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Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 1
Geplatzte Vermittlung
Popgesellschaft und Medienkritik
{Erste Fassung}
Roger Behrens
Das Funkloch im ICE Böhse Onkelz. Nach den Medien
Die unheimliche Beschleunigung des Medienzeitalters, die vollständig
entfaltete Popkultur einer längst schon wieder verabschiedeten
Postmoderne: Ein Hochgeschwindigkeitszug rast von Stadt zu Stadt, die
Ha l t e s t e l l en he ißen E r l e b n i s - o d e r Kulturbahnhof,
Verkehrsknotenpunkte am Ende des Zeitalters des Sozialismus, der
Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus und der Jugend.1
Jeder Sitzplatz ist mit einem Kopfhöreranschluss ausgestattet. Ein von
Universal bestücktes Musikprogramm bietet hier auf bis zu acht Kanälen
etwa »Friedrich Gulda spielt Beethoven: Klaviersonaten Nr. 7, 8, 9 & 10«
und »Various: ›Impulsive! Revolutionary Jazz Reworked‹« (beide im
Januar 2006 unter Klassik/Jazz), oder »Various Artists: ›Unsere Besten –
Jahrhundert-Hits‹, »Harald Schmidt: ›Livemitschmidt‹« und »The
Cardigans: ›Super Extra Gravity‹« (alle drei CDs als Rock/Pop), dazu
Kinderprogramm und Literatur; an den Sitzplätzen, die mit Video
ausgestattet sind, gibt es im Januar 2006 zum Beispiel »Spitzenpreise mit
Spitzenkunst: Impressionen von der Art Cologne« (n-tv Service: Geld)
oder »Das Miniaturwunderland in der Speicherstadt Hamburg« (Bahnen
der Welt). Viele Reisende haben allerdings ihr eigenes
Unterhaltungsprogramm dabei, lesen ein Taschenbuch oder die Zeitung
und hören Musik auf CD- und Mp3-Spielern, oder beschäftigen sich mit
ihrem Laptop, sei’s zum Vergnügen, sei’s um zumindest den Anschein
1 Vor fast einhundert Jahren schreibt Walter Benjamin: »Wir leben im Zeitalter
des Sozialismus, der Frauenbewegung, des Verkehrs, des Individualismus. Gehen
wir nicht dem Zeitalter der Jugend entgegen? Ö Die Jugend aber ist das Dornröschen,
das schläft und den Prinzen nicht ahnt, der naht, es zu befreien.« (›Das
Dornröschen‹, in: Gesammelte Schriften Bd. II�1, Franfurt am Main 1991, S. 9.)
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 2von Geschäftigkeit zu erwecken. Telefoniert wird viel, lange und laut;
immer wieder reißt je nach Netz und Empfang die Verbindung ab und
Gespräche verrauschen ins Nichts – nur selten wird zurückgerufen und
die ohnehin bedeutungslose Konversat ion fortgesetzt .
Großraumabteilwagen: Alle sind medial mit dem Fernsten verschaltet, die
Nächsten sind immer die Störenden: die Sitzplätze sind eng,
insbesondere die mit Tisch. Teilnahmslos versucht man, wie aus
Versehen die Beine des Gegenübers wegzuschieben, desinteressiert wird
auf den Bildschirm des Nachbarn geschielt; der Platz für den eigenen
Rechner ist schon von einem anderen Laptop okkupiert. Einige stellen
sich genervt schlafend, hangeln sich von Funkloch zu Funkloch. Klingelt
nicht gerade irgendwo ein Mobiltelefon, gibt es Ansagen über die
weiteren Anschlüsse am nächsten Bahnhof oder Entschuldigungen für
Verspätungen. In manchen ICEs informiert ein Bordcomputer mit
Drucker über weitere Bahnverbindungen; Fahrkarten kann man im Zug
lösen, mit Kreditkarten auch ohne Bargeld zahlen. Schließlich informiert
ein kostenlos ausliegendes Magazin des Bahnunternehmens mit dem
programmatischen Titel ›Mobil‹ über Reiseziele, Kulturevents, Bestseller,
Bands und vor allem Erfolgsgeschichten von Unternehmern,
Schauspielern, Musikern etc. Hier im Zug scheinen die Techniken, die
man heute allgemein als Medien bezeichnet, wirklich »Ausweitungen
unserer Körperorgane und unseres Nervensystems« zu sein, selbst
schon Verlängerungen ihrer eigenen Ideologie, dass eben die Medien
»dazu dienen, Macht und Geschwindigkeit zu vergrößern«.2 Tatsächlich
ist die einzige Macht, die hier vergrößert wird, die eigene Ohnmacht
gegenüber der Unbequemlichkeit; die mediale Beschleunigung
komprimiert menschliche Sinnlichkeit, macht sie stumpf. Es ist so, wie
Brecht es über den Rundfunk 1932 schrieb: »Man hatte plötzlich die
Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich
überlegte, nichts zu sagen.«3 Nur, was Brecht zu Beginn des
Medienzeitalters formulierte, erfährt heute – nach den Ende der Medien
2 Marshall McLuhan, ›Die magischen Kanäle. Understanding Media‹,
Düsseldorf 1992, S. 109.
3 Bertolt Brecht, ›Der Rundfunk als Kommunikationsapparat‹, in: Claus Pias,
Joseph Vogl, Lorenz Engell et al. (Hg.), ›Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen
Theorien von Brecht bis Baudrillard‹, Stuttgart 1999, S. 259.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 3– seine Wendung: die Technik, die von den Medien noch übrig ist, dient
weder der Kommunikation noch der Distribution, sondern schlichtweg:
ihrer Verhinderung. Was hier vor allem nicht stattfinden soll, ist
Kommunikation – darauf sind die vorteilhaft inszenierten Medien
ausgerichtet. Dass mithin der Mensch es vermag, mit Werkzeugen seinen
Körper zu erweitern, hatten längst Marx und Engels materialistisch
erkannt: Ihnen ging es um die Technik der Produktion. Sofern mit der
Medientechnik der produktive Zugang zur Welt ersetzt wird, sind diese
Ausweitungen der Körperorgane nur Prothesen, wie es Günther Anders
nannte, – gefühllose Ersatzorgane. Medien schaffen hier einen Raum frei
von jeder Sensibilität, eine kalte Aura der Empfindungslosigkeit.
Zugleich schafft diese Aura keine Distanz, sondern stellt einen Raum der
Unmittelbarkeit dar. Von der Definition, dass »Medien Unterschiede
[seien], die einen Unterschied machen«,4 ist mithin nicht einmal mehr das
Gegenteil richtig. Nach einer fast zweihundertjährigen Geschichte der
modernen Medien gibt es nichts mehr zu Vermitteln. Alles klebt
aneinander, so wie die Reisenden in den engen Sitzplätzen; dass die
geplatzte Vermittlung ihr Bild in den medial perfekt ausgestatten
Hochgeschwindigkeitszügen findet, dürfte selbst noch eine mediale
Nachwirkung der Fortschrittsideologie sein, die einmal in der Eisenbahn
ihr Urbild fand. Die vermeintliche Medienrevolution bedeutet wie jede
technische Umwälzung, die über die Gesellschaft bloß hinwegrollt, die
Umkehrung eben des berühmten Satzes von Marx, 1850: »Die
Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.«5 Für die auf die
Technik beschränkte und verkürzte Veränderung der Welt heißt das
also dem entgegen: die Lokomotiven sind die Revolutionen der
Geschichte, beziehungsweise – weil die Eisenbahn auch nichts weiter als
ein technisches Medium war (ein Medium der Vermittlung, ein Mittel
des Transports, der Übersetzung etc.): Die Medien sind die Revolution
der Geschichte. Leicht lässt sich unter dieser Prämisse die Behauptung
4 Martin Seel ›Medien der Realität und Realität der Medien‹, in: Sybille
Krämer, (Hg.), ›Medien. Computer. Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue
Medien‹, Frankfurt am Main 1998, S. 245; hier zitiert nach: Georg Christoph Tholen,
›Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen‹, Frankfurt am Main 2002, S.
24.
5 Karl Marx, ›Klassenkämpfe in Frankreich‹, MEW Bd. 7, S. 85.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 4aufstellen, dass das Medium die Botschaft ist – weil sowieso die Botschaft
im Medium vollständig aufgeht.
»Medien sich gegenwärtig das Thema . Medientheorie kann als
Begleiterscheinung einer spannenden Transformation aufgefasst werden:
Die Technologie der Informationsgesellschaft verändern unseren Begriff
von Wissen, von Bildung und von Kultur.«6 So ist es einleuchtend zu
behaupten: »Medientheorie und Medienkunst haben seit mindestens
zwanzig Jahren Konjunktur.«7 Nichtsdestotrotz: »Der Beliebtheit des
Medienbegriffs in aktuellen geisteswissenschaftlichen Diskussionen
entspricht seine Unschärfe.«8 Alles ist in bodenloser Beliebigkeit zum
Medium erklärt worden. Kaum eine Medientheorie, die nicht versucht,
sich selbst und die medientheoretische Konkurrenz in ihrer
pseudowissenschaftlichen Assoziationswut zu überbieten. Typisch in
den medientheoretischen Publikationen sind dabei Einleitungssätze wie
dieser: »Medien sind Mittel der Kommunikation. Ohne sie ließen sich
keine Sender und Empfänger vermitteln oder Botschaften übertragen
und verbreiten. Sie prägen und verändern das Milieu unserer
Wahrnehmung von Welt. Doch die vertrauten Definitionen des
Mediums – Mittel, Vermittlung, Milieu – reichen nicht aus, um der
Eigenart und Dynamik medialer Welterschließung gewahr zu werden.«9
Doch am Ende des Medienzeitalters entpuppt sich, wie wenig Medien
tatsächlich Mittel oder Vermittlung der Kommunikation waren. Wo alles
potenziell zum Medium werden kann, ist nichts mehr Medium. Im
nachhinein zeigt sich, das längst nicht alles Medium war, was von den
Medientheorien als solches bezeichnet wurde; vor allem die zahllosen
und bedeutungslosen wie redundanten Metaphern bleiben als
6 Frank Hartmann, ›Mediologie‹, Wien 2003, S. 15
7 Norbert M. Schmitz, ›Medialität als ästhetische Strategie der Moderne. Zur
Diskursgeschichte der Medienkunst‹, in: Ders., Peter Gendolla, Irmela Schneider und
Peter M. Spangenberg, ›Formen interaktiver Medienkunst‹, Frankfurt am Main 2001,
S. 95.
8 Albert Kümmel und Petra Löffler (Hg.), ›Medientheorie 1888–1933‹,
Frankfurt am Main 2002, S. 11.
