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Hohlbein, Wolfgang - Die Hand an Der Wiege

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Amanda Silver (Drehbuch)

Wolfgang Hohlbein (Romanfassung)

DIE HAND AN DER WIEGE

Der Roman zum Film

Im Haus der Bartels herrscht Hochstimmung, hat Claire doch soeben ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Da sie dennoch an ihrem Gartenhaus weiterarbeiten will, sucht sie ein Kindermädchen. Die junge Peyton, die wie eine Mischung aus Florence Nightingale und Mutter Theresa wirkt, bietet sich an und erhält den Job. Aber kaum daß das Kindermädchen sich im Haushalt unentbehrlich gemacht hat, kommt es zu immer neuen Zwischenfällen und kleinen Katastrophen. Mit jedem Tag lädt sich die Stimmung mehr auf – bis alle nur noch auf die große Explosion warten … ›Die Hand an der Wiege‹ war einer der größten Überra-schungserfolge der letzten Jahre in den Kinos. WOLFGANG HOHLBEIN, der Magier unter den deut-schen Fantasy- und Horrorautoren, hat den großen Ro-man zu dem Film von Curtis Hanson geschrieben: Er wirbelt den Leser in eine Spannungsspirale hinein, aus der es kein Entrinnen gibt.

BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 13 453 Erste Auflage: Dezember 1993

© Copyright 1992 by The Walt Disney Company All rights reserved

Deutsche Lizenzausgabe 1992 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach

Originaltitel: The Hand that Rocks the Cradle Titelfoto: Walt Disney Company

Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg

Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich

Printed in France ISBN 3-404-13453-2

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Es war bereits hell geworden, doch zumindest dieser Teil der Stadt war noch nicht erwacht. Über den schmucken, hinter kleinen und gepflegten Vorgärten gelegenen Einfamilien-häusern lag noch die Stille der Nacht. Das eine oder andere Garagentor war geöffnet und gab den Blick auf den geschnie-gelten Bewohner frei, vor den Türen oder auf dem Rasen lagen zusammengerollte Zeitungen, aber das Wohnviertel war noch nicht wirklich erwacht.

In der Stille, die die Nacht zurückgelassen hatte, wirkte das Quietschen des schlecht geölten Fahrrades doppelt laut und auf sonderbare Weise störend. Es durchbrach nicht nur die Gna-denfrist, die der Tag dem Morgen noch gewährt hatte, es paßte nicht hierher. Es war ein Laut, der an rostige Scharniere erinnerte, an Briefkästen mit aufgebrochenen Türen und schmuddelige Liftkabinen mit Zoten an den Wänden, an ölige Finger und den Geruch von schweißgetränkten T-Shirts.

Der Mann, der das Fahrrad mit der quietschenden Hinterachse und dem viel zu großen Anhänger die Straße hinauflenkte, lebte in dieser Welt der aufgebrochenen Briefkästen und überquellenden Müllcontainer, aber er empfand keinerlei Neid oder gar Mißgunst, während er gemächlich in die Pedale trat und abwechselnd nach rechts und links sah, zugleich die Häuser bewunderte und eine bestimmte Adresse suchte.

Der Mann war sehr groß und von kräftiger Statur, man hätte auch dick sagen können. Solomon wünschte sich bei Gelegen-heiten wie diesen, wenn er das Rad und den zentnerschweren Werkzeuganhänger mühsam eine Anhöhe hinauffahren mußte, daß er sich ernsthafter um eine Diät bemüht hätte.

Aber diese Vorsätze hielten nie sehr lange an; wie überhaupt wenig von dem, was Solomon dachte, lange in seinem Ge-dächtnis haften blieb. Es gab so viel zu bedenken, so viel zu überlegen und so viel zu behalten, daß er sparsam mit dem umgehen mußte, was er sich wirklich merkte.

