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Harald Wasser
Die Systemtheorie der Massenmedien Erster Teil:
Eine essayistische Revision
© Manuskript August 2005/V.1b
Online veröffentlichte Aufsätze sind voll zitierfähig, wenn folgende Angaben aus dem Text entnommen und
genannt werden: Der Autor, der Titel, die Bezugsquelle (es reicht die Angabe der Domain, wobei diese sozusagen
die Ortsangabe in Printausgaben vertritt), die im Text genannte Jahreszahl (und – wenn vorhanden – die von dieser
durch Schrägstrich getrennte Versionsnummer). Die »Versionsnummer« (anstelle der »Auflage«) ist ein Merkmal
ausschließlich von Onlineveröffentlichungen, da diese – im Gegensatz zu Printausgaben – ohne großen Aufwand
verändert und in veränderter Version veröffentlicht werden können. Als authentische Bezugsquellen gelten alle im
Handelsregister geführten Verlagsseiten. Geschieht der Download von unklarer Quelle, so kann die Authentizität
von Onlineveröffentlichungen durch Anwahl der vom Autor im Text genannten Authentizitätsseite geprüft werden.
Im vorliegenden Fall lautet diese »autopoietische-systeme.de«.
Inhalt
Vorbemerkung ____________________________________________________________ 4
Revision und Adaption______________________________________________________ 8
System und Medium_______________________________________________________ 10
Selbstmediatisierende Systeme _____________________________________________ 14 Unterhaltung und Information ______________________________________________ 22
Zur Codierung der Massenmedien___________________________________________ 24
Basale Elemente und Systemcodierung _______________________________________ 24 Zur Revision des Informationsbegriffs _______________________________________ 26 Redundanz und Information________________________________________________ 28 Mediale und strukturelle Kopplung __________________________________________ 30
Mediale und strukturelle Verschmierungen__________________________________ 32 Information, Schleifen und Kommunikation__________________________________ 36
Der Code der Massenmedien _______________________________________________ 38
Codedifferenzierung versus funktionale Differenzierung ________________________ 47
Was heißt »Masse«?_______________________________________________________ 53
Massenmedien, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Systemcode und strukturelle Kopplung ______________________________________________________________ 56 Das Medium als Botschaft _________________________________________________ 61
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Es gibt natürlich einen persönlichen Lebenskreis, über den
man Bescheid weiß, ohne etwas in der Zeitung gelesen zu
haben. Aber wenn man sich im öffentlichen Raum orientiert,
kann man ohne Medienwissen gar keine Verständigung
erreichen. Manche beklagen das als Verlust von
Unmittelbarkeit. Aber oft weiß man gar nicht, wie stark
etwas, das wir wissen, durch die Medien vermittelt ist, wenn
man es nicht mit direkt bekannten Objekten oder Personen zu
tun hat. Wir sind kaum in der Lage, das medienvermittelte
Wissen von dem selbsterfahrenen wirklich zu trennen.
Niklas Luhmann
Vorbemerkung
Die Massenmedien gehören sicherlich zu den interessantesten Forschungsgebieten der
Kommunikationstheorie, schon weil sie sich selbst als ein Kommunikationssystem
beschreiben. Andere Systeme − man denke etwa an die Wirtschaft − beschreiben sich selbst
durchaus nicht immer als Kommunikationssystem, sondern beispielsweise als
Produktionssystem (für Güter und Dienstleistungen).
Als weiteres auffälliges Merkmal der Massenmedien lässt sich anführen, dass diese für sich in
Anspruch nehmen, parallel und widerspruchslos den gesamten Bereich zwischen Realität und
Fiktion, zwischen Trug und Wirklichkeit, zwischen Information und Desinformation
prozessieren zu können und zwar über alle Systemgrenzen hinweg. Während oscarprämierte
Schauspielerinnen in Kinos (fiktiv) um die Weltmeisterschaft boxen (»Million Dollar Baby«)
berichten die Nachtrichten, der Papst sei (real) gestorben. Und wenn hier schon von einer
Überschreitung von Systemgrenzen gesprochen wurde, so gilt dies für die Massenmedien
gleich in doppeltem Sinn: Ob Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Liebe oder Recht –
die Massenmedien verarbeiten deren Themen nicht nur zu eigenen Themen (in Form von
Romanen, Berichten, Dokumentationen, Features, Hollywoodfilmen etc.), sie stellen sich
gelegentlich Fremdsystemen (etwa der Wissenschaft) als maßgebliches
Kommunikationsmedium zur Verfügung etwa in Form von Fachzeitschriften (sofern es diesen
gelingt, eine ausreichende Verbreitung zu finden), populärwissenschaftlicher
Massenkommunikation (Wissenschaftsmagazine) oder als Diskussionsforen in
Tageszeitungen (z.B. Historikerstreit).
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Und noch etwas fällt auf: Die Wirtschaft wird von den Massenmedien seit den ersten Tagen
geradezu symbiotisch gekoppelt in Form von Werbung. Und wie alle
Kommunikationssysteme, so transformieren auch die Massenmedien alles »Fremdmaterial«
in eigenes: Werbung läuft stets in medienspezifisch aufgearbeiteter Form als »Anzeige« (mit
und ohne Bild) in den Printmedien, als »Werbetrailer« oder als »Audiobeitrag« in Fernsehen
und Hörfunk, als »Flashanimation« etc. im Internet. Und genau deswegen, damit die Form
nicht die Differenz schluckt, hat der Gesetzgeber eine Kennzeichnungspflicht erlassen. Ob
aber heute nicht sowieso ganze Sendungen, etwa »Big Brother« (RTL), eine einzige, nur
notdürftig getarnte Werbesendung (für ein darauf bezogenes Merchandisingumfeld)
darstellen, darüber mag man trefflich streiten können und ebenso darüber, ob die »Cannes-
Rolle« Kunstwerke präsentiert. Jedenfalls wird in den Massenmedien vom Sex über die Kunst
bis zur Medizin alles zum Thema. McLuhan war daher der Meinung, jeder Fernsehfilm, jede
Serie sei sowieso Werbung: Schließlich werde das Bedürfnis geweckt, wenigstens die in der
»Daily Soap« vorkommende, formvollendete Küche zu erwerben. Viele werden sich noch an
die Denver-- und Dallasfrisuren erinnern. Man konnte im Supermarkt von dem Gefühl
beschlichen werden, »im falschen Film« zu sein.
Aber auch die Bedeutung von Selbstreferenz wird innerhalb der Massenmedien so gut
sichtbar wie in kaum einem anderen System. Wenn die Nutzung des Internets für die
Massenmedien bedeutsamer wird, so erfahren wir das: in den Massenmedien. Wenn RTL
umzieht, so berichten: die Massenmedien. Und welche Rolle das amerikanische Militär für
die massenmediale Berichterstattung über den Irakkrieg spielte, das wird ebenfalls zum
Thema: der Massenmedien.
Um im Katastrophenfall zur Verfügung zu stehen, müssen beispielsweise bestimmte
Radioanstalten ihre Sendernetze mit hohen Redundanzen betreiben und zudem eine ganze
Kette programmlicher Havarieoptionen nachweisen können. Wenn aber im Ausland eine
Katastrophe droht, so schickt die Presse ihre Korrespondenten vor Ort, um Authentizität zu
verbürgen, obwohl es immer häufiger vorkommen wird, dass auch der Korrespondent vor Ort
überwiegend Agenturen und die ihm zugänglichen Nachrichtensender sichtet. Er holt sich
also einen Teil der von ihm später über die Massenmedien zu verbreitenden Infos aus den
Massenmedien (Selbstreferenz), wofür er allerdings nicht unbedingt vor Ort sein müsste,
schon weil die Redaktion seines Heimatsenders dergleichen mit mehr Personal ohnehin
betreiben wird. Wenn es hart auf hart kommt, so wird unter Umständen die Heimatredaktion
in einem Vorgespräch den Korrespondenten in bestimmten Punkten sogar auf den neuesten
Stand bringen müssen. Der Korrespondent wird auf Sendung genommen, aber offensichtlich
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
nicht immer, weil er über aktuelleres oder über sichereres Wissen verfügt: Er wird auf
Sendung genommen, weil er dergleichen verbürgen soll. Eine auffällige Steigerung von
Selbstreferenzen. In abgewandelter Form ist dergleichen natürlich banaler Alltag: Schließlich
informieren sich die Massenmedien schon immer und routiniert bei sich selbst: »Wie die
Bild-Zeitung meldet…» »Nach Informationen des westdeutschen Rundfunks…«
Wie sehr Luhmann und McLuhan Recht hatten mit ihrer Einschätzung, dass heute Realität
und Massenmedien unentwirrbar miteinander verknüpft sind, mag eine Anekdote aus jüngster
Zeit veranschaulichen: Eine Freundin erzählte, dass sie vor kurzem Asien bereist habe, als
erneut Tsunami-Warnung gegeben wurde. Sie habe sich unmittelbar in einem Hotel mit Blick
aufs Meer in der Gefahrenzone befunden. Als sie die entsprechende Warnung hörte, habe sie
aber nicht einfach rausgeschaut, sondern sei im Hotelzimmer ständig zwischen dem Fernseher
(BBC) und dem Fenster hin und her gelaufen. Auf Nachfrage, warum sie nicht einfach
hinausgeschaut habe, antwortete sie, sie habe den Fernseher benötigt, um zu prüfen, in wie
weit sie ihren Augen trauen könne.
Nicht der Ort, nicht die Sinne, nicht das Geschehen, nicht das Erleben − die instanten
Massenmedien verbürgen im elektronischen Zeitalter die Realität. Nie hatte das sich so
plastisch gezeigt, wie in Orson Welles Radiohörspiel von H. G. Wells »Krieg der Welten«.
Die Massenmedien sorgten für den Realitätseffekt und nur die Massenmedien konnten ihn
wirksam wieder abfangen und in Fiktion überführen.
Aber auch mit einem sehr speziellen Blick auf das systemtheoretische Theoriedesign birgt der
Forschungsgegenstand »Massenmedien« seine Auffälligkeiten. Insbesondere fällt hier
irritierend auf, dass es Luhmann offenbar nicht gelungen war, sein medientheoretisches
Modell, die so genannten «Heidermedien«, zur Anwendung zu bringen. Ausgerechnet in
seinem Hauptwerk zu den Massenmedien (»Die Realität der Massenmedien«) nimmt Luhmann
keinen Bezug auf seine eigene Medientheorie. Das ist nicht nur sehr auffällig, sondern
sicherlich auch kein Zufall, wie sich im Verlauf der Untersuchung zeigen sollte. Der an
anderer Stelle (»Luhmann, McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf
www.autopoietische-systeme.de) ausgeführte Vorschlag einer Revision der
systemtheoretischen Medientheorie in Form einer Substitution des Modells der Heidermedien
durch ein eng an McLuhan orientiertes Modell, soll hier natürlich seine Anwendung finden.
Das dort eingeführte Modell der McLuhan-Medien scheint sich hingegen ohne
Einschränkungen auch für eine Theorie der Massenmedien zu eignen. Es wird sich bei
unserem Versuch einer Integration des McLuhan-Modells in eine Theorie der Massenmedien
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
aber auch zeigen, dass sogar basale Zuschreibungen Luhmanns – etwa der von ihm genannte
Code der Massenmedien – neu überdacht werden sollten.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Revision und Adaption
Die folgende Untersuchung wird ihre Analysen und Beschreibungen in Luhmanns Theorie
autopoietischer Systeme einbetten. Medientheoretisch wird sie sich allerdings wie bereits
angekündigt nicht an Luhmanns Modell der Heidermedien binden, sondern an ein Modell,
dass sich an McLuhans Medientheorie orientiert. Der Kombination Luhmann/McLuhan liegt
die These zu Grunde, dass sich basale Bestandteile der Theorie autopoietischer Systeme
trennscharf von darauf aufbauenden Theoriebausteinen isolieren lassen, ohne den durch
Luhmann gegebenen Theorierahmen verlassen zu müssen. Unter »aufbauend« sollen
entsprechend alle kontingenten Theorieelemente verstanden werden, also alle Elemente, die
zwar mit der von Luhmann begründeten Theorie autopoietischer Systeme verbunden sein
können, aber nicht verbunden sein müssen. Die Idee hingegen, der zufolge autopoietische
Systeme aus nichts anderem bestehen, als aus denjenigen Operation, die sie selbst vollziehen,
gehört sicherlich zu den basalen Ideen, schon weil es sich hier um eine geradezu
definitorische Formel handelt. Derartige Theorie-Elemente kann man also nicht verwerfen,
ohne sich von Luhmanns Modell als Rahmentheorie zu verabschieden.
Im Gegensatz zur Definition der Autopoiesis stellen aber andere Theoriebausteine, etwa die
Theorie der binären Codierung, der Zweiseitenform oder die der Heidermedien nur
kontingente Lösungsmöglichkeiten systemtheoretischer Teilprobleme dar, für die sich
funktionale Äquivalente benennen und einführen ließen, ohne sich damit außerhalb des
Theorierahmens begeben zu müssen. Kontingente Elemente sind also daran erkennbar, dass
sie sich innerhalb der »Luhmannschen Systemtheorie« austauschen lassen. So mag man
darüber streiten können, ob die Basisoperation psychischer Systeme adäquater mit
Bewusstsein oder mit Erleben bezeichnet ist. Die These aber, der zu Folge sich Typen
autopoietischer Systeme voneinander durch (und nur durch) die jeweils gewählte
Basisoperation unterscheiden, steht nicht zur Disposition, sofern man »mit Luhmann
weiterdenken« möchte.
Dieser Umstand soll im Folgenden genutzt werden, um eine Revision der systemtheoretischen
Theorie der Massenmedien durchführen zu können. Die nicht geringe Zahl kontingenter
Elemente, die im Folgenden durch funktionale Äquivalente ausgetauscht werden soll, wird
natürlich theoretische Kontrollen erfordern, um die notwendigen adaptiven Prozesse auslösen
zu können: Wer sich von Luhmanns Modell der Heidermedien trennen möchte, der wird z.B.
auch die damit verbundenen Auswirkungen auf die Theorie der Form beachten müssen.
»Ersetzen« heißt immer auch »einpassen«.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Wir werden Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme auch darin folgen, die
Massenmedien (Plural!) als ein (autopoietisches) System zu begreifen. Und wir werden ihm
beipflichten in der Annahme, dass die Operation der Massenmedien innerhalb einer
soziologischen Theorie autopoietischer Systeme treffend mit »Kommunikation« (und mit
nichts anderem!) bezeichnet werden kann, schon weil »Kommunikation« die Basisoperation
der Gesellschaft als Gesamtsystem bezeichnet. Um die Binnendifferenzierung der
Gesellschaft in Form sozialer Systeme erklären zu können, hat Luhmann den Begriff des
binären Codes eingeführt. Wenn es jedoch um die Frage geht, wie denn derjenige binäre Code
lautet, mit dessen Hilfe sich die Massenmedien von anderen sozialen Systemen abheben, so
wird die im Laufe der folgenden Erörterung gegebene Antwort von Luhmanns
diesbezüglicher Antwort abweichen, ist doch die Angabe eines systemdifferenzierenden
Codes immer ein kontingentes, ersatzpflichtiges Element der Theorie, ein Element also, dass
zwar abweichend bestimmt, aber nicht einfach gestrichen werden kann.
Die Massenmedien, die wir mit Luhmann als soziales System beschreiben, werden innerhalb
der Medientheorie in aller Regel als Medium beschrieben. Luhmann hat diesen Schritt nicht
explizit vollzogen, weil die von Luhmann bevorzugte Medientheorie (also die so genannten
»Heidermedien«) eine derartige Verbindung bzw. Identifizierung von System und Medium
nicht ausreichend unterstützen. Da es für die folgernden Überlegungen aber von großer
Bedeutung ist, die Massenmedien zugleich als System und als Medium beobachten zu können,
wird sich diesbezüglich der Wechsel auf ein an McLuhan angelehntes, alternatives
medientheoretisches Modell positiv bemerkbar machen. Luhmanns Modell der Heidermedien
wird aber nicht nur aus dem genannten Grund keine Verwendung finden, sondern auch, weil
es bei weitem zu implikativ ist: Seine Anwendung erfordert ja nicht nur eine bedenkliche
Einengung des Medienbegriffs, sondern es drängt – ausgelöst durch die Engstellung von
Medium und Form – den Formbegriff unvermeidbar in eine beobachtungslogisch sehr
problematische Richtung, gerade weil es den von Spencer-Brown inspirierten Formbegriff
zunehmend zu dominieren neigt. Diesen Eindruck wird man kaum in Abrede stellen können,
wenn man die medienbezogene systemtheoretische Literatur der letzten Jahre beobachtet. Der
Spencer-Brownsche Formbegriff benötigt aber sicherlich eine ausreichende Nähe zu Batesons
Beobachtungsbegriff, weshalb eine einseitige Gewichtsverlagerung zugunsten der
Heidermedien beobachtungslogisch unberechenbar zu werden droht. (Eine ausführliche
Darstellung dieser und anderer mit den Heidermedien verbundenen Probleme findet sich in
»Luhmann, McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf www.autopoietische-
systeme.de)
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
System und Medium
Der nun folgende Revisionsvorschlag startet mit der Feststellung, dass die Massenmedien sich
von einem Großteil anderer Medien durch ihre Eigenschaft unterscheiden, zugleich System
und Medium zu sein. Von hier aus lässt sich direkt eine der systemtheoretisch wohl
bedeutendsten Fragen anschließen, nämlich die, warum Luhmann in seinem Werk über die
»Realität der Massenmedien« nicht auf seine eigene Medientheorie, die Theorie der
»Heidermedien«, zurückgegriffen hat. Hier soll dafür die These in Anschlag gebracht werden,
dass dies geschah, weil Heidermedien zwei Dinge nicht leisten können:
Zum einen (a) eine für alle medialen Theoriebereiche ausreichende Generalisierung des
Medienbegriffs. Denn, wenn einige Medien zugleich Systeme sind, so müssten mediale
Elemente Systemelementen korrespondieren. Im Modell der Heidermedien werden Elemente
jedoch gänzlich anders beschrieben als in der Theorie autopoietischer Systeme. So erzeugen
Medien keineswegs selbst die Elemente, aus denen sie bestehen. Und wer als Ausweg
versuchen wollte, doch davon auszugehen, dass Medien ihre Elemente selbst produzieren, der
müsste postulieren, alle (und nicht etwa nur bestimmte Medien) seien immer zugleich
Systeme. Der Buchdruck ist aber beispielsweise kein (autopoietisches) System ebenso wenig
wie das Fahrrad oder der Satellit autopoietische Systeme sind. Nur die wenigsten Medien
können zugleich als Systeme beschrieben werden. Die Konsequenz lautet: Der Begriff des
Elements innerhalb der Theorie der Heidermeiden kollidiert mit Luhmanns Theorie
autopoietischer Systeme, weshalb es Luhmann nicht gelingen konnte, seine Heidermedien
innerhalb seiner Theorie der Massenmedien zu platzieren.
Es entsteht hier also die riskante Täuschung, die Begriffe »Element« (und »Form«!) innerhalb
des Modells der Heidermedien entsprächen ihrem Gebrauch innerhalb der Theorie
autopoietischer Systeme (bzw. innerhalb des Modells Spencer-Brownschen Formen). Da, wo
dies zu funktionieren scheint, liegt dies aber mehr an einer selbstläufigen, unkontrollierten
Begriffsassimilation als an einer von vornherein gegebenen Begriffskompatibilität. Es wäre
daher sicherlich wichtig, begriffliche Kontrollen in Zukunft sehr viel enger zu führen, um
Theorieverwaschungen zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Stattdessen finden derartige
Kontrollen überwiegend gar nicht statt, mit der Folge, dass unbeabsichtigt Wege favorisiert
werden, die den täuschenden Eindruck begrifflicher Kompatibilität unmerklich verfestigen.
Auf diese Weise forscht es sich sicherlich leichter, das mag zugestanden werden. Die Theorie
wird dadurch aber in the long run nachhaltig beschädigt.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Hinzu kommt, dass sich Medien als Formbildner per Kopplung von Elementen begreifen
lassen mögen oder auch nicht − autopoietische Systeme allerdings können zweifellos nicht
auf diese Weise beschrieben werden. Wenn also Medien zugleich System sein können, so darf
die Beschreibung von Medien nicht im Widerspruch stehen zur Beschreibung von Systemen.
Eine universelle Medientheorie, muss dem Rechnung tragen können. (Ein Versuch dieser Art
findet sich in Luhmann, McLuhan und der Graf von Monte Christo, 2005, download auf
www.autopoietische-systeme.de. Dort findet auch eine ausführliche Problematisierung des
Formbegriffs des Heidermodells statt.)
Zum anderen (b) lassen sich Heidermedien nicht weit genug auflösen, um aussagekräftige
Analysen singulärer Medien und ihrer psychischen wie sozialen Bedeutung herstellen zu
können. Dies liegt daran, das Luhmanns Modell zur Unterscheidung einzelner Medien
lediglich die Unterscheidung verschiedenartiger Elementen zugelassen hat. Wer Medium A
von Medium B unterscheiden möchte, dem stehen keine anderen Kriterien zur Verfügung, als
die vom jeweiligen Medium zu Verfügung gestellten Elemente. Es wird aber nahezu
unmöglich sein, Elemente so fein zu unterscheiden, wie es eine hochdifferenzierte
Medientheorie erforderlich machen würde. Einen MPEG-Player wird man kaum mit Hilfe der
Benennung von Elementen von einem UKW-Radio unterscheiden können. Selbstverständlich
kann man hier technisch unterscheiden. Es geht hier aber nicht um technische, sondern um
mediale Unterscheidungen. Technisch angelegte Unterscheidungen hatte Luhmann ja mit
guten Gründen abgewiesen. Heidermedien sind nichts Technisches, sind keine technischen
Medien und sind auch nichts über technische Begrifflichkeiten verstehbares. Auch in der im
Folgenden angewandten Medientheorie, die sich an McLuhan orientiert, werden Medien
keineswegs technisch bzw. als Techniken begriffen. Wenn man genauer hinschaut, so wird
man erkennen können, dass auch McLuhan Medien keineswegs mit Techniken gleichgesetzt
hat.
Um die Zielrichtung dieser beiden Thesen jetzt schon deutlicher werden zu lassen, müssen sie
miteinander verbunden werden. Dann kann man rückschließen, dass man zur Analyse des
Phänomens der Massenmedien systemtheoretisch eine Medientheorie benötigt, die zwei
besonderen Anforderungen zu genügen hat. Sie muss
a) den Sonderfall eines Mediums, das zugleich (soziales) System ist, widerspruchslos
beschreiben können.
b) Einzelmedien klar voneinander abgrenzen können.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Wie dargelegt wird es aber große Schwierigkeiten machen, den Sonderfall eines Mediums,
das zugleich autopoietisches System ist, innerhalb des Heidermodells zu behandeln, weil die
Idee der Elementenbildung und -verwendung im Heidermodell ja eine völlig andere ist als
die, die im Zusammenhang der Theorie autopoietischer Systeme Anwendung findet.
