Ermahnung

des Vaters, das Populäre nicht zu vergessen, schafft Mozart mit der

›Zauberflöte‹ die erste wirkliche Volksoper. Zauberei und Magie,

Freimaurerei (Humanität, Wohltätigkeit, Sittlichkeit), Aufklärung und

Mythos treten hier zusammen; die ›Zauberflöte‹ ist gleichermaßen

komische und ernste Oper, ebenso finden sich Elemente des Singspiels.

1791 wird sie in Wien uraufgeführt, also zwei Jahre nach der

französischen Revolution 1789 und ein Jahr nach dem Erscheinen von

Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ 1790. Adorno spricht von der

»Guckkasten-Kosmologie der Zauberflöte«:23 der Geist dieser Musik ist

Vermittlung, und die Vermittlung – die Musik als Medium und Mittel –

ist Metaphysik (Adorno spricht ebenfalls von der Guckkasten-

Metaphysik). So wie die Idee der Revolution selbst Vermittlung der Idee

der bürgerlichen Gesellschaft war, ist die Musik Medium als Mittel,

Vermittler und Transzendenz. Vermittlung ist hierbei als tätiger Geist zu

denken: das Medium zielt auf das Material, der Zauber der Flöte und die

Magie ihres Klangs bilden eben genau die Einheit, die Adorno mit der

Guckkasten-Kosmologie oder -Metaphysik meint. Was hier Medialität

genannt werden könnte, manifestiert sich als »Mythologie der

Vernunft«, wie es Hölderlin, Schelling und Hegel im ›Ältesten

Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ wenige Jahre nach Mozarts

›Zauberflöte‹ fordern:24 Der tätige Geist, der die Frühromantik beseelt,

zielt auf die »sinnliche Religion … Monotheismus der Vernunft und des

23 Theodor W. Adorno, ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹, in: GS Bd. 18,

S. 771. So wie Goethe Weltliteratur zu schreiben beansprucht, sieht Adorno in der

Zauberflöte ein »Welttheater«, »auf dem oben und unten, Opera seria, Couplet, Lied,

Ziergesang und aufgeklärte Mystik gleichwie zum letztenmal im runden Kosmos sich

zusammenfinden, ohne Riss zwischen dem Bereich Sarastros und dem Papagenos Ö«

(›Bilderwelt des Freischütz‹, in: GS Bd. 17, S. 38.)

24 Vgl. [Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus], in: Hegel,

Werke Bd. 1, S. 234 ff.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 13Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s,

was wir bedürfen«, lautet die Forderung des Systemprogramms, welches

vorsichtig durchaus in eine kritische Theorie der Medien übersetzbar

wäre: »… Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt … so wird

diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder,

was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist

natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen.

Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt –

aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus

Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; … Ich

möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden

Physik einmal wieder Flügel geben.« Geist und Physik, der lebendige

Körper und die schöpferische Kraft der Idee – das sind die Kategorien,

mit denen hier frühromantisch eine Theorie der Medien, eine Theorie

der Medialität als kritische Theorie entworfen wird: »Es scheint nicht,

dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist

oder sein soll, befriedigen könne … Die Idee der Menschheit voran, will

ich zeigen, dass es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas

Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur

was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den

Staat hinaus! … Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische

Philosophie … Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen,

haben sie für das Volk kein Interesse … Dann erst erwartet uns gleiche

Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine

Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit

und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt,

muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte

Werk der Menschheit sein.« In Hegels Philosophie kulminiert das im

Medium des Geistes, im Weltgeist und im System des absoluten Wissens.

Das Medium als materiales Mittel und idealer Zweck zugleich. In der

›Phänomenologie des Geistes‹ bestimmt Hegel demnach das Medium als

das »abstrakte allgemeine Medium, das die Dingheit überhaupt oder das

reine Wesen genannt werden kann«, welches »nichts anderes [ist] als

das Hier und Jetzt, wie es sich erwiesen hat, nämlich als ein einfaches

Zusammen von vielen.«25 In der Physik, die Hegel später in der

25 Hegel, ›Phänomenologie des Geistes‹, Werke Bd. 3, S. 95.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 14›Enzyklopädie‹ entwickelt, ist der Körper ein Medium (zum Beispiel des

Lichts).26 Vor allem bleibt aber der Mensch – die Anschauung und

Vorstellung27 – Medium, wie es Hegel in den ›Vorlesungen über die

Ästhetik‹ entfaltet: »Es ist nicht nur Göttliches im Menschen, sondern in

ihm ist es in einer Form tätig, die in ganz anderer, höherer Weise dem

Wesen Gottes gemäß ist als in der Natur. Gott ist Geist, und im

Menschen allein hat das Medium, durch welches das Göttliche

hindurchgeht, die Form des bewussten, sich tätig hervorbringenden

Geistes; in der Natur aber ist dies Medium das Bewusstlose, Sinnliche

und Äußerliche, das an Wert dem Bewusstsein bei weitem nachsteht. Bei

der Kunstproduktion nun ist Gott ebenso wirksam wie bei den

Erscheinungen der Natur, das Göttliche aber, wie es im Kunstwerk sich

kundgibt, hat, als aus dem Geiste erzeugt, einen entsprechenden

Durchgangspunkt für seine Existenz gewonnen, während das Dasein in

der bewusstlosen Sinnlichkeit der Natur keine dem Göttlichen

angemessene Weise der Erscheinung ist.«28 Der idealistische Begriff des

Mediums changiert zwischen Physik des Körpers und dem tätigen Geist;

Medienästhetik bedeutet hier, das Kunstwerk als Produkt menschlicher

Tätigkeit zu bestimmen. Der Künstler als Genius wird zum obersten

Medium, das von ihm geschaffene Kunstwerk zur Vermittlung des

Göttlichen: Durch den Künstler spricht Gott, wobei die Sprache Gottes

mathematisch und poetisch zugleich sein muss – Musik. Kunst wird zum

Medium des realen Humanismus, doch sie scheitert an der realen

Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft, arretiert als politisches Ideal

und ästhetisches Fragment der Freiheit: »Freude schöner Götterfunken,

Tochter aus Elysium, Wir betreten Feuertrunken, Himmlische, dein

Heiligtum! Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt …

Dieses Glas dem guten Geist überm Sternenzelt dort oben!«, dichtet

Schiller noch vor der französischen Revolution. Doch der Weltgeist

kommt über das politisch-ästhetische Versprechen der Neunten Sinfonie

Beethovens nicht hinaus, der bekanntlich Schillers Ode vertont, bleibt

26 Vgl. Hegel, ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹, Werke Bd.

9, S. 226.