Natürlich war Solomon kein Idiot oder etwa dumm. Er wußte,

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daß es Menschen gab, die ihn dafür hielten. Manche sprachen hinter vorgehaltener Hand über ihn, und manche gaben sich keine Mühe, leise zu sprechen.

Es gab eine Menge Menschen, die ihm angst machten, aber das war ein anderes Thema, über das er selten und nicht sehr gerne nachdachte – wer beschäftigte sich schon gerne mit seiner Furcht. Solomon sollte die Furcht kennenlernen, wirkliche Furcht, nicht das, was er bisher dafür gehalten hatte, doch bis dahin war noch Zeit, und an diesem Morgen empfand er nichts als Neugier und ein Gefühl leiser Aufregung; wie immer, wenn er zum ersten Mal irgendwo hinkam.

Man wußte nie, was einen erwartete. Die meisten Menschen, zu denen er kam, waren nett, manche behandelten ihn auch mißtrauisch, und es hatte einige – wenige – gegeben, die ihn eindeutig feindselig behandelt hatten. Solomon wußte, daß das zum Teil an seiner Hautfarbe lag, Solomon war einer der wenigen Schwarzen, die wirklich schwarz waren. Aber das konnte es nicht allein sein. Auch das gehörte zu den Dingen, über die er lieber nicht so oft nachdachte.

Er hatte die Hausnummer entdeckt, die man ihm genannt hatte. Wichtige Sachen merkte sich Solomon, damit er es nicht nötig hatte, sie aufzuschreiben.

Das Haus war selbst für diese Gegend groß; ein schmucker, zweieinhalbgeschossiger Bau, der ein wenig weiter als die Nachbarhäuser von der Straße zurückversetzt lag und dessen Garten deutlich größer war. Es wirkte irgendwie … neuer? Nein, verbesserte sich Solomon in Gedanken. Frischer – war das passendere Wort, obwohl das Haus, wie er mit einem einzigen Blick erkannte, etliche Eimer Farbe vertragen konnte. Vielleicht lag es daran, daß die Leute, die es bewohnten, gerade erst eingezogen waren.

Solomon trat ein wenig kräftiger in die Pedale, um sein Rad quer über die Straße und auf das hübsche Grundstück hinter dem häßlichen Maschendrahtzaun zu lenken, und dabei

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meldete sich die lädierte Hinterachse mit einem besonders lauten, mißtönenden Quietschen. Solomon verzog leicht das Gesicht. Er hatte sich schon oft vorgenommen, das Fahrrad zu richten, war aber nie dazu gekommen.

Er erreichte die gegenüberliegende Straßenseite, überlegte einen Moment, ob er gleich mit dem Rad die Auffahrt hinauf und vor die große Doppelgarage fahren sollte, entschied sich aber dann dagegen. Es wäre zwar praktisch gewesen, hätte aber leicht als aufdringlich ausgelegt werden können. Es war nicht gut, für aufdringlich gehalten zu werden. Nicht am ersten Tag. Man mußte vorsichtig sein. So parkte er das Rad mit dem kastenförmigen Hänger an der Bordsteinkante, achtete sorgsam darauf, daß er die Auffahrt nicht blockierte, und schloß ab, ehe er sich auf den Weg zum Haus machte.

Claire summte eine Melodie mit, während sie im Takt der Musik, die aus dem kleinen Küchenfernseher drang, Kaffee-pulver in den Filter löffelte. Der Takt war mindestens so falsch wie die Melodie, die sie summte. Claire hatte eine Menge Talente und Gaben – Musikalität gehörte ganz eindeutig nicht dazu. Nun, man konnte nicht alles können. Der Sprecher der morgendlichen Nachrichtensendung schien von Claires musi-kalischer Darbietung nicht gestört zu sein, er lächelte unbeein-druckt sein gewohntes 7-Uhr-Lächeln und begann dann ebenso unbeeindruckt die gewohnten allmorgendlichen Katastrophen-meldungen zu verlesen: ein Stau auf dem stadteinwärts führenden Highway, ein weiterer Stau auf der Küstenstraße, ein Auffahrunfall auf der Main-Street …