Heidermedien lassen sich nicht als autopoietische Systeme beschreiben, da sie auf ein völlig
anderes Verhältnis von Einheit und Element festegelegt sind. Und weil nur ein Medium, das
ursprünglich (also von seiner ersten Beobachtung ausgehend) als Heidermedium konstruiert
wurde, auch innerhalb des Heidermodells weiter beobachtet und beschrieben werden kann, ist
es ausgeschlossen, sozusagen mit einem technischen Ursprungsverständnis zu beginnen, um
sich dann in Richtung der Heidermedien zu bewegen. Das Heidermodell kann wie jedes
andere Modell nur dann zur Analyse von Einzelmedien zur Anwendung gebracht werden,
wenn Einzelmedien zuvor über seine Kriterien (hier also: die Verschiedenheit von Elementen)
unterschieden wurden. Wissenschaftliche Untersuchungen, in denen dies erfolgreich
vorgenommen wurde, sind dem Autor aber nicht bekannt.
An beiden Punkten musste Luhmann also scheitern. Seine Heidermedien lassen sich schlicht
nicht konsistent auf Sondermedien − worunter Erfolgsmedien sowie Medien, die zugleich
System sind, verstanden werden sollen − anwenden. Bei Erfolgsmedien etwa handelt es sich
ja um kompakte Medien, insofern sie aus der Einheit der Differenz eines Codes gebildet
werden. Beispielsweise vertritt dann »Wahrheit« als Einheit symbolisch die Differenz von
»wahr/falsch«. Erfolgsmedien lassen sich in logischer Konsequenz nicht als aus losen
Elementen bestehend denken, die (feste) gekoppelt werden könnten.
Man wird darüber hinaus generell sagen müssen, dass Generalisierungschancen des
Heidermodells durch eine Überspezifizierungen kontaminiert werden, nämlich durch die
Lehre von Element, Substrat sowie losen und festen Kopplungen. Denn, wenn man sich alle
Medien als spezifiziert durch Element, Substrat und Kopplungsprozesse vorstellen muss, so
wird vieles, was sinnvoller Weise als Medium begriffen werden könnte (und inkonsequenter
Weise von Luhmann auch so begriffen wurde), aus der Medientheorie ausgeschlossen.
Welcher Art sollten denn auch die Elemente von Massenmedien sein, so dass das System der
Massenmedien über diejenigen Formen erklärt werden könnte, die massenmediale
Kommunikation tagtäglich erzeugt? Ein signifikantes Repertoire von Elementen, aus denen
die über Printmedien, Fernsehen, Hörfunk und Internet zur Verfügung gestellten Formen
gebildet werden könnten, dürfte sich schwerlich benennen lassen. Weder einige dutzend
Buchstaben noch ein Repertoire von Geräuschen und Bildern (oder Pixeln?) kann ausreichen,
12
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
um all jene massenmedialen Formen bzw. Informationen als Kopplungsprodukte begreifen zu
können. Zudem wäre ein solches Repertoire von Elementen einfach nicht umfangreich genug,
um die aufgezählten Verbreitungsmedien voneinander unterscheidbar zu machen. Geräusche
bzw. Töne erzeugen fast alle Verbreitungsmedien, Bilder erzeugen Printmedien ebenso wie
der Fernseher und das Internet (die beiden letzten kennen zusätzlich Bewegtbilder). Pixel
werden auf sämtlichen Bildschirmen genutzt, auch, wenn es gar nicht um Verbreitung geht.
Medien mögen Geräusche, Töne, Bilder, Schrift etc. erzeugen, die Frage ist aber: Lassen sich
diese sinnvoll als Elemente begreifen? Und die wesentlich bedeutendere Frage ist: Lassen sie
sich als ein eingrenzbares, endliches Repertoire begreifen, das von einem bestimmten
Medium zur Verfügung gestellt wird? Wenn mehrere Medien, etwa Computer, Fernseher oder
das Internet über Bilder, Bewegtbilder, Pixel, Audio etc. Informationen aufbereiten: Wie
sollten sich diese Medien als einzelne voneinander unterscheiden lassen, wenn sie doch im
Sinne des Heidermodells die gleichen Elemente zur Formbildung verwenden?
Wenn man sich Medien als konstituiert über Elemente vorstellen wollte, so würde darüber
hinaus das Verhältnis der Massenmedien zu anderen Medien unscharf: Welche Rolle spielen
Zeitungen, Druckerpresse, Telegraf, Internet, Schlagzeile, Fernseher, Radio etc. in den und
für die Operationen der Massenmedien? Auch hier zeigt sich wieder das Problem, das sich
daraus ergibt, dass Luhmanns Theorie mit Heider von Funktion auf Funktionieren umschaltet.
In der Tat wollte Fritz Heider ja nicht klären, welche Funktionen Medien ausüben, sondern:
wie sie funktionieren (also wie sie ermöglichen, was sie ermöglichen). Die Systemtheorie
muss aber nicht sagen können, wie Medien in diesem Sinne funktionieren. Man muss also
nicht unbedingt wissen, ob dies durch feste Kopplung loser Elemente geschieht oder nicht. Es
gilt vielmehr, herauszufinden, welche Funktionen bestimmte Medien erfüllen, wie sie diese
erfüllen und wieso sie diese erfüllen können. Man muss medientheoretisch – wenn die
Analogie erlaubt ist – nicht wissen, wie ein Fernseher funktioniert und wieso ein Flugzeug
fliegt. Man muss als Medientheoretiker nur wissen, welche psychischen und sozialen
Funktionen ein Fernseher erfüllt und welche Rolle der Einsatz von Flugzeugen für die
Gesellschaft und die Psyche spielt. Nach all dem lässt sich die These wagen, dass sich − wenn
man zurückschaltet von Funktionieren auf Funktion − die Theorie des kanadischen
Medientheoretikers Marshall McLuhan als weit geeigneterer Ansatz erweisen wird als das
Modell der Heidermedien.
13
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Selbstmediatisierende Systeme
Um es vorweg zu nehmen: Eigentlich mediatisieren alle autopoietischen Systeme sich selbst.
Die Wirtschaft beispielsweise »klinkt« nicht nur alle Medien ein, die in wirtschaftlichen
Prozessen eine Rolle spielen; vielmehr mediatisiert das Wirtschaftssystem alle seine eigenen
Systemprozesse in Richtung auf Wirtschaftsprozesse. In eben diesem Sinne können alle
Systeme stets auch als Medien begriffen werden: Die Wissenschaft bildet das Medium zur
Erzeugung einer bestimmten Art von Wissen(skommunikation) und das Recht bildet das
Medium einer bestimmten Art von Entscheidungen und Richtlinien, die Konflikte
ermöglichen (Rechtssicherheit) bzw. beizulegen helfen. Indes bilden die Massenmedien kaum
übersehbar einen Sonderfall und weil dies so offensichtlich ist, trägt dieses System selbst in
der Alltagssprache den Begriff der »Medien« als Namensbestandteil.
Das aber, was die Massenmedien zum Sonderfall macht, ergibt sich aus ihrer besonderen
Nähe zu einem bestimmten Typ anderer Medien: den sogenannten Verbreitungsmedien. In
der modernen Gesellschaft sind alle Systeme auf Verbreitungsmedien angewiesen – aber kein
System ist so stark mit ihnen verwoben wie die Massenmedien.
Ein Großteil der Medientheorie sieht das allerdings anders. Statt die Differenz und
Verwobenheit von Verbreitungsmedien und Massenmedien ins Zentrum der Theorie zu
stellen, wird in zahlreichen Analysen gar kein Unterschied zwischen Massenmedien und
Verbreitungsmedien gemacht. Letztlich werden hier also Verbreitungsmedien und
Massenmedien in eins gesetzt: Wenn vom Fernsehen die Rede ist, wird der
»Verbreitungsweg« in eins mit dem Massenmedium »Fernsehen« gesetzt. Und die
Vervielfältigungstechnik des Buchdrucks, die zur Verbreitung dienen kann, wird als »das
Massenmedium Buchdruck« begriffen. Analoges gilt dann für andere Verbreitungsmedien
wie das Radio, die Zeitung etc. Nirgendwo wird diese Gleichsetzung aber so greifbar, wie im
Falle des Internet, das nahezu ausnahmslos als Massenmedium begriffen wird, obwohl der
sehr kluge Begriff der Multimedialität schon signalisieren müsste, dass »das Internet« ein
Konglomerat verschiedenster Medien (Audiostreaming, Videostreaming, Print etc.) darstellt
und somit zunächst eher als ein Verbreitungsweg (wie UKW, DAB, MW, GPRS, dvb, UMTS,
ADSL etc.) betrachtet werden sollte, der es erlaubt, die verschiedensten Verbreitungsmedien
(wie Radio, Fernsehen, Print, Telefon etc.) zu koppeln. Technisch steht hier das TCP/IP-
Protokoll im Vordergrund, das allerdings nicht nur (im Gegensatz zu
Broadcastingtechnologien) rückkanalfähig ist, sondern verschachtelt mit weiteren
Technologien (etwa ISDN, UMTS, GPRS, ADSL, XML, Flash, RM, IRC, Java-Script etc.)
die für multimediale Technologien notwendige Infrastruktur bereitstellt. Dieser
14
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
außergewöhnlich dichte Technologie- und Medienverbund erzeugt eine Kompaktheit, die die
Verwendung des Einheitsbegriffs »das Internet« gerechtfertigt erscheinen lässt.
Aber gerade deshalb lässt sich das Internet nicht als Massenmedium beschreiben, sondern nur
als einer von vielen Verbreitungswegen, die den Massenmedien zur Verfügung stehen. Wie
hier sichtbar wird, können technische Betrachtungen der Medientheorie zwar aufschlussreiche
Hinweise geben. Zugleich bedeutet dies aber auch, dass technische Merkmale keineswegs mit
medialen Funktionen gleichgesetzt werden dürfen. Mediale Eigenschaften und Funktionen
lassen sich erst daraus bestimmen, wie sich Medien in Systeme »einklinken« und welche vor
allen Dingen strukturmodifizierende und evolutionierende Rolle sie dabei übernehmen. Eben
diese Vorgehensweise hat uns McLuhan vorgemacht, wenn er vom technischen auf den
gesellschaftlichen Wandel und damit auf die Medialität dieses Wandels zu sprechen kam – sei
es in seinen Analysen der Eisenbahn, der Artillerie oder der Elektrifizierung. Aber er wusste
diese Medialität auch auf das zu beziehen, was Systemtheoretiker unter psychischen oder
physischen Systemen abhandeln würden. Er sprach in diesen Fällen vom Menschen und den
traumatisierenden Wirkungen die vor allem neue Medien auf die Psyche ausüben: Wer Lesen
gelernt hat, hat nicht einfach den Gebrauch eines praktischen Werkzeugs erlernt. Die
Linearität des alphabetischen Lesevorgangs verändert die ganze Sinnlichkeit, vor allem die
Raumwahrnehmung und verstärkt den Glauben, dass sich »die Dinge« aus einzelnen
Elementen zusammensetzen lassen. An eben diesen Stellen schlagen seine technischen in
mediale Analysen um.
Abweichend von der Konvention, Massenmedien und Verbreitungsmedien gleich zu setzen,
werden wir im Folgenden also darauf achten müssen, eine möglichst scharfe Grenze zwischen
ihnen zu ziehen. (Auch Luhmann hat diese Grenze gezogen, aber nicht immer mit
ausreichender Schärfe.) Verbreitungsmedien lassen sich nicht als System beschreiben.
Hingegen müssen die Massenmedien (trotz des Plurals) als ein System begriffen werden. Das
Verhältnis von Massenmedien zu Verbreitungsmedien lässt sich dann wie folgt bestimmen:
Das System der Massenmedien koppelt Verbreitungsmedien, so dass diese
Infrastrukturleistungen übernehmen können. Nach den Vorstellungen des hier angewandten
Modells der McLuhan-Medien koppeln Medien also im Gegensatz zum Heidermodell keine
Elemente, sondern Systeme. Da sie auf diese Weise zum Systembestandteil werden, passt der
Begriff der Kopplung weit weniger als der des "Einlinkens".
Die Bedeutung einer klaren Unterscheidung zwischen Verbreitungs- und Massenmedien lässt
sich leicht anplausibilisieren, wenn man sich vor Augen führt, dass etwa »das Internet« kein
Massenmedium sein kann, ebenso wenig wie »der Buchdruck«: Ein Verlag kann sich eines
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Verbreitungsmediums »bedienen« und etwa ein Buch in einer 10.000er Auflage drucken, um
es dann in seinen Regalen vergammeln lassen zu müssen, weil es keine Käufer findet. So wie
im Internet ungeheure Mengen an Sites von Privatleuten existieren, deren Chance, von einer
großen Zahl anderer Nutzer aufgesucht zu werden, aber gegen Null tendiert. Diese Seiten
werden also faktisch nie ein große (massenhafte) Verbreitung finden, obwohl das Internet
potentiell massenhaften Zugang und weltweite Verbreitung sicherstellt – eine einzigartige
Konstellation in der Geschichte der Verbreitungsmedien, die zur Euphorie verführt hat und zu
dem Missverständnis, über das Internet habe endlich jeder Mensch (s)einen Zugang zu den
Massenmedien, und nicht mehr nur große Unternehmen, Verlage etc. Diese Beispiele machen
aber eins deutlich: Die Nutzung von Verbreitungsmedien bedeutet noch keineswegs, dass die
entsprechende Kommunikation (wenn sie überhaupt stattfindet) innerhalb des Systems der
Massenmedien stattfindet. Die Massenmedien sind wie jedes soziale System sehr
anspruchsvoll, hochselektiv und über ihren Code geschlossen. Massenmedien lassen sich
nicht durch die bloße Verwendung eines Verbreitungsmediums »übertölpeln«, an die
entsprechende Kommunikation anzuschließen. Sie folgen eigenen Selektionskriterien. Zu
diesen Kriterien gehört aber nicht die Verwendung von Verbreitungsmedien.
Verbreitungsmedien bilden zwar die unerlässliche Voraussetzung, nicht aber ein Kriterium
der Zugehörigkeit zum System. Über Verbreitungsmedien findet das System die Grenzen
seiner Möglichkeit, an Kommunikation anzuschließen: Kommunikation, die nicht über
Verbreitungsmedien erzeugt wird, kann nicht zum System gehören. Der Umkehrschluss ist
aber unzulässig: Kommunikation, die über ein Verbreitungsmedium erzeugt wird, muss
keineswegs zwangsläufig massenmediale Kommunikation sein. Die bloße Verwendung von
Verbreitungsmedien bildet kein Selektions-, sondern lediglich ein Ausschlusskriterium.
Die Frage nach dem medialen Status des Internet wird immer wieder gestellt. Dass darauf
selten befriedigende Antworten gefunden wurden, liegt zu einem erheblichen Teil am
Missverständnis einer Identifizierung von Massenmedium und Verbreitungsmedium. Die
Frage, was für eine Art von Medium das Internet denn sei, kann, wenn man keine Identität
mehr zwischen Massen- und Verbreitungsmedien unterstellt, leicht beantwortet werden:
Buchdruck und Internet sind keine Massenmedien, so wenig wie UKW oder TCP/IP
Massenmedien sind. Vielmehr handelt es sich dabei je nach Perspektive um
Verbreitungstechnologien, die, sofern sie in Systeme einklinken (d.h. von Systemen gekoppelt
werden) sofort zu (Verbreitungs)Medien mutieren und in unmittelbarer Codenähe
»andocken«. (Ausführliche Erläuterungen hierzu folgen unten im Kapitel »Der Code der
Massenmedien«, S. 38ff.) Hier soll vorgeschlagen werden, Medien, die direkt am Code oder
in dessen unmittelbarer Nähe einklinken, als basale Medien zu bezeichnen. Da Luhmann die
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
einzigen Medien, bei denen auch er davon ausging, dass sie direkt am Code andocken, als
Erfolgsmedien bezeichnet hat, können wir also auch diese zu den basalen Medien rechnen.
Wenn man so ansetzt, gewinnt die Theorie eine auffallend klare Struktur, die helfen sollte, ein
neues Verständnis der Massenmedien zu gewinnen. Die strikte Unterscheidung zwischen
Verbreitungstechnologien, Verbreitungsmedien und den Massenmedien wird weitere
Unterscheidungen nach sich ziehen müssen, die teilweise nur kontextual abzufedern sein
werden: So werden Aussagen nach dem Muster, »das Fernsehen ist ...«, »das Radio ist ...«
oder »Zeitungen sind ...« mehrdeutig werden. Denn anders als in einem Großteil der
Medientheorie werden wir gezwungen sein, jeweils deutlich zu machen, ob jeweils
beispielsweise auf das Fernsehen als Technologie oder als Verbreitungsmedium oder als Teil
der Massenmedien Bezug genommen wird.
In diesem Zusammenhang fällt eine weitere Frage auf, der wir nachgehen werden: Wenn
systemtheoretisch gesehen die Massenmedien ein System bilden, lässt sich dann überhaupt
noch die konventionelle Differenzierung in einzelne Massenmedien (Fernsehen, Hörfunk,
Print, Radio etc.) halten, die ja seit jeher am jeweiligen Verbreitungsweg orientiert ist?
Gerade weil wir Luhmann darin zustimmen, dass die Massenmedien ein soziales Subsystem
darstellen, das sich wie alle sozialen Systeme anhand eines Codes ausdifferenziert, der auf der
basalen Operation »Kommunikation« aufsetzt, können wir nicht zugleich ernsthaft fragen, ob
es mehrere derartige Systeme geben könne – wie sehr auch der Begriff »Massenmedien«
grammatisch einen Plural nahe legen mag. (Luhmann hat dieses Problem beim »Bewusstsein«
übersehen und sprach ohne Erläuterungen immer gerne auch von »Bewusstseinen«. Aber über
einen Operationsmodus kann sich auch immer nur ein System ausdifferenzieren. Die
Subjektphilosophie hat dafür Figuren wie empirisches und transzendentales Bewusstsein
entworfen.) Eine so klare Feststellung, die besagt, die Massenmedien sind ein System, muss
aber nicht ausschließen, dass es auf andere Weise Sinn machen kann, dennoch eine Vielzahl
»von Massenmedien« zu unterscheiden: Vorausgesetzt, wir betrachten diese dann entweder
als eine nicht-systembildende oder aber als eine subsystembildende Differenzierung des einen
Systems der Massenmedien. Eine solche Unterscheidung ist legitim und sicherlich auch
sinnvoll, aber eben auch riskant, da die Rede etwa davon, dass Radio und Fernsehen
Massenmedien seien, sprachlich nahe legt, die Massenmedien seien nicht ein, sondern viele
Systeme. Ob aber die Differenzierung, die über codenahe Medien erzeugt wird, Subsysteme
(die dann ja über eine jeweils eigene Umwelt verfügen müssten) erzeugt oder eine nicht-
systembildende Differenzierung hervorruft, soll hier noch offen gelassen werden. Umso mehr
sollte innerhalb jeder systemtheoretischen Kommunikation stets eine sehr klare
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Kontextuierung angestrebt werden, die verdeutlicht, ob der Begriff Massenmedium auf das
übergeordnete System zielt oder auf eine Subdifferenzierung, die sich an Einzelmedien
orientiert.
Es liegt daher Nahe, in einer Theorie der Massenmedien etwas auszuprobieren, was auch
innerhalb einer allgemeinen Medientheorie Sinn machen könnte: eine starke interne
Differenzierung innerhalb von Systemen anzunehmen, die sich daran orientiert, welches
Medium gerade von welchen Prozessen direkt gekoppelt wird. Dann ließe sich fallbezogen
sagen: Innerhalb der Massenmedien finden Operationen statt, deren Selektivität zunächst
nicht an der Selektivität der Information ansetzt, sondern an der Kopplung des zur Mitteilung
dominanten Mediums: Werden als Mitteilungswege die Verbreitungsmedien Radio oder
Fernsehen oder Zeitung gewählt, so muss in der Folge die Selektion der Information dem
gewählten Medium folgen – und nicht umgekehrt. Wenn dem so ist, so dominiert eindeutig
nicht der (sinnhafte) Inhalt einer Kommunikation das Medium, sondern das Medium den
Inhalt. In einem noch eindeutigeren Sinne könnte übrigens »the medium« gar nicht »the
message« sein. Es lässt sich leicht zeigen, dass im Falle der Massenmedien genau diese enge
Orientierung am Medium der Fall ist: So bildet das bedeutendste Kriterium jeder
professionellen Fernseh-Nachrichtenredaktion medienadäquat immer die Frage: Haben wir
(bewegte) Bilder? Und nicht informationsbezogen: Ist diese Information zur Zeit die
Wichtigste? Das gilt sogar oder gerade für Opener. Die Wahl des »Fernsehens« als
Verbreitungsmedium entscheidet maßgeblich über die Auswahl der Inhalte. Das Fernsehen
aber braucht Bilder – the medium is the message. Ein entscheidender (McLuhanscher)
Aspekt, der Luhmann offensichtlich entgangen ist. (Luhmanns gelegentliche Anspielungen
auf McLuhan legen sowieso den Verdacht nahe, dass er dessen Theorie nicht wirklich
kannte.) An diesem Punkt wird ein erster Punkt erahnbar, der dazu führte, dass im Fortlauf
der Analyse bestritten wird, dass Luhmann die angemessene Differenz im Auge hatte, als er
den Code des Systems mit informieren/nicht informieren bestimmte.
Die Idee einer Subdifferenzierung entlang von Medien ist aber schon deswegen reizvoll, weil
sie den Medien innerhalb der Systemtheorie einen weit höheren Stellenwert einräumt − das
Medium kann sich so zunehmend als »Botschaft« (sensu McLuhan) zeigen. Mit Luhmanns
Erfolgsmedien (Geld, Wahrheit, Recht etc.) deutete sich zwar ein solcher Schritt an,
allerdings wirken diese Medien nicht differenzierend, sondern erhöhen lediglich die
Wahrscheinlichkeit einer Ausrichtung von Folgeoperationen an der systemdifferenzierend
wirkenden Systemcodierung. Erfolgsmedien koppeln den binären Code des Systems also in
der Funktion eines Attraktors, haben aber eben darum keine subdifferenzierenden Effekte.
Ihre Funktion besteht allein darin, gesellschaftliche Anschlussoperationen in Codenähe »zu
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
ziehen« (in Luhmanns Worten: zu motivieren und also wahrscheinlicher werden zu lassen):
Wenn der Richter darauf hinweist, dass es vor Gericht nur ums »Recht« gehe, so wird der
Anwalt diesem Attraktor folgen und nicht antworten: »Nein, ums Geld!« Und sein Mandant
wird sich dem anschließen, selbst wenn er auf eine hohe Entschädigungssumme hofft.
