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Forum 157 1 P. Duara, «Transnationalism and the Challenge to National Histories», in: Rethinking American History in a Global Age. Hg. T. Bender, Berkeley/ Calif. 2002, 25–46, hier 25. Wer der Vorstellung, der Nationalstaat sei «the skin that contains the experience of the past», 1 ihre Selbstverständlichkeit nehmen möchte, muß Alternativen zu einer Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung im Rahmen von Nationalstaat, Nationalgesellschaft und Nationalkultur vorschlagen. An solchen Vorschlägen mangelt es nicht. Sie gehen, grob unterschieden, in drei Richtungen: erweiterte Nationalgeschichte, Europäische Geschichte, Weltgeschichte. Erstens läßt sich an eine «Erweiterung» des nationalhistorischen Grundsche- mas denken: durch Berücksichtigung «transnationaler» Bezüge, durch Über- brückung der Kluft zwischen sozialgeschichtlichen und «außenpolitischen» Ansätzen, durch Vergleiche zwischen zwei, drei, in seltenen Fällen sogar einer größeren Anzahl von nationalen Einheiten. So entsteht im Idealfall eine eingebet- tete Nationalgeschichte. Zweitens wird die Forderung nach europäischer Geschichte erhoben. Damit ist an mehr gedacht als an eine bloße Addition von nationalen Narrativen. Subjekt solcher Geschichtsschreibung ist zumeist Europa, wie es sich in seinen Völkern und Nationen ausgeprägt hat. Was aber ist «Europa»? Stärker als bei der National- geschichte stellt sich das Problem von Zugehörigkeit und Ausschluß. Für viele Historiker bedeutet «Europäische Geschichte» das vergangene Geschehen in einem Raum, den die Geographen aufgrund physikalischer Beobachtungen seit dem späten 18. Jahrhundert als «Europa» definiert haben, einem Raum, der durch Küsten umgrenzt und im Osten durch den Landriegel des Uralgebirges abge- schlossen wird. Alle Diskussionen darüber, ob Rußland zu Europa gehöre oder nicht, sind unter solchen geographischen Voraussetzungen müßig. Ebenso zwei- felsfrei ist, daß sich die osmanisch-türkische Geschichte mehrere Jahrhunderte lang zu erheblichen Teilen in Europa abgespielt hat («Turquie en Europe»); um die Mitte des 19. Jahrhunderts «lagen die reichsten und entwickeltsten Teile des Jürgen Osterhammel Europamodelle und imperiale Kontexte JMEH 02/04_3.KORR_2 8 fertig 26.09.2005 12:16 Uhr Seite 157

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    1 P. Duara, Transnationalism and the Challengeto National Histories, in: Rethinking American

    History in a Global Age. Hg. T. Bender, Berkeley/Calif. 2002, 2546, hier 25.

    Wer der Vorstellung, der Nationalstaat sei the skin that contains the experience ofthe past,1 ihre Selbstverstndlichkeit nehmen mchte, mu Alternativen zu einerGeschichtsforschung und Geschichtsschreibung im Rahmen von Nationalstaat,Nationalgesellschaft und Nationalkultur vorschlagen. An solchen Vorschlgenmangelt es nicht. Sie gehen, grob unterschieden, in drei Richtungen: erweiterteNationalgeschichte, Europische Geschichte, Weltgeschichte.

    Erstens lt sich an eine Erweiterung des nationalhistorischen Grundsche-mas denken: durch Bercksichtigung transnationaler Bezge, durch ber-brckung der Kluft zwischen sozialgeschichtlichen und auenpolitischenAnstzen, durch Vergleiche zwischen zwei, drei, in seltenen Fllen sogar einergreren Anzahl von nationalen Einheiten. So entsteht im Idealfall eine eingebet-tete Nationalgeschichte.

    Zweitens wird die Forderung nach europischer Geschichte erhoben. Damit istan mehr gedacht als an eine bloe Addition von nationalen Narrativen. Subjektsolcher Geschichtsschreibung ist zumeist Europa, wie es sich in seinen Vlkernund Nationen ausgeprgt hat. Was aber ist Europa? Strker als bei der National-geschichte stellt sich das Problem von Zugehrigkeit und Ausschlu. Fr vieleHistoriker bedeutet Europische Geschichte das vergangene Geschehen ineinem Raum, den die Geographen aufgrund physikalischer Beobachtungen seitdem spten 18. Jahrhundert als Europa definiert haben, einem Raum, der durchKsten umgrenzt und im Osten durch den Landriegel des Uralgebirges abge-schlossen wird. Alle Diskussionen darber, ob Ruland zu Europa gehre odernicht, sind unter solchen geographischen Voraussetzungen mig. Ebenso zwei-felsfrei ist, da sich die osmanisch-trkische Geschichte mehrere Jahrhundertelang zu erheblichen Teilen in Europa abgespielt hat (Turquie en Europe); um dieMitte des 19. Jahrhunderts lagen die reichsten und entwickeltsten Teile des

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  • 2 J. Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleich-heit 18501914, Stuttgart 2002, 228.

    3 E. Morin, Penser lEurope, d. revue et complt,Paris 1990, 76.

    4 W. Schmale, Europische Geschichte schrei-ben . . . in: Comparativ, H. 4 (1993), 4048, hier41.

    5 So die Forderung bei H.- G.Haupt, Erfahrungenmit Europa. Anstze zu einer Geschichte Euro-

    pas im langen 19. Jahrhundert, in: EuropischeGeschichte als historiographisches Problem. Hg. H. Duchhardt und A. Kunz, Mainz 1997, 87103,hier 8990.

    6 Ein gutes Kompendium, das allerdings wenigauerhalb der englischsprachigen Literatur zurKenntnis nimmt, ist P. Manning, NavigatingWorld History: Historians Create a Global Past,New York 2003.

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    Osmanischen Reiches in Europa.2 Eine Geschichtsdarstellung, die einen objek-tiv-geographischen Europabegriff zugrunde legt, wird daher das OsmanischeReich nicht ignorieren knnen. Anders sehen es diejenigen, fr die Europa unenotion frontires territoriales floues et frontires historiques changeantes ist.3

    Sofern man sich nicht ber den vernderlichen Umri Europas Gedanken macht,wird dann meist ein vage kulturell begrndetes Europaverstndnis vorausgesetzt,das zumeist den Raum stlich der polnischen Ostgrenze, die Trkei und denMaghreb ausschliet.4 Beide Europabegriffe, der raumorientierte wie der iden-tittsorientierte, werden selten durch einen Blick von auen auf Europa ergn-zend begrndet.5 Sie sind Wir-Begriffe, von innen heraus konstruiert, gewisser-maen alterittslos. Ob Europas Auengrenzen als objektiv gegeben und daherlangfristig stabil oder als kulturell konstruiert und daher als vernderlich betrach-tet werden was auf der anderen Seite liegt, bleibt auerhalb des Lichtkegelshistorischer Aufmerksamkeit. Diese Einstellung soll internalistisch genanntwerden.

    Drittens ist es eine triviale Tatsache, da europische Geschichte oft euro-pazentrisch geschrieben werden mu. Wer solchen Europa- oder Eurozentris-mus fr sachfern, intellektuell unbefriedigend oder politisch bedenklich hlt, wirdWeltgeschichte oder Globalgeschichte empfehlen. Darber, was dies sei, beginntsich allmhlich Klarheit herauszubilden.6 Man ist sich weitgehend darin einig,da Weltgeschichte nicht die Geschichte von allem sein kann, und von derMenschheit als Subjekt einer solchen Geschichtssicht zu sprechen lt sichbestenfalls bevlkerungs- und umweltgeschichtlich rechtfertigen. Globalgeschich-te wird in der Regel als die Geschichte grorumiger Beziehungen aufgefat.Diese Beziehungen knne auch zwischen kleinen Einheiten bestehen, zwischenNationen, aber auch zwischen Regionen und sogar, vor allem migrationsge-schichtlich fabar, zwischen lokalen Punkten in weit voneinander entfernten Tei-len der Welt. Man bentigt also keinen vorgngigen Begriff von kontinentalenMakrogeschichten, darunter derjenigen Europas, um zu einer globalen Perspek-tive zu gelangen. Globalgeschichte kann eine unmittelbare Alternative zur Natio-nalgeschichte sein, ohne da es unbedingt der Zwischenlage der Kontinentalge-schichte bedarf.

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  • 7 P. J. Marshall, Europe and the Rest of theWorld, in: The Eighteenth Century: Europe 16881815. Hg. T. C. W. Blanning, Oxford 2000, 218246.

    8 J.-C. Caron/M. Vernus, LEurope au XIXe sicle: Desnations aux nationalismes 18151914, Paris 1996,399432.

    1. Internalistische Geschichtsschreibung

    Auch wenn ein Zwiebelschalenmodell der Untersuchungseinheiten vom Haus-halt hinauf zum Planeten viel zu schematisch wre, spielt es in den Ori-entierungsdiskussionen der Historiker eine unterschwellige Rolle. Man hrt dieAnsicht, Europische Geschichte sei seit 1989, also unter dem Vorzeichen derIntegration des Kontinents durch Freizgigkeit und Institutionenbildung sowieneuer Herausforderungen durch die grne Gefahr eines militanten Islam, dasGebot der Stunde. Welt- oder Globalgeschichte mge zurckstehen, bis ein klare-res Bild von der Geschichte des eigenen Kontinents und der eigenen Zivilisationgewonnen sei. Da man nicht alles gleichzeitig unternehmen knne, msse die Pri-oritt bei der berwindung nationalhistorischer Routine zunchst auf der Ge-schichte Europas liegen. Spter knne man dann zur Globalgeschichte kommen.

    Damit wiederholen sich allerdings die logischen und praktischen Problemeder Nationalgeschichtsschreibung auf hherer Ebene mit einer vermehrten Zahlhistorischer Akteure, im greren Raum und auf einem anspruchsvollerenGeneralisierungsniveau. Solange eine Geschichte Europas als autark gedachtwird, reproduziert sich die Denkform der eingeschlossenen Vergangenheit, derGeschichte im Gehuse. Die Haut, in der die historische Erfahrung steckt, trgtjetzt einen anderen Namen. Transnationalitt wird nun in das historiographi-sche Gehuse hineingenommen. Insofern kommt diese Sichtweise den Forderun-gen nach berwindung von Nationalstaatszentrierung konzeptionell ein Stckweit entgegen. Doch sie beschwrt Transnationalitt ohne Transkulturalitt,ohne ein Augenmerk auf Beziehungen ber die Grenzen von Zivilisationenhinweg.

    Auch Konzeptionen von europischer Geschichte, die strikt internalistischangelegt sind und das Zusammen- und Widerspiel endogener Krfte bei derHerausbildung einer gesamteuropischen historischen Erfahrung in den Mittel-punkt der Betrachtung stellen, knnen die Beziehungen Europas zur brigen Weltnicht vllig bersehen. Diese Beziehungen werden jedoch als akzidentiell betrach-tet. Sie sind ein notwendiges bel der Darstellung, kein integrierender Bestand-teil einer Vision von europischer Geschichte. Es bliebe in vielen Fllen fr denDuktus der Darstellung folgenlos, liee man diese nur von Vollstndigkeitsver-pflichtungen erheischten Abschnitte fort. Europe and the Rest of the Worldheit ein solches typisches Kapitel in einer von Timothy Blanning herausgebenenGeschichte Europas im 18. Jahrhundert. 7 Geschichten des 19. Jahrhunderts endenmit angehngten Abschnitten ber La colonisation et les imprialismeseuropens,8 oder sie schieben, wie Robert Gildeas vorzglicher Band in der Short

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  • 9 R. Gildea, Barricades and Borders: Europe 18001914, Oxford 1996, 326343.

