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GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

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Dieses Buch ist meiner Mutter Angelina und ihrem Partner

Rudi, meinem Lebensgefährten Joerg, meiner Band, meinem Team

und meinen Freunden, all meinen Lieben gewidmet. Es gilt all den

Menschen zum Dank, deren Liebe und Güte mir den Weg zum

Glück gezeigt haben, und denen, die meine Musik hören und lie-

ben. Mögen all diese Menschen an diesem Buch Freude haben

und vielleicht auch Hilfe für ihr eigenes Leben fi nden. Ich hoff e,

ich kann auch auf diesem Wege zurückgeben, was mich mit Glück

erfüllt.

Julia Neigel

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JULIA NEIGEL mit ARNO KÖSTER

NEIGELNAHFreiheit, die ich meine

Gütersloher Verlagshaus

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INHALTVorwort von Udo Lindenberg 7

Kapitel 1 Kleines Mädchen 11

Kapitel 2 Paradies 20

Kapitel 3 Immer auf dem Sprung 35

Kapitel 4 Träume werden wahr 65

Kapitel 5 Wilde Welt 77

Kapitel 6 Teufel 97

Kapitel 7 Leb wohl 111

Kapitel 8 Nur nach vorn 127

Kapitel 9 Sprich mit mir 142

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Kapitel 10 Du bist nicht allein 154

Kapitel 11 Nie mehr miese Zeiten 168

Kapitel 12 Froh, dass es Dich gibt 182

Kapitel 13 Ab jetzt oder nie 193

Nachwort von Peter Maffay 212

Dankeschön 214

Discografie / Auszeichnungen / Fanclub 216

Zur Entstehung dieses Buches 218

Dank Arno Köster 221

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VORWORTDas Auge hört mit

Julia Neigel wurde früh auffällig. Ich weiß noch, wie sie mich besucht hat, bei einem Konzert in der Eberthalle in Ludwigs-hafen, da war sie 16. Ich hatte ein Demo geschickt bekommen, hörte ihre Stimme und wollte sie kennen lernen. Besonders ein-dringlich geblieben ist meine Erinnerung an die Fernsehshow »So Isses«, in der Julia Neigel ihren ersten TV-Auftritt hatte. Ich saß fasziniert vorm Fernseher, war sehr angetörnt und berührt von ihrer powervollen, geradezu außerirdischen Erscheinung. Sie hatte den sogenannten »Maggiwürfel« in der Tasche, Magie und Alltag. Da flogen Energiefelder aus dem Fernseher. Sie sang sehr kraftvoll und sah hinreißend aus, sieht sie ja immer noch, heute und für alle Zeiten. Also griff ich zum Telefon und als ich sie am Hörer hatte, sagte ich ihr eine große Karriere und einen Monster-Hit voraus, den sie dann ja auch hatte mit »Schatten an der Wand«.

Julia ist wie Anette Humpe, Nina Hagen und Ulla Meinecke für das, was sie damals gemacht haben, einmalig. Sie ist eine sehr spezielle Marke, ein ganz besonderer Typ und eine Top-Perfor-merin, was ja auch nicht unwichtig ist in unserem Geschäft, das ist schon speziell an ihr.

Nun ist es so, dass sie nach all den Irrungen und Verwirrun-gen in Mannheim immer noch ein Stück weit auf der Suche ist, was ich aber auch bin. Wie jeder ordentliche Künstler, stets auf

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der Suche nach neuen Stoffen, neuen Liedern, Hits, Besetzun-gen für die Band. Während ich das schreibe, sind wir gerade in Montagnola, Hermann Hesses zentralem Lebensort. Er sprach ja auch von sich selber als einem ewig Suchenden, der nie ab-schließt, selbst in höchstem Alter nicht die Füße hochlegt und sich zurücklehnt auf ein Lorbeerruhekissen. Man bleibt wie ein Steppenwolf, irgendwie ein bisschen getrieben von der Neugier-de, ein bisschen gehetzt von der Branche, im positiven Sinne. Denn man will ja nicht in klitzekleinen, kammerkonzertanten Auftritten glänzen, sondern möglichst auch ein breites Publikum erreichen, wenn man was zu sagen hat. Weil Lieder viel mehr sind als nur ein Stück Unterhaltung. Sie sind auch ein Beitrag zur intellektuellen Politur eines Volkes, zur demokratischen Quali-tät, all so was.