Man kann daraus ersehen, dass, wenn Medien differenzierend wirken sollen, es zwar
notwendig, aber nicht hinreichend ist, direkt am Code anzudocken. Verbreitungsmedien
gelingt also mehr als die bloße Kopplung und in eben diesem Sinne (und nur in diesem Sinne)
wird man davon sprechen können, dass es sowohl ein System der Massenmedien gibt, als
auch eine begrenzte Zahl einzelner Massenmedien. Der Konvention folgend, werden auch wir
sie nach den von ihnen direkt gekoppelten Verbreitungsmedien benennen und also von
Fernsehen, Radio und Zeitung etc. sprechen. Für den Leser entsteht als die Aufgabe, zu
unterscheiden, ob jeweils von einem Teilbereich der Massenmedien oder lediglich von einem
Verbreitungsmedien die Rede ist.
Um das System der Massenmedien medial differenziert beschreiben zu können, bedarf es
eines besonders sorgfältigen Umgangs mit der uns zur Verfügung stehenden Terminologie:
Immerhin werden Worte wie Radio, Fernsehen, Print nun vieldeutig und bedürfen daher
eindeutiger Marker. Ist das Radio ein Gerät bzw. eine Audiotechnik, die sich diverser
Übertragungstechnologien bedient (UKW, MW, LW, DAB, DRM, DVB-T, DVB-S etc.)?
Oder zielt die jeweilige Bemerkung auf das Radio als ausdifferenzierten, kommunikativen
Teilbereich innerhalb der Massenmedien? Ist das Internet eine Übertragungstechnologie, ein
eigenständiges Medium, ein neuer Fall von Massenmedium oder aber nur eine
Verbreitungstechnologie, die in einer nie da gewesenen Massivität verschiedene Medien
(Radiolivestreaming, Fernsehlivestreaming, Print, Chat, RSS, Flash etc.) miteinander
verschachtelt? Kommt es zu einer »multimedialen Integration«, die es angemessen erscheinen
lässt, von einem Verbreitungsmedium zu sprechen, das diverse andere Medien (Radio,
Fernsehen, Chat, Telephonie, Foren, Mailinglisten etc. ) koppelt? (Auch hier fällt auf: In der
vorliegenden Untersuchung geht es um »mediale Kopplungen«, nicht, wie im Falle der
Heidermedien, um »elementare«.)
Unübersehbar also, dass hier eine mediale Verschachtelung (sensu McLuhan) von
bemerkenswertem Ausmaß vorliegt. Für die Frage nach der Massenmedialität des Internet
entscheidend aber ist die Frage, wie wir bewerten wollen, dass das Internet über einen
Rückkanal von spektakulärer Datenbreite verfügt. Kommunikation kann hier beinahe jede
Form annehmen, auch die der Interaktion bzw. Rückkommunikation (Luhmann). Gerade der
Ausschluss breiter Rückkommunikation gilt aber mit gutem Grund nicht nur bei Luhmann als
für den Systemerhalt notwendiges Attribut massenmedialer Kommunikation. Auch die von
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Luhmann gegebene Definition geht davon aus, dass man von massenmedialer Kommunikation
nur sprechen könne, sofern die Marginalisierung von Interaktion/Rückkommunikation
ausreichend abgesichert wurde. Auch hier zeigt sich also die Stärke eines an McLuhan
angelehnten Konzeptes, die die Verschachtelung der Medien zentral stellt (d.h. die These,
dass Medien vor allem Medien enthalten), so dass es nicht zu einer statischen Betrachtung
kommen muss, sondern zu einer perspektivischen, verschachtelten: Das Internet lässt sich
danach nicht als ein Massenmedium, sondern als ein Verbreitungsmedium beschreiben, dass
in einem vorher unbekannten Ausmaß Medien verschiedenster Art verschachteln kann:
Interaktionsmedien (Chat, Telephonie, Foren, Mailinglisten etc.) wie auch »massenmediale
Medien«, allen voran Print, denen Radio und dann Fernsehen folgen. An diesem Beispiel lässt
sich auch das Verhältnis von Verschachtelung und Kopplung exemplifizieren: Im Internet
kommt es zu einer außerordentlichen Verschachtelung diverser Medien, die dann von
Interaktionssystemen (Chat, Email...), aber auch von den Massenmedien (Fernsehen, Print,
Radio) gekoppelt werden. Darüber darf nicht vergessen werden, dass das Medium nicht nur
die Botschaft in jenem Sinne ist, dass Medien Medien enthalten: Am Medium Internet wird
auch anschaulich, dass jede mediale Verschachtelung neue Medien erzeugt: Print im Internet
unterliegt völlig anderen Regeln als Print in Zeitungen. Das fängt schon beim
Aktualisierungszyklus an. Zeitungen sind gewissermaßen Nachrichten von gestern. Das kann
man im Internet so nicht machen. Und wer im Internet Fernsehen guckt, der klickt sich
vielleicht am Ende der Sendung, wenn die Inserts eingeblendet werden, mit Hilfe der von den
Sendern gegebenen Links zur Seite von Harald Schmidt, und von dort weiter zum neuen
Buch, landet so bei Amazon oder bei Ebay und erwirbt am Ende einen neuen Regenschirm,
nicht ohne darauf aufmerksam geworden zu sein, dass der Außenminister wiedereinmal keine
Verantwortung für die Fehler seines Ministeriums zu übernehmen bereit ist.
Beim Radiohören im Internet geht das alles dann noch schneller, denn da Radio ein orales
Begleitmedium darstellt, dass wenig Aufmerksam einfordert, kann sich die Aufmerksamkeit
des Hörers parallel anderem zuwenden, vielleicht den die Radioseite begleitenden Bildern und
Texten oder den im Player sich aufdrängenden Werbeeinblendungen, die die Kommunikation
dazu verleiten, in Kapriolen durchs Internet zu surfen. Das Internet ist also dadurch
ausgezeichnet, dass es in extremer Dichte und Diversität Medien verschachtelt, die spontan
gekoppelt werden können und damit sogar Schnellumschaltungen massenmedialer
Kommunikation auf Interaktion hin provoziert: eine Art von Medienhopping.
Das Internet funktioniert also wie von McLuhan vorhergesehen (Stichwort: elektronische
Netze) in einer Hinsicht tatsächlich wie unser Nervensystem, denn dieses verschachtelt
sämtliche Medien des Körpers – also vor allem die einzelnen (Sinnes)Organe, aber auch
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Zellen) – miteinander und bietet sie damit zur spontanen Kopplung an. Auf analoge Weise
sind Medien im »Netz der Netze«, also dem Internet verschachtelt. Auch hier ist also das
Medium die Botschaft (und nicht der zufällig angesurfte Link, die zufällig geschriebene
Mail). Im Internet zeigt sich so deutlich wie bei kaum einem anderen Medium die Wahrheit
des Slogans »the medium is the message«: Medien neigen offensichtlich zu einer Art
unaufhaltsamen Verwirklichung des in ihnen Angelegten, also des Möglichen: Die im Internet
angelegten Möglichkeiten werden auch Wirklichkeit. Es spielt also tatsächlich keineswegs die
größte Rolle, was es (inhaltlich) jeweils im Internet zu hören, zu lesen oder zu sehen gibt. Das
Medium Internet drängt in die Richtung, in und mit ihm zu hören, zu lesen, zu schreiben, zu
chatten und zu emailen etc.
Übrigens wird an dieser Stelle sichtbar, dass man das Internet nur schwerlich über
»Verlinkungen« bzw. »Links« wird definieren können. Denn abgesehen davon, dass man
dann nur vom WWW oder von XML/HTML-basierten medialen Bereichen (und nicht von
»dem Internet«) würde sprechen können, lassen sich gerade die interaktiven Bereiche des
Internet (Mail, Chat, Mailinggroups, Foren etc.) sowie die so genannten multimedialen
Bereiche (Streaming, Audio/TV On Demand, Onlinespiele etc.) nicht über Links verstehen.
Teilweise spielen Links dort überhaupt keine Rolle. Am allerwenigsten gehören alle im
Internet verwobenen Medien zu den Hypermedien. Internet ist nicht HTML/XML. Weit
unterschätzt sind auch Datenbankabfragen, die gerade bezogen auf Information eine nicht zu
überschätzende Rolle spielen und die keineswegs alle erst durch das Anklicken eines Links
aktiviert werden können und auch nicht immer zu neuen Links à la Google führen.
(Technische Stichworte wären hier SQL so wie die Scriptsprachen PHP, Pearl, Java etc.)
Medien verfügen also über eine Art Autokatalyse, die den Umschlag von Potentialität in
Aktualität förmlich zu erzwingen scheint: Man kann im Internet nicht deswegen Radio hören,
weil dort gerade gemeldet wird, dass der Kanzler in den Irak reisen wird. Man kann dort
Radio hören, weil es Radio gibt und weil es Internet gibt. Es musste geradezu so kommen. So
lautete denn auch eine der Prognosen McLuhans und sie ist eingetreten. Das dies alles
zustande kam, beruht nicht auf Entscheidungen oder Maßnahmen, die IBM oder Microsoft
getroffen hätten. (Bill Gates hat das Internet lange Jahr ganz falsch eingeschätzt und seine
Spürnase blieb damit weit hinter der von McLuhan zurück.) Das Internet kennt keine
Bestimmung, der zur Folge es demokratisch oder oligarchisch wäre. Obwohl natürlich die
Formatierungen, die Medien erzeugen, bestimmte Kommunikationsformen besser als andere
unterstützen. So hat McLuhan eindrucksvoll gezeigt, das Hitler am Fernsehen gescheitert
wäre und Stalin oder Castro sich diesem Medium geschickt angepasst habe. Und mit einer
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
rührseligen Geschichte über seinen Hund wäre damals Nixon am Radio auch gescheitert. Das
Fernsehen dagegen brachte die Tränen zum Rollen. Dennoch lässt sich nicht sagen: dass
Fernsehen ist demokratisch oder das Radio ist antidemokratisch. Richtig ist nur, dass
demokratische Präsidentschaftswahlen, gerade, wenn man sie (wie in Amerika) am
Personenkult festmacht, sehr viel besser vom Medium Fernsehen als vom Radio unterstützt
werden. Orale Medien, wie etwa das Radio, können hingegen auf sehr einfache und effektive
Weise von lautstark auftretenden, fanatisierenden Propagandisten für ihre Zwecke eingesetzt
werden, zumal, wenn diese (wie im Faschismus), an stammesgesellschaftlichen Vorstellungen
anzuschließen wissen.
Wenn sich aber die Mediennutzung in die eine oder andere Richtung entwickelt, so geschieht
dies nicht durch Korruption ihrer »an sich vollkommenen Natur« (»perfectio«). Beim Internet
so wenig wie beim Radio und beim Fernsehen.
Unterhaltung und Information
Viele Analysen der Massenmedien sind gegliedert nach den »Bestandteilen« Unterhaltung,
Kultur, Information, Bildung etc. Diese konventionelle Gliederung in Sektoren hat auch
Luhmann aufgegriffen, kam sie seiner Theorie der Systemcodierung doch einigermaßen
entgegen. Aber ein von Programmmachern und in der Alltagskommunikation üblicherweise
verwendetes Schema als wissenschaftliches Analyseraster zu verwenden, erscheint
fragwürdig. Im Folgenden sollen die Bestandteile dieses Rasters daher weder als
»Programmelemente« noch als »Programmbestandteile« behandelt werden, denn − so
alltagstauglich eine solche Klassifikation auch sein mag − sie ist weder analytisch noch
deskriptiv konsequent anwendbar. So wird heute jeder Journalist darauf achten, dass seine
Informationen nicht nur informieren, sondern auch unterhalten (Stichwort: Infotainment).
Jeder gut gemachte Beitrag liefert nicht nur Infos, sondern erzählt eine (unterhaltsame)
Geschichte. Diese Regel gehört zu den Grundlagen jedes journalistischen Handwerks.
Umgekehrt kann Unterhaltung ebenso bildend wie informativ sein. Bei diesen alltagsüblichen
Unterscheidungen handelt es sich also nicht um sinnvolle Gliederungen in
Programmbestandteile oder –sektoren, sondern um gewichtende Bewertungen von
Programmen, Programmstrecken und Programmelementen, weshalb man sie nicht als
Programmbestandteile, sondern etwa als Programmwerte bezeichnen könnte.
Eine solche programmwertende Zuordnung wird programmplanerisch von Programmmachern
eingesetzt, wenn sie an der Formatierung oder der Formatfüllung von Stundenuhren oder an
der Wochen-, Tages- und Sendestreckenplanung arbeiten. Hier und auch medienpolitisch
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
macht die Aufteilung des Programms in entsprechende Segmente, die im Wesentlichen den
genannten Programmwerten entsprechen, natürlich Sinn. Redaktionen können dann ihre
Platzhalter durch Beiträge »befüllen«, indem sie einzelne bestellte oder vorhandene
Programmelemente entsprechend ihrer Eignung als Bildungselement, Info-Element einsetzen
bzw. bewerten. So werden aus Programmformaten Sendungen. Hier treffen sich dann auch
glücklich die hier gemachten terminologischen Vorschläge mit der Programmrealität: Daher
der Vorschlag, von Formen auf Formatierungen umzuschalten (siehe auch dazu »Luhmann,
McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf www.autopoietische-systeme.de).
Dem kommt nebenbei entgegen, dass die Arbeit der Redakteure längst über die Orientierung
am Format-Begriff bestimmt wird (Bspw. »Format-Radio«).
Die an der üblich gewordenen Einteilung massenmedialer Kommunikation in die genannten
Sektoren geäußerte Kritik wird sich auch als relevant für eine Bestimmungen der binären
Codierung der Massenmedien zeigen, gerade, weil auch hier Abweichungen von Luhmann
notwenig werden. Die Frage lautet dann: Über welchen Code differenzieren sich die
Massenmedien gegenüber der Gesellschaft als Gesamtsystem aus?
23
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Zur Codierung der Massenmedien
Luhmann hat angenommen, der binäre Code, der zur Ausdifferenzierung der Massenmedien
als eines sozialen System führe, bestehe in der Differenz von informieren/nicht-informieren.
Eine Reihe von Argumenten spricht allerdings gegen diese These. Sie sollen in drei Gruppen
eingeteilt werden: An erster Stelle stehen Zweifelsgründe, die anzeigen, dass die Differenz
von informieren/nicht-informieren in keinem System jemals als Code würde greifen können.
Dies wird zu einer allgemeinen Kritik des von Luhmann verwendeten Informationsbegriffs
führen. Bei der Durchführung der Analyse des Informationsbegriffs sollen dann stets die
Massenmedien in Blick behalten werden, um auf diese Weise feststellen zu können, dass
deren Neigung zur Verbreitung redundanter Information bzw. zur Wiederholung von
Information einer basalen Selektivität folgt, die die Analyse direkt auf die Spur der Codierung
des Systems führt.
Basale Elemente und Systemcodierung
Wenn ein binärer Code die Differenz von informieren/nicht-informieren verwendet, so nutzt
er eines der drei basalen Elemente jeder Kommunikation, nämlich das Element
»Information«. Kommunikation besteht ja laut Luhmann aus der Einheit der drei Selektionen
»Information, Mitteilung und Verstehen«. Weil somit »Information« zu den
Grundoperationen jeder Kommunikation gehört, kann sie nicht negiert werden, denn, würde
sie negiert, so würde die Kommunikation sofort zum Stillstand kommen. Binäre Codes
hingegen – nomen est omen – besteht dagegen aus zwei Seiten (wahr/falsch, recht/unrecht).
Für sie gilt daher genau das Gegenteil: Codedifferenzierte Systeme können ihre Operationen
nur durchführen, indem sie oszillierend immer jeweils eine Seite des Codes bezeichnen und
damit die andere negieren: »A ist wahr (und nicht falsch).« »X ist rechtmäßig (und nicht
unrechtmäßig).« Daraus, dass in der Kommunikation immer die gesamte Trias von
»Information, Mitteilung und Verstehen« realisiert (»positiviert«) sein muss und Codes im
Widerspruch dazu immer eine Seite negieren müssen, ergibt sich, dass Information nicht als
Codeseite in Frage kommen kann. Bestandteile von Basisoperationen (also etwa von
Kommunikation) können nicht zugleich Bestandteile von Codes (Codeseiten) sein.
Information scheidet damit als Kandidat für Codes aus. Der Code der Massenmedien kann
folglich nicht »informieren/nicht-informieren« lauten.
Das sich daraus für seinen Codierungsvorschlag ergebende Problem hat Luhmann in »Die
Realität der Massenmedien« selbst in einer Fußnote angesprochen, und vorgeschlagen, es
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
über die Unterscheidung von Leitdifferenz und Code zu umgehen: In den Massenmedien (und
nur in den Massenmedien!) werde die Differenz informieren/nicht-informieren zur Reflexion
(dazugehörig/nicht-dazugehörig) verwendet, während sie in allen übrigen Systemen lediglich
als Leitdifferenz fungiere. Auch diese Lösung scheidet aber aus, denn sie ändert nichts daran,
dass es – wenn »informieren/nicht-informieren« einen Code darstellen würde – dem
Kommunikationssystem der Massenmedien möglich sein müsste, zu kommunizieren, ohne zu
informieren, denn gerade Codes greifen ja (im Gegensatz zu Leitunterscheidungen) laut
Luhmanns eigener Definition stets auf beiden Seiten der Unterscheidung. Wenn
Kommunikation die Basisoperation aller sozialen Systeme darstellt und Kommunikation
Information immer schon beinhaltet, so kann kein Kommunikationssystem diese
Unterscheidung reflexiv und exkludierend im Sinne Luhmanns verwenden. Wenn das
Rechtssystem etwas als »unrecht« (statt als rechtmäßig) deklariert, die Wissenschaft etwas als
»falsch« (statt als wahr) bezeichnet oder die Wirtschaft »Geld auszahlt« (statt Geld
einzunehmen), so wurde in allen diesen Fällen codekonform kommuniziert, gerade, weil in
allen diesen Fällen informiert wurde. Kein Kommunikationssystem kann aber kommunizieren
und zugleich »nicht informieren«. Wir können wir Luhmann allerdings auch nicht darin
zustimmen, dass die Unterscheidung »informieren/nicht-informieren« als Leitdifferenz
verwendet werden kann, obwohl Leitdifferenzen ja (weil sie exkludierend funktionieren)
nicht systemdifferenzierend wirken, weil sie (wie Luhmann gerne formuliert), offen lassen,
wie das System seine eigene Identität bezeichnet. Sie dienen ganz anders als Codes nur dazu,
das System erkennen zu lassen, dass etwas nicht Programm, nicht Thema etc. ist.
Beispielsweise mag Literatur/nicht Literatur eine gängige Leitdifferenz der Philologie sein,
gerade weil sie keinen Code bildet. Leitdifferenzen schließen nicht wie Codes ein, sondern
aus: Was keine Literatur ist, gehört eben nicht zur Philologie. Kommunikation über Falsches«
gehört aber sehr wohl zur Wissenschaft, so wie Kommunikation über »Unrechtes« zum
Rechtssystem gehört. Aber auch hier zeigt sich, dass nicht zu informieren keine Operation
sein kann − und zwar deshalb nicht, weil sie niemals Operation irgendeines
Kommunikationssystems sein könnte. Die Unterscheidung informieren/nicht-informieren ist
also nicht weder code- noch leitfähig. Hinzu kommt, dass da ihr jede
kommunikationsspezifische (thematische oder programmatische) Signifikanz fehlt. Beide
Seiten der Argumentation Luhmanns sind also schwerlich haltbar. Vielleicht hat Luhmann es
genau darum bei einer Fußnote belassen.
Was übrig zu bleiben scheint, wäre die Differenz im Sinne einer doppelten Selektivität zu
deuten, also im Sinne eines »Hierüber-informieren/hierüber-nicht-informieren«. Dann aber
könnte es sich erst Recht nicht um einen System-Code handeln, denn diese Unterscheidung ist
25
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
trivial, insofern sie für jedes soziale System im gleichen Ausmaß gilt, wodurch ausgeschlossen
wird, dass ein System sich durch Anwendung dieser Unterscheidung von anderen
unterscheiden könnte. Die Selektion von Information ist also immer ein hochselektiver
Prozess von Doppeldifferenzierungen und entsprechend nicht mehr steigerungsfähig. Jede
kommunikative Selektion muss aus einem potentiell unendlichen Angebot (Horizont) an
Möglichkeiten auswählen, was aktualisiert werden soll (und was nicht). Hinzu kommt, dass es
nicht weiterführen würde, wenn man diese Unterscheidung im Sinne der Auswahl dessen,
worüber informiert und worüber nicht informiert wird, deuten wollte: Denn genau die
Antwort auf diese Frage, über was informiert werden soll und über was nicht, hat ja der
jeweilige Code vorzubereiten. Denn, um entscheiden zu können, ob etwas kommuniziert bzw.
ob über etwas informiert werden soll (oder nicht), bedarf es nun mal der Kriterien und nicht
einfach der Frage: informieren oder nicht-informieren? So lautet beispielsweise die zentrale
selektionsvorbereitende Abfrage wissenschaftlicher Kommunikation: Spielt hier »Wahrheit«
eine zentrale Rolle? Beispiel Rechtssystem: Geht es primär um Recht oder Unrecht? Oder:
Könnten hier Zahlungen zustande kommen? lautet die Frage der Wirtschaft. Entlang der
Codes laufen also die Selektionskriterien, ohne die jedes System zum Stillstand käme. Die
Entscheidung, worüber informiert werden soll (und worüber nicht), kann aber sicher keine
Kriterien entlang der Frage »informieren oder nicht-informieren« entwickeln. Denn diese
Unterscheidung bzw. diese Frage gibt ja nicht die geringsten Hinweise auf die Gewinnung
möglicher Selektionskriterien. Folglich kann die Unterscheidung informieren/nicht-
informieren nicht zur Codierung sozialer Systeme in Anspruch genommen werden und kein
System kann sich auf dieser Basis von anderen Kommunikationssystemen unterscheiden.
An dieser Stelle lässt sich noch nicht erahnen, welche alternative Unterscheidung als Code
benannt werden könnte. Es sollen zunächst noch einige andere aufschlussreiche Argumente
gegen den von Luhmann benannten Kandidaten angesetzt werden, um einen
Alternativvorschlag unterbreiten zu können.
Zur Revision des Informationsbegriffs
Luhmann hat stets betont, dass Information etwas sei, das keine Wiederholung zulasse. Eine
Information, die sinngemäß wiederholt werde, sei keine Information mehr. Sie behalte zwar
in der Wiederholung ihren Sinn, verliere aber ihren Informationswert.
Wenn man genau hinschaut, so passt diese Darstellung kaum zu Luhmanns
Kommunikationsmodell, das ja aus der Trias von Information, Mitteilung und Verstehen
gebildet wird, denn dann kann keines dieser drei Elemente entfallen, ohne dass die
26
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Kommunikation als Ganze entfiele. Zudem müssen die drei genannten Selektionen synchron
auf mindestens zwei Seiten vorgenommen werden, die sich jeweils aufeinander beziehen.