    10 J. Carpentier / F. Lebrun (Hg.), Histoire de lEu-rope, Paris 1990, 384389.

    11 N. Davies, Europe: A History, Oxford 1996, 848853, 10681070.

    12 M. Salewski, Geschichte Europas. Staaten und Nationenvon der Antike bis zur Gegenwart, Mnchen 2000.

    13 J. Merriman, A History of Modern Europe: From theRenaissance to the Present, New York/London1996, 9591002, 13131326.

    14 H. Schulze, Phnix Europa. Die Moderne. Von1740 bis heute, Berlin 1998, 90, 92, 282286,450453.

    15 M. Mazower, Dark Continent: Europes TwentiethCentury, New York 1998, 72.

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    Oxford History of the Modern World, eine knappe Zwischenbetrachtung ber The Race for Empire ein, die sich weitgehend auf die Bedeutung vom Imperia-lismus und Chauvinismus fr das europische Bewutsein um 1900 beschrnkt.9

    Hufig verlieren langfristig angelegte Geschichten Europas nach den unvermeid-lichen Bemerkungen ber die groen Entdeckungen alsbald das Interesse amRest der Welt und kommen erst wieder in der Zeit des Hochimperialismus, alssich Burenkrieg und Boxeraufstand nun wirklich nicht bersehen lassen, flchtigdarauf zurck. La mainmise sur le monde heit das auf fnf Seiten in einemweit verbreiteten franzsischen Taschenbuch.10 In Norman Davies voluminserGesamtgeschichte Europas, im Textteil mehr als 1100 Seiten stark, ist gerade ein-mal Platz fr fnf Seiten ber den Imperialismus vor 1914 und zweieinhalb Seitenber Dekolonisation.11 Michael Salewski bringt das Kunststck fertig, in einerebenso stattlichen Geschichte Europas die Namen Hernan Cortz, James Cook,George Washington, Thomas Jefferson, Simon Bolvar, Abraham Lincoln, Gandhiund Jamal Abd-el Nasser nicht zu nennen so als htte nicht jeder dieser Mnnermehr Einflu auf das Gesamtschicksal Europas gehabt als die zahlreichen liebe-voll geschilderten mittelalterlichen Frsten.12 John Merrimans noch detailliertereGeschichte Europas seit der Renaissance spricht von wirtschaftlicher Expan-sion, ohne die Entstehung der Weltwirtschaft zu analysieren. Der frhneuzeitli-che Kolonialismus findet nicht statt, der atlantische Sklavenhandel wird flchtiggestreift; dann taucht im spten 19. Jahrhundert unvermittelt ein ziemlich kom-petent behandeltes age of European imperialism auf, spter wird das Unver-meidliche zur Dekolonisation (Gandhi, Suezkrise, Dien Bien Phu) gesagt, aberkein Bezug zur inneren Entwicklung Europas hergestellt.13 Bei Hagen Schulze,der die letzten 250 Jahre der Geschichte Europas auf 500 Seiten abhandelt, erfhrtman, da der Siebenjhrige Krieg der erste Weltkrieg der Geschichte gewesensei und hrt dann fr anderthalb Jahrhunderte gar nichts ber den Rest des Glo-bus, bis einige knappe und lieblose Bemerkungen ber das Britische Empire fal-len. Da die europische Kolonialherrschaft erst nach dem Ende des Ersten Welt-kriegs ihre grte Ausdehnung erreichte, bleibt unerwhnt; die gesamteDekolonisation schnurrt auf vier Seiten zusammen.14 Mark Mazowers zu Rechtvielgerhmte Geschichte Europas in der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts kenntdie Stichwrter Indien und Algerien nicht und widmet Mussolinis Imperial-politik nur wenige Stze.15 Sie schweigt fast ganz zur Prsenz islamischer Popula-

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  • 16 M. Mazower, Der Balkan, dt. v. E. Willems, Berlin2002, 95135.

    17 G. Mai, Europa 19181939. Mentalitten, Lebens-weisen, Politik zwischen den Weltkriegen, Stuttgart2001, 240; C. Charle, La crise des socits impriales:Allemagne, France, Grande-Bretagne (19001940),Paris 2001. Ob Charles Analysen das Imperialehinreichend herausarbeiten, ist eine andereFrage; z. B. sagt er wenig ber Rckwirkungenauf die Metropolen.

    18 S. Romano, An Outline of European History from1789 to 1989, New York/London 1999.

    19 G. A. Craig, Geschichte Europas 18151980. VomWiener Kongre bis zur Gegenwart, dt. v. M. Hop-mann, Mnchen 1989.

    20 J. M. Roberts, Twentieth Century: The History ofthe World, 1901 to 2000, New York 1999; ders., A History of Europe, Harmondsworth 1996.

    21 P. Rietbergen, Europe: A Cultural History, London/New York 1998, 384385.

    22 Fisch, Europa, vor allem 327346.

    tionen in Europa und dies bei einem Autor, der an anderer Stelle und fr einefrhere Epoche gerade darber eindrcklich geschrieben hat.16 Der Leser vonGunther Mais Gesamtdarstellung europischer Geschichte zwischen den Welt-kriegen erfhrt in einem einzigen Absatz von Grobritanniens Blick [ . . . ] aufseine imperiale Stellung, ahnt aber nichts davon, da die britische und diefranzsische (man darf ergnzen: auch die niederlndische) Gesellschaft jenerJahre, wie Christophe Charle ausfhrlich dargelegt hat, socits imprialeswaren.17

    Gewi, es gibt Ausnahmen. Sergio Romanos schlanke und pointierte Geschich-te Europas seit 1789 lt die Weltlufigkeit eines gelehrten Diplomaten erken-nen.18 Gordon A. Craig wirft fter als viele andere Historiker kurze Seitenblickeauf die Kolonialreiche, allerdings allein mit ereignisgeschichtlichem Interesse.19

    John M. Roberts, dem eine der wenigen tatschlich global angelegten, dabei nichtpointillistisch zerbrselnden Weltgeschichten des 20. Jahrhunderts gelungen ist,vermeidet in seiner Geschichte Europas von den Anfngen bis zur Gegenwartstets den Eindruck, der Rest der Erde sei unbewohnt gewesen.20 Pieter Rietbergensieht immerhin das Problem, da die kulturelle Symbiose von Europa und (Nord)-Amerika es von einem bestimmten Zeitpunkt an er meint, seit dem spten 19.Jahrhundert zwingend macht, die europische Geschichte als Teil derjenigen derWestern world zu begreifen.21 Jrg Fisch findet in seinem Band ber die zweiteHlfte des 19. Jahrhunderts innerhalb von Peter Blickles Handbuch der Ge-schichte Europas zwar wegen des Reihenformats nur wenig Platz fr eine mei-sterhafte Skizze von Europas Weltstellung in dieser Periode, hat aber in seinenlnderhistorischen Kapiteln stets die imperial-berseeische Dimension einzelnerNationalgeschichten im Blick. Keine andere Epochensynthese hat bisher eine hn-liche unterschwellige Transnationalitt erreicht. 22 Solche Ausnahmen fallenjedoch gegen die internalistische Orthodoxie wenig ins Gewicht. Unter Europa-historikern bleibt es blich, den angeblich bedeutendsten Kontinent von allen zubehandeln, als gehe der Rest der Welt dessen Bewohner nichts an.

    Um dies zu ndern, bedarf es keiner Appelle an ein heute so gern beschwore-nes Bewutsein von Globalitt. Es gibt seit langem wissenschaftliche Grundlagen

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  • 23 An erster Stelle sind hier Anthony Hopkins undChris Bayly zu nennen. Vgl. A. G. Hopkins,Back to the Future: From National History toImperial History, in: Past & Present 164 (1999),198243; ders., The History of Globalization and the Globalization of History? in: Globali-zation in World History. Hg. A. G. Hopkins, Lon-

    don 2002, 1146; C. A. Bayly, The Birth of theModern World 17801914, Oxford 2004; vgl. auchL. Colley, What is Imperial History Now? in:What Is History Now? Hg. D. Cannadine, Basing-stoke 2002, 132147.

    24 Bayly, The Birth.

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    fr eine besser eingebettete Idee von europischer Geschichte. Diese Grundlagenfinden sich in jenen Teilgebieten der Historie, die sich mit europischer Expan-sion, Imperialismus, Kolonialismus sowie mit der Geschichte einer groen Viel-zahl auereuropischer Vlker und Zivilisationen beschftigen. Diese Teilge-biete gediehen selbst in Lndern mit einer langen und folgenreichen kolonialenVergangenheit allenfalls in Nischen. Nach der Dekolonisation schien das Erbe vonImperien eher Last und Peinlichkeit zu sein. Erst in den 1980er Jahren haben zweiEntwicklungen dem Thema wissenschaftlichen Auftrieb und ffentlichen Rcken-wind verliehen: zum einen das Aufkommen von postcolonial studies aus akutenProblemlagen multi-ethnischer Gesellschaften und aus der inneren Dynamikakademischer Themenerschlieung vor allem in den USA, zum anderen dieErkenntnis, da die Suche nach historischen Wurzeln heutiger Globalisierung zuden grorumigen Transaktionsnetzen zurckfhrt, die bereits in der frhenNeuzeit entstanden. Noch spter trat ein dritter Faktor hinzu: ein neues Interessean Imperien, ausgelst zunchst durch den Zusammenbruch der sowjetischenHerrschaftssphre, dann zustzlich durch die Offenherzigkeit, mit der die Regie-rung der USA eine schon lange bestehende globale Interessensicherung in derSprache eines geradezu klassischen Imperialismus neu und zugespitzt formu-lierte. Es lag deshalb nahe, die Gunst der Stunde zu einem Ausbruch aus demReservat der Kolonial- und berseegeschichte zu nutzen und imperial historyzum Knigsweg bei der historischen Deutung der gegenwrtigen Weltlage zuerklren. Von hier aus war es dann nicht weit zur global history. Vor allem briti-sche Historiker haben diesen Schritt beherzt getan.23

    Die folgende Argumentation versucht, dieses Ausbruchsmanver freinen Teil des Weges mitzuvollziehen allerdings nicht bis zum Endpunkt einervoll entfalteten global history, wie es jngst in C. A. Baylys Geschichte des19. Jahrhunderts geschehen ist.24 Die Kernfrage lautet: Wie kann eine GeschichteEuropas in der spten Neuzeit, also etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, aus-sehen, die von Europa aus gedacht, also (was eine Trivialitt ist) eurozentrischaugerichtet wird, ohne in die Falle von Insularitt und bertriebener Selbstrefe-rentialitt zu tappen? Die wichtigste Antwort wird lauten: Man sollte die Kategoriedes Imperialen auffrischen und bei der Untersuchung der europischen Ge-schichte, so weit wie mglich und sinnvoll, die Aufmerksamkeit auf deren impe-riale Kontexte richten. Bevor dies erlutert wird, ist es ntig, nochmals auf dieEuropageschichtsschreibung zurckzukommen.

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  • 25 Vgl. zu ideengeschichtlichen Aspekten vor allem:H. Kaelble, Europer ber Europa. Die Entste-hung des europischen Selbstverstndnisses im 19.und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M./NewYork 2001;A. Pagden, Europe: Conceptualizing a Conti-nent, in: The Idea of Europe: From Antiquity to theEuropean Union. Hg. A. Pagden, Washington/D.C.2002, 3354; J. G. A. Pocock, Some Europes inTheir History, in: ebenda, 5571. Eine originelleUntersuchung zur geschichtsphilosophischenSelbstdeutung von Europern im 19. Jahrhun-dert ist C. Conter, Jenseits der Nation das verges-sene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichteder Inszenierungen und Visionen Europas in Litera-tur, Geschichte und Politik, Bielefeld 2004.