27 Vgl. Hegel, ›Vorlesungen über die ƒsthetik‹, Werke Bd. 13, S. 71.

28 Hegel, ›Vorlesungen über die ƒsthetik‹, Werke Bd. 13, S. 49 f.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 15in der Verwirklichung stecken; am Ende scheitert die Vermittlung wie

zum Schluss des zweiten Teil vom ›Faust‹ am Vergänglichen, am

Unbeschreiblichen und Unzulänglichen; der Geist verhallt in der

bürgerlichen Gesellschaft als mystischer Chor.

Sprache als Medium. Die Waffe der Kritik

Beethoven stirbt 1827, Hegel stirbt 1831, Goethe stirbt 1832. Die

bürgerliche Revolution wird von der industriellen Revolution abgelöst

und aufgehoben. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft

erscheint nunmehr ausschließlich als technischer Fortschritt; fand die

Idee der bürgerlichen Revolution ihren Ausdruck im realen

Humanismus der Hochkultur, in der Forderung des ästhetischen Staates

und in der Kunst als Symbol der Sittlichkeit, so ist die urbane

Massenkultur, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt, der

Ausdruckszusammenhang der industriellen Revolution, die der

Kapitalismus im Gebiet der Produktion ebenso durchsetzt wie in der

Sphäre der Reproduktion und Ideologie. Die technologische

Entwicklung, die erstmalig hervorbringt, was dann im 20. Jahrhundert

als Massenmedien bezeichnet wird – Fotografie, Zeitungen etc. –, ist

gesellschaftlicher Fortschritt in verdinglichter Form: vermittelt durch die

Ware. Sie ist das originäre Medium der Moderne, insbesondere in ihrer

abstrakten Gestalt, als Geld. 1851 findet in London die erste

Weltausstellung statt: Der kapitalistische Warentausch und die mit ihm

in Gang gesetzte ökonomische Verwertungslogik haben bereits in der

Mitte des 19. Jahrhunderts alles hervorgebracht, was ein Jahrhundert

später als Eigenschaft der (neuen) Medien bestimmt wurde. Dass das

Medium die Botschaft sei, gilt maßgeblich für die Waren im

Tauschverkehr und definiert ihren Fetischcharakter; nicht umsonst hat

Marx von der Ware als ein »sinnlich-übersinnliches Ding«29 gesprochen

und bezeichnete damit ihre Metaphysik und Magie. In der Ideologie der

Medientheorie erscheint indes das Medium selber als Fetisch,

wenngleich die Medien in keiner der kursierenden Auffassungen in

29 Vgl. Marx, ›Das Kapital‹, MEW Bd. 23, S. 85.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 16ihrer Warenförmigkeit bestimmt werden.30

Das konkrete Medium des tätigen Geistes, der Mensch selbst,

verwandelt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in das abstrakte

Medium der Ware. Menschlich bleibt ihre Logik in Form der Sprache,

worauf sich erstmals Søren Kierkegaard 1843 in ›Entweder-Oder‹ mit

einem expliziten Medienbegriff bezieht: »Die Sprache, als das absolut

geistig bestimmte Medium, ist das eigentliche und wahre Medium der

Idee.«31 – Kierkegaard unterscheidet dabei das Medium Sprache vom

30 Medientheorien sind hierbei bisweilen mehr als kurios: So zählen Natascha

Just und Michael Latzer in ihrem Text ›Ökonomische Theorien der Medien‹ (in:

Stefan Weber (Hg.), ›Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum

Konstruktivismus‹, Konstanz 2003, S. 81 ff.) zwar Marxens Theorie zu den

»medienökonomischen Pionierleistungen«, erwähnt aber als einzigen Text einen

Artikel von 1842 (»Debatten über die Preßfreiheit und Publikationen der

Landständischen Verhandlungen«, in: MEW Bd. 1, S. 28 ff.). – Darüber hinaus

bleibt die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ökonomie und Medien in

der Regel auf die reaktionäre und bestenfalls dumme Variante der »Medienkritik«

beschränkt, bei der die Medien verschwörungstheoretisch auf Macht- und

Profitinteresse reduziert werden. Diese Position, die auch bei vermeintlich linken

oder kritischen Medientheorien verbreitet ist, kapriziert sich bestenfalls auf die

Forderung nach Gegenöffentlichkeit und hat in der letzten Zeit durch das so genannte

Cultural Jamming, Ad Busting oder Projekte wie »Republicart« zahlreiche Anhänger

in der bürgerlichen Kulturlinken gewonnen. Zur Kritik hierzu: Kerstin Stakemeier

Beitrag in dieser ›Testcard‹-Ausgabe, sowie ihr Text ›Gegen die Anerkennung der

Öffentlichkeit‹ in der Phase 2.18, Winter 2005. Die fehlende, falsche oder bloß

verkürzte medientheoretische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus drückt sich

auch in einer verzerrten Vorstellung von Politik, Medienpolitik, politische

Intervention etc. aus und ist gekennzeichnet durch ein grundsätzlich positives und

affirmatives Verhältnis zum Staat, beziehungsweise zu seiner modernen Form, der

parlamentarischen Demokratie. Vgl. dafür exemplarisch die Beiträge von Oliver

Marchart und Christoph Weismüller in dem Reader: Demopunk und Kritik & Praxis

Berlin (Hg.), ›Indeterminate Kommunismus! Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur‹,

Münster 2005.