Schon daher bedarf es zur Beobachtung von Kommunikation eines Beobachters zweiter
Ordnung, der nicht eine Seite (also alter oder ego) bei ihrer Selektion beobachtet, sondern
deren Synchronisation. Dennoch gilt: Würde auch auf nur einer Seite keine Selektion
stattfinden, so würde die Synchronisation gar nicht erst anlaufen bzw. sofort beendet. Das
wäre dann laut Luhmann aber schon der Fall, wenn alter zweimal die gleiche Information (die
ja dann keine mehr wäre) selegieren würde. In der Folge käme es also nicht zum Verstehen
und daher auch nicht zur Selektion von Sinn. Ohne Information keine Mitteilung und kein
Verstehen. Ohne Information also keine Kommunikation. Und ohne Kommunikation auch kein
(kommunikativer) Sinn. Somit kann nicht einmal Luhmanns These aufrecht erhalten werden,
wonach der Sinn erhalten bliebe, selbst wenn die Information verloren ginge. »Sinn« kann
also entgegen Luhmanns Darstellung im Falle der Wiederholung keineswegs bestehen
bleiben, da er kommunikativ in klarer Abhängigkeit zu »Information« steht. Ist Letztere nicht
gegeben, kann ersterer nicht gegeben sein. Luhmanns These zeigt sich hier also als
widersprüchlich. Seine Informationstheorie steht nicht im Einklang mit seinem
Kommunikationsmodell.
Wenn man diese Erkenntnis nun auf die Systemtheorie der Massenmedien bezieht, dann kann
man bemerken, dass die Unhaltbarkeit der These von der »Unwiederholbarkeit von
Information« bzw. der »Unverzichtbarkeit des Neuen, Unbekannten« in jeder Information
direkt relevant wird für Luhmanns Theorie der Codierung der Massenmedien. Denn in der
Folge entsteht ein weiterer Widerspruch, diesmal nämlich zwischen der
Unwiederholbarkeitsthese und der Annahme Luhmanns, dass der Code der Massenmedien
»informieren/nicht-informieren« laute. Dieser Widerspruch ist allerdings nicht logischer,
sondern sozusagen »empirischer« Natur und er ergibt sich daraus, dass unbestritten ein sehr
großer Teil massenmedialer Kommunikation aus Wiederholungen besteht. Selbst auf die
aktuellen Beiträge (etwa »News«) bezogen wird man nach kurzer Beobachtung feststellen
können, dass diese sich im Tagesverlauf (und darüber hinaus!) weit weniger ändern, weit
häufiger wiederholt werden als zumeist angenommen: Der Außenminister hatte sich gestern
schon bereit erklärt, die Verantwortung zu übernehmen, ohne es freilich zu tun. Auf der
heutigen Pressekonferenz hat er sich erneut dazu bereit erklärt (und es natürlich immer noch
nicht getan). Die Meldung ist identisch mit Ausnahme ihres »Zeitstempels«. Wenn solche
Fortschreibungsmeldungen wenigstens den vermuteten Erwartungen der Rezipienten
entgegenliefen und also zumindest einen schwachen Überraschungswert hätten − aber die
27
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Redaktion weiß, dass die Mehrzahl der Rezipienten weiß, dass der Außenminister natürlich
nicht die Verantwortung übernehmen wird. Niemand wird also überrascht sein. Man kennt
schließlich »seine« Politiker. Besonders aufschlussreich aber ist, dass die Massenmedien
gezielt diese Tatsache zu nutzen wissen; sie wissen, dass »die Masse« (der Rezipienten) sich
weit lieber bestätigt sieht als sich überraschen zu lassen. Und also bevorzugen die
Massenmedien in aller Regel Informationen, die etwas bestätigen, sich wiederholen und also
nicht überraschen. Reality-Soaps erzählen von dem, was man gestern selbst im Supermarkt
oder am Taxistand oder bei der Arbeit oder beim Hausputz erlebt haben könnte. Sie
präsentieren die Wiederholung des Alltags im Fernsehen. Das kommunikative Plus dabei
lautet: (fiktiver) Voyeurismus – anderen (fiktiv) in die Wohnung, ins Bad und ins Bett zu
folgen. Es geht weniger um Neuigkeitswerte, um Überraschungen als um die zuverlässige
Einhaltung von Schemen. Man möchte im Bad des Protagonisten nicht unbedingt von etwas
überrascht werden. Man möchte nur »lauschen«, dabei sein dürfen. Auf dem gleichen Prinzip
beruhen (Frauen)Zeitschriften. Man (man könnte versucht sein zu sagen: »Frau«) weiß, dass
da vieles nicht stimmen wird, konstruiert oder erfunden wurde. Es geht um den Einbruch in
die Privatsphäre, um das verbotene Belauschen, das Ausspionieren, also um die Einnahme der
Position eines Paparazzi, den man die Schmutzarbeit machen lässt. Und es geht nicht um
gänzlich überraschende, unvermutete Neuigkeiten. Der Prinz geht ohnehin immer fremd. Das
Supermodell badet sowieso immer oben ohne.
Die Kommunikation verrät, dass dergleichen, weil informativ defizitär, keineswegs als
langweilig eingestuft wird, sondern »realitätsnah« (was immer daran nun wieder der Reiz sein
mag). Seit Jahrzehnten verkaufen bekanntermaßen Boulevardblätter die 57jährige Hausfrau
aus Mainz als »Blondine« und erzielen damit enorme Auflagen.
Letztlich weiß man, warum die Massenmedien zu redundanter Kommunikation neigen: Sie
erzielen damit Quote, erreichen damit »Masse«. Redundante Kommunikation muss also direkt
an entsprechenden Selektionskriterien andocken. Aber welcher Art sind diese
Selektionsprozesse, die Redundanzen so wahrscheinlich werden lassen?
Redundanz und Information
Bevor auf diese Fragen näher eingegangen wird, sollte es sich lohnen, das Verhältnis von
Redundanz und Information noch ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen.
Bekanntermaßen kritisiert die so genannte »Medienkritik« Tag ein, Tag aus den geringen
(oder abnehmenden?) Informationswert massenmedialer Angebote. Die wissenschaftliche
Medientheorie neigt dagegen geradezu umgekehrt dazu, diesen Punkt zu übersehen. Nicht,
28
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
dass es die Aufgabe der Medientheorie wäre, einen Mangel an Information oder Bildung zu
beklagen. Aber in einer Hinsicht könnte es zumindest für Systemtheoretiker sehr
aufschlussrein sein, auf den in der Tat ausgesprochen geringen Informationsgehalt
massenmedialer Kommunikation zu achten, denn daraus lassen sich − wie bereits sichtbar
wurde − direkte Rückschlüsse auf die Systemcodierung ableiten.
Wenn wir uns also (a) nochmals kurz vergegenwärtigen, dass Luhmann Information auf
Differenzen mit Überraschungswert (Bateson: »a difference that makes a difference«)
einengt, was er so auslegt, dass sogar die Möglichkeit der Wiederholungen einer Information
logisch ausgeschlossen wird; und wenn wir dann (b) berücksichtigen, dass Luhmann den
systemdifferenzierenden, binären Code der Massenmedien in der Unterscheidung
informieren/nicht informieren meint erkennen zu können − so wird Luhmann wohl den
Großteil massenmedialer Kommunikation ausblenden müssen. (Das dies so war, dafür
spricht, dass Luhmann sich mehrfach offen dazu bekannt hat − z.B. in einem Interview mit
Radio Bremen 1997 −, dass er mit Ausnahme von Zeitungen die Inhalte der Massenmedien
kaum kenne, so gut wie nie fernsehe und auch keinen Fernseher besitze. Denn sonst hätte ihm
kaum entgehen können, in welchem Ausmaß Wiederholungen stattfinden. Obwohl er das
sicher auch den Tageszeitungen (also den Massenmedien) hätte entnehmen können.
Schließlich ist die Selbstreferenz der Massenmedien kaum zu überbieten.)
Die Theorie der Massenmedien erscheint nicht selten, als sei sie von vorneherein angelegt auf
die Verwendung des Rasters »Unterhaltung, Information und Bildung« (vgl. hierzu nochmals
oben S. 22. Die Zuordnung und vor allem die Gewichtung von Themen geschieht dann häufig
entlang dieses Rasters. Diese Zuordnungstendenz ist sicherlich eine Ursache dafür, dass
bestimmte Auffälligkeiten innerhalb der Theorie der Massenmedien kaum für Auswertungen
genutzt werden. Als Beispiel einer solchen Unterbewertung kann etwa mit Blick auf das
Radio das Phänomen »Musik« genannt werden. Ein klares Unterhaltungselement, dem als
Pop- und Schlagerphänomen sehr viel, als Element der Radiounterhaltung aber sehr wenig
analytische Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hingegen wandert das Augenmerk der Analysen
schnell auf jede Art von Wortbeiträgen (und natürlich auf Werbung). Musik wird vom
unmittelbar massenmedialen Geschehen abgespalten und analytisch unter dem
Phänomenbereich »Schlager« oder »Pop« behandelt. Dadurch gerät ein entscheidender
Gesichtspunkt aus dem Fokus, nämlich der: Musik als massenmediales Phänomen zu
beobachten, sei es als dominantes »Radiophänomen« oder als mosaikhaften »Videoclip«. Pop
und Schlager können unter wirtschaftlichen, künstlerischen, geschichtlichen etc.
29
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Gesichtspunkten behandelt werden, und auch dort sind sie Massenphänomen. Doch einer
großen Zahl von Untersuchungen (gerade innerhalb der »empirischen Forschung«) entgleitet
das Phänomen »Musik« als (Unterhaltungs)Element von Radio und Fernsehen (und
zunehmend: Internet) unter der Hand, weil sie es als »Kumulationseffekt« behandeln: Man
untersucht dann, wie es zur Kumulation einer derartigen Masse von Musik-Rezipienten und
Musik-Konsumenten kommen kann, ohne zu bemerken, dass man das »System der
Massenmedien« verwechselt mit der »Masse der Rezipienten«. Die »Massenmedien« lassen
sich aber nicht in »Rezipientenmassen« auflösen. Die Massenmedien sollten als dasjenige
System verstanden, dass Massenkommunikation produziert und nicht einfach nur: rezipiert.
Gerade auf Systemtheorie bezogen kann man aus dem Phänomen »Musik« daher eine Menge
Lehrreiches ableiten, gerade bezüglich des Informationsbegriffs, aber auch im Vergleich
Musik/Aktuelles lässt sich z.B. die Bedeutung ihres Unterhaltungswertes ablesen, zugleich
aber auch die Bedeutung von Störungen seitens der Umwelt (vor allem seitens des Rechts, der
Politik und der Wirtschaft).
Mediale und strukturelle Kopplung
Um zu verstehen, was es damit auf sich hat, werden wir einen kurzen, exemplarischen Blick
wenigstens in den deutschen Radiomarkt werfen. Auf den privaten Radiomarkt bezogen wird
man mit einer Schätzung von im Schnitt 60-80% Musikanteil pro Sendestunde ganz gut
liegen. Wenn das in der Abendschiene dann anders aussieht, so kommen hier vermehrt
Umwelteffekte zum Tragen. Denn ein bedeutender Grund für das veränderte Sendeverhalten
stellt z.B. der rechtlich abgesicherte so genannte »Bürgerfunk« dar. Nicht, dass dort keine
Musik gespielt würde, aber der Anteil kann deutlich verschoben sein. Es kann aber auch sein,
dass Radiosender anderen Verpflichtungen in den Abendstunden nachkommen, etwa um ihr
Tagesprogramm von »unliebsamen Quotensenkern« (Maß: mittlere Verweildauer, Reichweite
etc.) frei zu halten. Gerade solche Verschiebungen sind also analytisch sehr aufschlussreich
und sie widerlegen nicht, sondern bestätigen vielmehr die Bedeutung, die Musik für das
Radio hat. Denn wenn das Radio sozusagen mit seinen eigenen Erfolgsrezepten bricht, so
kann der Grund dafür regelmäßig in Störungen aus der Umwelt vermutet werden, etwa in
Form von Effekten einer strukturellen Kopplung der Massenmedien mit der Politik und dem
Recht. »Bürgerfunk« etwa ist gewissermaßen »Pflichtfunk«, politisch gewollt und rechtlich
abgesichert. Immer, wenn sich wirksame strukturelle Kopplungen finden lassen, kann man
gerade an ihnen lernen, welche Tendenzen sozusagen direkt dem Medium entspringen und
welche nicht. Schließlich würden Politik und Recht nicht versuchen müssen, Einfluss zu
30
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
nehmen, wenn das Medium schon von sich aus in ihre Richtung tendierte. Natürlich zielt die
Formulierung »direkte Tendenzen der Massenmedien« nicht auf so etwas Konkretes wie
Musik. Aber »der Fall Musik« lässt direkte Ziele sichtbar werden. Das entscheidende,
niemanden wirklich überraschende Ziel lautet offensichtlich, eine möglichst große Masse zu
erreichen. Denn diesem Ziel scheint im Radio nur weniges so sehr wie Musik entgegen zu
kommen. Nur die offensichtliche strukturelle Kopplung von Massenmedien und Werbung
(Wirtschaft) scheint hier als ernst zu nehmender Verzerrungsfaktor noch in Betracht gezogen
werden zu können. Schließlich erfordern Werbeaufträge den Nachweis entsprechender
Mediadaten. Und in diesen stellt natürlich die »Quote« eine beinahe alles entscheidende
Größe dar.
Um aber Medium und Kopplungseffekte sauberer trennen zu können, sollten wir uns das
Phänomen »Musik« noch etwas gründlicher anschauen. Musik bzw. Musikvideos werden im
Radio wie im Fernsehen also in einer eng geschnittenen Rotation gefahren, teilweise sogar in
einer so genannten »hot rotation« (also in einer engen Musikrotation, die nur Chartshits
aufnimmt, also aus nur ca. 400-800 Titeln besteht). Auffallend: Der Erfolg
(Quote/Hörerreichweite) derartiger Sender steigt nicht etwa an, wenn man sich »mehr Mühe
gibt« und seine Musik-Rotation breiter anlegt. Im Gegenteil: Er steigt in aller Regel, wenn
man noch enger fährt. Musiktitel und -videos wiederholen sich also oft nach nur wenigen
Stunden − und sind gerade dann besonders erfolgreich. Da lässt sich auch nichts mehr
optimieren, indem man möglichst viele »Überraschungswerte« einschiebt (also Nachrichten,
aktuelle Berichte etc.). Im Gegenteil, auch diese senken tendenziell gleichermaßen Quote (im
Fernsehen) wie Hörerreichweite (im Hörfunk). Redaktionen gehen davon aus, dass beinahe
alles, was Musik unterbricht, von einer großen Zahl von Rezipienten als »Ärgernis« bewertet
wird. Das wird dann auch zur Erklärung des ipod-Effekts herangezogen: Einfacher Mitschnitt
− keine Musikunterbrechungen.
Und weil gerade im Bereich des privaten Radios die Tendenz zunimmt, sich auf Musik
festzulegen, sieht sich hier unter anderem die Politik gefordert und versucht, mit Vorschriften
und über Regulierungsbehörden kanalisierend einzugreifen (Vollprogramme,
Frequenzvergabeverfahren etc.). Aber, wenn ein System, also etwa die Massenmedien, auf
derartiges reagieren, so zeigt dies nur: Dass sie auf dergleichen als auf eine »von außen«, also
aus der Umwelt, auf sie eindringende »Störung« reagieren. Solche Störungen entspringen
regelmäßig strukturellen Kopplungen.
Dies wird besonders gut sichtbar bei öffentlich rechtlichen Sendern. Dort sieht die Situation
zwar etwas anders aus, aber gerade hier wird besonders gut sichtbar, welche kaum zu
überschätzende Rolle strukturelle Kopplungen, vor allem als Kreuzkopplungen
31
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
(Politik//Recht/Wirtschaft) spielen. Öffentlich-rechtliche Sendeanstalten befinden sich in
einem besonders engmaschigen Netz aus rechtlichen Bestimmungen als erwünschte
Rahmenbedingungen und Kontrolle. So paradox es aber klingen mag: Was zunächst als
Einschränkungen erfahren wird, stellt zugleich eine ermöglichende Bedingung dar. Ob aus
Gebühren oder aus Steuergeldern finanziert: Ihren wirtschaftlichen wie rechtlichen
Rahmenbedingungen stehen vor allem politischen Erwartungen gegenüber, denen es
Rechnung zu tragen gilt. Öffentlich-rechtliche Unternehmen wissen, dass gerade diese
Restriktionen es sind, die überhaupt erst die Möglichkeit schaffen, massenmedial tätig werden
zu können. Hier verbinden sich also besonders gut sichtbar aus strukturellen Kopplungen
hervorgehende Einschränkung mit (vor allem: wirtschaftlicher) Ermöglichung.
Mediale und strukturelle Verschmierungen
Zusammenfassend kann man sagen, dass populäre Musik – als informationsschwache,
momentbezogene, rhythmisierende Kommunikation – gerade für re-oralisierende Medien
(wie das Radio im Sinne McLuhans eines darstellt) außerordentlich geeignet ist. Es ist daher
auf Grund der medialen Eigenschaften der Musik hochwahrscheinlich, dass
Radiokommunikation dazu tendieren wird, Musik zu kommunizieren. Wie sich die soziale –
vor allem wirtschaftliche und massenmediale – Bedeutung von Musik in einer Zeit verändert
hat bzw. noch verändern wird, in der Musikredaktionen »digital bemustert« werden, werden
wir in einem weiteren, in Kürze erscheinenden Essay, analysieren. Die Podcaster jedenfalls
haben ihr Geschäft längst begonnen.
Im und für das Fernsehen spielt Musik natürlich eine andere Rolle. Immerhin gilt auch hier,
dass dies keine Folge von Beschlüssen, Meinungen, Einstellungen oder Handlungen ist,
sondern zunächst durch eine ganz banale mediale Eigenschaft ausgelöst wird: Nämlich durch
die Tatsache, dass das Fernsehen der Bilder bedarf. Dabei ist das Fernsehen nur sehr entfernt
mit der Fotokamera und dem Diaprojektor medial verschachtelt, sehr direkt dagegen natürlich
mit der Filmkamera und dem Kino. Und eben weil dies so ist, kommen dem Medium
Fernsehen die extrem schnellen Schnitte der Videoclips sehr entgegen: auflösungsbezogen (in
McLuhans Worten: bezogen auf seinen immer noch mosaikhaften, weniger flächigen Aufbau)
ebenso wie bezogen auf die Betrachtungsperspektive. Auch oder gerade an diesen Punkten
unterscheidet sich das Fernsehen von den mit ihm verschachtelten Medien, etwa dem Kino.
Die »mediale Verschachtelung« führt aber auch immer zu Gemeinsamkeiten, was sich
exemplarisch darin zeigt, dass, weil schon der »Film« als Medium nach dem Schnitt als (Co-
)Medium »verlangt«, das Fernsehen nicht umhinkommt, sich des Mediums »Schnitt« zu
32
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
bedienen. Die gleiche Verschachtelung führt aber auch zu Verschmierungen, so dass im
Endeffekt ein geschnittener Film im Kino natürlich etwas ganz anderes ist als »derselbe« Film
im Fernsehen. Wäre dem nicht so, so würde die Geräteindustrie nicht seit Jahrzehnten an der
Auflösung der Fernseher »schrauben« und am Breitbildformat (16:9) arbeiten. Das ist
gemeint, wenn man davon spricht, dass bestimmten Medien Eigenschaften inhärieren, die
man von Verschachtelungseffekten wegen besagter »Verschmierungen« nie ganz sauber wird
trennen können. Zu einen Verständnis der Evolution der Medien kann allerdings die Theorie
medialer Verschmierung mehr beitragen als die der Verschachtelung. Diese Aussage stimmt
zumindest insofern, als einjedes Medium in seinem Zustandekommen von medialen
Verschachtelungen (also letztlich dem Bestehen vorgängiger Medien) abhängt; aber wenn
man nun fragt, was ein neues Medium »ist«, also, wie es sich letztlich ausbildet, so kann die
Antwort nur lauten: als Verschmierung. Neue Medien sind nicht einfach nur die Folge von
Verschmierungen – Medien sind Verschmierungen medialer Verschachtelungen. Diese
Aussage bildet beinahe so etwas wie den Inbegriff dessen, was wir mit »McLuhan-Medien«
zu bezeichnen vorgeschlagen hatten.
Nur dann, wenn man das, was McLuhan die Botschaft des Mediums nannte, also diese
medien-inhärenten Tendenzen und Eigenschaften, griffig darstellen kann, lassen sich unter
Umständen mediale Eigenschaften sauber von den durch »externe Störungen« verursachten
Eigenarten medialer Operationen unterscheiden. Terminologisch gesehen muss dabei beachtet
werden, dass alles, was aus der Umwelt eines Systems auf dieses eindringt, als »Störung«
beschrieben werden muss. Der Begriff der »Störung« ist also keineswegs auf »negative
Einwirkungen« festgelegt. Eine von der Wirtschaft freudigst begrüßte Steuerreform seitens
der Politik wird also genauso als Störung der Wirtschaft zu beschreiben sein wie eine von der
Wirtschaft auf das Heftigste abgelehnte. Wenn man so ansetzt, dann kann man auch
»strukturelle Kopplung« als Störfall begreifen. Das hat große Vorteile hinsichtlich einer
Theorievereinheitlichung, da sich strukturelle Kopplung so doch griffig definieren lässt als
jener Sonderfall einer Störung, bei der Systeme interne Störungen als aus der Umwelt)
bezogene »(Stör-)Leistungen« verrechnen. »Leistungsverrechnung« meint, dass immer dann,
wenn Systeme einander strukturell koppeln, die daraus hervorgehenden Störungen vom
fokalen System (A) als Inputs seitens des gekoppelten Systems (B) behandelt werden, so als
würde System B Kommunikationen produzieren und System A würde diese als »fertige«
Leistungen nur importieren. Gekoppelte Systeme behandeln sich also als gegenseitige
Leistungserbringer, die Informationen austauschen, indem sie sie von jeweils einem System
in das andere kopieren. Bei dieser Darstellung sollte beachtet werden, dass es nicht die
Systemtheorie ist, die davon ausgeht, dass ein solcher Leistungsbezug per
33
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Übertragung/Import real stattfindet. Die Theorie behauptet nur, dass gekoppelte Systeme sich
so behandeln, als ob dies so wäre. Die Systeme »sehen« das so – und die Systemtheorie stellt
dies nur fest. Beispielsweise verrechnet das Rechtssystem Gesetzgebungen als Leistungen
seitens der Politik; die Wirtschaft verrechnet ihre rechtlichten Rahmenbedingungen jeweils
als Leistung des politischen bzw. des Rechtssystems, während die Politik das
Zurverfügungstellen von Geld als wirtschaftliche Leistung verrechnet etc.