    26 K. H. Jarausch/M. Sabrow, Meistererzhlung Zur Karriere eines Begriffs, in: Die historischeMeistererzhlung. Deutungslinien der deutschenNationalgeschichte nach 1945. Hg. K. H. Jarauschund M. Sabrow, Gttingen 2002, 932, hier 9.

    27 Ebenda, 16. Fr eine an Hayden White ange-lehnte Typologie von master narratives zureuropischen Zeitgeschichte vgl. J. Dlffer, Eu-ropische Zeitgeschichte Narrative und histo-riographische Perspektiven, in: ZeithistorischeForschungen 1 (2004), 5171, hier 5254.

    28 M. Borgolte, Europa entdeckt seine Vielfalt, 10501250, Stuttgart 2002.

    29 Ebenda, 221.30 Fisch, Europa, 1937.

    2. Grundmodelle europischer Geschichte

    Die Geschichte Europas kann auf zahlreiche, vielleicht sogar zahllose Weise ent-worfen und von den unterschiedlichsten Standorten her konzipiert werden.25 Frden gegenwrtigen Argumentationszweck sollen aus der Flle der Mglichkeitensieben Grundmodelle ausgewhlt werden. Von Modellen zu sprechen ist ge-nauer, als sich der blichen Rede von Meistererzhlungen anzuschlieen. DieModelle sind abstrakte Grundformen geschichtlicher Grodeutungen,26 diesich teils narrativ ausgestalten lassen, teils aber auch nicht. Modelle mssennicht unbedingt den teleologischen Richtungssinn und die ffentliche Domi-nanz besitzen, die man mit Meistererzhlungen verbindet.27

    (1) Das induktive Tendenz-Modell. Das Europa der spten Neuzeit, gekenn-zeichnet durch die Verbreitung des territorial sehaften Verwaltungsstaates, derim Laufe des 19. Jahrhunderts durch nationalstaatliche Ideologisierung an Koh-sion gewann, kann durchaus von nationalgeschichtlichen Erzhlungen her auf-gebaut werden. Fr frhere Epochen ist dies schwieriger. Wer eine sich von Al-Andalus bis zur Kiever Rus erstreckende Geschichte des europischen Mittel-alters schreiben will, mu von einem breiten Spektrum politischer Formatio-nen und regionaler Lebensweisen ausgehen, wie Michael Borgolte dies getanhat.28 Die Europahaftigkeit Europas darf fr die damalige Zeit noch nicht voraus-gesetzt werden. Sie war durch die Verdrngung des Islam und die Homogenisie-rung der politischen Strukturen erst im Entstehen.29 Solche Homogenisierung,die zugleich eine Europisierung Europas bedeutete, setzte sich ber die folgen-den Jahrhunderte als ein widersprchlicher und keineswegs stetiger Proze fort.Sie erst erlaubt es, Epochentendenzen zu identifizieren, die sich hinter der Plura-litt der politischen Einheiten durchsetzten. So hat Jrg Fisch Produktivitts-wachstum und die Ausbreitung von Gleichheit als die beiden Grundtendenzen derZeit zwischen 1850 und 1914 bezeichnet.30 Die Einstellung hinter einer solchenGeschichtsschreibung ist induktiv-empirisch. Das Gesamteuropische Europas ist

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  • 31 B. Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahr-hundert, dt. v. K. Vossler und R. Peters, Frank-furt/M. 1979, 18.

    32 E. J. Hobsbawm, The Age of Revolution: Europe17891848, London 1962; ders., The Age of Capital18481875, rev. ed., London 1977; ders., The Age ofEmpire 18751914, London 1988.

    33 Klassisch etwa L. Dehio, Gleichgewicht oder Hege-monie: Betrachtungen ber ein Grundproblem derneueren Staatengeschichte, Krefeld 1948; andersakzentuiert das Konzept von clusters und cul-tural slopes bei W. H. McNeill, The Shape ofEuropean History, New York 1974, 3738.

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    das, was die Historikerin oder der Historiker als elementarste Gemeinsamkeit(oder kleinsten gemeinsamen Nenner) aus der Synopse von Nationalgeschich-ten ermittelt. Ideen, Werte und kulturelle Identittskonstrukte spielen bei diesemZugang eine nachgeordnete Rolle. Das Ideal der Gleichheit ist fr Fisch zum Bei-spiel weniger interessant als die beobachtbare Tatsache der politischen und gesell-schaftlichen Hervorbringung realer Gleichheit.

    (2) Das deduktive Tendenz-Modell. Ergibt sich bei der ersten Variante das gesamteu-ropische Narrativ erst ex post, so formt bei der zweiten die Annahme einer dominan-ten Grundtendenz bereits die alles andere tragende Meistererzhlung. BenedettoCroce schrieb 1932 die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert als die des Aufstiegseiner liberalen brgerlichen Wertewelt, der Religion der Freiheit.31 Das materiali-stische Pendant ist Eric Hobsbawms Geschichte der Entfaltung des Kapitalismus inEuropa vom Zeitalter der politischen und industriellen Doppelrevolution bis zumage of empire.32 Mit der Globalisierung des Kapitalismus geht die europischeGeschichte bei Hobsbawm dann am Ende des langen 19. Jahrhunderts in Weltge-schichte ber. Dieses Modell setzt eine robuste Geschichtsphilosophie voraus. Unter-halb eines gewissen philosophischen Qualittsniveaus sind seine Realisierungen inder Regel problematisch, darber knnen sie besonders anregend wirken.

    (3) Das Modell der Schwerpunktverlagerung. Die dritte Variante sucht die Ein-heitlichkeit Europas weder durch induktiv oder deduktiv gewonnene Tendenzen her-zustellen, sondern durch den hegelianischen Gedanken der Schwerpunktverlage-rung. Danach stellt sich die Homogenitt Europas gerade durch das unentwegt inVernderung begriffene Ungleichgewicht zwischen Zentren und Peripherien her. Esist nicht das langfristig stabile und konkurrenzlose Machtzentrum, das wie inChina integrierend wirkt, sondern gerade die Abfolge von gestaltenden und aus-strahlenden Zentren, die ihre jeweiligen Hegemonial- oder Einfluzyklen durchlau-fen.33 Diese Zyklen knnen rein machtpolitischer Natur, aber auch konomischuntermauert sein. Kulturgeschichtlichen Ausdruck findet dieses Modell im Gedan-ken der kulturellen Reprsentativitt einzelner Zentren fr das Ganze. So wie Paris,Walter Benjamin zufolge, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts war, so vielleichtAmsterdam die des 17., London die des 18. und Wien oder St. Petersburg die des Fin-de-sicle. Grundkrfte interessieren in diesem Konzept nicht vorrangig. Europa wirdweniger in Prozessen als in der rtlichen Konzentration von Symbolen aufgesprt.

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  • 34 Vgl. H. Kleinschmidt, Geschichte der internationa-len Beziehungen. Ein systemgeschichtlicher Abri,Stuttgart 1998; A. Osiander, The States System ofEurope, 16401990: Peacemaking and the Conditi-ons of International Stability, Oxford 1994.

    35 Vgl. W. Schmale, Geschichte Europas, Wien/Kln/Weimar 2000, 148149.

    36 Vgl. aber D. Langewiesche, Kommunikations-raum Europa: Revolution und Gegenrevolution,in: Demokratiebewegung und Revolution 1847 bis1849. Internationale Aspekte und europische Ver-bindungen. Hg. D. Langewiesche, Karlsruhe 1999,1135 mit der Frage nach einer Europisierung

    des Informationsniveaus (24). Einiges Medien-geschichtliche auch in L. Erbring (Hg.), Kommu-nikationsraum Europa, Konstanz 1995, Teil IV/1.

    37 Den Begriff verwendet R. Wuthnow, Communi-ties of Discourse: Ideology and Social Structure in theReformation, the Enlightenment, and EuropeanSocialism, Cambridge/Mass./London 1989, demes aber mehr um die Entstehung von groru-mig wirksamen ideologies als um die kommu-nikativen Mechanismen von deren Ausbreitunggeht.

    38 So etwa Haupt, Erfahrungen, 92103.

    (4) Das Modell institutioneller Integration. Man kann Europa auch in Struktu-ren und Institutionen von kontinentaler Reichweite suchen, im Mittelalter allenvoran der Kirche. In der Neuzeit wre deren quivalent als Integrationsagenturdas weltweit einzigartige, die Konfessionsgegenstze neutralisierende Staatensy-stem, wie es 1648 geschaffen wurde. Die damals beginnende Geschichte einesinternational geordneten Europa kann nach einen solchen westflischenAnsatz dann als Ordnungs- und Systemgeschichte gesehen werden.34 Sie findetihr Telos in den supranationalen Strukturen der europischen Gegenwart. Europaist demnach vor allem anderen ein Regelungsraum, seine Geschichte die Vorge-schichte gelingender Integration.

    (5) Das Kommunikations-Modell. Es findet sich bereits zu Anfang des 19.Jahrhun-derts bei dem dnischen Konferenzrat Conrad Friedrich von Schmidt-Philsedek,35

    hat aber erst mit dem Aufkommen kommunikationstheoretischer Sichtweisen inden Sozialwissenschaften an Zuspruch gewonnen. Fr lngere Abschnitte dereuropischen Geschichte scheint es noch nicht ausgearbeitet worden zu sein.36

    Hier geht es nicht um einigermaen feste institutionelle Strukturen, sondern umluftigere communities of discourse.37 Danach lt sich Europa als ein durchMedien geschaffener und gesttzter Kommunikationsraum begreifen, der dortendet, wo Kommunikation nicht mehr auf einem gewissen (schwierig zu bestim-menden) Niveau kultureller Selbstverstndlichkeit aufruhen kann. Dabei wirdman vor dem 20. Jahrhundert fast nur an Elitenkommunikation denken. Eu-ropa war zunchst der Raum der Latinitt, spter etwa das Aktionsfeld der aufkl-rerischen Intelligentsia zwischen Uppsala und Neapel, Lissabon und St. Peters-burg. Da die europische Aufklrung aber auch in Philadelphia oder Kalkuttaaktive Dependancen besa, deutet darauf hin, da dieses Modell schon frh berEuropa hinausdrngt. Man kann es auch als ein Konzept von Europa als Er-fahrungsraum oder einer Pluralitt sich berlagernder Erfahrungsrume auf-fassen,38 doch bieten beschreibbare Kommunikations- und Interaktionszusam-menhnge eine stabilere empirische Grundlage als eine auf Selbstaussagengegrndete Erfahrungsgeschichte.

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  • 39 H. Duchhardt, Was heit und zu welchem Endebetreibt man europische Geschichte? in:Europische Geschichte als historiographsischesProblem. Hg.Duchhardt und Kunz, 191202, hier195.

    40 Vgl. D. Ppping, Abendland. Christliche Akademi-ker und die Utopie der Antimoderne 19001945,Berlin 2002, 51. Dazu gehrt auch die Idee abge-schlossener Kulturkreise. Eine Zusammenfas-sung lterer Vorstellungen zu Europas Besonder-heit bei Schmale, Geschichte Europas, 145152.

    41 Vgl. etwa H. Schilling, Europa in der werdendenNeuzeit oder: Was heit und zu welchemEnde studiert man europische Geschichte?,in: Royal Netherlands Academy of Arts andSciences, Heineken Lectures 2002, Amsterdam2003, 6381; W. Reinhard, Was ist europischepolitische Kultur? Versuch zur Begrndungeiner politischen Historischen Anthropologie,

    in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 593616; ders., Lebensformen Europas. Eine historischeKulturanthropologie, Mnchen 2004; M. Mitter-auer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlageneines Sonderwegs, Mnchen 2003; A. Gestrich/ J.-U. Krause/M. Mitterauer, Geschichte der Fami-lie, Stuttgart 2003; D. S. Landes, The Wealth andPoverty of Nations: Why Some are so Rich and Someso Poor, New York 1998.