9 Tholen, ›Die Zäsur der Medien‹, a.a.O., S. 7.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 5Worthülsen zurück, als Ruinen einer Epoche der Kommunikation, in der
die Kommunikation nicht stattfand. Tabu ist in jeder Medientheorien
bereits der Verdacht, dass das von ihnen beschriebene Zeitalter vorüber
ist und ihre Zentralvokabel »Medien« längst substanzlos verrauscht sein
könnte; schon das Wort »Medien« ist Mythos geblieben und findet sich
nirgends als Reflexionsbegriff. »Medien« ist ein leerer Begriff und eine
blinde Anschauungen, weil Begriff und Anschauungen der Medien
nicht vermittelbar erscheinen. Kategorisch wird Kritik, kritisches
Bewusstsein und Reflexion über den Gegenstand hinaus ausgeschlossen;
Medien bilden immer schon den hermeneutischen Zirkel ihrer
metaphorischen Reichweite – und die ist unendlich, weitet sich
zunehmend aus: eine Art metaphorische Entropie. Der Mediologe
moniert das »McLuhan-Bashing«, welches »heute wieder zum
vornehmen Ton akademischer Diskurse« gehöre, und weiß apodiktisch,
dass sämtliche Kritik an McLuhans Thesen »ihnen den epochalen
Verdienst nicht nehmen [kann], mit der kulturapokalyptischen Fassung
von Medientheorie gebrochen zu haben«.10 Realitätsblindheit wird zur
pseudowissenschaftlichen Ideologie vom medialen Verschwinden der
Realität. Grundsätzlich verweigern Medientheorien den kritischen
Anspruch, die Totalität des gesellschaftlichen Seins begrifflich zu fassen,
und dennoch setzen sie kategorisch, dass mit der Medialität der Welt
bereits das Weltganze erschlossen sei.
Dass sich Medien über ihre Inhalte nicht begreifen lassen, ist nachgerade
zur Maxime aller Medientheorie geworden – sie wird allerdings nicht
dadurch wahrer, dass der Umkehrschluss, die Medien lassen sich über
ihre Form begreifen, bloß assoziativ und metaphorisch beschworen
wird. Zwangsläufig mündet dieser Zuschnitt von der Bedeutung der
Medien in Ontologie und Positivismus gleichermaßen, und die kritische
Frage nach dem Problem der Medien – wonach Vermittlung nur als
Kritik zu denken ist – bleibt ausgespart. »Medien sind indifferent
gegenüber dem, was sie speichern, übertragen und verarbeiten«,11
10 Hartmann, ›Mediologie‹, a.a.O., S. 19.
11 Tholen, ›Die Zäsur der Medien‹, a.a.O., S. 8 f.; Tholen definiert damit die
»Metaphorologie der Medien«; »lesbar« sei dies als »In-Differenz, d. h. als
Dazwischenkunft der teilenden und dadurch verbindenden Medien« (S. 9).
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 6versucht die Medientheorie plausibel zu behaupten. Dass allerdings
Medien sich nicht über Inhalte begreifen lassen, bezeichnet das Problem
der Medientheorien und mitnichten die Lösung. Wo Medientheorie den
Inhalt nicht ignorieren dürfte, wird sie indes zynisch. Etwa so: In der
Bahn sitzt neben mir ein junger Bundeswehrsoldat, ein Wehrpflichtiger
mit Freifahrtausweis für Familienheimfahrten, adrett gekleidet mit
Fassonschnitt, Anorakjacke, Jeans und Reisetasche mit Schriftzug ›Just
Do it!‹. Ein Hooligan, schmächtig, aber nicht schwächlich; ein
konformistischer Charakter, ein Mitläufer, keine Autorität, aber
autoritär. Ein Sammler und Experte, wie sich herausstellt: Die letzten
beiden Stunden im Zug klappt er seinen Laptop auf und beginnt sein
Musikdatenbank zu ordnen. Ob offizielle Veröffentlichungen oder
inoffizielle Demotapes: Er hat scheinbar alles auf seinem Rechner, was die
Böhsen Onkelz jemals aufgenommen haben; die Mp3-Liste auf seinem
Bildschirm wird immer länger. Reinhörend klickt er sich durch die
Musikgeschichte von fünfundzwanzig Jahren Rechtsrockentwicklung:
Ein Nebenstrang im auslaufenden Mainstream der Medien im
postmodernen Jahrzehnt der Achtziger, von jeder Medientheorie
ignoriert, weil es in ihrem Blickfeld jenseits von dem liegt, was
Medientheoretiker mal abfällig, mal euphemistisch die Wirklichkeit
nennen.12 Baudrillard hat seine buchstäblich schwachsinnige
Simulationstheorie vom medialen Realitätsverschwinden schließlich nicht
am brennenden Sonnenblumenhaus in Rostock expliziert, sondern an
den Nachtangriffen während des zweiten Golfkriegs: am Fernsehapparat.
Gleichgültig, ob man die Botschaft zum Medium erklärt oder das
Medium zur Botschaft; egal, ob man sich auf die Information oder die
Funktion der Medien kapriziert – medientheoretisch spielt der
12 Einen umfassenden Einstieg undÜberblick über die konstruktivistische und
systemtheoretische Medientheorie bieten: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt und
Siegfried Weischenberg (Hg.), ›Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die
Kommunikationswissenschaft‹, Opladen 1994. Bezeichnend für das systemtheoretisch
gebräuchliche Wirklichkeitsverständnis sind die Einleitungssätze von Niklas
Luhmann, ›Die Realität der Massenmedien‹, Opladen 1996, S. 9: »Was wir über
unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die
Massenmedien.« Mit dem Wirklichkeitsbegriff einer kritischen Theorie hat diese
Auffassung freilich nichts zu tun.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 7ideologische Inhalt sowenig eine Rolle wie die materiale Form. Der
Rechtsrockfan ist mit jeder Medientheorie kompatibel: »Medien stellen
das Wissen, das sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter
die Bedingungen, die sie selbst geschaffen haben … Medien sind keine
abstrakten Träger eines fremden Sinns, sondern sind konkret und
haben einen materialen Eigensinn … Medien kommunizieren nicht nur
Ereignisse, sondern kommunizieren zugleich sich selbst als Ereignis
mit.«13 Für den Positivismus, der die Medien ontologisierend auf ihre
Selbstreferenzialität reduziert, ist der Inhalt nicht einmal als Sonderfall
relevant.14 Nach derselben Ideologie, so proklamiert es die Mediologie,
erfordern die Neuen Medien »eine neue Rezeptionshaltung: immersiv
statt lesend/dechiffrierend, […] eine neue Darstellungsform:
metaphorisch/ikonisch statt rational, […] eine neue Ästhetik: taktil statt
distanziert, […] ein neues Weltbild: kybernetisch/konstruktivistisch
statt linear, […] eine neue Erkenntnistheorie: multi- statt
monoperspektivisch.«15 In diesem Sinne ist der wehrpflichtige
Rechtsrockfan nicht weniger Medienexperte als die vielen anderen
Mitreisenden, die sich der unterschiedlichsten Neuen Medien bedienen.
13 Claus Pias, ›Poststrukturalistische Medientheorien‹, in: Stefan Weber (Hg.),
›Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus‹, Konstanz
2003, S. 287 f.
14 Die Medientheorie formalisiert den Inhalt der Medien: Technische
Akzidenzien, zum Beispiel dieÜbertragungsrate, sind gleichzeitig Wesen und
Erscheinung; das Medium als Mittel wird zum Zweck an sich selbst – damit ist jede
mediale Erfahrung allerdings schon a priori auf das abstrakte Verfahren depotenziert.
Dies als demokratischen Charakter der Medien zu verteidigen, fungiert nicht anders
als die Verteidigung der Demokratie selbst: formale Gleichheit und Freiheit, die in
jedem konkreten Konfliktfall Gleichgültigkeit und Unfreiheit bedeutet. Nicht dass es
Nazis gibt, die sich der Medien oder der parlamentarischen Demokratie bedienen, ist
das politische Problem, sondern das Medien und Demokratie gleichermaßen es
strukturell überhaupt ermöglichen, dass auch Nazis sich ihrer bemächtigen. Es ist ein
politisches Problem, weil diese Struktur auf den wesentlichen Inhalt von sowohl
Medium als auch Demokratie verweist.
15 Hartmann, ›Mediologie‹, a.a.O., S. 146 (die eckigen Klammern mit
Auslassungspunkten bezeichnen im Original Absätze mit Spiegelstrichen).