Und Julia macht ja auch einiges, steht immer bereit für Aktio-nen gegen rechte Gewalt, für ökologische Ideen oder humanitäre Projekte in Afrika, das schätzen wir an ihr. Sie ist immer gern, mit vollem Herzen und großer Leidenschaft dabei. Das unter-scheidet sie von Leuten, die sagen, ich bin hier Entertainer, ma-che ein Stück Unterhaltung – nach dem Motto »Geh ins Kino und vergiss für ein paar schöne Stunden die Sorgen der Welt«. Julia hat eine grade Sicht auf die Dinge, schaltet sich ein und da sehe ich in ihr durchaus eine Schwester im Geiste und eine Top-Partnerin für viele gemeinsame Auftritte in der Zukunft.

Das Auge hört bekanntlich mit. Julia sieht lecker aus, geht auf die Bühne und bringt da eine Performance, die einen umhaut. Ihre Stimme, ihr Verstand, ihre Fitness, das alles zusammen macht das Gesamtkunstwerk Julia Neigel aus.

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Sie kann sich mit ihrer klaren Härte trauen, radikale Sachen zu sagen, sie hat die Power und das Aussehen dafür. Als Spreche-rin für die Generation ab 40, die vielleicht frisch nach der Tren-nung mit Kind und so bemerkt, dass das Leben doch noch nicht zu Ende ist, auf eigenen Füßen steht und ihr Ding durchpowert.

Ich wünsche ihr heute, wie auch damals schon vor zig Jah-ren, als ich anrief bei ihr, dass sie zu weiteren großen Erfolgen kommt.

Udo LindenbergIm Frühjahr 2012

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KAPITEL 1K l e i n e s M ä d c h e n

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Meine Mutter brachte fünf Kinder zur Welt. Ich war das jüngste und ihr viertes Mädchen. Mein Vater hätte eigentlich viel lieber Söhne gehabt. Für meine Mutter war jede Schwanger-schaft nach der zweiten Geburt gefährlich. Sie litt unter Herz-rhythmusstörungen, die über die Jahre immer schlimmer wur-den. Nach dem vierten Kind rieten ihr die Ärzte, auf keinen Fall

Julia, ein Jahr alt(aus dem Familienalbum)

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mehr ein weiteres zu bekommen. Auch weil sie schon 36 war, in den 1960er-Jahren ein hohes Alter, um Mutter zu werden. Ihre Herzanfälle hätten für uns beide tödlich ausgehen können, zu-mal die medizinische Versorgung zu dieser Zeit in Russland alles andere als herausragend war; von ärztlicher Betreuung während einer Risikoschwangerschaft war in Sibirien schon gar nicht aus-zugehen. Also legte man meiner Mutter eine Abtreibung nahe. Es schien, als hätte mein Vater nichts dagegen. Sie aber entschied sich für mich. Es folgten harte Monate voller Angst. Jeden Tag Spritzen mit Medikamenten, Vitaminen und anderen Nährstof-fen. Damals waren die meisten Menschen in Sibirien mangeler-nährt, und jeden Tag bestand die Gefahr, dass entweder meine Mutter, ich oder wir beide nicht überlebten. Doch es ist alles gut gegangen, und auch mein Vater war dann, als er mich zum ers-ten Mal sah, glücklich. Ich muss ein süßes Baby gewesen sein, mit schwarzen Schillerlöckchen und großen, hellen Augen. Wir wohnten damals in Barnaul, einer Stadt in Westsibirien. Schon seit Jahrhunderten lebten die Menschen in dieser Region vom Bergbau. Die Stadt hatte zur Zeit meiner Geburt rund eine halbe Million Einwohner.

Unser Haus lag etwas außerhalb an einem kleinen Wald. Es war eine sogenannte »Datscha« im typischen sibirischen Baustil. Ein kleines kompaktes Haus aus Holz, gelb gestrichen. Meine Eltern hatten es mit ihren eigenen Händen gebaut. Damals war Grund und Boden in Russland Volksbesitz. Das Haus gehörte immer den Erbauern, das Grundstück nicht. Wenn man aus- oder umgesiedelt wurde, musste man woanders neu anfangen. Das mühsam errichtete Heim war weg, andere Menschen zogen dort ein. So war das harte Schicksal der Russlanddeutschen in der Nachkriegs-Sowjetunion. Sie lebten in ständiger Sorge da-vor, verjagt zu werden.