Claire hörte nicht wirklich hin. Die Meldungen unterschieden sich nicht von den gestrigen, wahrscheinlich auch nicht von den morgigen. Auch das Zahnpasta-Reklame-Lächeln des Ansagers war immer dasselbe, während er den Zuschauern erklärte, mit welchen Verspätungen sie auf dem Weg in die

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City zu rechnen hatten und warum. Nun – auch das gehörte der Vergangenheit an. Claires Lä-

cheln wurde um eine Spur wärmer, während sie das dachte – nicht zum ersten Mal, seit sie dieses Haus vor gut einem Monat bezogen hatten. Sie dachte daran, was sich seither in ihrem Leben verändert hatte. Die Stau- und Smogmeldungen im Frühstücksfernsehen waren geblieben; vielleicht sogar ein bißchen schlimmer geworden.

All diese Unbill (neben den ungezählten anderen, die das Leben eines Pendlers nun einmal mit sich brachte) beeinflußte Claire Bartels Familienleben nicht mehr. Sie hatten mit diesem Haus mehr gekauft als zwei Dutzend zusätzliche Quadratmeter, auf denen ihre drei- (und demnächst vier-)köpfige Familie leben konnte.

Den wirklichen Wert dieses Hauses hatten sie erst begriffen, nachdem sie es bezogen hatten: Zeit. Eine halbe Stunde am Morgen, in der sich Michael nicht über einen überfüllten Highway quälen oder in einen ebenso überfüllten Vorstadtzug quetschen mußte; eine halbe Stunde am Abend, in der sie zusammen auf der Terrasse sitzen oder auch im Haus arbeiten konnten, statt sie mit der uneffektivsten aller Tätigkeiten zu vergeuden: Warten. Claire bedankte sich in Gedanken zum hundertsten Mal in den letzten vier Wochen bei Marlene, daß sie ihnen dieses Haus (es war ein gutes Stück teurer gewesen, als sie sich eigentlich leisten konnten, obwohl Marlene auf ihre Provision verzichtet hatte – betrachte es als Einzugsgeschenk, Liebes. Dafür gibt’s keine Blumen) regelrecht aufgeschwatzt hatte, und stockte mitten in der Bewegung, als sie begriff, daß sie sich verzählt hatte.

Hatte sie nun sechs oder sieben Löffel Kaffee in den Filter getan?

Sie warf dem AM-SEATTLE-Sprecher auf der Mattscheibe einen vorwurfsvollen Blick zu, aber der machte keine Anstal-ten, die Schuld auf sich zu nehmen. Sie dachte an den vergan-

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genen Abend (sie waren früh zu Bett, aber alles andere als früh schlafen gegangen) und fügte achselzuckend noch einen Löffel des feinkörnigen braunen Pulvers hinzu. Michael würde einen starken Kaffee brauchen können.

Claires freie Hand strich in einer ganz unbewußten Geste über die feste Rundung ihres Bauches, über der sich ihre Bluse spannte. Man sah noch nicht viel. So mancher ihrer neuen Nachbarn, dem sie in den letzten vier Wochen erzählt hatte, daß sie schwanger war, hatte sie ungläubig angeblickt (und so manche Nachbarin auch mit ein bißchen Neid, wie Claire nicht ohne Stolz erkannt hatte), aber Michael und sie würden in nicht ganz drei Monaten zum zweiten Mal Eltern werden – der Anlaß für diesen Umzug.