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 8»Medialität drückt aus, dass unser Weltverhältnis und damit alle unsere
Aktivitäten und Erfahrungen mit welterschließender – und nicht
einfach weltkonstruierender – Funktion geprägt sind von den
Unterscheidungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen.«16 Eine idiotische
Frage, ob der Rechtsrockfan diese Unterscheidungsmöglichkeiten
einfach gar nicht oder ganz explizit genutzt hat. Immerhin gehören alle
Formen des regressiven Bewusstseins zu den üblichen Modellen
moderner wie postmoderner Welterschließung; dass faschistische
Ideologie ihren exponierten Ort in den modernen Medien hat, vom
Volksempfänger bis zum Internet, wird medientheoretisch nicht erfasst,
weil die Medien als ontologisches oder positivistisches Faktum isoliert
werden: die Wirklichkeit der Moderne, die in der systematischen
Massenvernichtung kulminierte, hat mit der Realität der Medien nichts
zu tun. Die Zeit nach Auschwitz und Hiroshima als Medienzeitalter zu
benennen, konstruiert eine Epoche,17 in der es unbedeutend ist, ob es
Auschwitz und Hiroshima gegeben hat. Die kritische Frage, wie ein
Bewusstsein beschaffen ist, das strukturell die Massenvernichtung
dulde te , e rmögl i chte und durchführ te , wi rd zur
»kulturapokalyptischen Fassung von Medientheorie« herunter
gebrochen, als hätte die kritische Theorie (und die Medientheorie zielt
16 Sybille Krämer, ›Was haben die Medien, der Computer und die Realität
miteinander zu tun?‹, in: Dies. (Hg.), ›Medien. Computer. Realität.
Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien‹, Frankfurt am Main 1998, S. 15;
zitiert nach Tholen, ›Die Zäsur der Medien‹, a.a.O., S. 24. Bemerkenswert auch hier,
dass die welterschließende Funktion der Medien offenbar höher gewertet wird als die
weltkonstruierende Funktion; sofern dem Materialismus zugrunde liegt, begreift
dieser jedenfalls nicht den praktischen Menschen mit ein.
17 #ä# Die McLuhansche Medientheorie lebt wesentlich davon, ausgehend von
der Schrift und Sprache die Menschheitsgeschichte in Epoche einzuteilen: #ä# Zum
Begriff der Epoche: ›Epoche‹ meint, nach dem griechischen Wort, einen Haltepunkt –
so wie in der christlich-abendländischen Geschichtsschreibung das Jahr Eins den
Ausgangspunkt der Zeitrechnung darstellt; mit den Metaphern Pop, Postmoderne
und schließlich Medien werden solche Haltepunkte bezeichnet, die Geschichte nicht
neu schreiben oder eine neue Geschichtsschreibung etablieren, sondern Geschichte
selbst tendenziell annullieren. #ä# Epochalisierung keine Historisierung; Epoche =
Kunstgeschichte und Kulturgeschichte (Benjamin) #ä# Paradigma #ä#
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 9hierbei vor allem gegen Adorno) lediglich sich über Lüge, Schwindel
und Manipulation durch die Medien beschweren wollen, um die
wertvolle Hochkultur gegen die böse Massenkultur auszuspielen.
Dagegen zu behaupten, dass »Medien, einst von McLuhan bestimmt als
active metaphors, als handelnd wirksame Metaphern, … generell
Übersetzungsinstanzen für Erfahrungsformen und Weltbilder«18 sind,
eskamotiert schließlich jeden humanistischen Impuls der Moderne, also
jedes Problem kritischer Erkenntnis und Erfahrung, als hätte es den
Komplex des emanzipatorischen Subjekts – der aufgeklärte Mensch, die
Selbstentfaltung des Individuums, die Bildung des Selbstbewusstseins,
der sinnlich-praktisch Mensch, das Ich – nie gegeben. In der
Wirklichkeit der Medien kommt kein Subjekt-Objekt vor, kein
theoretisches Problem, keine Praxis. Die Affinität zwischen
Medientheorie und Poststrukturalismus oder Postmoderne, die vom
Tod des Subjekts redet, ist Ideologie derselben spätkapitalistischen
Gesellschaft, deren materielles Herrschaftsverhältnis zugleich und
wiederum ideologisch von Medientheorie, Poststrukturalismus und
Postmoderne bestritten wird. Dass sich mithin Medientheorie,
Poststrukturalismus, Postmoderne und schließlich die Popkultur seit
den fünfziger Jahren parallel und in zahlreichen Überschneidungen
entwickelt haben, bildet den Ausdruckszusammenhang einer Phase des
Kapitalismus, der sich zur selben Zeit endgültig als umfassendes
Weltsystem durchgesetzt hat . Gerade im ideologischen
Fundamentalismus der Massenmedien wurde bestätigt, dass der
Kapitalismus nicht fundamental kritisierbar ist; zugleich wurde medial
suggeriert, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, außer ihn
selbst. Spätestens mit dem Stalinismus war vom Realsozialismus nichts
mehr zu erwarten; die nachfolgenden Revolutionen des Kalten Krieges
waren nationale und nationalistische Befreiungen; die kapitalistischen
Gesellschaften konnten die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt
vollständig integrieren; mit der spätfordistischen Angestelltenkultur, die
sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als allgemeine Popkultur
ubiquitär ausbreitete, ist ohnehin die Frage kultureller Hegemonie
beantwortet. Dieselbe Technik und dieselbe technologische Rationalität,
die in der Organisation der Massenvernichtung und dem Zweiten
18 Hartmann, ›Mediologie‹, a.a.O., S. 143.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 10Weltkrieg perfektioniert wurde, erschienen plötzlich in Gestalt der
Medien als Beleg dafür, dass die Dialektik der Aufklärung bloß eine
Chimäre miesepetriger Pessimisten war. ›Understanding Media‹ – durch
die angeblich magischen Kanäle des Fernsehens schien es, als konnte die
Welt wieder neu interpretiert werden: Verändert wurde sie jetzt durch
die Medien; die Revolution war nur noch technologisch möglich in einer
Welt, die sich in ihrer sozialen Struktur als endgültig behauptete. Seit
dem Ende der politischen Revolutionen offenbart das bürgerliche
Medienzeitalter sein wirkliches revolutionäres Vermögen: Kein Tag
vergeht, an dem nicht ein neues Shampoo, eine neue Creme, ein neues
Waschmittel mit revolutionärer Formel auf den Markt kommt, an dem
nicht die Unterhaltungselektronik durch neue Gimmicks revolutioniert
wird, an dem die Warenwelt durch Waschkraft, Hautstrafung, grafische
Auflösung, Prozessorleistung oder Bremstechnik umgewälzt wird.
Insofern war es der epochale Verdienst McLuhans und anderer,
überhaupt die Signatur der Epoche – losgelöst von der sozialen
Vergangenheit – rein technisch zu bestimmen, zugleich aber diese
technische Epoche (Medienzeitalter, Informationszeitalter,
Kommunikationszeitalter etc.) als neue Gesellschaftsformation zu
proklamieren. Das ist schon 1951 im Titel von McLuhans ›The
Mechanical Bride: Folklore of Industrial Man‹ angelegt. Herbert Marcuse
schreibt vier Jahre später, 1955, in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹:
»Die westliche Philosophie endet mit dem Gedanken, mit dem sie begann.
Zu Anfang und zu Ende, bei Aristoteles und bei Hegel, erscheint die
höchste Form der Vernunft und der Freiheit als nous, als Geist … Mit
Hegel hat sich der Hauptstrom der westlichen Philosophie erschöpft.
Der Logos der Herrschaft hat sein System gebaut und was nachfolgt, ist
Epilog: die Philosophie lebt als eine spezielle (und nicht sehr
lebenswichtige) Funktion in den akademischen Einrichtungen weiter.«19
In der Epoche nach Hegel wird der Geist, der nicht verwirklicht wurde,
zum Medium: erst im Sinne des Spiritualismus, dann als Technizismus
instrumenteller Rationalität, dann – heute – als digitales Gespenst und
beliebig ausdehnbares Spektakel. »Das Spektakel hat die ganze Schwäche
des abendländischen philosophischen Projekts geerbt, das in einem von
19 Herbert Marcuse, ›Triebstruktur und Gesellschaft‹, Werke Bd. 5, Springe
2004, S. 104 f.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 11den Kategorien des Sehens beherrschten Begreifen der Tätigkeit bestand;
sowie es sich auch auf die unaufhörliche Entfaltung der genauen,
technischen Rationalität, die aus diesem Gedanken hervorgegangen ist,
gründet. Es verwirklicht nicht die Philosophie, es philosophiert die
Wirklichkeit. Das konkrete Leben aller ist es, welches sich zu einem
spekulativen Universum degradiert hat.«20 Aus dem Idealismus des
Geistes wird die Ideologie des Mediums (und aus dem deutschen
Idealismus wird die deutsche Ideologie).
Zauberflöte. Das Medium als Instrument des tätigen Geistes
»Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. Der Sinn
der Welt ist verloren gegangen. Wir sind beym Buchstaben stehn
geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung
verlohren. Formularwesen.« Novalis21
»Vergiss also das so genannte Populare nicht …«,22 schreibt Leopold
Mozart 1780 an seinen Sohn Wolfgang Amadeus; mit Mozart beginnt,
wie Peter Wicke überzeugend nachzeichnet, die Geschichte der
Popmusik (als populäre Musik): Der Schritt von der Kunst zur
Unterhaltung kennzeichnet Aufklärung, Sturm und Strang, Klassik und
Frühromantik gleichermaßen. Aber auch der umgekehrte Schritt
bestimmt die Logik der bürgerlichen Kultur, die sich in dieser Zeit
entfaltet: Was zuvor auch der Unterhaltung diente, wird zur Kunst
erhöht; kraft des gebildeten Geschmacks wird Unterhaltung selbst zur
Kunst erhoben, als Distinktionsmittel. Die philosophische Ästhetik, die
sich Mitte des 18. Jahrhunderts herausbildet, beginnt Wahrnehmung
und Sinnlichkeit zunehmend auf die Kunst zu beziehen, reflektiert die
Kunst schließlich unter dem Gesichtspunkt der Autonomie des Werkes;
20 Guy Debord, ›Die Gesellschaft des Spektakels›, Berlin 1996, S. 20.
21 Novalis, ›Werke‹, Bd. 2: ›Das philosophisch-theoretische Werk‹, Hans-
Joachim Mähl (Hg.), München und Wien 1978, S. 383.