31 Søren Kierkegaard, ›Entweder-Oder‹, Leipzig 1885, S. 69. Vergleiche auch:

Rainer Leschke, ›Einführung in die Medientheorie‹, München 2003, S.12 f. Bei

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 17Medium Musik (übrigens am Beispiel einerseits von Goethes ›Faust‹,

andererseits von Mozarts ›Don Juan‹): »Was aber die religiöse Idee

ausgedrückt haben will, ist Geist; daher fordert sie die Sprache, als das

eigentliche Medium des Geistes, und verwirft die Musik, welche diesem

ein sinnliches, insofern immer unvollkommenes Medium ist, um

dadurch auszudrücken, was des Geistes ist.«32

Ende desselben Jahres, in dem Kierkegaards ›Enweder-Oder‹ erscheint,

formuliert Marx, was Kierkegaards existenzialistische Wendung des

Mediums als Sprache politisch bedeutet: »Die Waffe der Kritik kann

allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt

muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie

wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«33 – Dies

stellt den materialistischen Versuch dar, die Revolution wieder als

Medium des tätigen Geistes, nämlich des sinnlich-praktischen Menschen

zurück zu gewinnen.34 Die Revolution als Medium bleibt aus, das Reich

der Freiheit wird nicht als Kommunismus des menschlichen Glücks

jenseits des Reiches der Notwendigkeit materiell verwirklicht, sondern

dem Reich der Notwendigkeit als Ideologie übergeworfen und das

Medium der Revolution entmaterialisiert: was einmal tätiger Geist war

und dann als Gespenst der wirklichen Bewegung gefürchtet wurde,

verschwindet nun im idealistischen Nebel des Okkultismus. Die

Vermittlung ist nicht mehr die dialektische zwischen Subjekt und

Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen Humanismus und

Kierkegaard findet sich übrigens auch beiläufig »Geld als Medium« erwähnt, ebd. S.

349. Man sollte als Anekdote noch anfügen, dass Kierkegaard die Presse,

insbesondere das Zeitungswesen entschieden und aus ethischen Gründen ablehnte.

Er selber wurde Opfer von Karikatur und Pressekampagnen.

32 Kierkegaard, › Entweder-Oder‹, a.a.O., S. 76.

33 Marx, ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung‹, in: MEW

Bd. 1, S. 385.

34 Marx’ Ausgangspunkt ist derselbe wie in dem idealistischen

Systemprogramm ein halbes Jahrhundert zuvor: In beiden Fällen wird von der

Religion ausgegangen, und in beiden Fällen wird die Verwirklichung der

praktischen Sinnlichkeit gefordert.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 18Naturalismus, sondern ist Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits,

Jammertal und Totenreich. Während der an den Naturwissenschaften

geschulte Positivismus die philosophische Metaphysik attackiert,

bemächtigen sich Pseudophilosophien und esoterische Heilslehren der

toten und für tot erklärten Begriffe: Das Transzendentale, der Geist, das

Wesen – die einmal emanzipatorisch ausgerichteten Begriffe der

bürgerlichen Philosophie finden sich jetzt als Etiketten verramscht auf

dem Markt der Wunderheiler, Hypnotiseure, Magier und Tischerücker

wieder. Zum Ende des 19. Jahrhunderts ist aus den sinnlich-

übersinnlichen Waren schlussendlich die sinnlich-übersinnliche

Religion des Kapitalismus hervorgegangen. Und was keine materielle

Praxis vermochte, behaupten nun Parapsychologie, Telepathie und

Spiritismus zu vollbringen: kraft eines Mediums den Bann der

Wirklichkeit zu durchbrechen und den Weg zum Übernatürlichen

freizugeben.

Das Medium konnte eine Person mit besonderer »Begabung« sein, aber

ebenso eine Substanz oder ein Gegenstand; durchaus haben an dieser

esoterischen Idee des Mediums auch die modernen Naturwissenschaften

ihren Anteil: Mit Elektrizität und dem Röntgenverfahren, aber auch mit

Mikrobiologie und Astronomie wurde die Welt des Unsichtbaren

erschlossen; und ohnehin gab es den Begriff des Mediums in der Physik

und Chemie schon vorher (als Mittel beziehungsweise Trägersubstanz).

Zugleich ergab sich für die moderne Naturwissenschaft dasselbe

Paradox wie für die bürgerliche Philosophie: Je mehr durch die

Wissenschaft erklärbar wurde, umso weniger wurde mit der

Wissenschaft verstehbar. Thermodynamik, Relativitätstheorie und

Quantenmechanik haben mit dem Alltagsleben der Großstadtmenschen

um 1900 kaum etwas zu tun. Zugleich gab es aber immer mehr Probleme

des Alltags, die gelöst werden wollten: Vermittlung war notwendig –

zwischen Individuum und Masse, zwischen dem subjektiven Geist und

dem objektiven Geist, als Ausweg aus der »Tragödie der Kultur« (Georg

Simmel). Okkultismus und Spiritismus boten einen Ausweg, der sogar

noch über das Reale hinauszureichen versprach. Bis heute hat sich die

Ideologie gehalten, dass der Zauber und das Spektakel der Medien von

der erdrückenden Last der Wirklichkeit befreien können, gleich ob es

sich dabei um Kartenlegen, Autosuggestion, Telekinese, die katholische

Kirche oder einfach nur das übliche Fernsehprogramm oder eine

durchschnittliche Illustrierte handelt; sich der übersinnlichen

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 19Anästhesie zu überantworten, ist Schutz vor der sinnlichen Erfahrung

des trostlosen Alltagslebens. Dass sich in nur wenigen Jahrzehnten der

Medienbegriff vom Esoterischen ins Technische verschob, ist gleichwohl

kaum verwunderlich: An den kulturtechnischen Erfindungen haftet seit

jeher das Magische, das durch die Technik der modernen Medien wie

Fotografie, Film oder Rundfunk noch verstärkt wurde. Solche Technik

vermochte die Welt zu vermitteln und die Entfremdung zu

überbrücken, gerade weil sie der Welt alle Fremdheit nahm und

Unmittelbarkeit suggerierte. Von dieser Ideologie der Technik hat

schließlich später McLuhan seine Trivialontologie der Medien abgeleitet;