    42 Einige schne Beispiele dafr, da es das angeb-lich typisch Europische auch anderswo gibt,bei J. Goody, The East in the West, Cambridge1996.

    43 Die gleiche Kritik bei W. Schmale, EuropischeGeschichte als historische Disziplin. berlegun-gen zu einer Europistik, in: Zeitschrift frGeschichtswissenschaft 46 (1998), 389405, hier394.

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    (6) Das Essenz-Modell. Eine wohletablierte Auffassung sucht in gemeinsameneuropischen Weltbildern, Werten, Sitten, Umgangsregeln, Mentalittseigen-schaften oder in einem besonderen Menschentyp, also in distinkten kulturellenWesenszgen, das Spezifische Europas als einer kohrenten Werte- undErfahrungsgemeinschaft.39 Diese Denkform geht auf alte hellenisch-orientali-sche Kontraste zurck. In neuerer Zeit hat sie sich lange in einer gewissen Nhezu konservativ-romantischen Verklrungen des Abendlandes bewegt. In diesemSinne hatte der Philosoph Max Scheler einen unvernderlichen europischenCharaktertypus als Gegenentwurf zur aufklrerischen Idee der einen Mensch-heit umrissen.40 Eine andere, ideologisch weniger exklusive Variante betont eherEuropas ungewhnlichen Erfolg im Hervorbringen universalisierungstauglicherLeitbilder, etwa der Menschenrechte oder des Regelwerks von Zivilgesellschaft .Historiker haben in der letzten Zeit an solchen berlegungen viel Gefallen ge-funden. Sie suchen nach den Eigenarten eines typischen europischen Zivilisati-onsmodells, einer besonderen politischen Kultur und Ordnung oder nach unver-wechselbaren Formen der Organisation von Verwandtschaft und biologischerReproduktion.41 Dieses Modell ist eher statisch, im schlimmsten Falle reduk-tionistisch und eignet sich schlecht zu narrativer Entfaltung. Es beruht aufSonderwegsannahmen, also Aussagen darber, da dieses und jenes nur inEuropa oder so die schwchere Form dort in gesteigerter Intensitt anzutref-fen sei. Manchmal werden solche Annahmen durch explizite und sorgfltige Ver-gleiche untermauert, hufig aber auch nicht. Dann sttzen sich Exklusivittsbe-hauptungen nur auf schwach begrndete Vermutungen ber die Anderen.42

    Die Einzigartigkeit Europas wird als selbstverstndlich oder bereits bewiesenvorausgesetzt.43

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  • 44 Duchhardt, Was heit, 198.45 Etwa Dehio, Gleichgewicht, 21.46 Zu seinen heutigen Konsequenzen vgl. J.Scherrer,

    Kulturologie: Ruland auf der Suche nach einer zivi-lisatorischen Identitt, Gttingen 2003, 128151.

    47 O. Halecki, Europa. Grenzen und Gliederung seinerGeschichte, dt. v. G. und E. Bayer, Darmstadt 1957.

    48 J. Szcs, Die drei historischen Regionen Europas, dt.v. B. Rsky, Frankfurt/M. 1990. ber die Tiefen-dimension von zwei Europas vgl. V. Bunce,The Historical Origins of the East-West Divide:Civil Society, Political Science, and Democracy in

    Europe, in: Civil Society before Democracy. Lessonsfrom Nineteenth Century Europe. Hg. N. Bermeound P. Nord, Lanham/Md. 2000, 20936, sowieG. Stourzh, Statt eines Vorworts: Europa, aberwo liegt es? in: Annherungen an eine europischeGeschichtsschreibung. Hg. G. Stourzh ,Wien 2002,ixxx, hier xivxix.

    49 K. Pomian, Europa und seine Nationen, dt. v. M. Wolf,Berlin 1990.

    50 T. I. Berend, History Derailed: Central and EasternEurope in the Long Nineteenth Century, Berkeley/Los Angeles/London 2003.

    (7) Das Modell der Kulturrume. Solcher Suche nach dem Fundierenden undGemeinsamen, nach einer Erfahrungsgemeinschaft,44 die sich eher aus derhnlichkeit vieler isolierter Erfahrungen ex post dem Historiker erschliet, als dadie Erfahrungen gemeinschaftlich gemacht worden wren, kann die skeptischeFrage entgegengestellt werden, ob an Europa nicht ebenso sehr die Binnendiffe-renzierung in mehrere groe Kulturrume interessant sei, deren Grenzen sichnicht mit politischen Einteilungen decken. Ein alter Grundtopos europischerSelbstbeschreibung besagt, Europa verbinde wie kein anderer Teil der Welt Einheitmit Vielfalt.45 Das siebente Modell bestimmt diese Mannigfaltigkeit nicht einfachals Abwesenheit eines berwlbenden Reichsverbandes (hier wird stets der Kon-trast zu China bemht) und daher politischen Partikularismus oder als ethnisch-sprachliche Pluralitt (nach einem alten Schema romantischer Volksgeschichte:romanisch germanisch slawisch), sondern versucht sich an der kulturgeo-graphischen Unterscheidung historischer Groregionen mit besonderer Beach-tung der Grenzen und bergnge zwischen ihnen. Diese Denkweise ist besondersstark ideologieanfllig, wie man am russischen Eurasianismus sehen kann.46

    Es gibt aber auch rational bedenkenswerte Vorschlge, die bisher berwiegendvon dem Bemhen motiviert waren, Osteuropa unter berwindung eines binrenOst-West-Gegensatzes in einen gesamteuropischen Geschichtsentwurf einzube-ziehen. So stellte der polnische Historiker Oskar Halecki seit den 1920er Jahrenberlegungen zur geographisch-kulturellen Binnengliederung Europas auf derWest-Ost-Achse an.47 Der ungarische Medivist Jen Szcs gab Anfang der 1980erJahre der damals neu aufkommenden Mitteleuropa-Diskussion einen wichtigenImpuls durch die Unterscheidung von drei historischen Regionen Europas.48

    Als in Frankreich lehrender Pole beweist Krzysztof Pomian eine Sensibilitt frdie Dialektik von Konvergenz und Divergenz in Europa, die in Darstellungen aufder Grundlage anderer Modelle hufig fehlt.49 berhaupt ist die beste Historiogra-phie aus und ber Ostmitteleuropa vor insularen Illusionen besonders gutgeschtzt. Sie mu januskpfig nach Westen wie nach Osten blicken.50 DiesesModell der Geschichtsregionen ist fr Europa als ganzes noch nicht ausgefhrtworden, ein Umstand, an dem das Auseinanderdriften von Geschichte und Geo-

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  • 51 Vgl. die thematische Exposition bei S. Troebst,Introduction: Whats in a Historical Region? ATeutonic Perspective, in: European Review ofHistory 10 (2003), 175188.

    52 Man sieht dies auch an der SchwierigkeitHobsbawms, dem Borniertheit nicht unterstelltwerden kann, nicht-europischen Formen vonNationalismus gerecht zu werden. Vgl. E. J.Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780:Programme, Myth, Reality, Cambridge 21992.

    53 Vgl. etwa G. Arrighi, The Long Twentieth Century:Money, Power, and the Origins of Our Times, Lon-

    don/New York 1994; P.K. OBrien/A. Clesse (Hg.),Two Hegemonies: Britain 18461914 and the UnitedStates 19412001, Aldershot 2002 (mit einigenBeitrgen, die an diesem bergang zweifeln).

    54 T. Naff, The Ottoman Empire and the EuropeanStates System, in: The Expansion of InternationalSociety. Hg. H. Bull und A. Watson, Oxford 1984,143169, hier 169. Zur Ambivalenz des trki-schen Anschlusses an Europa vgl. D. Quataert,The Ottoman Empire, 17001922, Cambridge 2000,8385.

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    graphie nicht unschuldig ist. Es ist aber inzwischen wieder Gegenstand einerbesonders lebhaften Diskussion.51

    Diese sieben Modelle sind in unterschiedlichem Mae und in verschiedenenArten und Weisen geeignet, ber eine europische Innenschau hinauszufhren.Das Modell induktiver Tendenzermittlung (Nr. 1) ist das methodisch offenste.Wenn der Blick nach auen in der Konzipierung der einzelnen Nationalgeschich-ten bercksichtigt wird, spiegelt sich dies zwangslufig im generalisierendenRsum. Die Identifikation der europischen Geschichte mit universellen Tenden-zen dem Aufstieg des Kapitalismus oder der Freiheit erhebt die Entwicklungdes Kontinents zum weltgeschichtlichen Paradigma, macht es aber schwer, denauf diese Weise eingebauten Eurozentrismus empirisch zu korrigieren.52 DasModell der Schwerpunktverlagerung (Nr. 3) fhrt im 20. Jahrhundert zum Gedan-ken der Ablsung der europischen Prponderanz in der Welt durch die nordame-rikanische, eine Ablsung, die sich konomisch, weltpolitisch-militrisch undnach Auffassung vieler auch kulturell beobachten und begrnden lt.53 Eineandere Konsequenz, die gezogen werden kann, ist die der Multiplizierung vonZentren, zwischen denen keine eindeutigen Hierarchien mehr bestehen. Von hieraus lt sich die Verselbstndigung frherer Kolonialgebiete, vor allem der USAund der britischen Dominions, recht gut, wenngleich nur in sehr allgemeinenBegriffen erfassen: Aus Peripherien werden Zentren, die europische Geschichtegeht teilweise in derjenigen des Westens auf.

    Das Modell institutioneller Integration (Nr. 4) lenkt den Blick auf eine andereArt von externen Beziehungen: Die auereuropische Welt wird bis zur Grndungder Vereinten Nationen und dem Beitritt selbstndiger Ex-Kolonien zu ihr nicht andie binneneuropischen Ordnungssysteme angeschlossen; die Aufnahme desOsmanischen Reiches in das Konzert der Mchte 1856 war ohne grere prakti-sche Bedeutung.54 Weder das westflische System von 1648 noch das Systemdes Wiener Kongresses von 1815 und auch das System der Konferenzen vonParis 1919 und Washington 1922 nur in beschrnktem Mae integrierten aue-reuropische Lnder zu symmetrischen Bedingungen in die Regelwerke, dieEuroper fr sich selber schufen. Auch die normativen Selbstverpflichtungen

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  • 55 Vgl. aus einer reichhaltigen Literatur: F. Reichert,Erfahrung der Welt. Reisen und Kulturbegegnung imspten Mittelalter, Stuttgart 2001; D. F. Lach/ E. J. Van Kley, Asia in the Making of Europe, 3 Bde.in 9 Teilbnden, Chicago/London 19651993; J. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europaund die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert,Mnchen 1998.

    56 Vgl. dazu die Kritik aus wirtschaftsgeschichtli-cher Sicht bei P. K. OBrien, The Deconstruc-tion of Myths and Reconstruction of Metanarrati-ves in Global Histories of Material Progress, in:Writing World History 18002000. Hg. B. Stuchteyund E. Fuchs, Oxford 2003, 6790.

    Europas, vor allem das frhe Vlkerrecht, galten in bersee nicht: No peacebeyond the line! Der bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Integrati-onsmodus war ein asymmetrischer: die imperiale Integration, die nicht vonEuropa als ganzem ausging Europa als solches war kein einheitliches Imperiumund besa keine Kolonien -, sondern von den einzelnen imperialen Metropolen.Modell 4 kann dies besonders gut sichtbar machen.