22 Peter Wicke, ›Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der
Popmusik‹, Frankfurt am Main 2001, zit. n. S. 7; vgl. S. 7 ff.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 12Wahrheit, Schönheit und das Sittliche verleihen nunmehr dem
Kunstwerk Souveränität, Eigensinn und Authentizität. Mit dem
Populären steht das Kunstwerk indes allein deshalb in
Wechselbeziehung, weil durch die Revolution der Bürger in der
bürgerlichen Gesellschaft als Masse auftritt; das Massenpublikum wird
selbst ein ästhetisches Phänomen. Ein Jahrzehnt nach der Ermahnung
des Vaters, das Populäre nicht zu vergessen, schafft Mozart mit der
›Zauberflöte‹ die erste wirkliche Volksoper. Zauberei und Magie,
Freimaurerei (Humanität, Wohltätigkeit, Sittlichkeit), Aufklärung und
Mythos treten hier zusammen; die ›Zauberflöte‹ ist gleichermaßen
komische und ernste Oper, ebenso finden sich Elemente des Singspiels.
1791 wird sie in Wien uraufgeführt, also zwei Jahre nach der
französischen Revolution 1789 und ein Jahr nach dem Erscheinen von
Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ 1790. Adorno spricht von der
»Guckkasten-Kosmologie der Zauberflöte«:23 der Geist dieser Musik ist
Vermittlung, und die Vermittlung – die Musik als Medium und Mittel –
ist Metaphysik (Adorno spricht ebenfalls von der Guckkasten-
Metaphysik). So wie die Idee der Revolution selbst Vermittlung der Idee
der bürgerlichen Gesellschaft war, ist die Musik Medium als Mittel,
Vermittler und Transzendenz. Vermittlung ist hierbei als tätiger Geist zu
denken: das Medium zielt auf das Material, der Zauber der Flöte und die
Magie ihres Klangs bilden eben genau die Einheit, die Adorno mit der
Guckkasten-Kosmologie oder -Metaphysik meint. Was hier Medialität
genannt werden könnte, manifestiert sich als »Mythologie der
Vernunft«, wie es Hölderlin, Schelling und Hegel im ›Ältesten
Systemprogramm des deutschen Idealismus‹ wenige Jahre nach Mozarts
›Zauberflöte‹ fordern:24 Der tätige Geist, der die Frühromantik beseelt,
zielt auf die »sinnliche Religion … Monotheismus der Vernunft und des
23 Theodor W. Adorno, ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹, in: GS Bd. 18,
S. 771. So wie Goethe Weltliteratur zu schreiben beansprucht, sieht Adorno in der
Zauberflöte ein »Welttheater«, »auf dem oben und unten, Opera seria, Couplet, Lied,
Ziergesang und aufgeklärte Mystik gleichwie zum letztenmal im runden Kosmos sich
zusammenfinden, ohne Riss zwischen dem Bereich Sarastros und dem Papagenos Ö«
(›Bilderwelt des Freischütz‹, in: GS Bd. 17, S. 38.)
24 Vgl. [Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus], in: Hegel,
Werke Bd. 1, S. 234 ff.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 13Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s,
was wir bedürfen«, lautet die Forderung des Systemprogramms, welches
vorsichtig durchaus in eine kritische Theorie der Medien übersetzbar
wäre: »… Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt … so wird
diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen oder,
was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist
natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen.
Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt –
aus dem Nichts hervor – die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus
Nichts. – Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; … Ich
möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden
Physik einmal wieder Flügel geben.« Geist und Physik, der lebendige
Körper und die schöpferische Kraft der Idee – das sind die Kategorien,
mit denen hier frühromantisch eine Theorie der Medien, eine Theorie
der Medialität als kritische Theorie entworfen wird: »Es scheint nicht,
dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist
oder sein soll, befriedigen könne … Die Idee der Menschheit voran, will
ich zeigen, dass es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas
Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur
was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den
Staat hinaus! … Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische
Philosophie … Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen,
haben sie für das Volk kein Interesse … Dann erst erwartet uns gleiche
Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine
Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit
und Gleichheit der Geister! – Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt,
muss diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte
Werk der Menschheit sein.« In Hegels Philosophie kulminiert das im
Medium des Geistes, im Weltgeist und im System des absoluten Wissens.
Das Medium als materiales Mittel und idealer Zweck zugleich. In der
›Phänomenologie des Geistes‹ bestimmt Hegel demnach das Medium als
das »abstrakte allgemeine Medium, das die Dingheit überhaupt oder das
reine Wesen genannt werden kann«, welches »nichts anderes [ist] als
das Hier und Jetzt, wie es sich erwiesen hat, nämlich als ein einfaches
Zusammen von vielen.«25 In der Physik, die Hegel später in der
25 Hegel, ›Phänomenologie des Geistes‹, Werke Bd. 3, S. 95.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 14›Enzyklopädie‹ entwickelt, ist der Körper ein Medium (zum Beispiel des
Lichts).26 Vor allem bleibt aber der Mensch – die Anschauung und
Vorstellung27 – Medium, wie es Hegel in den ›Vorlesungen über die
Ästhetik‹ entfaltet: »Es ist nicht nur Göttliches im Menschen, sondern in
ihm ist es in einer Form tätig, die in ganz anderer, höherer Weise dem
Wesen Gottes gemäß ist als in der Natur. Gott ist Geist, und im
Menschen allein hat das Medium, durch welches das Göttliche
hindurchgeht, die Form des bewussten, sich tätig hervorbringenden
Geistes; in der Natur aber ist dies Medium das Bewusstlose, Sinnliche
und Äußerliche, das an Wert dem Bewusstsein bei weitem nachsteht. Bei
der Kunstproduktion nun ist Gott ebenso wirksam wie bei den
Erscheinungen der Natur, das Göttliche aber, wie es im Kunstwerk sich
kundgibt, hat, als aus dem Geiste erzeugt, einen entsprechenden
Durchgangspunkt für seine Existenz gewonnen, während das Dasein in
der bewusstlosen Sinnlichkeit der Natur keine dem Göttlichen
angemessene Weise der Erscheinung ist.«28 Der idealistische Begriff des
Mediums changiert zwischen Physik des Körpers und dem tätigen Geist;
Medienästhetik bedeutet hier, das Kunstwerk als Produkt menschlicher
Tätigkeit zu bestimmen. Der Künstler als Genius wird zum obersten
Medium, das von ihm geschaffene Kunstwerk zur Vermittlung des
Göttlichen: Durch den Künstler spricht Gott, wobei die Sprache Gottes
mathematisch und poetisch zugleich sein muss – Musik. Kunst wird zum
Medium des realen Humanismus, doch sie scheitert an der realen
Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft, arretiert als politisches Ideal
und ästhetisches Fragment der Freiheit: »Freude schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium, Wir betreten Feuertrunken, Himmlische, dein
Heiligtum! Deine Zauber binden wieder, Was die Mode streng geteilt …
Dieses Glas dem guten Geist überm Sternenzelt dort oben!«, dichtet
Schiller noch vor der französischen Revolution. Doch der Weltgeist
kommt über das politisch-ästhetische Versprechen der Neunten Sinfonie
Beethovens nicht hinaus, der bekanntlich Schillers Ode vertont, bleibt
26 Vgl. Hegel, ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹, Werke Bd.
9, S. 226.
27 Vgl. Hegel, ›Vorlesungen über die ƒsthetik‹, Werke Bd. 13, S. 71.
28 Hegel, ›Vorlesungen über die ƒsthetik‹, Werke Bd. 13, S. 49 f.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 15in der Verwirklichung stecken; am Ende scheitert die Vermittlung wie
zum Schluss des zweiten Teil vom ›Faust‹ am Vergänglichen, am
Unbeschreiblichen und Unzulänglichen; der Geist verhallt in der
bürgerlichen Gesellschaft als mystischer Chor.