Michael war – absurd genug – genau aus diesem Grund vor dem Umzug zurückgeschreckt: ein Umzug mit einer Frau, im fünften Monat schwanger, war ihm einfach zu riskant erschie-nen, und sie hatten lange überlegt, ob sie vielleicht bis nach der Geburt damit warten sollten, sich ein neues Haus zu suchen. Claire – und vor allem Marlene – hatten mit Engelszungen geredet. Marlene war nicht müde geworden, die Vorzüge dieses Hauses anzupreisen und Michael zu versichern, daß eine Gelegenheit wie diese so schnell nicht mehr kam (womit sie sicherlich recht hatte), und Claire hatte ein Dutzend heilige Eide geschworen (und allesamt gebrochen), sich ganz bestimmt nicht anzustrengen und nichts zu tragen, was schwerer als dreißig Gramm war.

Am Ende hatte Michael schließlich nachgegeben; jedenfalls hatte er behauptet, sich Vernunftgründen und der Überre-dungskunst seiner Frau zu beugen. Was die Überredungskunst anging, stimmte Claire ihm uneingeschränkt zu. Bei der Vernunft … nun, Michael war Wissenschaftler. Wer hätte je gehört, daß Wissenschaftler vernünftig waren? Claire war sicher, daß er schlicht und einfach resigniert hatte.

Marlene hatte mehr als ein Haus für sie gesucht. Sie hatten

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eine Heimat gefunden. Claire drehte sich – immer noch völlig unmelodisch sum-

mend – herum und ging zur Spüle, um Wasser in den Kessel zu füllen. Michael hatte zwar darauf bestanden, ihre Küche mit allem auszustatten, was japanische Spitzentechnologie und der Kreditrahmen ihrer Bank ermöglichten, aber eine Kaffeema-schine würde nur über ihre Leiche in dieses Haus kommen. Einer der wenigen Punkte, in denen die Bartels vielleicht nicht dem Idealbild der modernen amerikanischen Familie entspra-chen, war ihrer beider Vorliebe für eine gute Tasse Kaffee.

Sie setzte den Kessel auf, schaltete die Schnellkochplatte auf die höchste Stufe und wandte sich der letzten Etappe ihrer allmorgendlichen Zeremonie zu: dem Waffeleisen. Während sie den bereits vorbereiteten Teig mit dem elektrischen Mixer noch einmal kräftig durchquirlte, geriet sie aus dem Schallke-gel des kleinen Fernsehers hinaus und in einen anderen, der aus dem Badezimmer im ersten Stock und durch die offenstehende Küchentür hereindrang. Sie war nicht die einzige, die den Tag mit Gesang begrüßte: im Bad sangen Michael und Emma ein Duett, das auch nicht viel besser klang als Claires Solo, aber entschieden lauter war.

»Ich bin der Käpten von der Pinafore«, sang Michael, und Emmas helle, klare Kinderstimme erwiderte: »Und als Käpten bist du toll.«

Michael gab zurück: »Und ich steh’ auf der Brücke meines Schiffs, und wir fahren auf See.«

Claire verzog leicht das Gesicht. Irgendwie hatte sie den Text anders in Erinnerung. Ganz offenbar begnügte sich Michael nicht damit, der Melodie des Liedes Gewalt anzutun. Mit den musischen Talenten ihrer Familie war es wirklich nicht weit her.

Bevor Michael das Lied vollends vergewaltigen und den postmortalen Zorn des längst vergessenen Komponisten auf sie alle herabbeschwören konnte, rief Claire: »Schatz? Ich hab’

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das Frühstück fertig.« »Wir kommen gleich«, rief Michael zurück. »Wir kommen gleich«, wiederholte Emma, die Worte in die

Melodie des ohnehin schon verstümmelten Liedes zwingend. Etwas klapperte, klirrte, und Michael fuhr in noch schrägerem

Ton als bisher fort: »Und sie wissen ganz genau: Seekrank wird der Käpten nie.«

»Wirklich nie?« wollte Emma wissen. »Wirklich nie!« bestätigte Mike. Claires Lächeln wirkte jetzt

eindeutig gequält. Sie schaltete den Mixer ab, legte das Gerät zur Seite – und stutzte einen Moment. Hatte es geklopft?