    Das Kommunikationsmodell (Nr. 5) ist leicht erweiterbar. Wenn man etwauntersucht, worber sich die Europer unterhielten, wird man bald feststellen, dasie sich sptestens seit den Kreuzzgen und der hochmittelalterlichen ffnungzum Islam und zum Mongolenreich nicht ausschlielich mit sich selbst beschf-tigten.55 Die Welt auerhalb Europas war ein konstantes Objekt europischerAufmerksamkeit; es geschah aber vor dem 20. Jahrhundert selten, da Nicht-Europer (auer Nordamerikanern) an dem Gesprch ber sie beteiligt wurden.Dieses Modell erlaubt die Vorstellung, da einzelne europische Gesellschaftenengere Beziehungen zu auereuropischen Regionen unterhielten als zu Lndernam anderen Ende des eigenen Kontinents. Das Essenz-Modell (Nr. 6) ist ganzanders angelegt und resultiert in einer ganz anderen Historiographie. Sie istexzeptionalistisch und beruht auf typisierenden Differenzkonstruktionen zwi-schen the West und the rest.56 Nur wenige unter den Historikern, die sie favo-risieren, interessieren sich wie Wolfgang Reinhard fr tatschliche Wechsel-wirkungen zwischen Europa und der brigen Welt. Schlielich das Modell derKulturrume: Es hat von allen Modellen den schwchsten Konvergenzdrall, weil eseine rahmenartige Einheit Europas als formale Notwendigkeit voraussetzt, aberweniger nach dem Wesen Europas fragt, seien dies nun Essenzen oder Tenden-zen, als nach dem Zusammenspiel der einzelnen kulturrumlichen oder auch (soeher bei Pomian) nationalen Elemente. Dieses Modell erlaubt die Frage nach Euro-pas ueren Grenzen, also nach dem in der Interaktion beobachtbaren Unter-schied zwischen Europa und Nicht-Europa. Es lt auch greren Spielraum alsandere fr zentrifugale Krfte innerhalb Europas. Dies kann es, weil dieAnnahme, da Europa berhaupt irgendeine Art von Zentrum habe einen regio-nalen Mittelpunkt, einen Wertekern, einen Motor wirtschaftlicher Dynamik oderwas immer sonst , bei ihm eine ungewhnlich schwache Rolle spielt.

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  • 57 So in genauer Ausarbeitung: S. Howe, Irelandand Empire: Colonial Legacies in Irish History andCulture, Oxford 2000.

    58 W. G. Clarence-Smith, The Third Portuguese Empi-re, 18251975: A Study in Economic Imperialism,Manchester 1985, 193.

    59 G. Thomas, Portugal 19111974, in: Handbuch

    der europischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte.Bd. 6, Hg. W. Fischer, Stuttgart 1987, 975997,hier 995 (Tab. 23).

    60 So ein im 19. Jahrhundert beliebtes Diktum, zit.bei P. Schmidt, Vorwort, in: Kleine GeschichteSpaniens. Hg. P. Schmidt, Stuttgart 2002, 9.

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    3. Imperien

    Da europische Historiker nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und im Prozeder stlichen Erweiterung der Europischen Union die zentripetalen undintegrierenden Krfte in der Geschichte des Kontinents suchen, kann nicht ver-wundern. Die heute dominante Konvergenzperspektive sollte aber nicht ver-decken, da das Europa der Neuzeit in einer stndigen Spannung zwischen Klein-europa und einem kolonial erweiterten Groeuropa, zwischen Land und Meer,zwischen Expansion und Kontraktion lebte. Von der Eroberung Mexikos bis zumRckzug aus den letzten Kolonien waren groe Teile Europas nach innen undzugleich nach auen orientiert. Ganze Nationalgeschichten lagen in berseeischenFluchtlinien. Noch das heutige Irland lt sich nach vier Jahrhunderten englischerund britischer Unterdrckung als postcolonial polity interpretieren.57 Fr Gro-britannien selbst war der Beitritt zur Europischen Gemeinschaft im Jahre 1973eine tiefe nationalgeschichtliche Zsur, der Endpunkt einer langwierigen Umori-entierung vom Empire zum Kontinent; nun erst lag Sizilien nher als Neuseeland.Diese Umorientierung hat indes eine alte atlantische special relationship zu denUSA nicht verdrngen knnen. Wenn viele Briten von Europe sprechen, mei-nen sie immer noch nicht sich selbst, sondern den Kontinent.

    Hinter Grobritannien waren die Niederlande bis zur Unabhngigkeit Indone-siens 1949 gleichauf mit Frankreich eine der drei wichtigsten maritimen Kolonial-mchte. Die franzsische Auen- wie Innenpolitik wurde zwischen dem Beginndes ersten Indochinakrieges 1946 und der Unabhngigkeit Algeriens 1962 ineinem heute kaum vorstellbaren Mae von kolonialen Problemen berschattet.Portugal blieb bis zur Revolution von 1974 wirtschaftlich wie mental in aueror-dentlichem Mae seinen afrikanischen Kolonien zugewandt. In den sechziger Jah-ren flossen trotz einsetzender Unabhngigkeitskriege frische Investitionen nachAngola und Mozambique. Zugleich begann aber auch die wirtschaftliche Moderni-sierung des Mutterlandes, die den Anschlu an Europa vorbereitete.58 Noch 1970waren aber die Kolonien Portugals wichtigster Exportmarkt.59 Nach Jahrhunderteneiner maritimen Existenz, in denen Portugal von kaum einem anderen europi-schen Integrationsmechanismus als der katholischen Kirche erfat worden war,trat das Land erst 1986 gemeinsam mit Spanien der Europischen Gemein-schaft bei. Obwohl Europa gewi nicht an den Pyrenen aufhrt,60 war das ber-seeische whrend der Neuzeit die zweite Dimension der iberischen Geschichte.Spanien agierte drei Jahrhunderte lang in einer euro-atlantischen Doppelwelt.61

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  • 61 Vgl. J. H. Elliott, Spain and its World, 15001700:Selected Essays, New Haven/London 1989.

    62 S. Balfour, The End of the Spanish Empire, 18981923, Oxford 1997, 230, 23233.

    63 Verschiedene Autoren sehen das Ende derSowjetunion als imperial disintegration. Soetwa J. Keep, A History of the Soviet Union 19451991: Last of the Empires, Oxford 1995, 363. Der imperiale Charakter der Sowjetunion wirdvon einer ebenfalls internalistischen Ruland-

    geschichtsschreibung noch oft unterschtzt. Vgl. aber zahlreiche Arbeiten von Autoren wie A. Kappeler, J. Baberowski, Y. Slezkine, R.G.Suny,T. Martin, M. Bassin oder G. Hosking. Eine zu-sammenfassende Analyse in komparativer Ab-sicht gibt D. Lieven, Empire: The Russian Empireand Its Rivals, London 2000, 288239; vgl. auchders., The Russian Empire and the Soviet Unionas Imperial Polities, in: Journal of ContemporaryHistory 30 (1995), 607636.

    Nach dem Verlust Kubas und der Philippinen 1898 wurde der als traumatisch emp-fundene Zusammenbruch des Imperiums fr Jahrzehnte zum mythical refe-rence-point der spanischen Rechten. Die diktatorialen Machtergreifungen vonPrimo de Rivera 1923 und Franco 1936 hatten beide einen afrikanisch-kolonialenHintergrund und setzten den imperialen Mythos legitimatorisch ein.62

    berseeische Besitzungen haben daher in einzelnen europischen National-geschichten bis ber das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus eine weit mehr alsnur marginale Rolle gespielt. Wenn die britische, franzsische, niederlndische,belgische, portugiesische und spanische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundertentangled war, dann sicher nicht nur mit derjenigen der Nachbarn auf demeuropischen Kontinent. Ebenso schuf das disentanglement berall Probleme,deren glimpfliche Lsung fr die Zeitgenossen keineswegs absehbar war. VomProze der Dekolonisation der maritimen Imperien war neben Grobritannienganz Europa westlich des Rheins betroffen. Damals lag die Obsession der natio-nalsozialistischen und faschistischen Fhrungen Deutschlands und Italiens mitdem Ziel eines rassisch gestuften Reiches im einen Fall in Osteuropa, imanderen im stlichen Mittelmeer und in Afrika noch nicht lange zurck. Nuruerste militrische Anstrengungen Grobritanniens, der Sowjetunion und derUSA hatten Deutschland, Italien (und Japan) daran gehindert, Imperien von bei-spielloser Brutalitt die beabsichtigte Dauer zu verleihen. Die Sowjetunion hattebereits Anfang der zwanziger Jahre den zarischen Reichsverband im wesentlichenwiederhergestellt. Das Sowjetimperium berlebte den Zweiten Weltkrieg underrichtete nach seinem Ende ein Glacis von nominell selbstndigen, aber durchpermanente Interventionsdrohung und wirtschaftliche Isolierung abhngiggehaltenen Satellitenstaaten. 1990/91 zerfielen gleichzeitig der innere wie deruere Ring des Imperiums.63

    Fr eine groe Zahl von Europern war imperiale Herrschaft bis 1939 einDatum ihres Erfahrungskreises. Eine Mehrzahl von ihnen waren Brger von Ln-dern, die an berseeischen Kolonien oder, im Falle der Sowjetunion, an internemKolonialismus festhielten. In mehreren Fllen erreichten diese Kolonien erst inder Zwischenkriegszeit, also einer Periode weltwirtschaftlicher Fragmentierung,ihr Maximum an Ntzlichkeit und mentaler Bedeutung fr die Metropolen. Keinepolitische Elite einer Kolonialmacht sah am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ihre

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  • 64 Weitergehende berlegungen, auch zur Abgren-zung von Kolonie/Kolonialismus, bei J. Oster-hammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Fol-gen, Mnchen 42003; ders., Expansion undImperium, in: Historische Anste. Festschrift frWolfgang Reinhard. Hg. P. Burschel et al., Berlin2002, 371392. Besonders wichtig zur Typologievon Imperien: A. J. Motyl, Imperial Ends: TheDecay, Collapse, and Revival of Empires, New York2001, bes. 1530. Exzellent ist S. Howe, Empire: A Very Short Introduction, Oxford 2002. Als struk-turgeschichtlich konzipierte Gesamtdarstellungvgl. D. B. Abernethy, The Dynamics of GlobalDominance: European Overseas Empires, 14151980,New Haven/London 2000; ein besseres Gespr

    fr die Zeit vor ca. 1800 (aber nicht fr diedanach) hat A. Pagden, Peoples and Empires: A Short History of European Migration, Explora-tion, and Conquest, from Greece to the Present, NewYork 2001. Prgnante Charakterisierungen ein-zelner Imperien des 19. Jahrhunderts bei H. L.Wesseling, Europas koloniale eeuw: De kolonialerijken in de negentiende eeuw, 1815 1919, Amster-dam 2003.

    65 Vgl. als Beispiel dafr eine meisterhafte Fall-studie: S. Subrahmanyam, Written on Water:Designs and Dynamics in the Portuguese Estadoda ndia, in: Empires: Perspectives from Archaeo-logy and History. Hg. S. F. Alcock et al., Cam-bridge 2001, 4269.

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    Besitzungen als Brde und konnte sich eine postkoloniale Zukunft vorstellen.Whrend des Krieges machten die europischen Opfer der deutschen und der itali-enischen Aggression dann eine Erfahrung, die bis dahin abgesehen von Irenund Polen auf dem Hhepunkt englischer bzw. russischer Unterdrckung Asia-ten, Afrikanern und der Urbevlkerung Amerikas und der Sdsee vorbehaltengewesen war: Verfgungsmasse imperialer Politik zu sein.