Sprache als Medium. Die Waffe der Kritik
Beethoven stirbt 1827, Hegel stirbt 1831, Goethe stirbt 1832. Die
bürgerliche Revolution wird von der industriellen Revolution abgelöst
und aufgehoben. Die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft
erscheint nunmehr ausschließlich als technischer Fortschritt; fand die
Idee der bürgerlichen Revolution ihren Ausdruck im realen
Humanismus der Hochkultur, in der Forderung des ästhetischen Staates
und in der Kunst als Symbol der Sittlichkeit, so ist die urbane
Massenkultur, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt, der
Ausdruckszusammenhang der industriellen Revolution, die der
Kapitalismus im Gebiet der Produktion ebenso durchsetzt wie in der
Sphäre der Reproduktion und Ideologie. Die technologische
Entwicklung, die erstmalig hervorbringt, was dann im 20. Jahrhundert
als Massenmedien bezeichnet wird – Fotografie, Zeitungen etc. –, ist
gesellschaftlicher Fortschritt in verdinglichter Form: vermittelt durch die
Ware. Sie ist das originäre Medium der Moderne, insbesondere in ihrer
abstrakten Gestalt, als Geld. 1851 findet in London die erste
Weltausstellung statt: Der kapitalistische Warentausch und die mit ihm
in Gang gesetzte ökonomische Verwertungslogik haben bereits in der
Mitte des 19. Jahrhunderts alles hervorgebracht, was ein Jahrhundert
später als Eigenschaft der (neuen) Medien bestimmt wurde. Dass das
Medium die Botschaft sei, gilt maßgeblich für die Waren im
Tauschverkehr und definiert ihren Fetischcharakter; nicht umsonst hat
Marx von der Ware als ein »sinnlich-übersinnliches Ding«29 gesprochen
und bezeichnete damit ihre Metaphysik und Magie. In der Ideologie der
Medientheorie erscheint indes das Medium selber als Fetisch,
wenngleich die Medien in keiner der kursierenden Auffassungen in
29 Vgl. Marx, ›Das Kapital‹, MEW Bd. 23, S. 85.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 16ihrer Warenförmigkeit bestimmt werden.30
Das konkrete Medium des tätigen Geistes, der Mensch selbst,
verwandelt sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in das abstrakte
Medium der Ware. Menschlich bleibt ihre Logik in Form der Sprache,
worauf sich erstmals Søren Kierkegaard 1843 in ›Entweder-Oder‹ mit
einem expliziten Medienbegriff bezieht: »Die Sprache, als das absolut
geistig bestimmte Medium, ist das eigentliche und wahre Medium der
Idee.«31 – Kierkegaard unterscheidet dabei das Medium Sprache vom
30 Medientheorien sind hierbei bisweilen mehr als kurios: So zählen Natascha
Just und Michael Latzer in ihrem Text ›Ökonomische Theorien der Medien‹ (in:
Stefan Weber (Hg.), ›Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum
Konstruktivismus‹, Konstanz 2003, S. 81 ff.) zwar Marxens Theorie zu den
»medienökonomischen Pionierleistungen«, erwähnt aber als einzigen Text einen
Artikel von 1842 (»Debatten über die Preßfreiheit und Publikationen der
Landständischen Verhandlungen«, in: MEW Bd. 1, S. 28 ff.). – Darüber hinaus
bleibt die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ökonomie und Medien in
der Regel auf die reaktionäre und bestenfalls dumme Variante der »Medienkritik«
beschränkt, bei der die Medien verschwörungstheoretisch auf Macht- und
Profitinteresse reduziert werden. Diese Position, die auch bei vermeintlich linken
oder kritischen Medientheorien verbreitet ist, kapriziert sich bestenfalls auf die
Forderung nach Gegenöffentlichkeit und hat in der letzten Zeit durch das so genannte
Cultural Jamming, Ad Busting oder Projekte wie »Republicart« zahlreiche Anhänger
in der bürgerlichen Kulturlinken gewonnen. Zur Kritik hierzu: Kerstin Stakemeier
Beitrag in dieser ›Testcard‹-Ausgabe, sowie ihr Text ›Gegen die Anerkennung der
Öffentlichkeit‹ in der Phase 2.18, Winter 2005. Die fehlende, falsche oder bloß
verkürzte medientheoretische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus drückt sich
auch in einer verzerrten Vorstellung von Politik, Medienpolitik, politische
Intervention etc. aus und ist gekennzeichnet durch ein grundsätzlich positives und
affirmatives Verhältnis zum Staat, beziehungsweise zu seiner modernen Form, der
parlamentarischen Demokratie. Vgl. dafür exemplarisch die Beiträge von Oliver
Marchart und Christoph Weismüller in dem Reader: Demopunk und Kritik & Praxis
Berlin (Hg.), ›Indeterminate Kommunismus! Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur‹,
Münster 2005.
31 Søren Kierkegaard, ›Entweder-Oder‹, Leipzig 1885, S. 69. Vergleiche auch:
Rainer Leschke, ›Einführung in die Medientheorie‹, München 2003, S.12 f. Bei
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 17Medium Musik (übrigens am Beispiel einerseits von Goethes ›Faust‹,
andererseits von Mozarts ›Don Juan‹): »Was aber die religiöse Idee
ausgedrückt haben will, ist Geist; daher fordert sie die Sprache, als das
eigentliche Medium des Geistes, und verwirft die Musik, welche diesem
ein sinnliches, insofern immer unvollkommenes Medium ist, um
dadurch auszudrücken, was des Geistes ist.«32
Ende desselben Jahres, in dem Kierkegaards ›Enweder-Oder‹ erscheint,
formuliert Marx, was Kierkegaards existenzialistische Wendung des
Mediums als Sprache politisch bedeutet: »Die Waffe der Kritik kann
allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt
muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie
wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.«33 – Dies
stellt den materialistischen Versuch dar, die Revolution wieder als
Medium des tätigen Geistes, nämlich des sinnlich-praktischen Menschen
zurück zu gewinnen.34 Die Revolution als Medium bleibt aus, das Reich
der Freiheit wird nicht als Kommunismus des menschlichen Glücks
jenseits des Reiches der Notwendigkeit materiell verwirklicht, sondern
dem Reich der Notwendigkeit als Ideologie übergeworfen und das
Medium der Revolution entmaterialisiert: was einmal tätiger Geist war
und dann als Gespenst der wirklichen Bewegung gefürchtet wurde,
verschwindet nun im idealistischen Nebel des Okkultismus. Die
Vermittlung ist nicht mehr die dialektische zwischen Subjekt und
Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen Humanismus und
Kierkegaard findet sich übrigens auch beiläufig »Geld als Medium« erwähnt, ebd. S.
349. Man sollte als Anekdote noch anfügen, dass Kierkegaard die Presse,
insbesondere das Zeitungswesen entschieden und aus ethischen Gründen ablehnte.
Er selber wurde Opfer von Karikatur und Pressekampagnen.
32 Kierkegaard, › Entweder-Oder‹, a.a.O., S. 76.
33 Marx, ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung‹, in: MEW
Bd. 1, S. 385.
34 Marx’ Ausgangspunkt ist derselbe wie in dem idealistischen
Systemprogramm ein halbes Jahrhundert zuvor: In beiden Fällen wird von der
Religion ausgegangen, und in beiden Fällen wird die Verwirklichung der
praktischen Sinnlichkeit gefordert.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 18Naturalismus, sondern ist Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits,
Jammertal und Totenreich. Während der an den Naturwissenschaften
geschulte Positivismus die philosophische Metaphysik attackiert,
bemächtigen sich Pseudophilosophien und esoterische Heilslehren der
toten und für tot erklärten Begriffe: Das Transzendentale, der Geist, das
Wesen – die einmal emanzipatorisch ausgerichteten Begriffe der
bürgerlichen Philosophie finden sich jetzt als Etiketten verramscht auf
dem Markt der Wunderheiler, Hypnotiseure, Magier und Tischerücker
wieder. Zum Ende des 19. Jahrhunderts ist aus den sinnlich-
übersinnlichen Waren schlussendlich die sinnlich-übersinnliche
Religion des Kapitalismus hervorgegangen. Und was keine materielle
Praxis vermochte, behaupten nun Parapsychologie, Telepathie und
Spiritismus zu vollbringen: kraft eines Mediums den Bann der
Wirklichkeit zu durchbrechen und den Weg zum Übernatürlichen
freizugeben.
Das Medium konnte eine Person mit besonderer »Begabung« sein, aber
ebenso eine Substanz oder ein Gegenstand; durchaus haben an dieser
esoterischen Idee des Mediums auch die modernen Naturwissenschaften
ihren Anteil: Mit Elektrizität und dem Röntgenverfahren, aber auch mit
Mikrobiologie und Astronomie wurde die Welt des Unsichtbaren
erschlossen; und ohnehin gab es den Begriff des Mediums in der Physik
und Chemie schon vorher (als Mittel beziehungsweise Trägersubstanz).
Zugleich ergab sich für die moderne Naturwissenschaft dasselbe
Paradox wie für die bürgerliche Philosophie: Je mehr durch die
Wissenschaft erklärbar wurde, umso weniger wurde mit der
Wissenschaft verstehbar. Thermodynamik, Relativitätstheorie und
Quantenmechanik haben mit dem Alltagsleben der Großstadtmenschen
um 1900 kaum etwas zu tun. Zugleich gab es aber immer mehr Probleme
des Alltags, die gelöst werden wollten: Vermittlung war notwendig –
zwischen Individuum und Masse, zwischen dem subjektiven Geist und
dem objektiven Geist, als Ausweg aus der »Tragödie der Kultur« (Georg
Simmel). Okkultismus und Spiritismus boten einen Ausweg, der sogar
noch über das Reale hinauszureichen versprach. Bis heute hat sich die
Ideologie gehalten, dass der Zauber und das Spektakel der Medien von
der erdrückenden Last der Wirklichkeit befreien können, gleich ob es
sich dabei um Kartenlegen, Autosuggestion, Telekinese, die katholische
Kirche oder einfach nur das übliche Fernsehprogramm oder eine
durchschnittliche Illustrierte handelt; sich der übersinnlichen
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 19Anästhesie zu überantworten, ist Schutz vor der sinnlichen Erfahrung
des trostlosen Alltagslebens. Dass sich in nur wenigen Jahrzehnten der
Medienbegriff vom Esoterischen ins Technische verschob, ist gleichwohl
kaum verwunderlich: An den kulturtechnischen Erfindungen haftet seit
jeher das Magische, das durch die Technik der modernen Medien wie
Fotografie, Film oder Rundfunk noch verstärkt wurde. Solche Technik
vermochte die Welt zu vermitteln und die Entfremdung zu
überbrücken, gerade weil sie der Welt alle Fremdheit nahm und
Unmittelbarkeit suggerierte. Von dieser Ideologie der Technik hat
schließlich später McLuhan seine Trivialontologie der Medien abgeleitet;
zugleich basiert sie in einer Ersatzreligion des Technischen, eingepasst an
die Erfordernisse einer völlig versachlichten Welt des Warenverkehrs,
um sogleich den Konsumenten den Wunsch zu erfüllen, diese Welt der
Waren möge doch nicht ganz so profan sein. Insofern verwundert es,
dass Max Weber gerade zur Hochzeit des esoterischen
Medienspektakels seine These vom Entzauberungsprozess bestätigt sah:
der Zweckrationalität, die sich in der ökonomischen Betriebsführung
und im bürokratischen Staatsapparat manifestiert, geht zwar eine
profane Kultur einher, deren Grundprinzip jedoch gewissermaßen eine
Zweckirrationalität ist. Das meint die Dialektik der Aufklärung: die
Entzauberung der Welt gelang nur durch das Mittel der Verzauberung;
die säkularisierte Moderne findet ihren Ausdruck in der
Verschränkung von Mythologie und Technik – und letztendlich nicht
in deren Vermittlung. So wird schließlich die Technik selbst als Medium
der Befreiung verdinglicht.