Gerade, wenn man sich wissenschaftlich neutral verhalten möchte, so wird man nicht umhin
kommen, jede Leistungsverrechnung als durch Störung zustande gekommen zu betrachten.
Der negative Beiklang des Begriffs »Störung« entfällt also und mit ihm die Unterscheidung
von negativen und positiven Störungen. Leistungen sind also keine objektiv in der Welt
vorzufindenden Tatsachen, sondern Produkte gegenseitiger Zurechnungen. Übrigens kommt
es auf analoge Weise auch dazu, dass Systeme Kommunikationen als Mitteilungen,
Äußerungen, sprachliche Darstellungen etc., sprich: als eine Leistung verrechnen, die in einer
weiteren Zurechnung als von Individuen, Menschen, Personen oder Bewusstseinen erbracht
verrechnet wird. Das Besondere an diesen Fällen ist ja nur, dass es hierbei nicht mehr um auf
Code-Ebene, sondern schon auf basaler Ebene unterschiedene Systeme geht
(Kommunikation/Erleben/Leben). Menschen, Personen und Individuen werden erzeugt,
indem man den Wechsel der Basisoperation mit zusätzlichen Adressierungsoperationen
verschleift. Im Falle von »Menschen« kommt dann noch hinzu, das Systemgrenzen mit
Latenz versehen werden müssen, so dass sich in der Beobachtung Einheiten aus biologischem
System (Körper) und psychischem System (Erleben) bilden lassen. Selbstverständlich gibt es
auch Personenbegrifflichkeiten – etwa im Recht – die umgekehrt und von Anfang an mit
Bezügen auf »den Menschen« verschliffen wurden. Stichworte wären hier Würde und
Unversehrtheit.
Die oben nur kurz angesprochenen »inhärierenden Eigenschaften« der Medien wurden an
anderer Stelle ausführlich erörtert. Dort wurde zugleich auch von der Terminologie
»inhärierende Eigenschaften« Abstand genommen und als Ersatz der wissenschaftlich sehr
viel besser handhabbare Begriff des Formats vorgeschlagen. (Siehe hierzu auch »Luhmann,
McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf www.autopoietische-systeme.de.)
Wir können Bezug nehmend darauf jetzt also ohne Umschweife davon sprechen, dass Medien
im Falle sozialer Systeme »die Kommunikation«, im Falle psychischer Systeme »das Erleben«
formatieren.
Zu den erörterten Verschmierungseffekten kommen natürlich noch andere, verkomplizierende
hinzu. So sind viele Versuche, mittels struktureller Kopplung Einfluss zu nehmen, Versuche,
34
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
bereits bestehende Kopplungen »zu korrigieren«, weshalb innerhalb sozialer Systeme beinahe
alle Kopplungen als Kreuzkopplungen (d.h. als ihrerseits »verschmierte Kopplungen«)
wirken. Es ist ja nicht so, dass ein System eine Kopplung von allen anderen isoliert
»abarbeitet«. Selbst die seit dem Buchdruck verstärkt nachweisbare Serialisierung von
Wahrnehmung und Kommunikation konnte dies nicht bewirken. Im elektronischen Zeitalter,
dem Zeitalter sekundärer Oralisierung und undurchdringlicher Vernetzung, kann dann schon
gar keine Rede mehr davon sein. Strukturelle Kopplungen lassen sich also nur analytisch
voneinander isolieren. Auf operativer Ebene mögen Systeme versucht sein, Kopplungen
artifiziell »nach-zu-serialisieren«. Faktisch handelt es sich dabei aber um eine Post-
Serialisierung, also um Artefakte von Rationalisierungsoperationen.
De facto haben sich die Massenmedien den über (Kreuz)Kopplungen auf sie eindringenden,
völlig ineinander verwobenen, widersprüchlichen Tendenzen aus Wirtschaft, Religion, Kunst,
Recht und Politik etc. zu stellen. Man kann dennoch begrenzt zwischen medialer Tendenz und
Kopplungseffekten unterscheiden, denn – wie verschmiert auch immer
Medienverschachtelungen und Kopplungen sein mögen – in einem analytisch durchaus
relevanten Umfang lassen sie sich gegen mediale Formate filtern. Die Verschmierung
aufzuzeigen und zugleich Formate zu filtern (wo immer dies möglich sein könnte), war eines
der Hauptanliegen McLuhans. Auf diesen Punkt bezogen kann jede Medientheorie noch heute
von ihm lernen. Es wurde bereits angedeutet, das rechtliche Verpflichtungen, politische
Steuerungsversuche und wirtschaftliche Nebenmotive erkennbar werden lassen, dass im
Medium der »Massenmedien« gegeneinander gerichtete Tendenzen aufeinander treffen.
Beispielsweise findet sich in Europa neben den privaten Sendeanstalten auch ein sehr starkes
öffentlich-rechtliches Profil, das mit klaren politisch-rechtlichen Zielvorgaben ausgestattet
wurde und deren Einhaltung man als derartig gefährdet ansieht, dass man ihnen flankierend
eine ganze Schar von beratenden, prüfenden und genehmigenden Kontrollmechanismen zur
Seite gestellt hat, vor allem in Form von Gremien, Kommissionen und Räten. Dabei wird
versucht, zwei fast schon entgegengesetzte Ziele zugleich zu erreichen: Öffentlich-rechtliche
Sender (die sich in der EBU zusammengeschlossen haben), sollen einerseits die nötige
Rückendeckung erhalten, um in ihrer Programmgestaltung vor allem von den Folgen
wirtschaftlicher und politischer Kopplungen möglichst frei gehalten zu werden; andererseits
aber wird die Parole ausgegeben, umgekehrt müsse die Wirtschaft vor Wettbewerbsnachteilen
gegenüber den teils mit Gebühren, teils mit Staatsmitteln geförderten Sendern geschützt
werden (Wettbewerbsrecht). Ein diffiziles Unterfangen also, da Systeme derartige
Widersprüche als Paradoxien (paradoxe Anforderungen) verarbeiten und versuchen werden,
sie mit einer hochrhetorischen (statt sachhaltigen) Kommunikation abzufedern. (Das
35
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
politische System kennt gar keine andere Form von Kommunikation. Man hat es dort einfach
zu vielen Recht zu machen und wenn nicht das, so sind die Ziele zu radikal, um auf die
Vollrhetorik der Propaganda verzichten zu können.) Dringen derartig widersprüchliche
Anforderungen auf die Massenmedien ein, so kann die Programmgestaltungen in das
Dilemma geraten, die vorgegebenen Zielvorgaben erreichen zu müssen, ohne dabei
bestimmte, besonders zweckgerechte Segmente nutzen zu dürfen, weil diese der Konkurrenz
aus wettbewerbsrechrechtlichen Gründen vorbehalten bleiben sollen. Faszinierend ist dabei
aber vor allem, dass auch paradox erscheinende Kopplungsresultate erzielt werden können:
So kann die Einschränkung des Umfangs struktureller Kopplungen des politischen Systems
mit den Massenmedien ausgerechnet vom politischen System gewollt sein (Politisch gewollte
politische Unabhängigkeit). Ein nur scheinbares Paradoxon, das sicherlich besonders
aufschlussreich für jede Theorie struktureller Kopplung ist, hier aber leider nicht weiter
verfolgt werden kann.
Information, Schleifen und Kommunikation
Zurück zu dem von Luhmanns Informationsbegriff hervorgerufenen Dilemma von
Information und Redundanz. Es wurde bereits auf die große Bedeutung der Musik für die
Massenmedien hingewiesen und darauf, dass Musik zu senden heißt, Wiederholungen und
Schleifen zu senden. Viele Musiktitel laufen mehrfach am Tag und morgen sowieso wieder.
Zudem ist ein beachtlicher Teil der Musik schon als Schleife komponiert worden, ist
sozusagen Wiederholung-in-sich, z.B. in Form verschleifter Strophen und Refrains.
Volksmusik, Popmusik aber auch große Teile der so genannten E-Musik bestehen geradezu
aus einer Verkettung derartiger Wiederholungen – lyrisch wie instrumentell. Es gibt natürlich
auch hochkomplexe Schleifen, etwa die Fuge. Wenn Luhmanns Informationsbegriff aber
Wiederholbarkeit ausschließt, so wird man zu dem Schluss gelangen müssen, dass überaus
bedeutende Teile der Massenkommunikation aus der Sicht Luhmanns keine Informationen
beinhalten und somit gar keine Kommunikation wären. Wenn Luhmanns Informationsbegriff
auf der einen Seite keine Wiederholungen zulässt, Kommunikation auf der anderen Seite aber
Information voraussetzt, so muss dieser prominente Bereich der Massenkommunikation »aus
der Theorie herausfallen«. Sollen wir also annehmen, dass die erste Strophe bzw. der erste
Refrain eines Musikstücks kommuniziert werden kann, die zweite Strophe und der zweite
Refrain aber nicht, weil es sich bei ihnen nur um Wiederholungen handelt? Gerade im Fall
der Massenmedien führt ein derartiges Theoriedesign in eine Theoriekatastrophe, sobald wir
es konsequent auf die Massenmedien rückbeziehen und uns die z.B. Musikschleifen vor
36
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Augen führen, die (in Form von Programmschleifen) einzelne Musikstücke tagtäglich
rotieren. Schließlich jagt hier eine Wiederholungen die andere. Eine mögliche Konsequenz
daraus lautet: Luhmanns Informationsbegriff bedarf einer Revision, da er sich nicht für ein
Verständnis von Musik, Floskeln und Routinen eignet oder – allgemeiner formuliert – weil er
den Phänomenbereich »kommunikativer Redundanz« nicht unterstützt. Es ist erwartbar, dass
ein systemtheoretisch angemessenerer Informationsbegriff Redundanzen − zu denen eben
auch Floskeln, Rituale, Smalltalk, Tratsch und Klatsch gehören − eher eine Zentralstellung
würde einräumen müssen, statt umgekehrt Wiederholungen als Ausschlusskriterien zu
positionieren. Innerhalb der Medientheorie, gerade bezogen auf elektronische Medien und die
damit verbundenen Oralisierungs- und Tribalisierungseffekte, hatte McLuhan Möglichkeiten
einer Zentralstellung von Redundanz aufgezeigt: Der Papst ist auch nach fünf Stunden immer
noch tot und der Kanzler immer noch in Washington und die Hochzeit von Camilla und
Charles steht schon seit drei Tagen bevor. Dennoch wird dies in den Nachrichten verkündet.
An Neuem erfahren wir also selbst in den Nachrichten wohlmöglich nicht viel mehr, als dass
für Camillas und Charles' Hochzeit inzwischen die Bestuhlung vorgenommen wurde, was
aber auch von jedermann so erwartet wurde und daher niemanden überrascht. Wenn man
dennoch nicht bereit ist, den systemtheoretischen Informationsbegriff von den Vorstellungen
zu lösen, Information sei unwiederholbar und müsse überraschen, so wird man neben Musik
unzählige der bedeutendsten massenmedialen Inhalte nicht mehr als Kommunikation
behandeln können. Ein Desaster für jede Medientheorie.
Wenn Luhmann davon spricht, dass Wiederholung und Information einander ausschließen, so
kann die Konsequenz nur lauten, dass Wiederholungen einen sofortigen Informationsstopp
darstellen müssten und sich nicht bloß graduell auswirken. Somit bleibt sogar der Ausweg
verschlossen, Wiederholungen als bloße Informationsreduktionen einzustufen. Mit Luhmanns
Diktum verbunden ist aber noch ein weiteres logisches Problem, nämlich die Frage: Wie soll
man überhaupt erkennen können, dass es sich um die Wiederholung einer Information
handelt, wenn ihre Wiederholung gar nicht als Information auftritt? Wie kann eine
Information mit ihrer Wiederholung überhaupt abgeglichen werden, ohne dass dazu die
Wiederholung zunächst als Information verarbeitet werden müsste? Um InformationA mit
InformationB vergleichen und als identisch (sprich: als Wiederholung) bezeichnen zu können,
müssten ja beide zunächst einmal unvermeidlich als Information verarbeitet werden. Identität
ist systemtheoretisch gesehen ja keine vorliegende Eigenschaft, keine gegebene Qualität,
sondern Resultat eines (Vergleichs)Prozesses. Das hieße dann wiederum in logischer
Konsequenz, dass kommunikationstheoretisch Wiederholungen, um als solche beobachtet
werden zu können, immer zunächst als Information auftreten müssen. Wenn man
37
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Informationen mit Bateson als Differenzen, die einen Unterschied machen, verstanden wissen
möchte, systemtheoretisch ausgedrückt also als »Operationen, die Struktureffekte hinterlassen
und damit Systemzustände nachhaltig ändern« (wodurch z.B. ein Gedächtnis ermöglicht
wird), dann hieße das, dass im Falle einer Wiederholung eine Kommunikation, die bereits
stattgefunden hat, in einem Nachtrag revidiert und so behandelt werden müsste, als hätte sie
nie stattgefunden (natürlich nur, sofern man Luhmanns Wiederholungsdiktum akzeptiert).
Eine sehr zweifelhafte, ressourcenfressende Lösung, die mit Klatsch & Tratsch, mit geselliger
Kommunikation (Konversation), mit Floskeln und Ritualen etc. schwerlich in Einklang zu
bringen sein dürfte. Da oben aber bereits dafür plädiert wurde, Luhmanns
Kommunikationsbegriff (also die Trias: Information, Mitteilung und Verstehen) unangetastet
zu lassen, bleibt als Alternative nur noch die Möglichkeit, seinen Informationsbegriff für
revisionsbedürftig zu erklären und Information im Folgenden als etwas aufzufassen, das auch
Wiederholungen zulässt (wenn nicht forciert!).
Der Code der Massenmedien
Aus den bisherigen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass, solange soziale
Systeme aus der Umwelt der Massenmedien diese nicht entsprechend »stören«, letztere
offensichtlich dazu tendieren werden, Überraschungswerte gegenüber Wiederholungswerten
abzusenken: Es überwiegen nun Mal Wiederholungen, minimale Informationsvarianten,
Klatsch & Tratsch, Musik etc. Das widerspricht zweifelsfrei der von Luhmann
angenommenen Systemcodierung. Für die hier vorgenommenen Überlegungen sollte es also
an der Zeit sein, darüber nachzudenken, inwiefern die Tendenz der Massenmedien, den
Informationsgehalt zu senken statt zu erhöhen, als Hinweis auf die Erfüllung basaler
Selektionsanforderungen gedeutet werden kann. Lassen sich basale Selektionsanforderungen
formulieren, die mit der Hypothese konvenieren, derzufolge Redundanzen
(Wiederholungen/Reduktionen von Überraschungswerten) bevorzugte Kommunikationswerte
des Systems der Massenmedien darstellen? Mit Hilfe einer Zusatzhypothese kann man einer
Antwort sicherlich schnell näher kommen: Nehmen wir also zusätzlich an, dass sich dieses
Wiederholungen favorisierende Systemverhalten als unmittelbare Folge des Versuchs einer
Erfüllung codierungsnaher Funktionen ergibt. Binäre Codes stellen ja logische
Gegensatzpaare dar, denen sämtliche Sinnselektionen jeweils eines (und nur eines)
bestimmten Systems untergeordnet sind: Was immer im Rechtssystem kommuniziert wird −
es muss einen sehr engen Bezug zum basalen Code recht/unrecht als Dachdifferenz nahe
legen. Was immer in der Wissenschaft kommuniziert werden mag − es muss einen sehr engen
38
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Bezug zur Dachdifferenz wahr/falsch sichtbar werden lassen. Drehen wir den Spieß also um,
und fragen: Von welcher Art müsste die Codierung der Massenmedien sein, so dass dieses
System die Tendenz zur Wiederholung, Trivialisierung sowie zur Absenkung des
Informationsgehalts entwickeln würde? Die Frage beantwortet sich eigentlich von selbst und
die im Folgenden gegebene Antwort darauf wird durchaus von einem Großteil der
Medientheorie unterstützt: Ein mit geringen Überraschungswerten und Wiederholungen
besonders leicht zu erreichendes Ziel besteht darin, eine möglichst große (Rezipienten)Masse
zu erreichen. Systemtheoretisch gewendet kann man dann sagen: Das symbolisch
generalisierte Kommunikationsmedium der Massenmedien lautet: Masse erreichen. Der
dazugehörige binäre Systemcode lautet folglich: Masse erreichen/Masse nicht erreichen.
Wir können diese Idee jetzt durchspielen und annehmen, dass Massenmedien ihre
Operationen danach unterscheiden, ob es mit ihnen gelingen könnte, Masse zu erreichen oder
eher nicht zu erreichen. Systemtheoretisch lassen sich somit Massenmedien als dasjenige
System definieren, das erstens »Masse« zu erreichen sucht (nomen est omen). Das sich
zweitens dadurch auszeichnet, dass es zugleich als System und als Medium (der
Kommunikation) wahrgenommen wird und das drittens enger als jedes andere soziale System
mit Verbreitungsmedien verschachtelt ist (um Masse erreichen zu können).
Beobachtungslogisch gewendet kann man auch davon sprechen, dass mit »die
Massenmedien« dasjenige System bezeichnet wird, das sich auf die Beobachtung seiner
Beobachter (also der Rezipienten) spezialisiert hat sowie auf die Steigerung der Quantität
dieser Beobachter. Für alle anderen sozialen Systeme gilt zwar ebenfalls, dass sie ihre
Beobachter beobachten. Sie sind aber weder darauf spezialisiert, noch lässt sich annehmen,
dass soziale Systeme grundsätzlich an einer Steigerung der Anzahl ihrer Beobachter
interessiert sind. Übrigens wird hier ersichtlich, dass und warum Massenmedien in eine
systemspezifische Paradoxie geraten müssen: Wenn man generell von möglichst vielen
Beobachtern beobachtet werden möchte, ohne jemanden von vorne herein ausschließen zu
können, so wird es schnell brenzlig, weil die Verbreitung bestimmter Informationen bei
manchen Beobachtern den Versuch auslösen könnte, das System aus seiner Umwelt heraus
nachhaltig zu stören: Die Tageszeitungen informieren über die miserable Lage der
Zeitungsverlage, obwohl sie wissen, dass diese Meldung die Annoncen schaltende
Werbewirtschaft zusätzlich negativ beeinflussen könnte. Oder man berichtet über das
grausame Massaker im eigenen Land, ruft aber damit die Pressezensur auf den Plan. Die
Massenmedien verfügen also nicht über ausreichende Exklusionsmechanismen: Es gibt keine
Möglichkeit, alle zu informieren – nur nicht die Politik. Es lässt sich nicht vermeiden, dass,
was alle anderen erfahren, auch die Wirtschaft erfährt. Aber selbst, wenn es
39
Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Exklusionsmechanismen gäbe, so stünden sie im Widerspruch zu dem basal codierten
Anspruch, die Zahl der Beobachter zu maximieren. Bei dieser Gelegenheit sei am Rande
vermerkt, dass die Kommerzialisierung vor allem des Rundfunks (Fernsehen/Radio) sowie
des Internets durchaus Exklusionsmechanismen aufweist und zur Zeit sogar verstärkt. Wenn
Zugänge zugleich digital verschlüsselt und für viele finanziell unerschwinglich werden (Pay
TV), so kommt es natürlich in einem anderen Sinn zu Exklusionen.
Um Missverständnissen zuvor zu kommen, sollte die Aussage, die Massenmedien verfügten
nicht über Exklusionsmechanismen eingeschränkt werden. Es existieren nämlich sehr wohl
Exklusionsmechanismen – aber eben keine spezifizierenden, also keine, die es zulassen
würden, gezielt einzelne soziale Systeme temporär von der Kommunikation auszuschließen:
Man kann das Religionssystem nicht auffordern, jetzt nicht hinzuhören und man kann ihm
Kommunikation auch nicht auf Dauer mit einem »Trick« vorenthalten. Gleichzeitig scheint
die (post)moderne Gesellschaft insgesamt eher zur Verstärkung von Exklusionen zu neigen:
Der eine Teil der Gesellschaft verfügt z.B. über hervorragende Sozialnetze und
Gesundheitssysteme; der andere Teil verhungert in der Wüste oder verelendet in den Favelas
Lateinamerikas. Diese aus der Geschichte allzu bekannten extremen Gegensätze (reich/arm;
mächtig/ohnmächtig) scheinen global gesehen wieder auf dem Vormarsch, aber gerade, wer
sie ernst nimmt, der wird darauf stoßen, dass sich der Grad dieser Exklusionen gegen jede
Form wissenschaftlicher Erklärungen spreizt. (Luhmann hat Ansätze zu einer Erklärung zwar
bereits in »Jenseits von Barbarei« sichtbar werden lassen, schränkt aber selbst ein: »Zur
Überraschung aller Wohlgesinnten muß man feststellen, daß es doch Exklusionen gibt, und
zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der
einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder
herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in den Siedlungen, die die
Stillegung des Kohlebergbaus in Wales hinterlassen hat, kann davon überzeugen. Es bedarf
dazu keiner empirischen Untersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar
in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.«)
Zu guter Letzt dürfte die aktuelle »Kapitalismusdebatte« (2005) in Deutschland ebenfalls ein
Reflex auf die Zunahme von Exklusionstendenzen sein. Politische Parteien, deren Weltbild
noch vom Liberalismus des 18. Jahrhunderts geprägt zu sein scheint, haben hier natürlich
einen unvermeidlichen blinden Fleck. Liberal bzw. Liberalismus zielt hier ja beinahe
ausschließlich auf die »Freiheit der Wirtschaft« und den daran geknüpften naiven Glauben,
wenn man die Wirtschaft nur ausreichend in Ruhe lasse, werde sich alles andere von alleine
zum Besten wenden. Auf der anderen Seite stehen Parteien, die diesen Märchenglauben,
wenn nicht abgelegt, so doch längst mit massiven Einschränkungen versehen haben, z.B. weil
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
sie erkannt haben, dass es neben der Wirtschaft noch andere bedeutende soziale Systeme gibt
und dass diese sich sowieso und unvermeidlich gegenseitig mit Störungen versorgen. Die
angesprochenen »spätkapitalistischen Tendenzen« lassen sich aber mit den der Politik zur
Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln weder zureichend analysieren noch irgendwie
»mildern«: Man kann die Wirtschaft zwar »pieksen«; man kann ihr aber nicht vorgeben, wie
sie darauf reagieren soll. Man kann sie also zwar stören – aber mit Störungen kann man nicht
steuern. Die Politik verfügt zur Zeit − wenn die Überspitzung erlaubt ist − kaum über mehr,
denn diejenigen Instrumente, die noch im Hinblick auf Nationalökonomien geschaffen
wurden (Gewerkschaften, Zins- und Abgabenpolitik und dergleichen mehr). Im globalen Dorf
können diese aber zunehmend nicht mehr greifen: Jede politische Forderung versteht die
globalisierte Wirtschaft als Aufforderung, sich umzusehen, wo weniger gefordert wird. Jeder
Streik wird mit dem Versuch beantwortet, an Standorte zu wechseln, wo weniger schnell
gestreikt wird. Dies zeigt aber nicht nur die Hilflosigkeit, mit der politische
Steuerungsversuche innerhalb der global village geschlagen sind. Dies zeigt mindestens
ebenso deutlich die Naivität des liberalen Glaubens, die Wirtschaft sorge am Besten für die
Beförderung des Gemeinwohls, wenn man sie weitestgehend in Ruhe lasse. Das Medium der
modernen Wirtschaft ist nun mal das »Geld«. Und bisher ist es noch niemandem gelungen, im
Steuerungsmechanismus »Geld« ein verstecktes Telos nachzuweisen, das von sich aus
sozialpolitische Tendenzen aufweisen würde, und man sollte glauben, dass allenfalls einige
Ökonomen und Philosophen des 18. Jahrhunderts das anders hätten sehen können. Wirtschaft
wie Wirtschaftspolitik kommen heute nun Mal nur noch als Weltwirtschaft und Weltpolitik in
Betracht. Kein Land kann heute noch seinen eigenen Weg gehen. Das war – vor allem auf
Grund der schon sehr früh globalisierten Finanzmärkte – teilweise zu Stalins Zeiten schon so.