zugleich basiert sie in einer Ersatzreligion des Technischen, eingepasst an

die Erfordernisse einer völlig versachlichten Welt des Warenverkehrs,

um sogleich den Konsumenten den Wunsch zu erfüllen, diese Welt der

Waren möge doch nicht ganz so profan sein. Insofern verwundert es,

dass Max Weber gerade zur Hochzeit des esoterischen

Medienspektakels seine These vom Entzauberungsprozess bestätigt sah:

der Zweckrationalität, die sich in der ökonomischen Betriebsführung

und im bürokratischen Staatsapparat manifestiert, geht zwar eine

profane Kultur einher, deren Grundprinzip jedoch gewissermaßen eine

Zweckirrationalität ist. Das meint die Dialektik der Aufklärung: die

Entzauberung der Welt gelang nur durch das Mittel der Verzauberung;

die säkularisierte Moderne findet ihren Ausdruck in der

Verschränkung von Mythologie und Technik – und letztendlich nicht

in deren Vermittlung. So wird schließlich die Technik selbst als Medium

der Befreiung verdinglicht.

Pop

Auf die kapitalistische Massenkultur des 19. Jahrhunderts folgt mit dem

Fordismus die Kulturindustrie. Sie bildet die eigentliche Matrix für die

Entwicklung der Massenmedien und ihre Ideologie. Streiten sich

zunächst noch Kunst und Massenkultur um die Vorherrschaft über die

Medien, so macht sich die Kulturindustrie die Medien zum Werkzeug,

um die Kunst selbst in ihre Struktur zu integrieren: Mit den Medien

gelingt es, die Menschen an die Kunst zu gewöhnen; so wird die

klassische Kunst des bürgerlichen Zeitalters in Kitsch transformiert und

die Avantgarde zum bloßen Spektakel kanonisiert. Die Medien bedeuten

die Ästhetisierung der Politik; sie neutralisieren die kritische Funktion

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 20der Kunst. Das Medium ist die Botschaft heißt auch: Inhalt und Form

der Medien dienen gleichzeitig der Aufrechterhaltung der bestehenden

Ordnung. Information ersetzt die Erfahrung und Kommunikation tritt

an die Stelle der kritischen Reflexion; das Medium fungiert als

Vermittlungsinstanz in einer Phase der Gesellschaft, in der es nichts

mehr zu vermitteln gibt. Medien nivellieren den gesellschaftlichen

Widerspruch, in dem sie ihn scheinbar still stellen, zum Standbild der

Moderne einfrieren. Hatte sich die Kulturindustrie aus der

Massenkultur entfaltet, in dem die modernen Medien verfeinert

wurden, so durchbricht die nachfolgende Popkultur die Kulturindustrie:

Pop platzt aus der Kulturindustrie heraus – der dunkle Saal erstrahlt

plötzlich im Licht der Scheinwerfer; die Kulisse wird durchbrochen und

aus der Pappwand springt die Band hervor; auf Bühne eröffnet das

Feuerwerk das Konzert. Die Sprengkraft des Pop bleibt allerdings von

vornherein auf die Kultur beschränkt, so dass der Pop zu keinem

Zeitpunkt eine ernsthafte Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung

darstellte. Im Gegenteil: Gerade unter Ausnutzung der gesamten

modernen Medienapparatur konnte Pop die Revolution als kulturelle

Ideologie fortsetzen, die als soziale Emanzipation scheiterte – durch die

Medien dehnte sich der Pop soweit über die Gesellschaft aus, dass

schließlich jede auch noch so beiläufige kulturelle Aktivität als soziale

Praxis inszeniert werden kann. Doch die Medien waren technisch schon

längst entwickelt, bevor der Pop sich ihrer kulturell zu bemächtigen

vermochte.

1928 wird der Medienbegriff erstmals in der heutige gebräuchlichen

Weise verwendet, und zwar von dem Publizisten Emil Dovifats:35 ein

Katholik, dessen Karriere im und Kollaboration mit dem

Nationalsozialismus kaum in den medientheoretischen Diskursen

thematisiert wird. – Ende der dreißiger Jahre entwickelt sich in den

Vereinigten Staaten eine breite Diskussion über die Wirkung und

Struktur der Massenmedien;36 auch hierbei wird in der

35 So jedenfalls schreibt es Weber in: Ders. (Hg.), ›Theorien der Medien‹, a.a.O.,

S. 10.

36 Zum einen ist hierbei Harold Lasswell zu nennen, dessen 1948 publizierte

»Formel« »Who says What in Which Channel to Whom with What Effect?« vor

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 21medientheoretischen Debatte allerdings der politische Hintergrund der

Massenmedien-Diskussion ausgespart: sie stand nämlich nicht nur unter

dem Vorzeichen der Frage, inwieweit Massenkultur sich am Kampf und

Krieg gegen den Nationalsozialismus beteiligen kann, sondern vor allem

ging es um die vermeintliche Infiltration der Massenmedien –

insbesondere des Hollywood-Kinos – durch die Kommunisten. Kurzum:

Die Gefahr der Manipulation des Publikums durch die Massenmedien

meinte nicht Verdummung, sondern ganz im Gegenteil zielte sie gegen

den Versuch fortschrittlicher Kräfte, die Massenkultur für die politische

Aufklärung zu nutzen. Erst mit dem Ende der so genannten McCarthy-

Ära, dem Kalten Krieg und dem Einfluss der Jugendkultur auf die

Entwicklung der Massenmedien ändert sich dies: Etwas plakativ gesagt,

sind statt der Kommunisten ab Mitte der fünfziger Jahre die

Jugendlichen – Rocker, Halbstarke etc. – die massenkulturelle

Bedrohung der Gesellschaft. Einmal mehr: In den sich auf McLuhan

beziehenden Versionen der Medientheorie kommt die Politik der

Massenmedien allerdings nicht vor. Die Masse selbst wird entweder

positiv mit dem allgemeinen Publikum oder der breiten Öffentlichkeit

synonym beschrieben, oder in den üblichen Kontrast zur

Individualisierung und Atomisierung des modernen Menschen

gebracht. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert vermochte die

Ideologie der Massenkultur den Umstand zu verdecken, dass die ihr

zugrunde liegende Massenproduktion auf dem Widerspruch der

Klassengesellschaft basiert. Der Massenkultur bleib das

Herrschaftsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs

äußerlich; mit der Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts wurden die

Widersprüche der Klassengesellschaft politisch-administrativ und

kulturell gleichermaßen gelöst und die Masse bildet nunmehr einen

homogenen, hegemonialen Block: in der demokratischen Fassung das

Zwangskollektiv der Konsumenten, und in der faschistischen Fassung

die Volksgemeinschaft. Im selben Maße, wie mit dem Fordismus die

allem Einfluss auf die Kommunikations- und Zeitungswissenschaft hatte. Zum

anderen hat Paul Lazarsfeld die Diskussion um Massenmedien wesentlich geprägt.