Pop
Auf die kapitalistische Massenkultur des 19. Jahrhunderts folgt mit dem
Fordismus die Kulturindustrie. Sie bildet die eigentliche Matrix für die
Entwicklung der Massenmedien und ihre Ideologie. Streiten sich
zunächst noch Kunst und Massenkultur um die Vorherrschaft über die
Medien, so macht sich die Kulturindustrie die Medien zum Werkzeug,
um die Kunst selbst in ihre Struktur zu integrieren: Mit den Medien
gelingt es, die Menschen an die Kunst zu gewöhnen; so wird die
klassische Kunst des bürgerlichen Zeitalters in Kitsch transformiert und
die Avantgarde zum bloßen Spektakel kanonisiert. Die Medien bedeuten
die Ästhetisierung der Politik; sie neutralisieren die kritische Funktion
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 20der Kunst. Das Medium ist die Botschaft heißt auch: Inhalt und Form
der Medien dienen gleichzeitig der Aufrechterhaltung der bestehenden
Ordnung. Information ersetzt die Erfahrung und Kommunikation tritt
an die Stelle der kritischen Reflexion; das Medium fungiert als
Vermittlungsinstanz in einer Phase der Gesellschaft, in der es nichts
mehr zu vermitteln gibt. Medien nivellieren den gesellschaftlichen
Widerspruch, in dem sie ihn scheinbar still stellen, zum Standbild der
Moderne einfrieren. Hatte sich die Kulturindustrie aus der
Massenkultur entfaltet, in dem die modernen Medien verfeinert
wurden, so durchbricht die nachfolgende Popkultur die Kulturindustrie:
Pop platzt aus der Kulturindustrie heraus – der dunkle Saal erstrahlt
plötzlich im Licht der Scheinwerfer; die Kulisse wird durchbrochen und
aus der Pappwand springt die Band hervor; auf Bühne eröffnet das
Feuerwerk das Konzert. Die Sprengkraft des Pop bleibt allerdings von
vornherein auf die Kultur beschränkt, so dass der Pop zu keinem
Zeitpunkt eine ernsthafte Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung
darstellte. Im Gegenteil: Gerade unter Ausnutzung der gesamten
modernen Medienapparatur konnte Pop die Revolution als kulturelle
Ideologie fortsetzen, die als soziale Emanzipation scheiterte – durch die
Medien dehnte sich der Pop soweit über die Gesellschaft aus, dass
schließlich jede auch noch so beiläufige kulturelle Aktivität als soziale
Praxis inszeniert werden kann. Doch die Medien waren technisch schon
längst entwickelt, bevor der Pop sich ihrer kulturell zu bemächtigen
vermochte.
1928 wird der Medienbegriff erstmals in der heutige gebräuchlichen
Weise verwendet, und zwar von dem Publizisten Emil Dovifats:35 ein
Katholik, dessen Karriere im und Kollaboration mit dem
Nationalsozialismus kaum in den medientheoretischen Diskursen
thematisiert wird. – Ende der dreißiger Jahre entwickelt sich in den
Vereinigten Staaten eine breite Diskussion über die Wirkung und
Struktur der Massenmedien;36 auch hierbei wird in der
35 So jedenfalls schreibt es Weber in: Ders. (Hg.), ›Theorien der Medien‹, a.a.O.,
S. 10.
36 Zum einen ist hierbei Harold Lasswell zu nennen, dessen 1948 publizierte
»Formel« »Who says What in Which Channel to Whom with What Effect?« vor
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 21medientheoretischen Debatte allerdings der politische Hintergrund der
Massenmedien-Diskussion ausgespart: sie stand nämlich nicht nur unter
dem Vorzeichen der Frage, inwieweit Massenkultur sich am Kampf und
Krieg gegen den Nationalsozialismus beteiligen kann, sondern vor allem
ging es um die vermeintliche Infiltration der Massenmedien –
insbesondere des Hollywood-Kinos – durch die Kommunisten. Kurzum:
Die Gefahr der Manipulation des Publikums durch die Massenmedien
meinte nicht Verdummung, sondern ganz im Gegenteil zielte sie gegen
den Versuch fortschrittlicher Kräfte, die Massenkultur für die politische
Aufklärung zu nutzen. Erst mit dem Ende der so genannten McCarthy-
Ära, dem Kalten Krieg und dem Einfluss der Jugendkultur auf die
Entwicklung der Massenmedien ändert sich dies: Etwas plakativ gesagt,
sind statt der Kommunisten ab Mitte der fünfziger Jahre die
Jugendlichen – Rocker, Halbstarke etc. – die massenkulturelle
Bedrohung der Gesellschaft. Einmal mehr: In den sich auf McLuhan
beziehenden Versionen der Medientheorie kommt die Politik der
Massenmedien allerdings nicht vor. Die Masse selbst wird entweder
positiv mit dem allgemeinen Publikum oder der breiten Öffentlichkeit
synonym beschrieben, oder in den üblichen Kontrast zur
Individualisierung und Atomisierung des modernen Menschen
gebracht. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert vermochte die
Ideologie der Massenkultur den Umstand zu verdecken, dass die ihr
zugrunde liegende Massenproduktion auf dem Widerspruch der
Klassengesellschaft basiert. Der Massenkultur bleib das
Herrschaftsverhältnis der bürgerlichen Gesellschaft keineswegs
äußerlich; mit der Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts wurden die
Widersprüche der Klassengesellschaft politisch-administrativ und
kulturell gleichermaßen gelöst und die Masse bildet nunmehr einen
homogenen, hegemonialen Block: in der demokratischen Fassung das
Zwangskollektiv der Konsumenten, und in der faschistischen Fassung
die Volksgemeinschaft. Im selben Maße, wie mit dem Fordismus die
allem Einfluss auf die Kommunikations- und Zeitungswissenschaft hatte. Zum
anderen hat Paul Lazarsfeld die Diskussion um Massenmedien wesentlich geprägt.
Dass Adorno, wenn auch selten inÜbereinstimmung mit Lazarsfeld, unter Lazarsfeld
Regie wichtige empirische Studien in den Vereinigten Staaten durchführte, wird
gemeinhin ignoriert. Vgl. den Anhang im Briefwechsel zwischen Adorno und
Horkheimer, Band II, Frankfurt am Main 2004.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 22kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Gesellschaft als Ganze
bestimmten – eben als Kulturindustrie –, wurde der Produktion immer
weniger Beachtung geschenkt: In der post-industriellen Gesellschaft des
Medienzeitalters schien alles Verschwunden zu sein, was einmal den
alten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts kennzeichnete: Das Proletariat,
das Elend, die Fabrikarbeit, die große Industrie, überhaupt die
gesellschaftlichen Widersprüche. Im Zeitalter der Massenmedien sollte
jeder soziale Konflikt kommunikativ lösbar sein; die
Informationstechnologie verlängerte das tayloristische Prinzip des »One
best way« für die Massenkultur, die gleichsam zum Betrieb wurde. Die
Massenmedien adressierten das Individuum mit pädagogischer und
psychologischer Aufmerksamkeit. Die Verwirklichung der
Informationsgesellschaft als ideale Kommunikationsgemeinschaft durch
die Massenmedien erschien als einzige noch denkbare Utopie, wurde
zum Ersatz des Ideals einer befreiten Gesellschaft. Die Utopie der
Massenmedien war allerdings nicht die Masse, sondern das isolierte
Individuum. – Scheinbar paradox, tritt erst mit der Individualisierung
der Medien die Masse wieder positiv hervor: im Pop.
… After the great Divide
»Wir sind mit den Massenmedien aufgewachsen. Für uns waren die
Massenmedien bereits ein natürlicher Bestandteil unseres
Lebensumfelds. Wir sind zu spät geboren worden, um noch den
Geschmack und das Verständnis von Ästhetik annehmen zu können,
das unsere Eltern und Lehrer hatten.« Lawrence Alloway (1957)37
Der bestirnte Himmel über mir, das moralische Gesetz in mir: die Decke
des Wohnraums scheint offen; sie wird fast vollständig von einer vom
Nachthimmel gerahmten Mondscheibe ausgefüllt. Eine Wand bildet eine
Fensterfront, durch die der von Reklame erleuchtete Eingang eines
Filmtheaters zu sehen ist: »Warner« und »The Jazz Singers« ist zu lesen.