Systemtheoretisch gesehen kommt es also zu diesem Desaster u.a., weil Exklusion die
Kehrseite der Globalisierung ist: Mechanismen, die komprimierend wirken (allen voran also
die elektronischen Medien), können offensichtlich nur alles mit allem verbinden, wenn sie
vieles dabei ausschließen: Wenn Hollywood überall ist, so wird man auch kaum um Coca
Cola herumkommen können. Wenn Gesellschaft Weltgesellschaft ist, so kann sich kein
Weltteil mehr einfach zurückziehen. Niemand kann sich ausschließen − aber große Teile
können umso leichter ausgeschlossen werden. Wenn das Gesundheitssystem zu teuer wird,
dann werden eben immer weniger von ihm profitieren können. Ist das die Kehrseite der
vielbeschworenen Postmoderne?
Zurück zur Analyse der Art und Weise, in der die Massenmedien ihre Beobachter beobachten.
Die von den Massenmedien fortlaufend durchgeführte Quantifizierung ihrer Rezipienten
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
entspricht also einer Quantifizierung von Beobachtern, wobei die Massenmedien ihre
Beobachter nicht als operative oder funktionelle Einheiten bzw. als Systeme einstufen,
sondern rein aspektiv dem gewählten Verbreitungsmedium zuordnen, also etwa als Leser,
Zuschauer, Hörer oder Surfer etc. Rezeption wird dabei nach einem viele Jahrhunderte alten
Verständnis zunächst und vordergründig als sinnliche oder taktile Wahrnehmung gedeutet.
Die Quantität der Beobachter wird aber nicht interessenlos, sondern mit dem Bestreben
gemessen, die Zahl der Rezipienten zu erhöhen oder zumindest bestimmte Grenzwerte nicht
zu unterschreiten. Diese »Interessensorientierung« ist auch daran erkennbar, dass die
Massenmedien mit spürbarer Unruhe reagieren, wenn eine Kommunikation kaum noch
quantifizierbar ist, weil sie sich in der Nähe der Messbarkeitsgrenze befindet. Auch diese
Tatsache gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich die Massenmedien nicht an einer
angeblich hinter der Messung befindlichen Realität (die gemessen wird) orientieren, sondern
am Messverfahren selbst. Die Messung ist die Realität, an der sich die Massenmedien messen.
Bei der Beobachtung, die die Massenmedien auf diese Weise durchführen, handelt es sich
also nicht einfach um irgendeine Beobachtung von Beobachtern, sondern um eine
Beobachtung, die eine spezifische Selektion innerhalb der Gruppe möglicher
Fremdbeobachter vornimmt: Hörer, Leser, Zuschauer etc. Dabei steht zunächst nur die
Quantität im Vordergrund. Ziel ist es, von möglichst vielen beobachtet zu werden. Trotzdem
kommt es letztendlich zu einem sehr anspruchsvollen Sonderfall von Beobachtung, nämlich
zur Reflexion: Das System reflektiert auf sich, indem es auf die Art und Weise reflektiert, wie
es von anderen Beobachtern beobachtet wird: massenhaft oder nicht massenhaft. In einer
Metapher: Wenn die Massenmedien in den Spiegel schauen, sehen sie nicht sich, sondern ihr
Negativ: den Rezipienten. Und in der Tat sind Rezipienten nichts, was unabhängig von den
Massenmedien existieren könnten. Sie sind ganz umgekehrt etwas, dass der Beobachtung der
Massenmedien bedarf, um überhaupt real werden zu können. Keine Massenmedien – keine
Rezipienten (jedenfalls nicht im Sinne der Medienforschung).
Auf eben diese Weise gelingt es den Massenmedien, Kommunikation aufzuteilen in solche,
die Masse erreicht (Designationswert) und solche, die Masse nicht erreicht. Kommunikation,
die regelmäßig (aber nicht immer!) Masse erreicht, rechnet das System sich selbst als Erfolg
zu: Heute war die von der Tagesschau erzielte Quote zwar schlecht – im letzten Monat aber
ausgezeichnet. Kommunikation, die »Masse« nicht erreicht, verrechnen die Massenmedien
entweder als Hilfskommunikation (also als Kommunikation, die erfolgreiche
Massenkommunikation nur unterstützt) oder als Misserfolg oder als etwas, das
fremdverrechnet werden muss: Erfolglose Kommunikation fremd zu verrechnen, heißt, dass
das System diese Kommunikation (in einem Nachtrag) als aus der Umwelt stammend
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
beobachtet: Die neue Internet-Zeitschrift »gartenland-und-wiesenkräuter.de« (Name frei
erfunden) stellt ihre Produktion ein, weil es zu keiner Zeit ausreichende page views gab.
Wurde diese Zeitschrift vorab in Pressemeldungen zunächst als massenattraktives Angebot
bewertet, so bewirkt ihr Verschwinden, dass ihr einstmaliges Angebot rückblickend gar nicht
mehr als massenmediales Angebot dargestellt wird. Gehörte dies Zeitschrift aber als
»Ableger« zu einem bedeutenden Unternehmen der Massenmedien, so wird sie nachträglich
etwas anders, nämlich als Hilfskommunikation (kommunikative Diversifizierungsstrategie)
bewertet. Als Massenkommunikation verrechnen die Massenmedien jedenfalls nur diejenige
Kommunikation, der mindestens Aussicht auf Erfolg unterstellt wird oder die zum Erfolg (und
sei es durch Verstärkung von Aufmerksamkeit) an anderer Stelle sollte beitragen können
(Hilfskommunikation). Analog verfahren alle codedifferenzierten Systeme: Nur, wenn es
faktisch und vorrangig um Recht oder Unrecht geht, behandelt das Rechtssystem eine
Kommunikation als zu ihm gehörig. Nur, wenn es faktisch und vorrangig um Zahlungen geht,
verrechnet die Wirtschaft Kommunikation als eigene Kommunikation. Nur, wenn es faktisch
und vorrangig um das Erreichen von Masse geht, verbucht das System der Massenmedien
diese Kommunikation als massenmediale Kommunikation. Alle Systeme werden in diesem
Sinne also durch Erfolgsorientierung geschlossen: Sie können sich auf Dauer
Kommunikation nur zurechnen und also ihre Systemgrenze nur wahren, wenn die durch sie
codierte Kommunikation faktisch erfolgreich oberhalb eines bestimmten Grenzwertes und in
direkter Codenähe stattfindet. Wenn beispielsweise die Wissenschaften sehr viel Wert auf den
Nachweis von Irrtümern legen (Codeseite: falsch), so nur, um damit ihren Anspruch auf
Wahrheit prozessieren zu können. Weil sich Systeme nur durch (ausreichenden) Erfolg
schließen können, bedarf es der (von Luhmann so genannten) »Erfolgsmedien«.
Die Codeseite »Masse nicht erreicht« gehört entsprechend ebenso zum System der
Massenmedien wie die Codeseite »Masse erreicht«. Aber der Reflektionswert »Masse nicht
erreicht« darf dabei entweder nur als relativer oder als temporärer Wert auftauchen (relativ
heißt: »weniger Masse erreicht«; temporär heißt: »Masse heute nicht erreicht«) und nicht als
Permanentwert. Nur dann, wenn der Designationswert kontinuierlich erfüllt wird, betrachten
sich soziale Systeme als erfolgreich − das müssen sie auch, weil ihre Autopoiesis zugleich mit
ihrem völligen »Misserfolg« beendet wäre: Die Wirtschaft muss zahlen können, das Recht
muss Recht sprechen, die Wissenschaft muss (revidierbare) Wahrheiten finden und die
Massenmedien verfügen nicht über einen ausreichend langen Atem, um längere Zeit in ein
»Rezipientenloch« zu senden. Das System »lebt« also (wie jedes andere soziale System) von
der Differenz der beiden Werte, kann nur daran seinen Erfolg bewerten und ohne ihn hört es
auf zu existieren, verliert seine Grenze zur Umwelt, löst sich in ihr auf. Als »das System der
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Massenmedien« bezeichnen wir demgemäß dasjenige System, das erfolgreich massenmedial
kommuniziert.
Als Soziologen können wir beobachten, dass irgendwann Zeitungen verschwinden, die keine
Auflage erzielen, Radiosender keine Frequenzen mehr zugeteilt bekommen, wenn Sie kein
»Publikum finden«, Fernsehsendungen durch andere ersetzt werden, wenn sie keine »Quote
machen«, Google bestimmte Internetseiten schlecht ranked, weil sich erfolgreicher
querverlinkte Seiten auffinden lassen etc. Oben wurde bereits davon gesprochen, welche
Kommunikation sich Systeme selbst zurechnen und welche nicht. Das heißt im
Umkehrschluss, dass andere soziale Systeme zu anderen Zurechnungen kommen werden: Das
politische System meint, die Massenmedien hätten die Finanzmisere nur erfunden, während
die Massenmedien darauf bestehen, dass man lediglich die Äußerungen des Finanzministers
verbreitet habe. Die Wirtschaft meint, das Rechtssystem habe ein Ende der Flexibilisierung
von Arbeitszeiten kommuniziert, während das Rechtsystem die Ansicht vertritt, es habe
lediglich bestehende Gesetze ausgelegt und kommentiert. Und die Politik überfordert sich
selbst mit der Behauptung, für alle Probleme eine Lösung zu haben (wenn man nur erst
einmal an die Macht käme). Das Religionssystem kritisiert, die Kommunikation des
politischen Systems stimme die Menschen politikfeindlich, während die Regierung sich nur
daran erinnern kann, dass die Opposition dergleichen heraufbeschwöre und alles übrige seien
ohnehin andere schuld.
Die Art von Beobachtern, auf deren Beobachtung die Massenmedien spezialisiert sind, sind
im Alltag bekannt als Hörer, Leser, Zuschauer, Surfer oder generalisiert: als Rezipienten.
Rezipienten werden gemeinhin als Beobachter beschrieben, die (massenmediale)
Kommunikation beobachten. Die Konsequenz dieser Betrachtung ist, dass die Massenmedien
zu einer Konstruktion erklärt werden, die vom Rezipienten (der seinerseits als »kognitives
System«, als »Mensch« oder als »Bewusstsein« gedacht wird) konstruiert werde. Im
Gegensatz dazu ergibt sich für uns nach allen Erörterungen die Notwendigkeit, diese
Konstruktion kopernikanisch zu wenden: »Rezipienten« (der Massenmedien) sind
Beobachter, die codegesteuert von den Massenmedien konstruiert werden als eben diejenigen
Beobachter, von denen sie sich als beobachtet betrachten. In anderen Worten: Rezipienten
sind eine Konstruktion, die innerhalb der Selbstbeobachtung (Selbstreferenz) der
Massenmedien entsteht, insofern die Massenmedien sich selbst über die Beobachtung ihrer
Beobachter beobachten. Eine Besonderheit des sozialen Systems der Massenmedien besteht
also darin, welche Rolle für die sie die Beobachtung von Beobachtern, also die Beobachtung
zweiter Ordnung spielt. Denn nur an Beobachtern, von denen sie selbst beobachtet werden,
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
können die Massenmedien den für ihre Operationen notwendigen (Miss)Erfolg messen, um
ihre Kommunikation daran zu orientieren.
Das System der Massenmedien kann hier also gegen alle Konvention als dasjenige System
charakterisiert werden, das den Rezipienten »erfunden« hat, um sich selbst über die
Beobachtung dieses seines Beobachters zu beobachten und damit als System zu generieren.
Damit entfällt die Annahme, Rezipienten seien etwas, das sich unabhängig von den
Massenmedien bereits in der Welt befinde, aus Individuen bestehe und auf dessen reale
Existenz die Massenmedien existentiell angewiesen seien. Es verhält sich gerade umgekehrt:
Rezipienten sind Konstruktionen, die erst in und durch die Beobachtung der Massenmedien
entstehen. Rezipienten sind also nicht identisch mit Menschen, Subjekten oder sonstigen
unabhängig von den Massenmedien in der Welt vorfindlichen Phänomenen. Sie sind absolut
systemdependent. Bekanntlich gab es vor der Erfindung des Autos auch keine Autofahrer.
(Nur sind Autofahrer keine Konstruktionen, die von Autos ausgeheckt wurden.)
Indem man also diametral entgegengesetzt zu konventionellen Konstruktionen ansetzt, kann
man vermeiden, die Massenmedien aus der externen Position ihrer Beobachtung seitens der
Rezipienten konstruieren zu müssen. Der Rezipient kann so als eine codebezogene
Konstruktion der Massenmedien begriffen. Die Massenmedien zeigen sich folglich hierbei als
ein streng selbstreferentielles System, insofern das System sich selbst über die eigene
Beobachtung seiner von ihm selbst konstruierten Beobachter zu steuern sucht.
Rezipienten werden dabei von den Massenmedien auf verschiedene Weise beobachtet. Die in
Deutschland bekannteste Beobachtungsweise ist die so genannte »(Einschalt)Quote«. Sie wird
in Form kompakter Werte geliefert und abgearbeitet. Es geht dabei nicht um Individuen,
sondern letztlich um einen in anteilige Prozentwerte aufgelösten Gesamtwert, der eine
Rückführung in individuelle Einzeladressen (Individuen, Personen, Einzelsubjekte) sogar
gezielt ausschließt. Vielleicht kann man darüber streiten, ob es die Erhebungsinstitute bei
Ihren Erhebungen mit Individuen zu tun haben: Man wird aber schwerlich darüber streiten
können, dass in »der Quote«, mit der sich die Massenmedien beschäftigen, alle individuellen
Spuren bereits getilgt werden.
Obwohl Luhmann die Massenmedien nicht aus ihrer Fokussierung des Rezipienten
(verstanden als »Masse«) gesehen hatte, hatte er darauf hingewiesen, dass sich die
Massenmedien an »vermuteten Interessen« orientieren. Von da wäre der Schritt zu der
Annahme, dass die Massenmedien ihre zentrale Steuerung an dem Versuch ausrichten, Masse
zu erreichen, eigentlich nicht mehr sehr weit gewesen. Stattdessen hat Luhmann versucht, die
von ihm selbst formulierte Interessensorientierung über das Schema informieren/nicht
informieren zu erklären. Das ist in der Tat ein schwacher Ansatz, insofern die Differenz von
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
informieren/nicht informieren ja gerade offen lässt, nach welchem Schema informiert wird
und nach welchem nicht. Statt einer Antwort auf die Frage: Wie unterscheiden die
Massenmedien zwischen dem, über das sie informieren werden und dem, worüber sie nicht
informieren werden, entsteht hier nur die weitere Frage: Warum orientieren sie sich
ausgerechnet an Rezipienteninteressen (obwohl es so viele alternative Möglichkeiten gäbe) ?
Hätte sich Luhmann die Frage gestellt, warum Rezipienteninteressen diese zentrale Rolle
spielen und hätte er andererseits stärker beachtet, dass sich die Massenmedien keineswegs mit
»Vermutungen« zufrieden geben, weil sie Vermutungen umgehend durch Messungen ersetzen
(die ja unter anderem einer Ermittlung von Interessen dienen), so wäre es möglicherweise
dazu gekommen, das Luhmann eine Revision des Codes in ins Auge gefasst hätte.
Interessensvermutungen unberührt davon natürlich durchaus eine Rolle im Alltagsgeschäft.
Jeder Redakteur muss von Beitrag zu Beitrag, von Artikel zu Artikel und von Sendung zu
Sendung Vermutungen über Interessen anstellen. Aber von der Ideenfindung bis zur
Verbreitung helfen dabei Schemen (etwa das »journalistische Handwerkszeug« mit seinen
vielen Regeln, die journalistischen Formen etc.), weshalb letztlich sehr wenig Spekulation,
dafür aber sehr viel Routine im Spiel ist. Die Ergebnisse dieser Routinen werden dann
permanent abgeglichen mit Messergebnissen: Wie viele Folgen einer Serie werden nach der
Pilotsendungen gesendet, an die hohe Erfolgserwartungen angeschlossen wurden? Evtl. gar
keine, wenn die Quote »grottenschlecht« war.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Codedifferenzierung versus funktionale Differenzierung
Die Annahme, der Code der Massenmedien laute »Masse erreichen/nicht erreichen«, lässt
aber auch Konsequenzen sichtbar werden, die weit über eine Theorie der Massenmedien
hinausgehen. Denn während Luhmann offenbar der Ansicht war, dass Codierung sozusagen
funktionale Differenzierung garantiere, wird am Beispiel der Massenmedien deutlich, dass
beide Differenzierungsweisen gelegentlich zwar korrespondieren mögen – dies geschieht aber
nur zufällig. Es besteht keine funktionale oder kausale Verbindung und damit keine Garantie
dafür, dass sich Codes an Funktionen binden (vice versa). Gerade also, weil hier mit
Luhmann davon ausgegangen werden soll, dass sich die Massenmedien funktional am ehesten
als ein System beschreiben lassen, das Welt-Realität erzeugt und auf eine Weise verbindlich
werden lässt, die dann nicht mehr unterlaufen werden kann, muss hier zugleich
einschränkend ergänzt werden, dass dieser Effekt nicht über funktionale Mechanismen (oder
die systeminterne Beobachtung externer Erwartungen) zustande kommt, sondern nur über die
Codierung der Informationsverbreitung. Die über den Code also nur »angetriggerten«
funktionalen Kommunikationserfolge der Erzeugung einer für alle Sinnsysteme
verbindlichen, unhintergehbaren Realität ergibt sich also ganz schlicht aus dem Umstand,
dass die Massenmedien Codierungserfolge ausgesprochen gut über die Erfüllung der Funktion
einer Realitätskonstruktion erreichen können: Wenn man kommunikativ »Masse« erreichen
möchte, so muss man diese »Masse« auf eine Weise informieren, die sie sozusagen zur
Gegenselektion »zwingt«. Der für andere Systeme dabei entstehende Anreiz zur
Gegenselektion lässt sich dann dadurch noch einmal steigern, dass die Massenmedien
Gegensätze wie Fiktion und Realität (mit allen ihren Zwischenwerten) bedienen können, ohne
sich in Widersprüche zu verwickeln. Die Kunst einer Vermeidung von Widersprüchen ist
schon deswegen keineswegs trivial, weil jede Fiktion natürlich immer zugleich Realitäten
erzeugt: Man mag Darth Vader für eine erfundene Figur halten und Star Wars für Fiktion.
Aber eben diese Umstände sind es, die zur Realität werden lassen, dass es diesen Film und
seine Protagonisten gibt. Man kann sich im Kino oder auf DVD jederzeit von der Realität der
Fiktion überzeugen. Es ist keineswegs einfach, Fiktionen einerseits so realistisch wie möglich
erscheinen zu lassen und andererseits in ausreichendem Maße die Fiktionalität der Fiktion zu
symbolisieren, so dass Realität und Fiktion immer noch trennscharf erscheinen und
blockierende Paradoxierungen und Widersprüchlichkeiten vermieden werden können. Wer
würde den Nachrichten noch Glauben schenken, wenn er Raumschiff Enterprise für eine
Dokumentation hielte, in der ihm die Massenmedien einzureden versuchten, es gäbe wirklich
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
einen Captain Kirk , der all dies erlebt habe? Gerade diese ansatzlose Zuständigkeit für
Realität und Fiktion lässt es möglich werden, dass die Massenmedien eine universalisierbare
und dennoch nur konstruierte Realität verbindlich werden lassen können.
Das heißt allerdings nicht, dass nicht jedes System seine eigene Realität zeichnen und seine
eigene Unterscheidung von real und fiktiv etablieren wird. Das heißt aber sehr wohl, dass
alle diese verschiedenartigen Realitäten bzw. Fiktionen unhintergehbar entlang einer jeweils
systemspezifischen Beobachtung der von den Massenmedien verbreiteten Kommunikation
evoziert werden: Einjedes System muss also selbst seine Realität erzeugen – aber es wird dies
nicht tun (können), ohne sich dabei maßgeblich auf die Kommunikation der Massenmedien
zu beziehen. Dieser Umstand macht es der Systemtheorie möglich, nicht annehmen zu
müssen, dass die Kommunikation der Massenmedien aus Sicht einzelner Systeme jeweils
identisch sei (und mal richtig, mal falsch verstanden werde bzw. mal vollständig und korrekt,
mal unvollständig und inkorrekt sei). Die Systemtheorie wird lediglich behaupten müssen,
dass allen Realitätskonstruktionen gemeinsam ist, dass sie sich auf der Grundlage einer
jeweils eigenständigen (systemrelativen) Beobachtungen der Massenmedien entwickeln –
sogar, wenn es um die Frage geht, was real ist und was fiktiv (oder auch: was an Fiktionen
real ist). Gerade im Zeitalter elektronischer (digitaler) Medien kann die Differenz von Realität
und Fiktion ohne entsprechende Bezugnahme auf die Massenmedien weder verstanden, noch
universalisiert werden.