    Sptestens seit dem 15. Jahrhundert hatte die europische Geschichte eine instndiger Metamorphose befindliche, aber niemals abgebrochene oder unterbro-chene imperiale Dimension. Diese Dimension ist kein Akzidenz der europischenGeschichte. Sie kann nicht weggeblendet und aus einem kleineuropischenGeschichtsbild in eine separate Kolonial- und berseegeschichte ausgelagertwerden. Es gengt auch nicht, sie unter dem biedermeierlichen Separattitel derinterkulturellen Beziehungen oder des Kulturkontakts abzulegen. Gewi gabes manche solcher Kontakte, die nicht imperial verfat waren. Hinter den ba-rocken Jesuiten am chinesischen Kaiserhof oder hinter den ersten Forschungsrei-senden im Inneren Afrikas stand kein Imperium, das sie htte schtzen knnenoder als dessen Speerspitze sie auftraten. Doch die meisten dieser Kulturkontaktewaren durch den imperialen Rahmen berhaupt erst ermglicht worden. Dahersind sie von Machtfragen nicht zu trennen. Es fhrt mithin kein Weg um das Kon-zept des Imperiums herum.

    Man kann sich an dieser Stelle mit einem weiten und nur lose bestimmtenBegriff des Imperiums begngen.64 Ein Imperium ist ein grorumiger, hierar-chisch geordneter Herrschaftsverband polyethnischen und multireligisen Cha-rakters, dessen Kohrenz durch Gewaltandrohung, Verwaltung, indigene Kollabo-ration sowie die universalistische Programmatik und Symbolik einer imperialenElite (zumeist mit monarchischer Spitze) gewhrleistet wird, nicht aber durchgesellschaftliche und politische Homogenisierung und die Idee allgemeinerStaatsbrgerrechte. Innerhalb dieses Rahmens, der allein trading empires mitschwach entwickelter Territorialitt ausschliet,65 sind zahlreiche Unterscheidun-

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  • 66 Hier ist die theoretische Diskussion ber denStand von ca. 1980 nicht wesentlich hinausge-langt. Vgl. daher immer noch W. J. Mommsen,Imperialismustheorien. Ein berblick ber dieneueren Imperialismusinterpretationen, Gttingen31987. Zum wichtigsten der klassischen Theo-retiker jetzt P. J. Cain, Hobson and Imperialism:Radicalism, New Liberalism, and Finance 18871938, Oxford 2002.

    67 Zur Statistik der (maritimen) Imperien vgl. B.Etemad, La possession du monde: Poids et mesuresde la colonisation (XVIIIeXXe sicles), Brssel2000.

    68 Dies hat schon in den 1920er Jahren einer derklgsten Analytiker des British Empire gesehen:

    A. Demangeon, Lempire britannique: tude de go-graphie coloniale, Paris 1923. Hier nach der deut-schen Ausgabe: Das britische Weltreich: Eine kolo-nialgeographische Studie, Berlin 1926, bes. 35.

    69 Vgl. zusammenfassend J. E. Wills, jr., EuropeanConsumption of Asian Production in the 17thand 18th Centuries, in: Consumption and theWorld of Goods. Hg. J. Brewer und R. Porter, Lon-don/New York 1993, 133147; J. Walvin, Fruits ofEmpire: Exotic Produce and British Taste, 16601800, Basingstoke 1997; S. Beckert, Das Reichder Baumwolle. Eine globale Geschichte, in:Das Kaiserreich transnational. Hg. S. Conrad undJ. Osterhammel, Gttingen 2004, 280301. DasWachsen des Welthandels aus Konkurrenz

    gen und Taxonomien mglich: maritime und koloniale, vormoderne und mo-derne, dicht und locker integrierte Reiche usw. Die Definition, die keinen Begriffvon Imperialismus voraussetzt,66 pat selbstverstndlich auf einige Flle besserals auf andere; die Diskussion solcher Differenzen ist der erste Schritt zur kompa-rativen Profilierung des Einzelfalles. Jede vergleichende Betrachtung wird dabeidie Sonderstellung des British Empire in der neuzeitlichen Geschichte erweisen.Es war nicht nur das mit Abstand territorial grte und bevlkerungsreichste allerImperien.67 Es war auch das einzige vor und neben dem US-amerikanischenHegemonialsystem des 20. Jahrhunderts , das eine weit ber den eigenen kolonia-len Herrschaftsraum hinausreichende globale Ordnung schuf: die auf Freihandel,Seemacht und der Idee der Zivilisierungsmission beruhende Pax Britannica.Schlielich wurden nur im britischen Empire die unweigerlich zerstrerischenWirkungen von Siedlungskolonialismus durch den Aufbau lebensfhiger neo-europischer Gesellschaften ausgeglichen, die einen wesentlichen Beitrag zurEntstehung der globalen Moderne leisteten.68

    4. Imperiale Kontexte

    Von der europischen Geschichte ausgehend, ist es mglich zu fragen, in welchenimperialen Kontexten sie gesehen werden mu. Einige Antworten auf eine solcheFrage sind nur gesamteuropisch sinnvoll, etwa wenn es um die biologischenund kologischen Folgen der berseeischen Expansion fr Europa geht. Die ausder Neuen Welt im Zuge des Columbian exchange nach Europa eingefhrtenNutzpflanzen verbreiteten sich ber Landesgrenzen hinweg. Ebenso war der Kon-sum jener Produkte, die kolonialwirtschaftlich erschlossen und aus berseeimportiert wurden vor allem Gewrze, Rohrzucker, Tee, Kaffee, Tabak, seit demfrhen 19. Jahrhundert in grtem Stil die Baumwolle nicht nationalspezifisch.Die allgegenwrtigen Kolonialwaren gelangten durch die Organe eines selbstim Zeitalter des Merkantilismus bereits kosmopolitischen Welthandels an ihreEndverbraucher.69 In anderen Flle wird sich die Frage nach imperialen Kontexten

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  • und berlappung von commercial empiresheraus zeigt exemplarisch D. Ormrod, The Rise ofCommercial Empires: England and the Netherlandsin the Age of Mercantilism, 16501770, Cambridge2003.

    70 Ein vorzglicher Themenaufri ist F. Cooper,Conflict and Connection: Rethinking ColonialAfrican History, in: History after the Three Worlds:Post-Eurocentric Historiographies. Hg. A. Dirlik, Lan-ham/Md. 2000, 157190, bes. 164 175.

    71 Vgl. etwa J. I. Israel, Diasporas within a Diaspora:Jews, Crypto-Jews and the World of Maritime Empi-

    res, Leiden 2002; T. M. Devine, Scotland`s Empire16001815, London 2003.

    72 L. Russell (Hg.), Colonial Frontiers: Indigenous-European Encounters in Settler Societies, Manche-ster 2001.

    73 Zu Fiktionen von Wildheit als permanentemSpiegel der europischen Geschichte vgl. J. Fon-tana, Europa im Spiegel. Eine kritische Revision dereuropischen Geschichte, dt. v. J. Weiss i Knopf,Mnchen 1995, 140157.

    74 J. Rickard, Australia: A Cultural History, London/New York 1988, 74.

    Jrgen Osterhammel

    zunchst fr einzelne Nationalgeschichten stellen. Sie ist bei einem solchen natio-nalhistorischen Ausgangspunkt deutlich zu unterscheiden von der Frage nach glo-balen Zusammenhngen hinter dem Rcken der Nationalstaaten und auch vonden Problemstellungen einer new colonial history, deren Ort in erster Linie dieKolonien selbst sind.70 Quer zu einem nationalhistorischen Bezug liegen auch dieAktivitten von nationalen oder proto-nationalen Gruppen, die nicht staatlich ver-fat waren und daher nicht als staatliche empire-builders auftraten. Solcheintern dicht vernetzten Gruppen haben zuweilen auerordentlich wichtige Rol-len zwischen den Imperien und innerhalb der greren von ihnen gespielt, zumBeispiel jdische Kaufleute und Finanziers oder Schotten und Iren im engli-schen British Empire.71 Folgende imperiale Kontexte von Nationalgeschichtenlassen sich immer wieder thematisieren:

    (1) Frontiers. Imperien schaffen bei ihrer Expansion Grenzrume, in denenunterschiedliche Zivilisationsformen aufeinandertreffen.72 Sie ideologisieren die-sen Kontakt als eine Begegnung zwischen hoher Kultur einerseits, Barbareioder Wildheit auf der anderen Seite.73 In Frontier-Zonen kann sich unterbestimmten Voraussetzungen, vor allem einer nicht allzu weit differierendenDurchsetzungsfhigkeit der zusammentreffenden Krfte, interkulturelle Hybri-ditt entwickeln. Zahlreiche kulturwissenschaftliche Studien widmen sich mitt-lerweile, beflgelt von der Hoffnung auf einen friedlichen Umgang ber kultu-relle Grenzen hinweg, diesem Thema. Charakteristischer drfte jedoch frontier alsein Raum sein, wo die Strukturen und Normen der expandierenden Gesellschaftan Verbindlichkeit verlieren. Die heimische Sozialstruktur reproduziert sichnicht, sondern bietet blo eine elementare Grundlage fr Grenzgesellschaftenprinzipiell neuen Typs. Deshalb war zum Beispiel die australische Gesellschaft des19. Jahrhunderts keine getreue Kopie der britischen, sondern an improvised localadaptation of it.74 Zu untersuchen wre, welche Rckwirkungen solche sozialenNeubildungen auf die gesellschaftlichen Verhltnisse im Mutterland haben.Grenzzonen, die in spteren Stadien eines imperialen Zyklus zu defensiven Puf-fern werden knnen, sind in Phasen der Expansion Orte gesteigerter Gewaltttig-keit. Private Grenzergewalt und staatliche Kolonialkriegsfhrung gehen dabei

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  • 75 Dies zeigt etwa H. Strachan, The First World War,Bd. 1: To Arms, Oxford 2001, in seinem Kapitelber Germanys Global Strategy (694814).

    76 Vgl. D. M. Peers, Between Mars and Mammon:

    Colonial Armies and the Garrison State in India18191835, London 1995.

    77 Vgl. P. J. Marshall, The Impeachment of WarrenHastings, London 1965.

    oft flieend ineinander ber. Europische Gesellschaften haben sich in unter-schiedlichem Mae gegen den Rckschlag solcher peripheren Brutalisierungabgeschirmt. Diskussionswrdig ist die These, die Gesetzlosigkeit von Kolonial-kriegfhrung habe zur Steigerung der Gewaltbereitschaft auch in Europa beigetra-gen. Zweifellos ist die Frontier ein Fokus europischer Gewaltphantasien gewe-sen, gipfelnd in den imaginierten und realisierten Exzessen im Wilden OstenEuropas whrend des Zweiten Weltkriegs.