Dass Adorno, wenn auch selten inÜbereinstimmung mit Lazarsfeld, unter Lazarsfeld

Regie wichtige empirische Studien in den Vereinigten Staaten durchführte, wird

gemeinhin ignoriert. Vgl. den Anhang im Briefwechsel zwischen Adorno und

Horkheimer, Band II, Frankfurt am Main 2004.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 22kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Gesellschaft als Ganze

bestimmten – eben als Kulturindustrie –, wurde der Produktion immer

weniger Beachtung geschenkt: In der post-industriellen Gesellschaft des

Medienzeitalters schien alles Verschwunden zu sein, was einmal den

alten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts kennzeichnete: Das Proletariat,

das Elend, die Fabrikarbeit, die große Industrie, überhaupt die

gesellschaftlichen Widersprüche. Im Zeitalter der Massenmedien sollte

jeder soziale Konflikt kommunikativ lösbar sein; die

Informationstechnologie verlängerte das tayloristische Prinzip des »One

best way« für die Massenkultur, die gleichsam zum Betrieb wurde. Die

Massenmedien adressierten das Individuum mit pädagogischer und

psychologischer Aufmerksamkeit. Die Verwirklichung der

Informationsgesellschaft als ideale Kommunikationsgemeinschaft durch

die Massenmedien erschien als einzige noch denkbare Utopie, wurde

zum Ersatz des Ideals einer befreiten Gesellschaft. Die Utopie der

Massenmedien war allerdings nicht die Masse, sondern das isolierte

Individuum. – Scheinbar paradox, tritt erst mit der Individualisierung

der Medien die Masse wieder positiv hervor: im Pop.

… After the great Divide

»Wir sind mit den Massenmedien aufgewachsen. Für uns waren die

Massenmedien bereits ein natürlicher Bestandteil unseres

Lebensumfelds. Wir sind zu spät geboren worden, um noch den

Geschmack und das Verständnis von Ästhetik annehmen zu können,

das unsere Eltern und Lehrer hatten.« Lawrence Alloway (1957)37

Der bestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir: die Decke

des Wohnraums scheint offen; sie wird fast vollständig von einer vom

Nachthimmel gerahmten Mondscheibe ausgefüllt. Eine Wand bildet eine

Fensterfront, durch die der von Reklame erleuchtete Eingang eines

Filmtheaters zu sehen ist: »Warner« und »The Jazz Singers« ist zu lesen.

An der anderen Wand des Zimmers hängt ein großes Comiccover:

»Young Romance – True Love«, sowie ein gerahmtes Porträtfoto eines

37 Lawrence Alloway, ›Personal Statement‹, zit. n. Martin Büsser, ›Pop-Art‹,

Hamburg 2001, S. 50.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 23Mannes. Davor steht links in der Ecke ein Beistelltisch mit Lampe, auf

deren Schirm das Ford-Logo prangt; rechts ein Fernsehgerät, der mit

einer Obstschale dekoriert ist, dahinter eine exotische Zimmerpflanze (ein

Fensterblatt). Ein Drip-Painting von Jackson Pollock bildet das Muster

des Teppichs, auf dem eine Sofagarnitur sowie eine Tischkombination

stehen. Auf dem Tisch eine Dosenfleischbüchse; im Vordergrund ein

tragbares Tonbandgerät (mit Kurbelbetrieb, wie damals für

Außenaufnahmen üblich) und, gerade noch sichtbar, die Ecke eines

weiteren Sessels, auf dessen Lehne eine Tageszeitung liegt. Eine Treppe

führt unvermittelt links am Fenster hoch, aus dem Bild heraus. Eine

Frau saugt den Treppenläufer mit einem Staubsauger; sein Schlauch ist

ungefähr in der Mitte mit einem Pfeil markiert: »ordinary cleaners reach

only this far.« Auf der rechten Couch sitzt eine nackte Frau, die eine

ihrer geschmückten Brüste hält und sich mit der anderen Hand lasziv an

den Kopf fasst. Ihr Hut sieht nach einem Lampenschirm aus und

korrespondiert deshalb mit der Ford-Lampe links im Bild. Ein nur mit

einer Sporthose bekleideter Bodybuilder steht im Zentrum des Raumes,

welches sich im Bild etwas links befindet, so dass sich der

überdimensionierte Lolli, den er wie einen Tennisschläger in der rechten

Hand hält, im goldenen Schnitt befindet. Auf dem Einwickelpapier des

Lollis ist zu lesen: »POP«. Jedes dieser Elemente und ihre besondere

Konstellation ist als Antwort auf die Frage zu verstehen, die Richard

Hamilton als Titel für diese Collage von 1956 gewählt hat: »Just what it is

that makes today’s homes so different, so appealing?« (das Bild misst

gerade 26 x 25 cm: es war als Poster gedacht). – Lawrence Alloway wird

1958 erstmals den Begriff Pop-Art in einem Artikel benutzen und die

auch für die Popkultur typische »Ästhetik der Fülle« entwickeln.38

38 Der Kunstkritiker Alloway »importiert« den Begriff Pop-Art in die USA; die

kritische Bezugnahme von Hamilton auf John Heartfield oder Gustav Klucis fehlt

allerdings in der Pop-Art der Vereinigten Staaten, bei Warhol und anderen.