Julia, ein Jahr alt(aus dem Familienalbum)

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Mit der Geschichte meiner Familie habe ich mich erst sehr spät beschäftigt. Vorher hatte ich vieles verdrängt. Meine Her-kunft war dann in Deutschland schon im Kindesalter Anlass, verletzt, schikaniert und gequält zu werden. Jahre später erst er-kannte ich, dass Russlanddeutsche immer in ihrer eigenen Welt lebten. Sie waren konservativ und stolz auf ihre Herkunft, stän-dig aber auch Verfolgte. Mein Großvater z. B. wurde von den Bolschewisten enteignet. Er war Großgrundbesitzer und sieben Jahre lang im Gulag. Als er rauskam, stand er vor dem Nichts und musste erstmal seine vertriebene Familie finden. Mit der sogenannten »Russifizierung« wurde ihm dann auch noch sei-ne eigene Sprache verboten, obwohl Zarin Katharina den Russ-landdeutschen Religions- und Sprachfreiheit auf ewig garantiert hatte.

Als schließlich Hitler über die Sowjetunion herfiel, gab Sta-lin die Erlaubnis zur Vernichtung aller Menschen mit deutscher Herkunft. Russlanddeutsche waren plötzlich Freiwild geworden und viele Menschen überlebten das nicht. Und wenn, dann weil sie vertrieben, nach Sibirien verschleppt oder geflohen waren. Auch die beiden Familien meiner Eltern konnten entkommen, indem sie zurückgingen in das damals schon sehr vom Krieg gezeichnete Deutschland. Hier in Berlin ließen sie sich einbür-gern, doch eine Heimat fanden sie auch hier nicht. Im Grunde war meine Familie Mitte des 20. Jahrhunderts immer hin- und hergerissen und ohne richtige Wurzeln. In den letzten Tagen des Krieges deportierten die bereits einmarschierten Russen die Frauen und Mädchen meiner Familie wieder zurück. Die Einge-bürgerten bekamen die Rache der Sieger zu spüren. So kam mei-ne Mutter nach Sibirien, laut Stalins Beschluss als »Verräterin« geächtet. Viele Menschen verhungerten, erfroren oder wurden ermordet. Meine Großmutter starb in den Armen meiner Mut-

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ter. Im Gulag zwischen Baracken und Eis. Schon zuvor hatte sie zwei Schwestern verloren. Da war sie gerade mal 14 Jahre alt.

Unser Haus in Barnaul war das erste, das meine Eltern erbaut hatten. Es lag am Rand einer Ansammlung von alten Hütten, die früher einmal ein Dorf waren. Direkt vor unserer Tür begann die freie Natur.

Im Haus selbst war es sehr beengt, aber der Garten war wun-derschön. Er ernährte uns und wurde von meiner Mutter akri-bisch gepfl egt. Obstbäume und allerlei Gemüse gab es dort. Hin-ter dem Haus hielt sie Hühner und Hasen, die sich fest in meine Erinnerung eingebrannt haben. Schon als Dreijährige habe ich gesehen, wie die Tiere geschlachtet wurden. Eklig fand ich das

Julias Elternhaus in Barnaul (aus dem Familienalbum)

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schon, aber es war damals normal. Jeder musste halt schauen, dass er sich so autark wie möglich am Leben hielt.

Unser Leben in Barnaul war arm. Sieben Menschen dräng-ten sich auf engstem Raum. Ein großer Kachelofen wärmte das Haus. Wasser machte meine Mutter über einem Feuer in der Kü-che warm. Ein Kriechkeller, der in den Permafrostboden unter dem Haus geschlagen war, diente als Kühlschrank. Oft hatte ich als kleines Kind kaum Platz zum Spielen oder musste Rücksicht auf die anderen nehmen. Trotzdem empfinde ich heute mei-ne Kindheit in Sibirien als sehr gücklich. Meine Tage habe ich im Schnee oder in der Sonne verbracht. Es waren immer kur-ze, heiße Sommer, die satt waren mit Mohnfeldern, Kirschblü-ten und Blumenwiesen. Intensive Farben und Gerüche, wie ich sie danach nie mehr wahrgenommen habe. Die Winter waren bitterkalt und verschneit. Uns Kindern hat das aber wenig aus-gemacht, wir waren immer dick angezogen. Ich trug damals ei-nen Bärenmantel und richtig dicke Pullover. Gespielt habe ich mit den Nachbarskindern, stundenlang draußen. Wir bauten Schneemänner, liefen Schlittschuh oder sammelten Holz. Schon als Dreijährige hatte ich einen Verehrer. Ein Junge von nebenan, der jeden Tag vor unserer Tür stand. »Julitschka«, hat er immer gerufen, »lass uns Schlitten fahren.« Mit ihm bin ich dann Hand in Hand losgezogen, neuen Abenteuern entgegen. Manchmal liefen wir einen ganzen Tag durch den Wald und trafen keinen Menschen. Vielleicht mal einen Fuchs. Es soll dort auch Wölfe und Bären gegeben haben. Sibirien war extrem, rauh und lau-nisch, aber auch wunderschön.