Auch Luhmann hat diesen Bezug auf die Unterscheidung Realität/Fiktion gesehen, aber
vielleicht − abgesehen von Kunst- und Unterhaltungsaspekten − nicht ausreichend
herausgearbeitet, welche generelle Bedeutung den Massenmedien in diesem Zusammenhang
zukommt. Nur die Massenmedien selbst konnten seinerzeit zureichend darüber »aufklären«,
dass ein »Krieg der Welten« im Augenblick nicht real stattfand, sondern nur inszeniert
wurde. Orson Welles Inszenierung konnte nur durch Wahl der journalistischen Form »Live-
Reportage« so unerhört real wirken. Es bedurfte der Gegenreportagen, also der
massenmedialen Dementis, um sein Hörspiel wieder in eine Fiktion umkippen zu lassen. Und
wer kennt nicht die Spekulationen darüber, ob der Anschlag auf die Twin Towers nicht
ebenfalls nur inszeniert wurde? Wer an eine solche Inszenierung nicht glauben will, der wird
dies auf der Grundlage seiner aus den Massenmedien bezogenen Informationen tun. Und wer
es glauben möchte, dem wird es nicht anders gehen. Man mag in New York gewesen sein
oder einen Freund kennen, der dort zum Zeitpunkt des Anschlags war. Man mag gesehen
haben, dass die Twin Towers zerstört wurden. Aber warum und von wem − das lässt sich
nicht ohne die Informationen der Massenmedien einschätzen. Und schon gar nicht ohne sie
als massenhaft bekannt voraussetzen.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Auch diese Sachverhalte stützen die hier vorgetragene These, dass eine Spezialisierung auf
die Funktion der Erzeugung von Realität heute nicht mehr systemdifferenzierend wirkt. Die
Erfüllung von Funktionen, auf die andere Systeme ihre Erwartungen richten bzw. die von
gesellschaftlich großer Bedeutung sind, kann nicht mehr garantiert werden und wird von
nichts und niemandem mehr garantiert. Gerichte sorgen für Recht, nicht für Gerechtigkeit.
(Ein Kölner Amtsrichter antwortete einem Journalisten einmal: »Fragen Sie mich nicht nach
Gerechtigkeit. Ich spreche nur Urteile.«) Die Wirtschaft interessiert sich weder für eine
gerechte Verteilung von Geld und Gütern, noch für nachhaltige Ressourcen- oder
Umweltpolitik. Wenn es zur ökonomischen Versorgung kommt, dann nur, weil das
Kommunikationsmedium »Geld« sich so passabel als Kommunikationsmedium prozessieren
lässt. Und wenn ökologische oder soziale Rücksichtnahmen stattfinden, dann nur, weil die
Wirtschaft aus ihrer politischen und rechtlichen Umwelt heraus entsprechend irritiert wurde.
Aber auch, wenn Gerichte Gerechtigkeit walten lassen, dann nur, weil, was als Recht gilt,
nach Meinung von Beobachtern gelegentlich auch der Gerechtigkeit entgegenkommt. Und so
gilt denn auch, dass die Massenmedien nicht informieren, um ihrer Funktion nachzukommen.
Wenn die Massenmedien informieren, dann nur, weil sie »Masse« nicht anders erreichen
können. Und wenn diese Informationen zunehmend als redundant oder als im Konflikt mit
bestimmten Vorstellungen von Demokratie bzw. mündigen Bürgern stehen, dann, weil man
bei »Big Brother« nicht an Weltliteratur, sondern an auf Sofas herumhängende Menschen
denkt und das: weil man damit umso leichter Masse erreichen kann.
Codedifferenzierung ist also keine Unterstützungs- oder Bleigleitform funktionaler
Differenzierung, sondern – im Gegenteil – eine Differenzierungsalternative, die Systeme
stärker als segmentäre, hierarchische oder funktionale Differenzierung gegen eine
Orientierung an Fremderwartungen (vor allem: Funktionserwartung) abriegelt.
Codedifferenzierung vermindert Systembelastungen, die auf externen Erwartungen beruhen.
Soziale Systeme sind zwar stets operational geschlossen, aber gerade dieses codebedingte,
extreme Abprallenlassen der an ein System von außen herangetragenen Erwartungen kann
den Schutz der Geschlossenheit ähnlich verstärken, wie die Schädelknochen die Abschottung
des Gehirns verstärken. Gesellschaftlich bleibt eine solche Verstärkung natürlich nicht
unbemerkt und also auch nicht unkommentiert. Die extreme Abschottung sozialer Systeme
gegeneinander wirkt befremdlich, so dass »kafkaeske Züge« entstehen: Das System erscheint
dann aus Sicht anderer Beobachter als von einer gemeinsamen Realität abgekoppelt, als völlig
unzugänglich, unbeeinflussbar, für psychische Systemen oftmals sogar »beängstigend«,
»außer Kontrolle«. Denn in der Tat fordert Codedifferenzierung nur eins: Die kommunikative
Erfüllung der Codewerte. Alle anderen Ziele werden entweder zufällig oder gar nicht erreicht.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Künstlerisch mag sich das dann als eine immer surrealistischer anmutenden »Welt der
hängenden Uhren« (Dalí) ausdrücken. Nur eins kann Systeme dazu verleiten im
Umsichselbstkreisen Rücksichten auf externe Erwartungen zu nehmen: Eine Störung durch
externe Systeme, die unmittelbar am Code ansetzt: Wenn z.B. Recht und Politik Streiks
billigen, dann wird die Wirtschaft direkt durch Zahlungen betroffen. Die Störung greift, weil
sie direkt am Code ansetzt. Aber hier wird auch wieder nur deutlich, dass geschlossene
Systeme stets selbst den Umfang festlegen, in dem sie bereit sind, sich stören zu lassen. Vor
allem aber lassen sie sich nicht vorgeben, wie sie auf Störungen zu reagieren haben: Mit
Sozialplänen oder mit Produktionsverlagerungen.
Die Massenmedien können sich jedenfalls heute nicht mehr einfach dadurch von ihrer
Umwelt absetzen, dass sie die Funktion der Erzeugung von Realität übernehmen. Die
Konstruktion von Realität leisten die Massenmedien vielmehr nur noch en passant, sozusagen
bei Gelegenheit des Versuchs, mit ihrer Kommunikation »Masse« zu erreichen, also bei dem
Versuch, ihre Codewerte zu befriedigen. Es liegt die Vermutung nahe, dass Systeme entweder
codedifferenziert sind oder funktional differenziert – nicht aber beides zugleich. Damit liegt
aber zugleich die Vermutung nahe, dass in einer evolutionstheoretischen Perspektive
Codedifferenzierung auf funktionaler Differenzierung aufsetzen muss, um sich etablieren zu
können.
Vielleicht bietet Codedifferenzierung aus systemtheoretischer Sicht sogar den Schlüssel zum
Verständnis dessen, was von anderer Seite als »Postmoderne« bezeichnet wurde. Immerhin
stellt dieser Wechsel des Differenzierungsmechanismuses, diese Umstellung von funktionaler
auf Codedifferenzierung, zweifellos das Resultat einer Steigerung von Selbstreferentialität
dar. Denn während sich über die Wahrnehmung von Funktionen das System in weiten
Bereichen auf die Erwartungen der in seiner Umwelt befindlichen Systeme hin orientiert,
orientieren Codes das System radikal und ausschließlich an sich selbst. Zumindest, wenn man
den soziologischen wie ethnologischen Funktionalismus als ein Paradigma verstehen möchte,
das die Re-Integration der satellitenhaft getrennten Systeme über die gegenseitige Erbringung
von Leistungen zu erklären versucht. Wenn Leistungen erst einmal an funktionale Systeme
delegiert sind, so steigert dies zwangsläufig die gegenseitige Abhängigkeit. Funktionaler
Autonomie und operativer Geschlossenheit steht dann sozusagen »existentielle Abhängigkeit«
gegenüber: Es gäbe zum Beispiel kein System der Wissenschaften, kein System des Rechts,
ohne ein System der Wirtschaft. Funktionserfüllungen stehen also immer
(Fremd)Erwartungen gegenüber, mit denen sich die einzelnen Systeme zugleich gegenseitig –
auch: legitimatorisch – anbinden. »Legitimatorisch« meint: Wenn man eine Leistung
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
beziehen möchte, so fällt es schwer, den abzulehnen, der sie erbringen soll. Genau an dem
Punkt kommt es mit der Umstellung von Funktion auf Code zur postmodernen Katastrophe:
Wenn Systeme ihre Selbstreferentialität steigern und also anfangen, sich völlig gegen ihre
Umwelt abzuschließen und nur noch um sich selbst zu kreisen, weil sie sich einfach an ihren
Codes und nicht mehr an auch für andere Systeme bedeutsamen Funktionen orientieren,
kommt es zu einer kafkaesken Abkühlung. Die in den 80ger Jahren immer wieder zu hörende
Kritik, Luhmann baue »Kafkaeske Schlösser«, trifft also insofern zu, als die »Nachmoderne«
tatsächlich die entsprechenden Züge kafkaesker Welten trägt (Hegelianer und Marxisten
würden von »Entfremdung« sprechen. Das setzt aber voraus, dass man Gesellschaft über
Subjekte zu verstehen sucht und nicht zentral über Kommunikation). Vielleicht war die
Systemtheorie einfach einer der ersten Theorien, die diese so surreal erscheinende Welt
angemessen beschreiben konnte? Jedenfalls hat sie die von ihr beschriebenen Schlösser nicht
erschaffen.
In dieser »Abkühlung«, die der Ablösung funktionaler Differenzierung durch
Codedifferenzierung entspricht, geht es endgültig nicht mehr um gottgewollte Herrschaft und
auch nicht um das respektierbare Vorrecht der Ältesten. Es gibt – Habermas zum Trotz –
sicherlich auch kein in der Kommunikation selbst angelegtes Telos, das »in the long run«
sicherstellt, dass letztlich alles in Richtung eines gesellschaftlichen Konsensus driftet. Ein
solches Naivkonzept scheitert schon daran, dass es den zentralen Beobachter nicht benennen
kann, der irgendwann für alle verbindlich festlegen könnte, welches Maß an Konsens bereits
erreicht sei. Selbst die Behauptung, es liege Konsens vor, führt in aller Regel spätestens bei
detaillierter Betrachtung sofort zu Dissens: »Konsensteilnehmer« fühlen sich in aller Regel
von anderem in Ihrem Zustimmungsbereich falsch verstanden. (»Das hab ich nicht gesagt. Ich
habe lediglich gesagt ... «) Die Systemtheorie steht hier sicherlich den weit weniger naiven
(weil differenzierteren) so genannten »dialektischen Frühformen« der Frankfurter Schule
näher, die mit ihrer Annahme, die Gesellschaft habe sich in einander entfremdete, in
Widersprüchen sich ausdrückende und aus diesen Widersprüchen heraus sich
weiterentwickelnde Interessenslagen ohne eine Garantie der Weiterentwicklung in Richtung
marxistischer Fernziele entfaltet. Zwar teilt die Systemtheorie nicht die Annahme, dass diese
isolierten, nicht re-integrierbaren technokratischen und instrumentellen Einzelinteressen alle
anderen gesellschaftlichen Bereiche überlagern, um sich so unsichtbar zu machen (Ideologien,
oder mit Luhmanns Worten: blinde Flecken). Sie löst dennoch den damit verbundenen
theoretischen Anspruch auf ihre Weise ein, indem sie insbesondere mit Hilfe der Hypothese
einer codedifferenzierten Gesellschaft die in den frühen Ansätzen der Frankfurter Schule zu
findenden »Entfremdungs- und Isolationseffekte« in die Theorie isolierter gesellschaftlicher
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Teilsysteme und ihrer Geschlossenheit verlagert. Codedifferenzierung führt also zu einer Art
von l'art pour l'art der Systemoperationen, insofern es den Subsystemen nur noch um die
operationale Anwendung des Codes um seiner selbst Willen geht. Gerade die Beobachtung
»des Anderen« (also der Umwelt) geschieht dann ausnahmslos aus der Perspektive einer
Optimierung codebasierter Operationen.
Theorien, die anders als die Systemtheorie nicht über ausgearbeitete eigene, von der
Subjektivitätsphilosophie völlig losgelöste Modelle verfügen, haben diese Verwerfungen
bisher weit deutlicher angesprochen als die Systemtheorie dies getan hat. Besonders zu
erwähnen wäre hier sicherlich der französische Neostrukturalismus, allen voran wohl
Foucault und Derrida. Ihnen blieb aber nichts anderes übrig, als diese Auflösungstendenzen in
eine Art negativer Subjektphilosophie münden zu lassen. Aus dem eindeutigen Standpunkt
eines Subjekts wird dann Polykontextualität, aus der (Kantschen) Einheit der Vorstellungen
eines »Ich denke« (cogitans) die Vielstimmigkeit, aus der Vorliebe der Subjektphilosophie für
»Einheit« die »différance« und wer sucht, der findet heute sogar »Unjekte« auf der Position
des verloren geglaubten Objekts. Dergleichen Beschreibungen verbleiben also weitgehend im
Rahmen der Subjektphilosophie, die sie lediglich ins Negative wenden. Doch obwohl sie sich
nicht wirklich von subjektphilosophischen Vorstellungen zu lösen vermochten, wird man
anerkennen müssen, dass die Folgen dessen, was wir hier als Codedifferenzierung
beschrieben haben, sehr genau erkannt und benannt wurden, was sich unter anderem in der
Schöpfung des Begriffs »Postmoderne« kundgetan hat. Luhmann hat uns mit der
Unterscheidung von Funktion und Code konfrontiert, hielt dagegen aber am Konzept der
Moderne fest. Vielleicht ließe sich funktionale Differenzierung aber tatsächlich zutreffend als
»modern«, Codedifferenzierung hingegen als »postmodern« beschreiben? Ein Gedanke, der
hier nicht weiter verfolgt werden kann.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Was heißt »Masse«?
Die Wirtschaft mag Einnahmen allen Ausgaben vorziehen, doch um Einnahmen zu erhalten,
muss sie immer auch Ausgaben in Kauf nehmen. Daher ist sie über ihren Code gehalten,
ständig zwischen Operationen, die zu Zahlungen führen und Operationen, die nicht zu
Zahlungen führen, zu unterscheiden. Auch für die Massenmedien ist die Beobachtung der
Negation des Falls, Masse zu erreichen, unabdingbar, um den Fall provozieren und erkennen
zu können, in dem oder durch den Masse erreicht werden könnte (Designationswert der
Massenmedien). Schließlich geht es in der Unterscheidung von Masse erreichen/Masse nicht
erreichen letztlich um relative bzw. graduelle Bewertungen: kleinere/größere Masse erreicht.
Wirklich riskant sind nur die Grenzwerte, also für die Wirtschaft etwa die galoppierende
Inflation bzw. die Hyperinflation.
Aber auch die Beobachtung der Praktiken zur Erreichung eines Massenpublikums (etwa die
Bedienung der Sensationslust, Kolportage, Einsatz von Sex etc.) geben uns wichtige Hinweise
auf die Codierung des Systems, denn auch hier werden ganz unmittelbar die Kriterien der
Selektion von Kommunikation berührt. Es liegt somit auf der Hand: Das System orientiert
sich zentral am Ziel, eine möglichst große Masse zu erreichen, also Quote (Fernsehen) zu
machen, (Hörer)Reichweiten (Radio) zu steigern, hohe Auflagen (Print) bzw.
außerordentliche Besucherzahlen (Kino) zu erzielen oder die page impressions nach IVW
(Onlinemedien) zu maximieren etc.
Von hier aus lässt sich die Frage beantworten, wie sich systemtheoretisch »Masse« verstehen
lassen könnte. Hier soll vorgeschlagen werden, »Masse« rein operational zu definieren, und
zwar als eben denjenigen Mess- bzw. Schätzwert, an dem sich die Massenmedien
codebezogen orientieren. Auf diese Weise können überflüssige weitere Annahmen vermieden
werden, die nicht nur das Theoriedesign unnötig belasten würden, sondern auch zu
Theorieverwaschungen führen können. So muss beispielsweise nicht mehr angenommen
werden, es gebe so etwas (kompaktes) wie eine »reale Masse«, die aus einer Vielzahl ebenso
real existierender Menschen, Subjekte, kognitiver Systeme oder lebender Rezipienten
bestünde. Wir stellen nur ganz schlicht fest, dass es quantitative Schätz- und Messverfahren
gibt, an deren Resultaten sich die Massenmedien orientieren. Empiristische
Forschungsrichtungen mögen ihre eigenen Konstrukte für Beschreibungen real existierender
Gegebenheiten halten und annehmen, den durch ihre eigenen Messverfahren erzeugten
Konstruktionen lägen so etwas wie vom Messverfahren unabhängig existierende Rezipienten
zu Grunde, die entsprechend von diversen Verfahren mal besser, mal schlechter abgebildet
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
würden. Hier unterscheiden sich Teile der empirischen Sozialforschung und vor allem der
angewandten Sozialforschung je nach »Schulrichtung« also deutlich von der Systemtheorie:
Die Systemtheorie muss derartigen Konstrukten keine konstruktionsunabhängige Realität
unterstellen. Sie wird aber stets mit Interesse zur Kenntnis nehmen, dass andere dies tun.
Schließlich fallen in das Forschungsgebiet von Supertheorien a definitione immer auch andere
Forschungsrichtungen. Daher muss die Systemtheorie auch die eigene wie die
Operationsweise anderer Theorien jederzeit ganz nüchtern mitbeschreiben können, ohne dabei
die Tatsachenbehauptungen oder Sachverhaltsbeschreibungen dieser Theorien zu
übernehmen. (Man könnte in Anspielung auf Husserl von einer Art »systemtheoretischer
Epoché« sprechen.) Für die Systemtheorie sind sämtliche anderen wissenschaftlichen
Theorien soziale Phänomene in der Welt der Kommunikation, die keinen besonderen Status
beanspruchen können.
Das Spannende an dieser Herangehensweise aber ist, dass man auf diese Weise deutlich
erkennen kann, dass die Rolle, die diese Messverfahren bzw. Zahlenwerke für die
Massenmedien spielen, in ihrer Bedeutung letztlich stets unabhängig von »der Realität«
funktionieren: Wann immer sich ein System entscheidet, sich an Messwerten zu orientieren,
so funktioniert dies unabhängig von der Frage danach, ob diese Messwerte eine ihnen
vorgeordnete Realität (korrekt) abbilden oder nicht. Die Messung ist die Realität bzw. die
Realität ist die der Messung. Einer dahinter liegenden Realität gegenüber verschließen sich
die Massenmedien, verhalten sich weitestgehend indifferent (wenn auch hin und wieder
beunruhigt). Fernsehen, Radio, Internet und Print etc. können die Frage nach der »Realität der
Massen« zwar sporadisch oder temporär aufgreifen. Sie lassen sie dann aber notgedrungen
ebenso rasch weil »zu akademisch« wieder fallen. Metaphysik und Epistemologie gehören
nicht zu ihren Funktionen. Die Massenmedien kennen etwas für sie weit Relevanteres: Sie
kennen ihre Quote. Wissenschaft und Erkenntnistheorie kann in ihnen dagegen nur als
(journalistisches) Thema vorkommen, nicht aber als Forschung betrieben werden. Und der
Systemtheorie genügt es zu wissen, dass dies so ist.
Mit wenigen Ausnahmen fragen aus den genannten Gründen die Massenmedien nicht nach
»dem realen, wirklichen, individuellen Surfer/Hörer/Zuschauer/Leser«. Sie konzentrieren sich
stattdessen stets auf eine Optimierung von Messergebnissen, weil sie nicht nur codebezogen,
sondern auch auf Grund ihrer strukturellen Kopplung mit der Wirtschaft und der Politik auf
gute bis hervorragende Messergebnisse angewiesen sind. Wie es um das Verhältnis von
Realität (real existierenden Rezipienten) und Messung bestellt ist, lässt sich exemplarisch am
Verhalten einzelner Sender ablesen: So würden sich, wenn nächste Woche eine MA (also so
eine Art »Quotenmessung des Hörfunks«) durchgeführt würde, viele Radiostationen nicht
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
einfach fragen, womit man den »realen Hörer« ins Programm locken könnte. Sie würden sich
viel mehr fragen, was sich aus den bekannten Messwerten der Vergangenheit an möglichen
Aktivitäten ableiten lässt, um die anstehenden Messergebnisse zu verbessern (oder wenigstens
zu halten). Wie gesagt: Man optimiert Messergebnisse − und lässt »das Sein« Sein sein. Ein
typisches Mittel der Wahl besteht hinsichtlich der Hörfunkmedien dann z.B. darin, kurz vor
der Erhebung weit öfter als sonst die Station ID (also die »Senderkennung«) zu senden.
Niemand erwartet, dass einem das jemals mehr Hörer bringen könnte. Im Gegenteil: So etwas
wird Hörer eher nerven. Aber es beeinflusst nachweislich die Messergebnisse ausgesprochen
positiv. Das wird jeder sofort nachvollziehen können, der sich das Erhebungsverfahren einmal
genauer anschaut.
Analoges gilt für das Internet: Wenn eine Internetseite mehr »Clicks« (Page Impressions)
benötigt – dann kann es sinnvoll sein, (per so genantem Meta-Tag) automatische Refreshes zu
erzwingen, um die Messwerte zu verbessern. Oder man versteckt gezielt Seiten, die der Surfer
nach allgemeinem Dafürhalten unbedingt finden möchte, statt sie leicht auffindbar zu
machen. Dieser Trick führt dann zur Suche per Surfen und als Konsequenz zum »abgrasen«
unnötig vieler Seiten und in der Folge zu erhöhtem »traffic« und zu weit besseren
Messergebnissen. So lassen sich eben die Messergebnisse optimieren. Und um die geht es.
Für den, der sich an einer Messung orientiert, zählt nur die gemessene Zahl. Und selbst die
Vorstellungen vieler Millionen real existierender, einzigartiger Menschen (und hunderter von
Suchmaschinen), die im Internet surfen, wird in den Massenmedien immer nur dann eine
größere Rolle spielen, wenn man glaubt, die Orientierung an der Annahme »real existierender
Rezipienten« könne zu Maßnahmen führen, die: die Messwerte verbessern.
Beobachtet man systemtheoretisch dagegen Teile der empirischen Medienforschung, so wird
man sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass diese sich epistemologisch tatsächlich an
ein Residuum abbildtheoretischer Vorstellungen »klammern«, um sich zur Vereinfachung
ihrer Modellbilddung auf »real existierende Rezipienten« berufen zu können. Dabei wird also
letztlich ein Modell (Messverfahren) an einem anderen Modell (dem »Modell real
existierender Rezipienten«) orientiert, aber letzteres so behandelt, als sei es eben kein Modell,
sondern die schlichte Anerkennung der Wirklichkeit. Genau an diesem Punkt wird die
Theorie also notgedrungen naiv. Immerhin hat diese epistemologisch fragwürdige
Vorgehensweise dann innerhalb der empirischen Forschung den praktischen Vorteil,
Messverfahren der Kritik aussetzen zu können, indem man die Frage stellt, ob sie ausreichend
genau die Realität abzubilden vermögen. Eine Frage, mit der sich vor allem die
konkurrierenden Erhebungsinstitute einander das Leben schwer zu machen suchen.
Gelegentlich finden sich Debatten dieser Art aber auch in der internen Kommunikation der
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Massenmedien, natürlich hier ausnahmslos bezogen auf die Frage der Möglichkeit,
Reichweiten zu steigern. Sie folgen dabei ihrem Code. Sie können nicht anders. Und wo sie
scheinbar davon abweichen, da wurde aus ihrer Umwelt heraus entsprechend gestört.