    (2) Inter-imperiale Konflikte. Die Auenpolitik, mit der konventionelle Dar-stellungen als der normalen Aktionsform eines Nationalstaates rechnen, bewegtsich innerhalb des europischen, gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die USAund Japan ergnzten Staatensystems. Inter-imperiale Konflikte werden aber auchjenseits der rumlichen Geltung der Systemregeln und mit einer Vielzahl andererals klassischer diplomatischer und militrischer Mittel ausgetragen: Spionage,Subversion, Propaganda, Aufwiegelung von Minderheiten usw. Das Great Gamezwischen Grobritannien und dem Zarenreich in Asien, aus Rudyard KiplingsKim (1901) bekannt, ist dafr ein gutes Beispiel. Es ist fr die externe Aktions-weise eines Nationalstaates nicht unerheblich, ob und wie er sich an solchen inter-imperialen Spielen beteiligt. Whrend der Weltkriege gewannen Strategien undMethoden des inter-imperialen Kampfes eine bis dahin unbekannte Bedeutungund schlugen auf Europa selbst zurck.75

    (3) Periphere Militarisierung. Kolonialkriegfhrung mu nicht immer blo dieVerlngerung metropolitaner Gewaltdynamik in den kolonialen Raum bedeuten.Oft war sie der Anla fr eigenstndige Militarisierungsinitiativen. Militrischemen on the spot handelten auf eigene Faust und gingen nicht selten bis zurHerausforderung der politischen Autoritten des Mutterlandes. Dieser Mechanis-mus findet sich von der Willkr der frhen spanischen Konquistadoren bis zumOffiziersputsch von Algier gegen die V. Republik im April 1961. Koloniale Erobe-rungen und danach die Sicherung des Eroberten erforderten oft Anstrengungen,die ber das binnengesellschaftlich Vertretbare hinausgingen. Die Briten vermie-den das Aufstellen von standing armies in den Heimatinseln, errichteten abergleichzeitig in Indien einen garrison state, der bis zur Unabhngigkeit Sdasi-ens 1947 bestand (allerdings unter erheblicher Beteiligung von Indern) und derpolitischen Kultur Grobritanniens zuwider lief. 76 Die Sorge vor einem militari-stischen backlash aus den Kolonien verstummte seit Edmund Burkes Anklagegegen den Generalgouverneur von Indien, Warren Hastings, nicht.77 Die lang-

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  • 78 So Marschall Lyautey, der berhmte Kolonial-theoretiker und Generalresident in Marokko,zit. bei J. Frmeaux, Les empires coloniaux dans leprocessus de mondialisation, Paris 2002, 265 ( ineinem vorzglichen Kapitel ber kolonialesMilitr zwischen den Weltkriegen: 262270).

    79 D. M. Anderson/D. Killingray (Hg.), Policing andDecolonisation: Politics, Nationalism and the Police,191765, Manchester/New York 1992.

    80 A. Kulischer/E. Kulischer, Kriegs- und Wander-zge: Weltgeschichte als Vlkerbewegung, Berlin/Leipzig 1932; D. Hoerder, Cultures in Contact:World Migration in the Second Millenium, Durham/

    N.C. 2002; vgl. als Zusammenfassung des atlan-tischen Segments dieser Geschichte: ders., Mi-gration in the Atlantic Economies: RegionalEuropean Origins and Worldwide Expansion,in: European Migrants: Global and Local Perspec-tives. Hg. D. Hoerder und L. P. Moch, Boston/Mass. 1996, 2151; vgl. auch K. J. Bade, Europa inBewegung. Migration vom spten 18. Jahrhundertbis zur Gegenwart, Mnchen 2000.

    81 Die globalen Wanderungsstrme werden separatdargestellt in: R. Cohen (Hg.), The Cambridge Sur-vey of World Migration, Cambridge 1995.

    Jrgen Osterhammel

    wierige Eroberung Algeriens nach 1830 hatte einen hnlichen Effekt auf dieinnenpolitische Lage Frankreichs. Es mu freilich eingerumt werden, da nachden jeweiligen Invasionsphasen die europischen Truppen im Verhltnis zur Zahlder kolonialen Untertanen im allgemeinen une mince et fragile pellicule doccu-pation bildeten.78 Erst in der Endphase der Imperien, als die Herausforderungdurch Befreiungsbewegungen militrische Ausmae erreichte, wurde in vielenFllen die Truppen- und Polizeiprsenz verstrkt.79 In den demokratischen Ln-dern des Westens fhrte dies nach 1945 zu Diskussionen um den moralischgerechtfertigten Grad von Repression (Folter in Algerien, Ausnahmezustand inBritisch-Malaya, usw.). Diese Diskussionen trugen zur Delegitimierung von Ko-lonialismus und Intervention bei (auch in den USA whrend des Vietnamkriegs,aber gegenwrtig nicht hinsichtlich des russischen Vorgehens in Tschetschenien).

    (4) Emigration/Remigration. Keine serise Sozialgeschichte Europas im 19. und20. Jahrhundert verzichtet auf eine demographische Untermauerung. Keine ber-sieht daher den fundamentalen Faktor der Migrationen und insbesondere derEmigration in die Neue Welt. Siebzig Jahre nach dem Pionierwerk der Brder Ku-lischer hat nun Dirk Hoerder diese Vorgnge schlssig in einen weltgeschichtli-chen Zusammenhang gestellt, der auch die sozialgeschichtliche Diasporafor-schung umfat.80 Im strikten Sinne bewegte sich ein groer Teil der europischenAmerikaauswanderung nicht innerhalb eines imperialen Rahmens, sondern rich-tete sich nach den englischen und spanischen Ex-Kolonien in Nord- und Sdame-rika.81 Manchmal waren aber die Motive imperial. So kann die umfangreiche iri-sche Emigration, die zur demographischen Extroversion des Landes fhrte, nichtvon der subordinierten Stellung Irlands im britischen Reichsverband getrenntwerden. hnliches gilt fr die Auswanderung aus Kongre-Polen (d. h. nach1864 aus den polnischen Provinzen des Zarenreiches). Andere von Europa ausge-hende Wanderungsstrme verliefen binnenimperial in smtliche Siedlungskolo-nien, vor allem nach Algerien, Kanada, Australien, Neuseeland und Sdafrika. Imfrhen 20. Jahrhundert nahm das Interesse metropolitaner Regierungen an sol-cher Peuplierung der Kolonien zu. Offizielle britische Programme untersttzten

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  • 82 Vgl. S. Constantine, Migrants and Settlers, in:The Oxford History of the British Empire. Bd. 4: TheTwentieth Century. Hg. J. M. Brown und W. R.Louis, Oxford 1999, 162187.

    83 Introduction, in: LEurope retrouve: Les mi-grations de la dcolonisation. Hg. J.-L. Mige undC. Dubois, Paris 1994, 922, hier 18 (in dieserZahl sind auch Nicht-Europer eingeschlossen).Vgl. auch Hoerder, Cultures, 499504.

    84 So in einer weltgeschichtlichen Skizze F. Fernn-

    dez-Armesto, Civilizations, London 2000, 355383.

    85 Vgl. etwa F. W. Knight/P. K. Liss (Hg.), AtlanticPort Cities: Economy, Culture, and Society in theAtlantic World, 16501850, Knoxville/Tenn. 1991;S. Davies et al. (Hg.), Dock Workers: InternationalExplorations in Comparative Labour History,17901970, 2Bde., Aldershot 2000.

    Commonwealth emigration.82 Das faschistische Italien praktizierte eine lautpropagierte rmische Politik der Ansiedlung von Wehrbauern in Libyen,Somalia und thiopien (ganz hnlich brigens die gleichzeitigen Kolonisierungs-programme der Japaner in der chinesischen Mandschurei); die nationalsoziali-stische Ostkolonisation wiederholte dasselbe Muster rcksichtsloser Land-nahme. Mit dem Zusammenbruch der Imperien setzt unweigerlich dieRemigration der Siedlerpopulationen ein, oft in Form von Vertreibungen. DieKette der Flle reicht von der Flucht von Loyalisten aus dem aufrhrerischen TeilNordamerikas nach Kanada in den 1780er Jahren bis zum Rckzug der Russenaus dem Baltikum und Zentralasien nach 1991. Die Gesamtzahl der repatriiertenSiedler aus den westeuropischen Kolonien zwischen ca. 1945 und 1975 wird auf5,7 bis 8,5 Millionen Menschen geschtzt.83 Im Europa der Nachkriegszeit lebtenMillionen von Menschen mit einer kolonialen Biographie; koloniale Erinnerun-gen werden oftmals bis heute in franzsischen, niederlndischen oder britischenFamilien tradiert und nach wie vor literarisch behandelt.

    (5) Hafenstdte und (andere) Weltstdte. Die Vermittlung zwischen euro-pischen Gesellschaften und der weiteren Welt ist immer wieder durchmeeresorientierte Gemeinschaften von Fischern, Seefahrern und Kaufleuten her-gestellt worden. Solche seaboard civilizations, wie man sie genannt hat,84

    finden sich auch in der Neuzeit. Die Niederlande whrend der weltweiten Han-delshegemonie ihres Goldenen Zeitalters sind eine solche amphibische Ksten-zivilisation gewesen. Den imperialen Kontext eines maritimen Vorfeldes stellenvor allem Hafenstdte her. Sie sind Organisationszentren und Relaispunkte vonSee- und Landverkehr, Umschlagpltze von Waren, Standorte der Werftindustrie,Arenen einer multiethnischen Klassenbildung unter Seeleuten und Hafen-arbeitern, Einfallstore von Tropenkrankheiten, und manches andere mehr. DieBedeutung einer solchen stdtischen Extroversion wird bei einer rein kontinentalangelegten Urbanisierungsgeschichte Europas leicht unterschtzt so wiepreuenzentrische Geschichten Deutschlands gelegentlich nicht nur dem katholi-schen Sden, sondern auch dem hanseatischen Norden sein volles Recht verwei-gern. Das vergleichende Studium von Hafenstdten und Hafenarbeit kann dieskorrigieren.85 Die europische Geschichte sollte einmal gleichsam ex-zentrisch

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  • 86 Vgl. F. Driver/D. Gilbert (Hg.). Imperial Cities:Landscape, Display and Identity, Manchester 1999;J. Schneer, London 1900: The Imperial Metropolis,New Haven/London 1999; U. v.d. Heyden/J. Zel-ler, Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche,Berlin 2000; P. Blanchard/E.Deroo/G. Manceron,Le Paris noir, Paris 2001

    87 Vgl. etwa die ausgiebige Debatte um L. E. Davis/

    R. A. Huttenback, Mammon and the Pursuit ofEmpire: The Economics of British Imperialism,Cambridge 1986.

    88 Vgl. etwa J. E. Inikori, Africans and the Industrial Re-volution in England: A Study in International Tradeand Economic Development, Cambridge 2002.

    89 Vgl. etwa J. Barrat et al., Gopolitique de la Franco-phonie, Paris 1997, bes. 3557.

    Jrgen Osterhammel

    von Glasgow, Liverpool, Bergen, Bremen, Porto, Marseille, Genua oder Odessa hergedacht werden. Grorumige Vernetzungen wurden eher in solchen Stdtengeknpft als in den politischen Zentren. Einige der ganz groen Metropolen undReichshauptstdte, Amsterdam und London zum Beispiel, sind zugleich Hafen-stdte. Bei Paris, Berlin, Wien oder Moskau ist dies nicht der Fall. Auch sie aberwaren und sind Magneten kurzfristigen Reisens und langfristiger Immigration,melting pots oder auch Orte, in denen Gemeinschaften von Fremden nebenein-ander her leben. Jedes Imperium spiegelt sich in seinem Zentrum, nicht zuletzt indessen Architektur.86 Albert Speers Monumentalentwrfe fr die Hauptstadt desGrogermanischen Reiches griffen nicht zufllig auf jenes klassizistische Bauvo-kabular zurck, in dem sich seit dem spten 18. Jahrhundert die meisten Kolonial-mchte ausdrckten.

    (6) Rume des Profits. Obwohl imperial hervorgebracht und gestaltet, ist dieWeltwirtschaft an sich kein spezifisch imperialer Kontext einer nationalenGeschichte. Imperial in einem genaueren Sinne ist aber die Frage nach dem Bei-trag des eigenen Kolonialreichs und eventuell auch eines mit berlegener Markt-macht und Kanonenbootpolitik abhngig gemachten informal empire zumwirtschaftlichen Wohlergehen der metropolitanen Gesellschaft. Makrokonomi-sche Kosten-Nutzen-Rechnungen sind immer wieder angestellt worden, aber stetsmethodisch umstritten geblieben.87 Die interessantesten neueren Beitrge behan-deln nicht imperiale, sondern globale Voraussetzungen des Wachstums besonde-rer Volkswirtschaften.88

    (7) Kommunikationsrume. Imperien sind wie quer zu ihnen liegend auchEuropa selbst es ist immer auch Rume der Kommunikation. Die Flchtigkeitvon Kommunikation kristallisiert sich dabei parodoxerweise zu den stabilstenStrukturen, die berhaupt aus Imperien entstanden sind und die sie berlebthaben. An zweierlei ist zu denken: zum einen an die Verbreitungsgebiete vonWeltsprachen, Gebiete, die zunchst mit den Herrschaftssphren von Imperiennahezu kongruent waren. Das Englische hat sich als einzige Sprache von einerimperialen Sprachtopographie gelst, doch noch in der francophonie mit ihrerErweiterung in die Kreolsprachen hinein ist eine solche Topographie klar erkenn-bar geblieben.89 Ein zweiter Kontext ist der Rechtsraum, den sich Imperien in

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  • 90 Methodisch anregend: E. H. Gould, A WorldTransformed? Mapping the Legal Geography ofthe English-Speaking Atlantic, 16601825, in:Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 3(2003), 2437.