Bemerkenswerter Weise verrät der Titel von Alloways Text, dass der Popbegriff im

Kontext der Diskussionen um Neue Medien eingeführt wurde: Vgl. Lawrence

Alloway, ›The Arts and the Mass Media‹, in: Architectural Design, XXVIII, 2, Februar

1958, S. 84-85. Alloway verwendete das Wort Pop allerdings nur in

Anführungszeichen. Neben Pop-Art kursierten zudem noch zahlreiche weitere

Begriffe: »New Realism, Popular Image Art, Common Object Art, Factualism, Neo

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 24Schon 1947 hatte Eduardo Paolozzi das Wort »Pop« in seiner Collage ›I

was a rich man’s plaything‹ verwendet (es taucht in der Pulverwolke

eines Pistolenschusses auf). Und Hamilton selbst definiert bereits 1957 in

einem Brief Pop-Art:

»Pop-Art ist:

Populär (für ein Massenpublikum gemacht),

vergänglich (Kurzzeitlösungen),

überflüssig (leicht vergessen),

billig,

massenproduziert,

jung (auf Jugendliche zielend),

witzig,

sexy,

gimmickhaft,

glamourös,

Big Business.«

Dadaism, American Dream Painting, Sign Painting, Anti-Sensibility Painting, and

Cool-Art were just a few names but forth in an attempt to label the new art.« (Susan

Davidson, ›Shaping Pop: From Objects to Icons at the Guggenheim‹, in: Guggenheim

Museum Publications (Hg.), ›American Pop Icons‹, Katalog zur Ausstellung im

Guggenheim Hermitage Museum Las Vegas, 15. Mai bis 2. November 2003, New

York 2003, S. 15; Mit Verweis auf Max Kozloff, ››Pop‹ Culture, Metaphysical Disgust,

and the New Vulgarians‹, in. Art International (Lugano) 6, Nr. 2 (März 1962), S. 35

f.) – Endgültig wurde der Begriff Pop in Amerika durch die Ausstellung »The New

Realists« in der Sidney Janis Galerie in New York, November 1962 bekannt. 1963

kuratierte Alloway die Ausstellung ›Six Painters and The Object‹; Alloway war

übrigens Mitglied der Independent Group (vgl. Davidson, ›Shaping Pop: From

Objects to Icons at the Guggenheim‹, a.a.O., S. 12 f.).

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 25Hamiltons Definition, die sich nachgerade als Manifest lesen lässt, gilt

nicht nur für die Pop-Art, sondern für die Popkultur allgemein, die zur

selben Zeit ihren historischen Ursprung findet: 1954 nimmt Elvis

Presley seine erste Platte auf; 1955 wird Bill Haleys ›Rock Around the

Clock‹ zum ersten Rock ’n’ Roll-Hit.39 Im gleichen Jahr gibt es mit

›Blackboard Jungle‹ den ersten ›Rock ’n’ Roll‹-Film. Ebenfalls 1955

promoviert Martin Luther King und James Brown nimmt seine erste

Platte auf (›Please Please Please‹) – die Soul-Ära beginnt und mit ihr der

Einfluss afroamerikanischer Kultur auf den Pop.40 Nicht zuletzt durchs

Fernsehen wird in den Fünfzigern auch Jazz populär, erreicht mit

Mainstream und Cool ein Massenpublikum (Ende der Vierziger wird

Bebop der Mainstream im Jazz; 1971 veröffentlicht Dizzy Gillespie eine

Platte mit dem Titel ›Mainstream‹. Grundlegend ist freilich ›Birth of the

Cool‹ von 1957 – die Aufnahmen wurden zwischen 1948 und 1950

gemacht; Miles Davis spielt 1954 erstmals die Trompete mit einem

Metalldämpfer, was den dann typischen entrückten und schwebenden

Klang erzeugt).

Mit den Fünfzigern beginnt mit dem Pop die Zeit »after the great

divide«;41 gemeint ist, dass in diesem Jahrzehnt die Grenze zwischen

Hochkultur und Massenkultur überschritten wird, ohne das sie –

paradox – in den nachfolgenden Jahrzehnten tatsächlich verschwindet.

Vielmehr wird das Grenzland zwischen High und Low, zwischen E und

U ausgeweitet und von einer Kultur des »Middlebrow« besetzt: ›The

39 Weitere Hits: ›Ain't That a Shame‹ (Fats Domino), ›Earth Angel‹ (The

Penguins), ›Mannish Boy‹ (Muddy Waters), ›Maybellene‹ (Chuck Berry) und eben

›Rock Around the Clock‹ (Bill Haley and the Comets).

40 #ä# 1955, aufgenommen, 1956 Charterfolg: James Brown, ›Please Please

Please‹ (1957: Little Richard wird Religiös, die Band wird zum Teil James Browns

Band, Brown übernimmt erfolgreich den Rest der Tour. – Dazu die weiße,

kommunistische Foltradition: Pete Seeger (1955 HUAC), Phil Ochs, Woody

Guthrie#ä#

41 Vgl. Andreas Huyssen, ›After the Great Divide. Modernism, Mass Culture,

Postmodernism‹, Bloomington und Indianapolis 1986.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 26Middle Against Both Ends‹ nennt das 1955 Leslie Fiedler.42 Fünfzehn

Jahre später datiert Fiedler in seinem berühmten Text ›Cross the Border,

Close the Gap‹ den Beginn der Postmoderne auf eben diese Zeit um

1955.43 Was den Übergang von der Moderne zur Postmoderne indes

kennzeichnet, findet eben in der Popkultur seinen Ausdruck, die

nunmehr definiert und konstituiert wird durch die so genannten

»Neuen Medien«. – Zeitgleich mit den Theorien der Popkultur und

Postmoderne entwickelt sich auch die Medientheorie, maßgeblich

inspiriert und fundiert von Herbert Marshall McLuhan.