Massenmedien, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Systemcode und strukturelle Kopplung
Luhmann hat die Virtualität der Orientierung der Massenmedien am Begriff der Masse zwar
angesprochen, aber seine Bedeutung fürs System offensichtlich unterschätzt, weshalb er in
ihm auch nicht den Code des Systems sehen konnte. Die Virtualität massenmedialer
Orientierungen kommt seiner Ansicht nach aber schon darin zum Ausdruck, dass diese sich
an »vermuteten Interessen« (wie Luhmann es nennt) ausrichten, die sie dann zu bedienen
streben. Weil er das entscheidende Selektionskriterium übersah, durch das sich die
Massenmedien von anderen Systemen unterscheiden, musste Luhmann die Frage
unbeantwortet lassen, warum Massenmedien keineswegs anders zu informieren streben als
andere Kommunikationssysteme: Die Massenmedien selegieren Information und betreiben
Kommunikation stets auf das Erreichen einer Messgröße bezogen. Die gesamte
Kommunikation, von der Selektion der Information bis zur Wahl der Mitteilung (per
Verbreitungsmedium), ist ausgerichtet auf die »Vermassung des Drittwertes«, also auf
»massenhaftes Verstehen«, was einer (messbaren) Annahme von Kommunikation entspricht.
Verstehen kann aber nur zustande kommen, wenn man zwischen Mitteilung und Information
zu unterscheiden weiß. Den Kontrollwert bildet aber nicht wie sonst üblich (und auch von der
Kommunikationstheorie angenommen) die Fortsetzung der Kommunikation
(Anschlusskommunikation), sondern alleine die Messgröße. Dabei wird der Grenzwert einer
solchen Messung schlicht über die Messbarkeitsgrenze definiert. Aber auch die lässt sich im
Notfall überspringen durch die Anwendung plausibilisierter Schätzungen (technische
Reichweite, Hörerfeedback etc.).
Nur an diesen Merkmalen lässt sich das System der Massenmedien von anderen sozialen
Systemen unterscheiden. Und nur mit Hilfe dieser codebedingten Merkmale gelingt es dem
System, sich selbst von allem anderen zu unterscheiden. Mit Luhmann am
Informationsbegriff die Differenz zu anderen Systemen festmachen zu wollen ist schon
deswegen problematisch, weil auch alle anderen sozialen Systeme ununterbrochen
informieren. Sie tun dies, weil sie ununterbrochen kommunizieren. Um hier eine Besonderheit
der Massenmedien finden zu können, bedarf es vieler zusätzlicher Annahmen, die jede für
sich problematisch und nicht binarisierbar sein dürften. Denn wer informieren will, muss
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
damit nicht unbedingt den Anspruch auf massenhafte Annahme der Kommunikation
verbinden, geschweige, sich zentral und immer an einem solchen Ziel orientieren. Jedenfalls
entwickeln die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Religion und das Recht Ziele dieser Art nur
auf bestimmte Kommunikationssektoren bezogen. Und immer, wenn soziale Systeme dieses
Ziel präferieren (z.B. im Bereich der Werbung), werden sie es über eine Kopplung der
Massenmedien zu realisieren suchen (müssen). Sie akzeptieren damit deren exklusive
Zuständigkeit für Massenkommunikation und nehmen sie als Leistung in Anspruch.
Wenn Luhmann also von »vermuteten Interessen« spricht, so übersieht er offensichtlich, dass
die Massenmedien keineswegs auf Vermutungen angewiesen sind. Quotenmessungen und
andere hier bereits genannten Messverfahren ersetzen längst bloße Vermutungen. Aus einer
historischen Perspektive betrachtet waren die Massenmedien in ihrer Entstehungsphase
natürlich auf operationalisierbare Vermutungen (Schätzwerte, z.B. der technischen Reichweite
des genutzten Verbreitungsmediums etc.) angewiesen, insbesondere weil empirische
Reichweitenmessungen noch nicht in ausreichendem Maß etabliert waren (von der »Auflage«
abgesehen, die daher den Prototyp aller Messungen darstellt). Ohne irgendeine Orientierung
an »Masse« hätten sie sich aber genauso wenig ausdifferenzieren können wie die Wirtschaft
ohne Geld. Es gibt natürlich immer noch massenmediale Bereiche, die nicht von Messungen
unterstützt werden (etwa DAB). Doch diese verzichten keineswegs auf die Ermittlung ihrer
Reichweite und berufen sich deswegen auch heute noch auf Schätzungen und Vergleiche, die
dann aber nicht ohne Plausibilisierungsaufwand auskommen. Die Plausibilisierung von
Messergebnissen regelt sich dagegen sehr einfach über den Fingerzeig in Richtung der
Wissenschaften. Sie ist also ein Nebenprodukt der Kopplung der Systeme
»Massenmedien/Wissenschaft«. Die Kopplung erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen
Zustandekommens durch gegenseitige Leistungsverrechnung: Die Wissenschaft bietet nicht
einfach Orientierungswerte (Messergebnisse). Sie liefert deren Plausibilisierung gleich mit.
Da muss außerhalb der Wissenschaft niemand mehr etwas prüfen. Es reicht der Hinweis
darauf, dass die Ergebnisse wissenschaftlich geprüft seien. Die »Münze«, mit der die
Wissenschaft andere Systeme zur strukturellen Kopplung reizt, heißt »Wahrheit«. Die
wichtigste Münze, die sie im Gegenzug dafür zu erhalten hofft, heißt: »Geld«.
Soweit man aber nicht die Kommunikation, sondern die Routine der Redaktionen vor Augen
hat, kommt natürlich so etwas wie »vermutetes Interesse« ins Spiel, denn man kann ja bei
keinem Verbreitungsversuch vorher sicher wissen, was die Messung später ergeben wird.
Aber wenn dann doch die Fernsehquote täglich kommt, so zeigt sich sehr schnell, dass
Sendungen, denen ein »vermutetes Interesse« unterstellt wurde, rasch wieder abgesetzt
werden müssen, weil die Messung gegen diese Vermutung spricht. Das System hat keine
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
epistemologischen Interessen und vertritt daher (wie die Wirtschaft) einen naiven,
abbildtheoretischen Realismus, dem die relativ veralteten, abbildtheoretischen Modelle der
empirischen Forschung, die diese Messungen vornimmt, sehr entgegenkommen: Aus Sicht
des Systems wird daher die Messung die Vermutung objektiv korrigieren (d.h. tatsächliches
Zuschauerverhalten bzw. reale Zuschauerinteressen ermitteln), während man aus Sicht der
Systemtheorie wird sagen müssen, dass die Messung eine Realität erzeugt statt sie zu messen.
Das System der Massenmedien arbeitet also im Trial-and-error-Verfahren: Auf
Produktionsebene beruhen Programmentscheidungen auf (durch Erfahrungen mit
Messergebnissen gestützten) Vermutungen (über den Ausgang von Messungen!) – auf der
Revisionsebene beruhen Programmentscheidungen auf der Bewertung neuer Messdaten (die
das, was sie angeblich nur messen, selbst erzeugen). Und dann beginnt die Schleife von
vorne: Pilot, Messung, Absetzung, neues Konzept, Vermutung, Pilot… Die Sache ändert sich
nicht grundsätzlich, wenn die Vermutungsebene per Marktforschung vorweg unterstützt wird.
Einen Abgleich aber mit »der Realität« kann es hier so wenig wie dort geben, weil die
Realität nicht weniger als Vermutungen und Messungen nun mal eine Konstruktion ist. Und
wenn erstaunlich große Teile der (angewandten) empirischen Sozialforschung noch so etwa
swie der Idee einer unabhängigen Realität nachzuhängen scheinen, so nicht zuletzt deswegen,
weil sich dies als außerordentlich praktisch nicht nur zur Entwicklung neuer Messverfahren
und -methoden, sondern vor allem als Kopplungsinstrument zur Wirtschaft erweist:
demoskopische Daten lassen sich nun mal gut verkaufen. Alternative Messverfahren lassen
sich erst vermarkten, wenn es gelungen ist, den Gebrauchswert eines bestehenden Verfahrens
in Zweifel zu ziehen. Schon das setzt voraus, dass man wenigstens in abgeschwächter Form
einem naiven Realismus anhängt. Ironischer Weise wird diese Form wissenschaftlicher
Naivität gelegentlich sogar als Überlegenheit verbucht: Man arbeite schließlich im direkten
Kontakt mit der Realität, lautet dann das Argument. So kann man das auch sehen.
Mit Blick auf die Massenmedien ist der Erfolg dieses simplifizierenden Realismus'
aufschlussreich. Offensichtlich wirkt er seinerseits als Medium und zwar im Sinne einer
Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Kopplungen: Messungen sind Kopplungsmedien, denn
sie bilden Schnittstellen für Kopplungen gleich in zwei Richtungen: Einerseits koppeln die
Massenmedien über Messungen die Wissenschaft, die sich ja den Messvorgang bezahlen lässt
(kommerzielle Marktforschungsinstitute). Zugleich ermöglichen Messungen die Kopplung in
Richtung Wirtschaft auf eine gänzlich andere Weise, nämlich in Richtung auf Werbung.
Für Fälle dieser Art, bei denen über ein und dasselbe Medium gleich mehrere Kopplungen
geschnitten werden, soll hier als Titel der Begriff »Kreuzkopplung« vorgeschlagen werden.
Im vorliegenden Fall handelt es sich allerdings um eine Kreuzkopplung, die zusätzlich
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
verschachtelt wurde. Das Interessante besteht allerdings darin, dass eine direkte Anbindung
von Kopplungsmedium und Systemcode vorliegt: Es ist ja der Systemcode (Masse
ereicht/Masse nicht erreicht) selbst, der sich direkt am Kreuzkopplungsmedium »Messung«
orientiert, wodurch der eindrucksvolle Fall einer Kopplung von zwei »Großsystemen«
(Wirtschaft und Wissenschaft) in unmittelbarer Codenähe gelingt: ein Sonderfall, der nicht
durch Zufall ausgerechnet an den Massenmedien besonders augenfällig wird. Die hier zu
findende Kreuzkopplung wirkt zugleich wechselseitig motivierend (also von System zu
System) und selbstmotivierend (also systemintern): Sie versorgt zugleich die Massenmedien
und die Wissenschaft mit Geld und liefert in eins damit der Werbewirtschaft wie den
Massenmedien handhabbare Entscheidungskriterien. Der Werbende kann festlegen, wen er
erreichen will und kann. Und die Massenmedien erfahren dabei, ob sie (in ihrer Zielgruppe)
angenommen werden. (Zielgruppen sind ja nichts anderes als Untermengen, also
Spezifikationen des Messwertes »Masse«.)
Die Kreuzkopplung ermöglicht also, dass der gemessene Erfolg (»Welche Masse wurde
erreicht?«) zugleich die Grundlage von Werbeschaltungen (Wirtschaft) sowie zur Berechnung
der Preise etwa von Werbeinseln (Massenmedien) bilden kann. Ein in dieser Deutlichkeit
ganz und gar außergewöhnlicher Sachverhalt, an dem man beobachten kann, wie sich
Kopplungen bzw. Kopplungsmedien verschachteln und wie es mit Hilfe ein und desselben
Mediums gelingen kann, mehrere Kopplungen zugleich herbeizuführen und zu stabilisieren.
Und weil es in diesem Fall von Kreuzkopplung kaum zu medialen Verschmierungen kommt,
wird eine detailliertere medientheoretische Analyse nicht mit Forschungserschwernissen zu
rechnen haben.
Den Streit darüber, ob die angewandte Sozialforschung aus wissenschaftlicher Sicht mit
längst veralteten Modellen (vor allem also mit Vorstellungen über privilegierte Beobachter im
Realitätskontakt) operiert oder nicht, überlassen die gekoppelten Systeme Wirtschaft und
Massenmedien mit Nonchalance der Wissenschaft. Und in ihr mögen die Zweige, die noch in
alter, empiristischer Tradition von eigenständigen Realitäten ausgehen, darüber streiten,
welches Messverfahren die Realität besser abzubilden in der Lage ist: Ruft man zur Erhebung
Haushalte an? Oder macht man Hausbesuche? Oder muss man zusätzlich mit dem
Fragebogen auf die Straße? Und was ist »realitätsnäher«: Quote, MA, E.M.A., Auflage,
Unique Visitor, Page Impressions oder Hits?
Vor allem aber um mit einer solchen Diskussion die an akademischen Fragen eher
desinteressierten Massenmedien ausreichend beunruhigen zu können, benötigt man die
Konstruktion(!) einer beobachtungsunabhängigen Realität. Das System der Massenmedien
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
wie die (Werbe)Wirtschaft geraten dann unter Druck und bauen über diese Frage dauerhafte
Kopplungen zum System der Wissenschaften auf – dauerhaft im Sinne fest installierter,
periodischer Erhebungen und Plausibilisierungsbeiträge. Über Diskussionen zum Thema
»Realitätsnähe von Messungen« reagieren die Massenmedien also durchaus beunruhigt:
Schließlich zahlt die Werbewirtschaft auf der Grundlage solcher Messergebnisse, und
Politiker und diverse Kommissionen entscheiden auch mit Blick darauf über die Höhe zu
genehmigender Gelder. Und neue Sendewege, wie etwa das Digitalradio (DAB), bekommen
es auf Grund der Annahme, über extrem wenige Hörer zu verfügen, mit massiven
Startproblemen zu tun (im Falle von DAB dauern diese schon mehr als zehn Jahre an), was
dann weitere Folgen nach sich zieht: Die Privatradios senden entweder gar nicht auf diesem
Verbreitungsweg oder sie ziehen sich nach kurzer Zeit wieder daraus zurück (ein Beispiel aus
Deutschland: »Powerradio«). Der Grund: Die Wirtschaft erhält zwar (eher demotivierende)
Schätzwerte, aber keine Messdaten und schaltet entsprechend keine Werbung. Messverfahren
sind ein unverzichtbares Medium der strukturellen Kopplung von Massenmedium und
Wirtschaft, Massenmedium und Politik sowie Massenmedium und Wissenschaft. Jede
Infragestellung ihrer Ergebnisse muss daher vor allem Wirtschaft wie Massenmedien mit
unliebsamen Unsicherheiten überziehen. So kommt es, dass derartige Diskussionen aus Sicht
der Massenmedien wie der Werbewirtschaft riskante Unruhe erzeugen, nicht ohne dass sich
ein Dritter freuen würde: die angewandte Sozialforschung mit den ihnen angeschlossenen
kommerziellen Instituten.
Diese Analyse der Massenmedien hat auch Folgen für eine generelle Medientheorie: So
wurde hier sichtbar, dass Medien entweder (a) Medien koppeln oder (b) Systeme (nicht aber
mediale Elemente, falls sie aus so etwas überhaupt bestehen sollten). Vor allem wurde hierbei
erkennbar, dass Systeme einander nur über Medien koppeln können. Einige Medien dienen
also sozusagen als »Schnittstellen«. Systeme koppeln niemals das andere System direkt,
geschweige als Ganzes. Systeme können im Gegenteil immer nur Kopplungsmedien
(Schnittstellen) koppeln. Eine Verbindung »System-System« ist ausgeschlossen. Diese These
bildet einen Beitrag zur Theorie struktureller Kopplung.
Evident wurde aber auch, dass sich dergleichen nur denken lässt, wenn man sich von der
(Heider)Vorstellung löst, Medien enthielten Substrate bzw. lose gekoppelte Elemente. Der
Substrat-Begriff ist nunmal bedenklich innerhalb einer streng prozesshaft gedachten Theorie
autopoietischer Systeme. Und Elemente können im Grunde schwerlich als etwas anderes
gedacht werden, denn als flüchtige Ereignisse im System, die das System selbst produziert,
indem es sich selbst erzeugt. Luhmanns Heidermedien passen also nur sehr beschränkt in die
»Welt der Autopoiesis«.
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
Das Medium als Botschaft
Die Schließung des Systems auf der Grundlage des Codes Masse erreichen/Masse nicht
erreichen lässt sich also leicht anhand der Reflexionswerte des Systems erkennen: das System
reflektiert auf seinen Code eben genau, indem es die Frage stellt, ob Masse erreicht wurde
oder nicht. Nun lässt sich diese Frage des Erfolgs nicht mit einem »Blick in die Welt«
beantworten, sondern nur mit Bezug auf die oben genannten Verfahren. Aber auch Messwerte
liegen nicht irgendwo in bereits greifbarer Form vor. Der Reflexionswert muss vom System
selbst produziert werden. Wie aber kann das so sein, wenn doch bislang betont wurde, dass
die Wissenschaften die entsprechenden Werte zuliefern? Die Antwort lautet, dass »selbst
erzeugt« systemtheoretisch nicht bedeutet, dass die Massenmedien selbst Messungen, selbst
wissenschaftliche Untersuchungen durchführen. »Selbst erzeugen« bedeutet lediglich:
Niemand kann eine Messung ins System »einspeisen« und niemand kann dem System der
Massenmedien vorgeben, ob es sich und wenn ja, an welcher Art von Messung es sich
orientiert bzw. zu orientieren hat. Wenn die Massenmedien ihren Erfolg also heute an von
den Wissenschaften bereitgestellten Verfahren orientieren, so stellt dies eine Entscheidung
der Massenmedien dar, die ihnen kein anderes System abnehmen kann. Indem die
Massenmedien selbst festlegen, woran sie sich orientieren (und woran nicht), was sie als
Rezipienten zulassen wollen (und was nicht), was für sie relevant wird (oder eben nicht),
erzeugen sie (in eben diesem Sinn) ihre Maßstäbe und Orientierungspunkte selbst. Die
Massenmedien beschreiben sich dabei freilich so, als würden sie ihren Erfolg direkt an der
Realität ablesen. Für sie hat es den Anschein, reale Menschen erzeugten durch ihr Verhalten
Quoten, Quotenmessungen seien also direktes Resultat einer von der Messung unabhängigen
Realität.
Mit dieser naiven Realitätsverhaftung kann sich das System aber nicht nur stabilisieren,
sondern zugleich auch destabilisieren. Die epistemologische Naivität des Standpunktes
verschafft »Bodenhaftung« dank maximale Reduktion von Komplexität. Die davon
ausgehende Kommunikation wird dadurch stark vereinfacht und beschleunigt und vor
operativen Hemmungsmomenten geschützt (Stabilisierung). Aber gerade dieser Realismus
ermöglicht es zugleich der Wirtschaft wie der Forschung, Zweifel an der Zuverlässigkeit der
Messverfahren mit der Chance auf eine Beunruhigung der Massenmedien zu kommunizieren
(Destabilisierung). Denn wenn ein System nun Mal bestrebt ist, sich an einer von ihm
unabhängigen Realität zu orientieren, dann hört es gewiss nicht gerne, diese sei falsch oder
nicht zureichend genau gemessen worden. Diesen Störfaktor weiß die Medienforschung für
sich auszunutzen, wenn konkurrierende Verfahren (bspw. MA/E.M.A) gegeneinander
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
antreten (gut »gepolstert« über ihre Kreuzkopplung mit wirtschaftlichen Interessen). Aber es
bleibt dabei: Jede relevante Messung kann letztlich nur von den Massenmedien selbst
provoziert, akzeptiert und auch bewertet werden − und in diesem Sinn wird sie von ihnen
selbst produziert. Und natürlich entscheiden die Massenmedien selbst, was auf Grund guter
oder schlechter Messergebnisse an Maßnahmen getroffen werden muss und was nicht.
Dieser Ansatz passt gut zu unserer an McLuhan orientierten Darstellung der
Verbreitungsmedien. Verbreitungsmedien geben in der Tat keine sinnhaften Inhalte vor – das
hatte auch McLuhan mit seinem berühmt gewordenen Ausspruch niemals behauptet. Aber sie
verschachteln sich auf eine Weise ineinander, die das Aufkommen von »Formaten«
provoziert. Eines der aufschlussreichsten Beispiele dürfte McLuhans Analyse der
Verschachtelung der Medien »Rotationspresse und Telegraph« sein: Die Verschachtelung
dieser beiden Medien rief neue Medien auf den Plan: Die Schlagzeile, die klare
Unterscheidung von Kommentar und Bericht, das (mosaikförmige) Layout der Zeitungen etc.
Journalistische Formen werden hier zu Medien, weil sie auf Formate rekurrieren. Mit
Formaten verbunden sind aber stets (Re)Formatierungen an anderen Stellen, etwa im Bereich
der Wahrnehmung, was schon W. Benjamin in seiner zukunftsweisenden Analyse der
medialen Reproduzierbarkeit betont hatte. Kolportage, Trivialitäten, Sensationslust etc.
werden durch die Verbreitungsmedien Print, Fernsehen und die bekannten
Oralisierungstendenzen des Radios auf je unterschiedliche Weise unterstützt. Und das ist der
Punkt, auf den es ankommt: Dies geschieht gerade nicht, wie es auf den ersten Blick
erscheinen mag, ausgehend von den dargebotenen sinnhaften Inhalten; es geschieht ausgelöst
über das jeweilige Format des Mediums, also durch das, was McLuhan metaphorisch die
Botschaft des Mediums genannt hatte. Verbreitungsmedium können nicht auf »Masse« zielen,
denn sie sind nun mal keine Systeme (obwohl umgekehrt jedes System immer zugleich als
Medium betrachtet werden kann), und sie kennen somit auch keine Orientierungs- bzw.
Reflexionswerte, wie etwa die, Masse zu erreichen. Aber dennoch »rufen« die Massenmedien
danach, per Radio, Fernseher, Zeitung, Internet bzw. per UKW, VHF, dvb, TCP/IP etc.
verbreitet zu werden, um mit ihrer Hilfe, Masse zu erreichen. Medien motivieren durch ihr
bloßes Vorhandensein die entsprechenden Systeme, Kopplungen vorzunehmen, und sie
ermöglichen im Fall der Massenmedien auf diese Weise eine Realisierung des Codes Masse
erreichen/Masse nicht erreichen. Systeme können geeigneten Medien sozusagen »nicht
widerstehen«. Wenn der Fernsehen als neuer Kommunikationsweg möglich ist, wird der
Fernsehen auch kommen – allen vorausgehenden und begleitenden Protesten und Warnungen
zum Trotz. (»Wenn alle einen Fernseher haben, wer soll denn dann noch lesen?«) Schon die
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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien
bloße Möglichkeit eines Mediums erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Realisierung – ein
»Selbstverwirklichungsaspekt«, der einer Theorie autopoietischer Systeme gut anstehen
sollte. Verbreitungsmedien lassen sich entsprechend als diejenigen Medien charakterisieren,
die die Kommunikation förmlich dazu zwingen, ein System der Massenmedien
auszudifferenzieren. Auch das ist eine Sinnvariante des gezielt mehrdeutig angelegten
McLuhan-Wahlspruchs »the medium is the message«.
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