Claire lauschte einen Moment, kam dann zu dem Schluß, daß sie sich getäuscht haben mußte. Niemand kam um diese Zeit hierher.

»Wirklich ni-ieee?« Emmas Frage erreichte die imaginäre Schmerzgrenze, die Claire bei sich vermutete, hätte sie irgendwelche Zahnplomben gehabt, und Michaels gesungene Antwort: »Na, so gut wie ni-ieeeeeeee!« überstieg sie. Ganz eindeutig.

Sie klappte das Waffeleisen zu und trat noch einmal an den Geschirrschrank, um Tassen und Teller herauszunehmen, während Emma und Michael oben im Bad vergnügt weiter randalierten. Als sie am Fenster vorbeikam, sah sie ein schwar-zes Gesicht, das sie durch die Scheibe hindurch anstarrte.

Claire schrie auf, ließ das Geschirr fallen und prallte zurück, bis sie gegen den Tisch stieß und auch darauf etwas umfiel. »Michael!«

Irgendwann zwischen dem Zerbersten des Geschirrs und ihrem Schrei war der Gesang aus dem Bad abgebrochen. Claire hörte, wie Michael Emma zuschrie, oben zu bleiben, dann das hastige Platschen nackter Füße auf den Treppenstufen. Aber sie war unfähig, den Blick vom Fenster zu lösen. Sie wich weiter zurück. Ihre Hände schlossen sich so fest um die Tischkante, daß es weh tat, und in ihrer Brust erwachte ein anderer,

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grimmigerer Schmerz. Sie starrte das Gesicht am Fenster an, und die dunklen Augen erwiderten ihren Blick; aufmerksam, aber auch selbst beinahe ein bißchen erschrocken. Dann wandte sich die Gestalt um und verschwand. Claire sah nur noch einen grüngefleckten Schatten, der mit den Farben des Gartens verschmolz.

Michael kam in die Küche gestürmt, mit einer rasierten und einer noch unter weißem Schaum verborgenen Gesichtshälfte. »Was ist passiert?«

Sie konnte nicht antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und der Schmerz in ihrer Brust wurde schlimmer. Die Angst verbündete sich mit ihrem Asthma und nahm ihr den Atem. So deutete sie nur wortlos auf das Fenster. Michael machte einen Schritt und blieb wieder stehen; sie konnte deutlich in seinen Augen sehen, daß er etwas entdeckt hatte und für einen winzigen Moment unentschlossen war.

Michael war kein Feigling, aber Männer, die dämlich genug waren, sich ohne zu Zögern sofort auf einen Einbrecher zu stürzen, der möglicherweise bewaffnet und auf jeden Fall in Panik und somit gefährlich war, kamen gottlob meistens nur in Filmen vor (manchmal fand man sie auch in Krankenhäusern und auf Friedhöfen), und als er sich nach einer Sekunde wieder bewegte und herumfuhr, dachte sie, daß er das Vernünftigste tun und zum Telefon stürzen würde, um 911 anzurufen. Aber ganz so vernünftig war Michael wohl doch nicht. Als Claire ihm folgte, sah sie, wie er zur Haustür lief.

»Du bleibst hier!« rief er ihr über die Schulter hinweg zu. »Ich geh’ raus.«

Claire wollte ihn zurückrufen – wer immer um das Haus geschlichen war, hatte sich von ihrem Schrei vertreiben lassen und den Rückzug angetreten, es gab keinen Grund mehr, irgendein Risiko einzugehen –, aber ihre Kehle war noch immer wie zugeschnürt. Der Schmerz in ihrer Brust wurde schlimmer. Ein Anfall? Nicht jetzt, großer Gott, nicht jetzt!