In den fünfziger Jahren werden »Medien« und »Neue Medien« zu

Etiketten für eine neue Epoche; mehr noch – und das geht weitgehend

auf McLuhan zurück – werden »Medien« nicht nur zur allumfassenden

Metapher der vielfältigen Erscheinungen dieser Epoche, sondern zum

Wesen dieser Epoche. »And as technology increasingly undertakes to

submit the entire planet as well as the contents of consciousness to the

purpose of man’s factive intelligence,« wie McLuhan 1954 schreibt, it

behooves us to consider the whole process of magical transformation

involved in the media acutely and extensively … Modern technology

presumes culture to attempt a total transformation of man and his

environment. This calls in turn for an inspection and defense of all

human values. And so far as merely human aid goes, the citadel of this

42 Abgedruckt ist der Text in: Bernard Rosenberg und David Manning White

(Hg.), ›Mass Culture. The Popular Arts in America‹, Illinois 1956, S. 537 ff. Der

Begriff Middlebrow ist nicht minder problematisch als Highbrow und Lowbrow,

auch wenn er den rassistischen Ursprung der Termini übergeht: Mit Highbrow und

Lowbrow wurde im 19. Jahrhundert die weiße, intelligente Kultur der hohen Stirn

(Beispiel: Shakespeare) physiognomisch von der sich etablierenden Kultur der

schwarzen Sklaven unterschieden, die rassistisch als niederstirnig und damit dumm

klassifiziert wurden.

43 Vgl. Fiedler, ›Überquert die Grenze, schließt den Graben!‹. Der Text erschien

zuerst 1969 im ›Playboy‹ (der im Übrigen 1953 erstmals erscheint, mit Marilyn

Monroe auf dem Cover; 1955 ist Eve Meyer, damals von ihrem Ehemann Russ Meyer

fotografiert, als »Miss June« das erste Playmate des Monats). Die deutsche

Übersetzung von Fiedlers Text erscheint dann bezeichnender Weise in ›Christ und

Welt‹.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 27defense must be located in analytical awareness of the nature of the

creative process involved in human cognition. For it is in this citadel that

science and technology have already established themselves in their

manipulation of the new media.«44

»Just what it is that makes today’s homes so different, soappealing?«

Die Popkultur, die Massenmedien und die Postmoderne sind drei

Facetten derselben Antwort auf die Frage, was das gegenwärtige Leben

so angenehm macht. Es sind zugleich drei Varianten der Ideologie der

fortgeschrittenen Industriegesellschaft, der kulturellen Logik des

Spätkapitalismus, des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus.

Pop, Postmoderne und Medien haben ihren gemeinsamen begrifflichen

oder vielmehr metaphorischen Ursprung in den fünfziger Jahren des 20.

Jahrhunderts und avancierten in den nachfolgenden Jahrzehnten dann

in unterschiedlicher Gewichtung zu epochalen Leitmotiven; vor allem in

Hinblick auf die technologische Entwicklung hat die Rede vom

Medienzeitalter heute schließlich ältere, aber synonyme Etiketten wie

Kommunikations- oder Informationszeitalter ersetzt. Dass überhaupt die

strukturelle Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft in epochalen

Abschnitten technologischer oder kulturtechnischer Entwicklung

beschreibbar sei, ist selbst schon Teil der Ideologie, nach der die Welt

ohnehin nur noch durch die Medien oder als mediale Konstruktion

erscheint. Das mit Pop, Postmoderne und Medien, aber auch

Kommunikation oder Information bezeichnete Zeitalter ist allerdings

keines der Geschichte, keine historische Epoche. Vielmehr

charakterisieren Pop, Postmoderne und Medien als Epochalmetaphern

den Bruch mit der Geschichte; Pop, Postmoderne oder Medien werden

zu Ersatzbezeichnungen für Geschichte und markieren den Zustand der

44 McLuhan, ›Sight, Sound and Fury‹, in: Rosenberg und White (Hg.), ›Mass

Culture‹, a.a.O., S. 495.

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 28»Nachgeschichte« beziehungsweise des »Posthistorie«.45

Pop zerschlägt in den Fünfzigern das historische Band der Tradition,

bricht radikal mit den Konventionen der bisherigen

Kulturgeschichtsschreibung, verweigert die Linearität der

Kunstentwicklung, sperrt s ich gegen jede ästhetische

Geschichtsphilosophie und geschichtsphilosophische Ästhetik: Im

»AWop-bop-a-loo-mop alop-bam-boom / Tutti Frutti, all over rootie,

…« von Little Richard verweigert Pop die Sprache (für eine wesentlich

über Literatur und Verstehbarkeit sich definierende moderne Kultur ein

ebenso großer Affront wie Joyces ›Finnegans Wake‹); damit entzieht

sich Pop aber auch der – sprachlichen – Erzählstruktur der Moderne

und wird in seiner Entstehung postmodern. Pop, im Sinne des »Rock

around the Clock«, füllt die historische Zeit mit Gegenwart, die zum

rhythmischen Zyklus der ewigen Wiederkehr des Neuen wird (wie die

Mode). Überdies verwandelt Pop die historische Zeit zur reinen

Gegenwart, die sich über Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen

ausbreitet. In dieser Weise erklärt Pop-Art sich zu Neo-Dada, wiederholt

die vergangene (und gescheiterte) Avantgarde der Antikunst als neue

Kunst; unter diesem Voreichen findet 1956 in der Whitechapel Art

Gallery in London die Ausstellung »This is Tomorrow« von der

Independent Group statt. Pop löst in der permanenten Aktualisierung

des Ungleichzeitigen die Geschichte auf; die abstrakte Zeit, die die

kapitalistische Produktion beherrscht, wird im Pop – in der Popmusik

ebenso wie in der Pop-Art – auf den Konsum, auf die Sphäre der

Reproduktion ausgeweitet. Das bedeutet die Serialität der Warholschen

Suppendosen, oder: Strophe – Refrain – Strophe – Refrain – Strophe –

Refrain … und irgendwo dazwischen die Bridge.