So lernte ich schon sehr früh, dass man nur überleben kann, wenn man robust ist. Wir Menschen waren den Zyklen und Ge-gebenheiten der Natur ausgeliefert. Umso wichtiger waren der

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Schutz der Gemeinschaft und auch die Loyalität in der Familie. Wir mussten füreinander da sein, schon um zu überleben. Wenn man mal von meinem Vater absieht, hat mich dieser liebevolle Umgang untereinander ebenso stark geprägt wie das Leben mit den Naturkräften. Das imponiert mir bis heute. Immer wenn sich die Verwandtschaft meiner Mutter im großen Kreis trifft, stelle ich fest, dass diese Menschen Werte und Tugenden konser-viert haben, nach denen wir heute lange suchen müssen.

Zu meinem Vater hatte ich nie ein wirkliches Verhältnis. Ir-gendwie stand er immer neben uns, gehörte nicht so recht dazu. Er war ein konservatives Familienmitglied. Oft habe ich mitbe-kommen, dass er meine Mutter mehr als schlecht behandelte. Er hob oft genug die Hand. Dann saß ich zusammengekauert in einer Ecke und hatte Angst um sie. So entwickelte ich sehr früh schon ein Gefühl für Ungerechtigkeit und Misstrauen. Oft habe ich gebetet, dass Mama das überlebt, denn ihre Herzprobleme wa-ren verständlicherweise besonders heftig nach solchen Vorfällen.

Instinktiv war mir schon sehr früh klar, dass meine Eltern eine unglückliche Ehe führten und dass meine Mutter auch des-wegen so krank war. Doch sie war von klein auf natürlich meine wichtigste Bezugsperson. Gleich danach kamen meine älteren Schwestern Regina und Lena. Sie waren schon früh angehalten worden, sich um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen.

Regina war damals 16 und ich drei. Sie und meine Schwester Lena gaben mir das nötige Urvertrauen.

Und dann war da noch unser Hund, den ich über alles lieb-te. Er hieß Dusic, war dreifarbig – braun, rot und schwarz – ein

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Mischling aus Collie und Schäferhund. Er bewachte das Haus, war zu den meisten Menschen aggressiv und ließ niemanden an sich heran. Zu mir war Dusic zutraulich, ich konnte mit ihm machen, was ich wollte. Er hörte auf mich, und ich konnte mich sogar von ihm tragen lassen.

Mein Großvater Matthias Schumacher ist der Vater meiner Mutter. Mit Einbürgerung in Berlin musste er zur Wehrmacht. Er zog in den Krieg und kam viele Jahre in Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung ging er in den Westen, nach Ludwigshafen, da es ihm unmöglich war, dorthin zurückzukehren, wo er früher gelebt hatte. Geld hatte er keines, und seine Familie war von den Russen deportiert. So lebte Opa Matthias die ausgehenden 40er- und frühen 50er-Jahre alleine, weil er nicht in Erfahrung brin-gen konnte, wo Frau und Kinder waren. Als Konrad Adenauer 1955 zu einem Staatsbesuch in Moskau eingeladen wurde, hatte er sich auf die Fahne geschrieben, die noch gefangenen Soldaten und Zivilisten zu befreien. In zähen Verhandlungen schaffte er es. So kamen auch die Russlanddeutschen frei, die als Kriegsver-schleppte galten und ebenfalls in Lagern gefangen waren. Von diesem Zeitpunkt an wurde einiges einfacher. Das Rote Kreuz durfte jetzt auch offiziell helfen, Verwandte wiederzufinden. Mein Großvater nutzte das, um seine Liebsten zu suchen.