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Michael riß die Haustür auf und sprang barfüßig, nur mit Jogginghose und weißem Rasierschaum bekleidet, hinaus. Claire streckte die Hand in seine Richtung, wie um ihn doch noch zurückzuhalten, aber es war zu spät. Sie sah, wie Michael einer massigen, in fleckiges Grün gekleideten Gestalt hinter-herlief, die in diesem Moment hinter dem Haus auftauchte und mit kleinen, sehr schnellen Schritten auf ein Fahrrad zueilte, das vor dem Grundstück abgestellt war.

»Mami?« Emma erschien am Fuß der Treppe und sah sie und dann die offenstehende Haustür aus aufgerissenen Augen an; sehr aufmerksam, alarmiert, aber ohne wirkliche Angst.

Michael hatte den Mann fast eingeholt. Claires Unbehagen mutierte binnen einer Sekunde zu echter Angst, als sie den Fremden deutlich sah. Er war nicht viel größer als Michael, aber sehr viel massiger. Seine Gestalt verriet eine Kraft, der Michael nichts entgegenzusetzen hatte, und Claires außer Kontrolle geratene Phantasie spielte in einem einzigen Augen-blick das ganze Programm durch, das sie aus unzähligen Büchern, Filmen und Polizeiberichten kannte: Dinge wie Gewalt und Blut, heulende Sirenen und uniformierte Polizeibe-amte, auf deren Gesichtern sich berufsmäßiges Mitleid spiegel-te, schossen ihr durch den Kopf, Besuche im Krankenhaus, Tränen und Kummer und andere, schlimmere Bilder, die sie nicht an sich heranließ.

»He, Sie!« rief Michael. Der Mann in dem grünen Parka sah sich im Laufen um, und Claire erkannte, daß es ein Schwarzer war. Er blieb nicht stehen.

»He, he!« wiederholte Michael. »Heda! Warten Sie mal! Was wollen Sie hier?«

Emma kam auf sie zu. »Mami?« fragte sie noch einmal. Diesmal war Furcht in ihrer Stimme. Sie zitterte.

»Komm her, mein Schatz. Keine Angst.« Claire drückte ihre Tochter schützend an sich und registrierte mit einem Gefühl leiser Verwunderung, daß sie wieder sprechen konnte. Und

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auch atmen. Es tat weh und war mühsam, aber es ging. Gottlob schien es nicht so schlimm zu sein. Das Schreckgespenst, das ihren Alltag bestimmte, der Anfall, war ihr diesmal erspart geblieben.

Während Claire tief und bewußt ein- und ausatmete, beobach-tete sie, wie der Schwarze stehenblieb und Michael heftig gestikulierend auf ihn einzureden begann. Sie konnte nicht hören, was sie sprachen, aber der Anblick machte ihr schon nach Momenten klar, daß sie den Panik-Schalter in ihrem Kopf wieder herumlegen konnte. Michaels Gesten waren zornig und abgehackt, von jener sichtbaren Aggressivität, die mühsam unterdrückte Furcht verriet, die Gesten des anderen waren eindeutig verlegen. Vielleicht hatte er sich einfach nur in der Hausnummer geirrt.

So oder so schien es eine harmlose Erklärung zu geben, denn es vergingen nur ein paar Augenblicke, ehe sich Michael und der Schwarze gemeinsam herumdrehten und nebeneinander zum Haus gingen.

»Wer ist der Mann, Mami?« fragte Emma. Vielleicht war es die Neugier in ihrer Stimme, ihre kindliche Unbefangenheit, in der nicht einmal mehr eine Spur von Furcht war, die Claire das Gefühl gab, einen Fehler begangen zu haben.