Erst mit den achtziger Jahren gelingt es, den Pop zu historisieren und

eben Popgeschichte zu schreiben. So etabliert sich in diesem Jahrzehnt

Pop als Sammelbezeichnung für die verschiedenen Popmusiken (Musik

wird als Soundtrack zur Signatur der Epoche); vor allem werden die

Differenzen zwischen Pop und Rock nivelliert und Rock wird in Pop

45 Die beiden korrespondierenden Theoreme des Posthistorie und der

Nachgeschichte werden ebenfalls in den fünfziger Jahren eingeführt. Vgl. #ä# Die

Seele im technischen Zeitalter; Gehlen

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 29eingegliedert; gleichzeitig wird der klassische Pop kanonisiert, wodurch

Pop erstmals eine historisch verbindliche Vergangenheit erhält und

selbst in eine Phase der Modernisierung eintritt (New Wave etc.); und zu

dieser Modernisierung gehört auch die explosionsartige Ausbreitung

der Popsparten, sowie die Etablierung eines Undergrounds als Pop-

Avantgarde: Independent, Do-it-Yourself, Subversion, Alternative,

Punk und Hardcore – das sind die Strategien einer Gegenkultur, die mit

Mitteln des Pop zu operieren beansprucht. Künstlerische Strategien der

Aneignung (oder wenigstens des Versuchs der Aneignung) werden von

technischen Entwicklungen in einem Maße unterstützt, dass sie

schließlich ganz auf den technischen Aspekt reduziert werden, dass

Technik selbst zum kulturellen Widerstand verzerrt wird: Sampler, die

Verbesserung des DJ-Equipments, die Beat-Box, die Synthesizer –

Musiktechnologie wird zur Ideologie der Popkultur und verdinglicht

die gesellschaftlichen Verhältnisse; Techno geriert eine neue Allianz von

Mensch und Maschine, neue Standards werden definiert (das Bands

Bauhaus, Human League, New Order, Style Council etc. heißen, kommt

nicht von ungefähr). Die Kritik des Pop an der Moderne, ist eine

historische Kritik und zugleich Kritik an der Geschichte selbst; damit

konvergieren Pop und Postmoderne, und Fredric Jameson nennt als

Beispiel für postmoderne Musik »composers like Philip Glass and Terry

Riley, and also punk and new-wave rock with such groups as the Clash,

Talking Heads and the Gang of Four.«46 Popgeschichte wird hierbei

sozusagen popimmanent in zwei gegenläufigen Tendenzen konstituiert:

Auf der einen Seite Hip-Hop mit dem expliziten historischen Bezug auf

Jazz, Soul, aber auch Rock (der Versuch, Musik als Teil der eigenen

Geschichte zu verstehen, aber auch, Geschichte durch Musik erzählbar

zu machen; überhaupt: Musik als Erzählung zu begreifen – »Talkin’ all

that Jazz«, nach Stetsasonic). Auf der anderen Seite die Abkehr vom

klassischen oder als klassisch kanonisierten Pop gerade aus dem

geschichtsbewussten Impuls heraus, dass das Alte nicht mehr geht und

das Neue oder zumindest die Renaissance verteidigt werden muss

(Synthiepop, Gothic, auch Metal etc.). Aus der Wiederholung, nämlich

aus dem Retro, wird die Geschichte wiedergeboren (die Achtziger sind

46 Fredric Jameson, ›Postmodernism and Consumer Society‹, zum Beispiel:

http://qcpages.qc.cuny.edu/ENGLISH/Staff/richter/Jameson.html (11. Januar 2006)

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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 30auch das Jahrzehnt, in dem fast alle alten Jugendkulturen ihr Revival

erleben: Mods, Skinheads, Teds, aber auch die Romantics oder Raver

etc.). Auch über die Renationalisierung der Popkultur wird Geschichte

gemacht (Neue Deutsche Welle, British Heavy Metal, Italo-Pop etc.).

Wesentlich wird Popgeschichte allerdings durch die Wiederaufnahme

und Adaption ästhetischer Strategien der Hochkultur erzählbar

gemacht: Was in den siebziger Jahren lediglich als Geniekult und

überhöhte Virtuosität im Bombast- und Progressivrock wirkmächtig

war,47 und zwar in einem modernistischen Verständnis von Ästhetik,

wird jetzt im Sinne der Postmoderne zu einer umfassenden Popästhetik

der befriedeten Gegensätze: Pop und Kunst, E und U, Adorno und Jazz,

Avantgarde und Kitsch, Zitat und Original, der Nonsens und die Geste.

Pop wird die diffuse Kultur der Differenz, der permanenten

Dekonstruktion des eigenen Bedeutungsfeldes; tendenziell treten alle

zusammen auf: Sonic Youth, Mike Kelley, William S. Burroughs, Laurie

Anderson, und, und, und …

[Der Text ist aufgrund eines Computerabsturzes nicht fertig. Es fehlt: die

Wiederaufnahme des Opernmotivs, Mozarts ›Zauberflöte‹: der

zweihundertste Geburtstag Mozarts 1956; Medien, Pop und die

Konstruktion von Subjektivität, die an der Vermittlung scheitert: The

Who, ›Tommy‹ – »deaf, dumb and blind«; Ingmar Bergmans

›Zauberflöten‹-Verfilmung von 1974: das Scheitern der Ehe, Beziehung

und geplatzte Vermittlung (die Liebe ist kein Problem der Medien).

Außerdem: das Eisenbahnmotiv vom Anfang, nämlich: Kraftwerk,

›Trans Europa express‹; die Idee der Mensch-Maschine bei Max Ernst,

Andy Warhol und Grace Jones … etc.]

47 Beziehungsweise ohne Wirkung blieb, weil diese ästhetischen Verfahren

ohne jede geschichtliche Reflexion eingesetzt und zum reinen Selbstzweck erklärt

wurden, bis sie tatsächlich technisch überholt waren. Man könnte dies anhand eines

Vergleichs zwischen Rick Wakeman und Herbie Hancock anschaulich machen:

Wakeman ist nur in der Musikwelt von Moog, Hammond, Mellotron und ARP

grandios, weil sich seine Virtuosität gerade unabhängig von der geschichtlichen

Signatur des Klangmaterials behaupten will; Hancock hat dem entgegen immer mit

dem historisch spezifischen Sound gearbeitet, was insbesondere sein Umgang mit

Synthesizern von ›Headhunter‹ bis ›Rock it‹#ä# hörbar macht.