An der anderen Wand des Zimmers hängt ein großes Comiccover:
»Young Romance – True Love«, sowie ein gerahmtes Porträtfoto eines
37 Lawrence Alloway, ›Personal Statement‹, zit. n. Martin Büsser, ›Pop-Art‹,
Hamburg 2001, S. 50.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 23Mannes. Davor steht links in der Ecke ein Beistelltisch mit Lampe, auf
deren Schirm das Ford-Logo prangt; rechts ein Fernsehgerät, der mit
einer Obstschale dekoriert ist, dahinter eine exotische Zimmerpflanze (ein
Fensterblatt). Ein Drip-Painting von Jackson Pollock bildet das Muster
des Teppichs, auf dem eine Sofagarnitur sowie eine Tischkombination
stehen. Auf dem Tisch eine Dosenfleischbüchse; im Vordergrund ein
tragbares Tonbandgerät (mit Kurbelbetrieb, wie damals für
Außenaufnahmen üblich) und, gerade noch sichtbar, die Ecke eines
weiteren Sessels, auf dessen Lehne eine Tageszeitung liegt. Eine Treppe
führt unvermittelt links am Fenster hoch, aus dem Bild heraus. Eine
Frau saugt den Treppenläufer mit einem Staubsauger; sein Schlauch ist
ungefähr in der Mitte mit einem Pfeil markiert: »ordinary cleaners reach
only this far.« Auf der rechten Couch sitzt eine nackte Frau, die eine
ihrer geschmückten Brüste hält und sich mit der anderen Hand lasziv an
den Kopf fasst. Ihr Hut sieht nach einem Lampenschirm aus und
korrespondiert deshalb mit der Ford-Lampe links im Bild. Ein nur mit
einer Sporthose bekleideter Bodybuilder steht im Zentrum des Raumes,
welches sich im Bild etwas links befindet, so dass sich der
überdimensionierte Lolli, den er wie einen Tennisschläger in der rechten
Hand hält, im goldenen Schnitt befindet. Auf dem Einwickelpapier des
Lollis ist zu lesen: »POP«. Jedes dieser Elemente und ihre besondere
Konstellation ist als Antwort auf die Frage zu verstehen, die Richard
Hamilton als Titel für diese Collage von 1956 gewählt hat: »Just what it is
that makes today’s homes so different, so appealing?« (das Bild misst
gerade 26 x 25 cm: es war als Poster gedacht). – Lawrence Alloway wird
1958 erstmals den Begriff Pop-Art in einem Artikel benutzen und die
auch für die Popkultur typische »Ästhetik der Fülle« entwickeln.38
38 Der Kunstkritiker Alloway »importiert« den Begriff Pop-Art in die USA; die
kritische Bezugnahme von Hamilton auf John Heartfield oder Gustav Klucis fehlt
allerdings in der Pop-Art der Vereinigten Staaten, bei Warhol und anderen.
Bemerkenswerter Weise verrät der Titel von Alloways Text, dass der Popbegriff im
Kontext der Diskussionen um Neue Medien eingeführt wurde: Vgl. Lawrence
Alloway, ›The Arts and the Mass Media‹, in: Architectural Design, XXVIII, 2, Februar
1958, S. 84-85. Alloway verwendete das Wort Pop allerdings nur in
Anführungszeichen. Neben Pop-Art kursierten zudem noch zahlreiche weitere
Begriffe: »New Realism, Popular Image Art, Common Object Art, Factualism, Neo
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 24Schon 1947 hatte Eduardo Paolozzi das Wort »Pop« in seiner Collage ›I
was a rich man’s plaything‹ verwendet (es taucht in der Pulverwolke
eines Pistolenschusses auf). Und Hamilton selbst definiert bereits 1957 in
einem Brief Pop-Art:
»Pop-Art ist:
Populär (für ein Massenpublikum gemacht),
vergänglich (Kurzzeitlösungen),
überflüssig (leicht vergessen),
billig,
massenproduziert,
jung (auf Jugendliche zielend),
witzig,
sexy,
gimmickhaft,
glamourös,
Big Business.«
Dadaism, American Dream Painting, Sign Painting, Anti-Sensibility Painting, and
Cool-Art were just a few names but forth in an attempt to label the new art.« (Susan
Davidson, ›Shaping Pop: From Objects to Icons at the Guggenheim‹, in: Guggenheim
Museum Publications (Hg.), ›American Pop Icons‹, Katalog zur Ausstellung im
Guggenheim Hermitage Museum Las Vegas, 15. Mai bis 2. November 2003, New
York 2003, S. 15; Mit Verweis auf Max Kozloff, ››Pop‹ Culture, Metaphysical Disgust,
and the New Vulgarians‹, in. Art International (Lugano) 6, Nr. 2 (März 1962), S. 35
f.) – Endgültig wurde der Begriff Pop in Amerika durch die Ausstellung »The New
Realists« in der Sidney Janis Galerie in New York, November 1962 bekannt. 1963
kuratierte Alloway die Ausstellung ›Six Painters and The Object‹; Alloway war
übrigens Mitglied der Independent Group (vgl. Davidson, ›Shaping Pop: From
Objects to Icons at the Guggenheim‹, a.a.O., S. 12 f.).
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 25Hamiltons Definition, die sich nachgerade als Manifest lesen lässt, gilt
nicht nur für die Pop-Art, sondern für die Popkultur allgemein, die zur
selben Zeit ihren historischen Ursprung findet: 1954 nimmt Elvis
Presley seine erste Platte auf; 1955 wird Bill Haleys ›Rock Around the
Clock‹ zum ersten Rock ’n’ Roll-Hit.39 Im gleichen Jahr gibt es mit
›Blackboard Jungle‹ den ersten ›Rock ’n’ Roll‹-Film. Ebenfalls 1955
promoviert Martin Luther King und James Brown nimmt seine erste
Platte auf (›Please Please Please‹) – die Soul-Ära beginnt und mit ihr der
Einfluss afroamerikanischer Kultur auf den Pop.40 Nicht zuletzt durchs
Fernsehen wird in den Fünfzigern auch Jazz populär, erreicht mit
Mainstream und Cool ein Massenpublikum (Ende der Vierziger wird
Bebop der Mainstream im Jazz; 1971 veröffentlicht Dizzy Gillespie eine
Platte mit dem Titel ›Mainstream‹. Grundlegend ist freilich ›Birth of the
Cool‹ von 1957 – die Aufnahmen wurden zwischen 1948 und 1950
gemacht; Miles Davis spielt 1954 erstmals die Trompete mit einem
Metalldämpfer, was den dann typischen entrückten und schwebenden
Klang erzeugt).
Mit den Fünfzigern beginnt mit dem Pop die Zeit »after the great
divide«;41 gemeint ist, dass in diesem Jahrzehnt die Grenze zwischen
Hochkultur und Massenkultur überschritten wird, ohne das sie –
paradox – in den nachfolgenden Jahrzehnten tatsächlich verschwindet.
Vielmehr wird das Grenzland zwischen High und Low, zwischen E und
U ausgeweitet und von einer Kultur des »Middlebrow« besetzt: ›The
39 Weitere Hits: ›Ain't That a Shame‹ (Fats Domino), ›Earth Angel‹ (The
Penguins), ›Mannish Boy‹ (Muddy Waters), ›Maybellene‹ (Chuck Berry) und eben
›Rock Around the Clock‹ (Bill Haley and the Comets).
40 #ä# 1955, aufgenommen, 1956 Charterfolg: James Brown, ›Please Please
Please‹ (1957: Little Richard wird Religiös, die Band wird zum Teil James Browns
Band, Brown übernimmt erfolgreich den Rest der Tour. – Dazu die weiße,
kommunistische Foltradition: Pete Seeger (1955 HUAC), Phil Ochs, Woody
Guthrie#ä#
41 Vgl. Andreas Huyssen, ›After the Great Divide. Modernism, Mass Culture,
Postmodernism‹, Bloomington und Indianapolis 1986.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 26Middle Against Both Ends‹ nennt das 1955 Leslie Fiedler.42 Fünfzehn
Jahre später datiert Fiedler in seinem berühmten Text ›Cross the Border,
Close the Gap‹ den Beginn der Postmoderne auf eben diese Zeit um
1955.43 Was den Übergang von der Moderne zur Postmoderne indes
kennzeichnet, findet eben in der Popkultur seinen Ausdruck, die
nunmehr definiert und konstituiert wird durch die so genannten
»Neuen Medien«. – Zeitgleich mit den Theorien der Popkultur und
Postmoderne entwickelt sich auch die Medientheorie, maßgeblich
inspiriert und fundiert von Herbert Marshall McLuhan.
In den fünfziger Jahren werden »Medien« und »Neue Medien« zu
Etiketten für eine neue Epoche; mehr noch – und das geht weitgehend
auf McLuhan zurück – werden »Medien« nicht nur zur allumfassenden
Metapher der vielfältigen Erscheinungen dieser Epoche, sondern zum
Wesen dieser Epoche. »And as technology increasingly undertakes to
submit the entire planet as well as the contents of consciousness to the
purpose of man’s factive intelligence,« wie McLuhan 1954 schreibt, it
behooves us to consider the whole process of magical transformation
involved in the media acutely and extensively … Modern technology
presumes culture to attempt a total transformation of man and his
environment. This calls in turn for an inspection and defense of all
human values. And so far as merely human aid goes, the citadel of this
42 Abgedruckt ist der Text in: Bernard Rosenberg und David Manning White
(Hg.), ›Mass Culture. The Popular Arts in America‹, Illinois 1956, S. 537 ff. Der
Begriff Middlebrow ist nicht minder problematisch als Highbrow und Lowbrow,
auch wenn er den rassistischen Ursprung der Termini übergeht: Mit Highbrow und
Lowbrow wurde im 19. Jahrhundert die weiße, intelligente Kultur der hohen Stirn
(Beispiel: Shakespeare) physiognomisch von der sich etablierenden Kultur der
schwarzen Sklaven unterschieden, die rassistisch als niederstirnig und damit dumm
klassifiziert wurden.
43 Vgl. Fiedler, ›Überquert die Grenze, schließt den Graben!‹. Der Text erschien
zuerst 1969 im ›Playboy‹ (der im Übrigen 1953 erstmals erscheint, mit Marilyn
Monroe auf dem Cover; 1955 ist Eve Meyer, damals von ihrem Ehemann Russ Meyer
fotografiert, als »Miss June« das erste Playmate des Monats). Die deutsche
Übersetzung von Fiedlers Text erscheint dann bezeichnender Weise in ›Christ und
Welt‹.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 27defense must be located in analytical awareness of the nature of the
creative process involved in human cognition. For it is in this citadel that
science and technology have already established themselves in their
manipulation of the new media.«44
»Just what it is that makes today’s homes so different, soappealing?«
Die Popkultur, die Massenmedien und die Postmoderne sind drei
Facetten derselben Antwort auf die Frage, was das gegenwärtige Leben
so angenehm macht. Es sind zugleich drei Varianten der Ideologie der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft, der kulturellen Logik des
Spätkapitalismus, des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus.