    91 Vgl. H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen.Bd. 1, Mnchen 2000, 5, und passim.

    92 Dazu exemplarisch vor allem R. S. Wortman,Scenarios of Power: Myth and Ceremony in the

    Russian Monarchy, 2 Bde., Princeton/N.J. 19952000.

    93 A. Del Boca, Gli italiani in Africa Orientale. Bd. 2:La conquista dellimpero, Mailand 1992, 709.

    94 Vgl. Nheres bei J. Osterhammel, Symbolpolitikund imperiale Integration: Das britische Empireim 19. und 20. Jahrhundert, in: Die Wirklichkeitder Symbole. Hg.R. Schlgl/B.Giesen/J.Osterham-mel, Konstanz 2004, 395421.

    komplizierten Prozessen der berlagerung und Aushandlung im Verhltnis zuvorgefundenem Recht schufen und der ebenfalls vielfach die Dekolonisation ber-lebt hat.90 Die Rechtsentwicklung ist allerdings in besonders hohem Mae eineEinbahnstrae. Einflsse nicht-europischer Rechtsvorstellungen auf europi-sches Recht auerhalb eines besonderen Kolonialrechts scheinen selten gewesenzu sein.

    (8) Selbstdefinition und Herrschaftssymbolik. Entgegen ihrer eigenen Program-matik haben sich Nationalstaaten immer wieder als das Gegenteil eines Natio-nalstaats gefhlt: als Imperium. Der im rmischen Machtstaat und in der christ-lich-mittelalterlichen Kaiseridee doppelt fundierte Reichsmythos hat bis weit ins20. Jahrhundert hinein eine prgende Kraft bewiesen. Heinrich August Winklerhat dies fr Deutschland zu einem der Leitmotive seiner Darstellung gemacht.91

    Die britische politische Elite dachte seit dem 18. Jahrhundert in rmischen Kate-gorien, die US-amerikanische tut es heute wieder. Wer sich als imperiales Zen-trum definiert, berschreitet Grenzen und erhebt Universalittsansprche. Daspolitische und kulturelle Bewutsein fhlt sich dann nicht an gegebene Territoria-litt gebunden; es entwirft sich in einen weiteren Kontext hinein. Solange inEuropa die monarchische Staatsform berwog, fiel es leicht, Symbolik undSemantik des traditionalen Kaisertums auf modernere Kolonial- und Vielvlker-reiche auszuweiten.92 Die Kaiser in St. Petersburg, Wien, Istanbul und spter auchin Berlin haben dies mit unterschiedlichem Erfolg versucht. Beide Napoleons stili-sierten sich zu personalen Mittelpunkten von Reichen; Knigin Victoria wurde1876 zur Kaiserin von Indien erhht und lie sich fortan Queen-Empress nennen,der italienische Knig war seit Mrz 1936 Kaiser von thiopien.93 Mussolini undHitler gefielen sich in Imperatorenposen. Unabhngig von ihrer Ntzlichkeit zurBeeindruckung kolonialer Untertanen, bildet kaiserliche Herrschaftssymbolik(auch etwa in Japan nach 1868) eine aus transnationalen Kontexten geschpfteLegitimittsressource, die der Nationalstaat allein nicht zur Verfgung stellt.94

    (9) Differenzkonstruktionen. Die neuzeitlichen Nationalstaaten haben sich nichtallein von ihren innereuropischen Nachbarn diskursiv abgegrenzt (erst durchStereotypisierung von Nationalcharakteren, dann durch nationalistische Ideolo-

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  • 95 Ein breites Spektrum von Fllen entwickeln B.Grunberg/M. Lakroum (Hg.), Histoire des mtis-sages hors dEurope: Nouveaux mondes? Nouveauxpeuples?, Paris 1999.

    96 H. Arendt, Elemente und Ursprnge totaler Herr-schaft, Mnchen/Zrich 1986, 308: Die Rassen-gesellschaft [ . . . ] war die Antwort auf politischeErfahrungen, denen gegenber die Traditionennationalstaatlichen Denkens ganz und gar zuversagen schienen.

    97 So etwa in Mussolinis neo-rmischem Imperium:vgl. V. de Grazia, Die Radikalisierung der Bevl-kerungspolitik im faschistischen Italien: Musso-linis Rassenstaat, in: Geschichte und Gesell-schaft 26 (2000), 219254, hier 246.

    98 Dies zeigt am indischen Beispiel T. R. Metcalf,Ideologies of the Raj, Cambridge 1994.

    99 McNeill, The Shape, 15.100 . Reclus, Lhomme et la terre: Histoire contempor-

    aine. Bd. 1, Paris 1990, 275.

    Jrgen Osterhammel

    gien), sondern von Anfang an auch von nicht-christlichen und phnotypischanderen Vlkern. Der Kolonialismus steht nicht am Beginn solcher Abgrenzun-gen, hat aber Situationen geschaffen, in denen Unterschiede herrschaftspragma-tisch genutzt werden konnten (divide et impera). Auch haben mtissage,Sklaverei und die Probleme von poor whites auf umkmpften Arbeitsmrktenschon in frhneuzeitlichen Kolonialgesellschaften und vor dem Aufkommeneines ideologischen Rassismus die Wahrnehmung fr Hautfarbengegenstzegeschrft.95 Der moderne europische Rassismus ist, wie schon Hannah Arendtmit Blick auf Afrika bemerkt hat, zu wesentlichen Teilen nicht aus der ideologi-schen Substanz von Nationalstaaten entstanden, sondern in imperialen Kontex-ten.96 Er hat von dort vielfach auf den Abgrenzungswillen in den Metropolen radi-kalisierend zurckgewirkt.97 Umgekehrt ist Rassismus auch vor imperialem undkolonialem Hintergrund, zuerst in der britischen Antisklavereibewegung, ange-griffen und diskreditiert worden, wie berhaupt Europa Kolonialismus hervorge-bracht hat, aber zugleich auch dessen schrfste Kritiker. berdies wre es zu ein-fach, Rassismus als die dominierende Rechtfertigung von kolonialer Herrschaftzu betrachten.98

    5. Schlu

    Wenn, wie William H. McNeill formuliert hat, der Einflu Europas auf die Vlkeranderer Kontinente has been and remains the central fact of modern historyeverywhere,99 dann kann dieser Umstand nicht ohne Folgen fr Europa selbstund fr seine nationalen Elemente gewesen sein. Bis auf die Eidgenossenschaft,Schweden, die deutschen Staaten sowie Italien nach dem Niedergang Genuas undVenedigs hatte ganz Europa frhneuzeitliche koloniale Vergangenheiten. Im19. Jahrhundert blieben die berseeischen Imperien in vielfach modifiziertenFormen bestehen, auch Deutschland und Italien verschafften sich kleine Kolonial-reiche; das Zarenreich intensivierte seine Expansion nach Asien hinein. DasBritish Empire wurde zum ersten wahren Weltreich der Geschichte. Chaquemouvement des les Britanniques, schrieb 1906 der anarchistische Geographlise Reclus in einem scharfsichtigen Panorama der Weltlage, a sa rpercussiondans le monde entier.100 In Europa selbst begehrten politische Eliten von Natio-nen oder Nationalitten gegen ihre subordinierte Stellung in den Imperien der

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  • 101 Von allen Makrointerpretationen kommt dieserEinsicht am nchsten: D. R. Brower, The World in

    the Twentieth Century: From Empires to Nations,Upper Saddle River/N.J. 41999.

    Romanovs, Habsburger, Osmanen und der Queen Victoria auf. Sogar Norwegenwar bis 1905 kein international anerkannter Staat, obwohl es seit 1814 weithinselbstndig war und nur bedingt als schwedisches Protektorat gesehen werdendarf. Das ganze kurze 20. Jahrhundert wurde von imperialen Ambitionen,Anlufen und deren Scheitern durchzogen, beginnend mit dem fehlgeschlagenengriechischen Versuch, zwischen 1919 und 1922 auf trkische Kosten die GroeIdee eines hellenischen Reiches zu verwirklichen. Die Interventionen der Sowjet-union in Osteuropa und schlielich in Afghanistan folgten klassischen Musternimperialer Herrschaftssicherung. Erst seit 1991 ist Europa ein post-imperialerKontinent.101

    Welche Folgen dies fr die Mglichkeiten hat, europische Geschichte zuschreiben, bleibt zu diskutieren. Die verschiedenen Modelle, die eine solche Ge-schichtsschreibung zugrunde legen kann, kommen der Idee permeabler Auen-grenzen in unterschiedlichem Mae entgegen. Auch sind nicht alle der hier skiz-zierten imperialen Kontexte fr jeden nationalen Fall gleich relevant; weiteresolcher Kontexte, besonders im Bereich kulturellen Transfers und Lernens, sinddenkbar. Es gibt Alternativen zu einer europischen Geschichte als Geschichteabendlndischer Wertemobilisierung und abgrenzender Identittsvergewisserung.

    Abstracts 181

    The European Model and Imperial ContextsThis article presents a typology of contemporary understandings for a history of

    Europe. It distinguishes between seven different basic models: two models for the

    analysis of tendencies towards homogenization; two models, which focus on cultu-

    ral realms, choose as its beginning point center-periphery arguments for

    understanding inner-European differences; the institutional integration model,

    the communications model, and the essence model. The development of the

    imperial dimension can, at the same time, help avoid the danger inherent in isola-

    tionist and identity-bound tendencies in European historiography. This contribu-

    tion makes it possible to thematicize a number of phenomena that bind the history

    of individual European nations with the history of empires and with other conti-

    nents, reaching from national frontiers, inter-empire conflicts and the militariza-

    tion of peripheries, to migrations, port cities, hegemonic symbolism, and self-

    demarcation strategies towards outsiders. In this sense, imperial understandings

    include central aspects of Modern European History.

    ABSTRACTS

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  • Abstracts182

    Modles dEurope et contextes impriauxLarticle propose une classification des approches actuelles pour une histoire

    europenne. Il distingue sept modles: deux qui insistent sur les tendances unitai-

    res, deux qui insistent sur les diffrences inter-europennes partir des structures

    spatiales, un modle dintgration institutionnelle, un modle dunit communica-

    tive, et finalement une approche essentialiste. La mise en relief de la dimension

    impriale peut viter les risques inhrents aux tendances isolationnistes et identi-

    taires dans lhistoriographie de lEurope. Cette approche permet danalyser une

    vaste gamme de phnomnes reliant lhistoire europenne aux ralits des Empi-

    res et des autres continents. Ses facettes vont de la construction des frontiers

    aux conflits inter-impriaux, des migrations aux grandes villes portuaires. Ainsi, la

    dimension impriale permet de dchiffrer des aspects essentiels de lhistoire de

    lEurope moderne et contemporaine.

    Prof. Dr. Jrgen OsterhammelUniversitt KonstanzFachbereich Geschichte und SoziologieFach D878457 KonstanzE-mail: [email protected]

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