Eines Tages bekam dann meine Mutter in Barnaul die Infor-mation, dass ihr Vater am Leben sei und in Ludwigshafen wohne, verbunden mit der Frage, ob sie die leibliche Tochter sei. Mama war vollkommen überfordert, denn sie ging davon aus, Vollwaise zu sein. Was mit ihrem Bruder geschehen war, wusste sie nicht. Ihre beiden Schwestern, die ältere Magdalena und die jüngere Julia, waren wie sie auch verschleppt worden, und so wohnten sie alle in derselben Region. Vom Rest der Familie hatte sie nie

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wieder etwas gehört. Als sie von ihrem Vater erfuhr, war sie um die 40.

Nach vielen vergeblichen Versuchen meiner Mutter, ausrei-sen zu dürfen, zogen wir schließlich zu ihrer Schwester Magda-lena, die näher an der Grenze wohnte, nach Tiraspol. Dort waren die Bestimmungen nicht so hart, das Leben irgendwie auf vielen Ebenen einfacher.

Ich erinnere mich dann noch genau an den langen weiten Weg aus Russland. Irgendwie war es auch schon traurig, dass wir unser Heim, unsere Heimat verlassen mussten. Wir konnten ja nichts mitnehmen, nur ganz wenige private Dinge. Bilder, Klei-der, Dokumente und ein paar kleine Erinnerungsstücke. Lena zum Beispiel hatte eine alte Streichholzschachtel mit russischer Erde dabei. Ich wollte natürlich den Hund mitnehmen, der aber nicht mitdurfte. Es war ein sehr schlimmer Abschied für mich. Als wir mit dem Bus abfuhren, riss Dusic sich von seiner Ket-te los, rannte uns hinterher bis zu einer Kreuzung, wo er dann verschwand. Die nächsten 300 Kilometer habe ich nur geheult. Dann ging es weiter mit dem Zug, und ich sehe mich noch am Bahnhof in Moskau sitzen. Mit einer Limo in der Hand, deren Geschmack ich nie vergessen werde.

Für mich als fünfjähriges Mädchen war alles Abenteuer ...

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KAPITEL 2P a r a d i e s

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Als wir im Übergangslager Friedland ankommen, sind wenig Russlanddeutsche da. Wir haben Angehörige und können nach einer Woche nach Ludwigshafen. Hier kommen wir am Montag, den 22. März 1971, an. Ich bin gespannt, wie mein Großvater ist. Mama hat mir viel von ihm erzählt. Er muss ein guter Mensch sein. Der Bahnhof ist voller Leute. Sie alle sind gekommen, um uns zu begrüßen, denn wir sind die ersten Russlanddeutschen, die Ludwigshafen erreichen. Als wir auf dem Bahnsteig stehen, kommt ein stattlicher, gütiger Mann auf mich zu und lächelt. »Ich bin Dein Opa«, stellt er sich vor. Sofort würde ich ihn am liebsten an mich drücken. Neben ihm steht seine zweite Frau, eine kleine, nette Person, die mich gleich ins Herz schließt. In der Schalter-halle empfängt uns eine Dame vom Roten Kreuz mit einem gro-ßen Blumenstrauß: »Willkommen in Ludwigshafen. Wir freuen uns, Sie im Namen der Bundesrepublik Deutschland begrüßen zu dürfen. Ab jetzt sind Sie Bürger unseres Staates. Hier sind Ihre behelfsmäßigen Unterlagen und Ihr Wohnberechtigungsschein.

Ankunft in Ludwigshafen (Fotograf unbekannt, courtesy Rheinpfalz-Zeitung März 1971)

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Julia Neigel, Arno Köster

NeigelnahFreiheit, die ich meine

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 224 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-579-06653-0

Gütersloher Verlagshaus

Erscheinungstermin: Oktober 2012

Das Comeback einer Pionierin der deutschen Rockszene Julia Neigel – eine Persönlichkeit und Stimme, die seit den frühen 1980er-Jahren in Deutschlandeinzigartig ist. In Zeiten mit Burnout und Depressionen hatte sie sich jahrelang aus derÖffentlichkeit zurückgezogen. Nun resümiert sie ihr bewegtes Leben voller Höhen und Tiefenund kehrt zurück als strahlend positive Frau, die ein grandioses Comeback feiert. Dieses sehr persönliche Buch spiegelt neben Julia Neigels Lebens-geschichte ein Stückdeutsche Zeit- und Musik-epoche, und vor allem natürlich, wie beachtlich es für eine junge Frauwar, sich in einem Pop- und Rockmarkt, der von Männern dominiert war und ist, durchzusetzen.