Pop, Postmoderne und Medien haben ihren gemeinsamen begrifflichen
oder vielmehr metaphorischen Ursprung in den fünfziger Jahren des 20.
Jahrhunderts und avancierten in den nachfolgenden Jahrzehnten dann
in unterschiedlicher Gewichtung zu epochalen Leitmotiven; vor allem in
Hinblick auf die technologische Entwicklung hat die Rede vom
Medienzeitalter heute schließlich ältere, aber synonyme Etiketten wie
Kommunikations- oder Informationszeitalter ersetzt. Dass überhaupt die
strukturelle Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft in epochalen
Abschnitten technologischer oder kulturtechnischer Entwicklung
beschreibbar sei, ist selbst schon Teil der Ideologie, nach der die Welt
ohnehin nur noch durch die Medien oder als mediale Konstruktion
erscheint. Das mit Pop, Postmoderne und Medien, aber auch
Kommunikation oder Information bezeichnete Zeitalter ist allerdings
keines der Geschichte, keine historische Epoche. Vielmehr
charakterisieren Pop, Postmoderne und Medien als Epochalmetaphern
den Bruch mit der Geschichte; Pop, Postmoderne oder Medien werden
zu Ersatzbezeichnungen für Geschichte und markieren den Zustand der
44 McLuhan, ›Sight, Sound and Fury‹, in: Rosenberg und White (Hg.), ›Mass
Culture‹, a.a.O., S. 495.
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 28»Nachgeschichte« beziehungsweise des »Posthistorie«.45
Pop zerschlägt in den Fünfzigern das historische Band der Tradition,
bricht radikal mit den Konventionen der bisherigen
Kulturgeschichtsschreibung, verweigert die Linearität der
Kunstentwicklung, sperrt s ich gegen jede ästhetische
Geschichtsphilosophie und geschichtsphilosophische Ästhetik: Im
»AWop-bop-a-loo-mop alop-bam-boom / Tutti Frutti, all over rootie,
…« von Little Richard verweigert Pop die Sprache (für eine wesentlich
über Literatur und Verstehbarkeit sich definierende moderne Kultur ein
ebenso großer Affront wie Joyces ›Finnegans Wake‹); damit entzieht
sich Pop aber auch der – sprachlichen – Erzählstruktur der Moderne
und wird in seiner Entstehung postmodern. Pop, im Sinne des »Rock
around the Clock«, füllt die historische Zeit mit Gegenwart, die zum
rhythmischen Zyklus der ewigen Wiederkehr des Neuen wird (wie die
Mode). Überdies verwandelt Pop die historische Zeit zur reinen
Gegenwart, die sich über Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen
ausbreitet. In dieser Weise erklärt Pop-Art sich zu Neo-Dada, wiederholt
die vergangene (und gescheiterte) Avantgarde der Antikunst als neue
Kunst; unter diesem Voreichen findet 1956 in der Whitechapel Art
Gallery in London die Ausstellung »This is Tomorrow« von der
Independent Group statt. Pop löst in der permanenten Aktualisierung
des Ungleichzeitigen die Geschichte auf; die abstrakte Zeit, die die
kapitalistische Produktion beherrscht, wird im Pop – in der Popmusik
ebenso wie in der Pop-Art – auf den Konsum, auf die Sphäre der
Reproduktion ausgeweitet. Das bedeutet die Serialität der Warholschen
Suppendosen, oder: Strophe – Refrain – Strophe – Refrain – Strophe –
Refrain … und irgendwo dazwischen die Bridge.
Erst mit den achtziger Jahren gelingt es, den Pop zu historisieren und
eben Popgeschichte zu schreiben. So etabliert sich in diesem Jahrzehnt
Pop als Sammelbezeichnung für die verschiedenen Popmusiken (Musik
wird als Soundtrack zur Signatur der Epoche); vor allem werden die
Differenzen zwischen Pop und Rock nivelliert und Rock wird in Pop
45 Die beiden korrespondierenden Theoreme des Posthistorie und der
Nachgeschichte werden ebenfalls in den fünfziger Jahren eingeführt. Vgl. #ä# Die
Seele im technischen Zeitalter; Gehlen
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 29eingegliedert; gleichzeitig wird der klassische Pop kanonisiert, wodurch
Pop erstmals eine historisch verbindliche Vergangenheit erhält und
selbst in eine Phase der Modernisierung eintritt (New Wave etc.); und zu
dieser Modernisierung gehört auch die explosionsartige Ausbreitung
der Popsparten, sowie die Etablierung eines Undergrounds als Pop-
Avantgarde: Independent, Do-it-Yourself, Subversion, Alternative,
Punk und Hardcore – das sind die Strategien einer Gegenkultur, die mit
Mitteln des Pop zu operieren beansprucht. Künstlerische Strategien der
Aneignung (oder wenigstens des Versuchs der Aneignung) werden von
technischen Entwicklungen in einem Maße unterstützt, dass sie
schließlich ganz auf den technischen Aspekt reduziert werden, dass
Technik selbst zum kulturellen Widerstand verzerrt wird: Sampler, die
Verbesserung des DJ-Equipments, die Beat-Box, die Synthesizer –
Musiktechnologie wird zur Ideologie der Popkultur und verdinglicht
die gesellschaftlichen Verhältnisse; Techno geriert eine neue Allianz von
Mensch und Maschine, neue Standards werden definiert (das Bands
Bauhaus, Human League, New Order, Style Council etc. heißen, kommt
nicht von ungefähr). Die Kritik des Pop an der Moderne, ist eine
historische Kritik und zugleich Kritik an der Geschichte selbst; damit
konvergieren Pop und Postmoderne, und Fredric Jameson nennt als
Beispiel für postmoderne Musik »composers like Philip Glass and Terry
Riley, and also punk and new-wave rock with such groups as the Clash,
Talking Heads and the Gang of Four.«46 Popgeschichte wird hierbei
sozusagen popimmanent in zwei gegenläufigen Tendenzen konstituiert:
Auf der einen Seite Hip-Hop mit dem expliziten historischen Bezug auf
Jazz, Soul, aber auch Rock (der Versuch, Musik als Teil der eigenen
Geschichte zu verstehen, aber auch, Geschichte durch Musik erzählbar
zu machen; überhaupt: Musik als Erzählung zu begreifen – »Talkin’ all
that Jazz«, nach Stetsasonic). Auf der anderen Seite die Abkehr vom
klassischen oder als klassisch kanonisierten Pop gerade aus dem
geschichtsbewussten Impuls heraus, dass das Alte nicht mehr geht und
das Neue oder zumindest die Renaissance verteidigt werden muss
(Synthiepop, Gothic, auch Metal etc.). Aus der Wiederholung, nämlich
aus dem Retro, wird die Geschichte wiedergeboren (die Achtziger sind
46 Fredric Jameson, ›Postmodernism and Consumer Society‹, zum Beispiel:
http://qcpages.qc.cuny.edu/ENGLISH/Staff/richter/Jameson.html (11. Januar 2006)
Geplatzte Vermittlung – Behrens – Seite 30auch das Jahrzehnt, in dem fast alle alten Jugendkulturen ihr Revival
erleben: Mods, Skinheads, Teds, aber auch die Romantics oder Raver
etc.). Auch über die Renationalisierung der Popkultur wird Geschichte
gemacht (Neue Deutsche Welle, British Heavy Metal, Italo-Pop etc.).
Wesentlich wird Popgeschichte allerdings durch die Wiederaufnahme
und Adaption ästhetischer Strategien der Hochkultur erzählbar
gemacht: Was in den siebziger Jahren lediglich als Geniekult und
überhöhte Virtuosität im Bombast- und Progressivrock wirkmächtig
war,47 und zwar in einem modernistischen Verständnis von Ästhetik,
wird jetzt im Sinne der Postmoderne zu einer umfassenden Popästhetik
der befriedeten Gegensätze: Pop und Kunst, E und U, Adorno und Jazz,
Avantgarde und Kitsch, Zitat und Original, der Nonsens und die Geste.
Pop wird die diffuse Kultur der Differenz, der permanenten
Dekonstruktion des eigenen Bedeutungsfeldes; tendenziell treten alle
zusammen auf: Sonic Youth, Mike Kelley, William S. Burroughs, Laurie
Anderson, und, und, und …
[Der Text ist aufgrund eines Computerabsturzes nicht fertig. Es fehlt: die
Wiederaufnahme des Opernmotivs, Mozarts ›Zauberflöte‹: der
zweihundertste Geburtstag Mozarts 1956; Medien, Pop und die
Konstruktion von Subjektivität, die an der Vermittlung scheitert: The
Who, ›Tommy‹ – »deaf, dumb and blind«; Ingmar Bergmans
›Zauberflöten‹-Verfilmung von 1974: das Scheitern der Ehe, Beziehung
und geplatzte Vermittlung (die Liebe ist kein Problem der Medien).
Außerdem: das Eisenbahnmotiv vom Anfang, nämlich: Kraftwerk,
›Trans Europa express‹; die Idee der Mensch-Maschine bei Max Ernst,
Andy Warhol und Grace Jones … etc.]
47 Beziehungsweise ohne Wirkung blieb, weil diese ästhetischen Verfahren
ohne jede geschichtliche Reflexion eingesetzt und zum reinen Selbstzweck erklärt
wurden, bis sie tatsächlich technisch überholt waren. Man könnte dies anhand eines
Vergleichs zwischen Rick Wakeman und Herbie Hancock anschaulich machen:
Wakeman ist nur in der Musikwelt von Moog, Hammond, Mellotron und ARP
grandios, weil sich seine Virtuosität gerade unabhängig von der geschichtlichen
Signatur des Klangmaterials behaupten will; Hancock hat dem entgegen immer mit
dem historisch spezifischen Sound gearbeitet, was insbesondere sein Umgang mit
Synthesizern von ›Headhunter‹ bis ›Rock it‹#ä# hörbar macht.