»Ich weiß es nicht, Schatz«, antwortete sie. »Sicher nur jemand, der nach dem Weg fragen oder einen Schluck Wasser trinken wollte. Daddy spricht mit ihm, siehst du? Komm mit.« Sie wandte sich um und schob Emma mit sanfter Gewalt vor sich her in die Küche, in der sie sich aus irgendeinem Grund sicherer wähnte. Außerdem lag ihr Inhalator in der Schublade neben der Spüle. Der Schmerz ließ bereits nach, und sie hoffte, daß sie ihn nicht nötig haben würde, aber es war besser, wenn sie in seiner Nähe blieb. In neun von zehn Fällen brauchte sie das Gerät nicht, aber sie war sicher, daß sie es manchmal nur aus dem einzigen Grund nicht gebraucht hatte, weil sie es in ihrer Nähe wußte. Der Inhalator war ihre einzige Waffe gegen

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das Asthma; sie in Griffweite zu haben, erfüllte sie mit der gleichen Zuversicht, die das Gewicht seiner Pistole einem Polizeibeamten einflößen mochte, der sich einer dunklen Gasse näherte.

Emma verdrehte den Hals, um zur Tür zu blicken, aber Claire schob sie weiter vor sich her und nahm erst die Hand von ihrer Schulter, als sie Michaels Schritte hinter sich hörte. Sie drehte sich zur Tür, und das erste, was ihr durch den Kopf schoß, war, wie lächerlich Michael aussah, mit seinen schlabberigen Jogginghosen, dem nackten Oberkörper und einem halben Bart aus weißem Schaum, der sich zu verflüssigen begann und in glitzernden Streifen an seinem Hals herablief. Dann erinnerte sie sich daran, wessen Schuld es war, daß er in diesem Aufzug aus dem Haus gelaufen war, und entschuldigte sich in Gedan-ken bei ihm.

Hinter Michael trat der Schwarze in die Küche. Claire sah ihn jetzt zum ersten Mal deutlich, und ihre Furcht bekam noch einmal einen kleinen Schub, als ihr klar wurde, was ein Mann wie er mit einem Mann wie Michael hätte tun können, wäre er wirklich das gewesen, wofür sie ihn im ersten Moment gehalten hatte. Er mußte fünfzig Pfund mehr wiegen als Michael, und obwohl einiges davon überflüssiges Fett war, machte er trotzdem einen sehr durchtrainierten Eindruck.

Allerdings wirkte er nicht gefährlich. Im Gegenteil, es war etwas an ihm, das sofort Claires Beschützerinstinkt wachrief. Er sah irgendwie aus wie ein Kind; ein sehr großes Kind, aber trotzdem ein Kind. Michael räusperte sich, um ihre Aufmerk-samkeit zu erlangen. Als sie ihn ansah, deutete er mit dem Daumen über die Schulter, und ein Ausdruck leichten Tadels lag in seinem Blick, der Claires Gefühl, irgend etwas falsch gemacht zu haben, neue Nahrung gab.

»Der Herr sagt, daß er von der Better-Way-Society kommt«, sagte Michael.

»Better Day«, verbesserte ihn der Schwarze.

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»Better Day, ja«, sagte Michael. Sein Blick wurde fragend, und aus dem sachten Tadel darin wurde ein Vorwurf, den er gar nicht mehr laut auszusprechen brauchte. Er war auch so deutlich zu genug.

»Die Better-Day-Society hilft den geistig Behinderten, Ar-beitsplätze zu finden«, sagte der Schwarze. Ohne die mindeste Verlegenheit in der Stimme fügte er hinzu: »Ich lebe dort.«

Dafür hatte Claire plötzlich das Gefühl, im Boden versinken zu müssen. Sie hatte tatsächlich etwas vergessen – nämlich den Anruf der Better-Day-Society von gestern, in dem sie diesen Besuch angekündigt hatten. Allerdings, fügte sie zu ihrer eigenen Entschuldigung in Gedanken hinzu, hatte sie wirklich nicht so früh damit gerechnet.

»Ich hab’ da angerufen«, sagte sie verlegen. Michaels Gesicht nahm einen Ausdruck an, bei dem sie das dringende Bedürfnis verspürte, auf die Größe einer Maus zusammenzuschrumpfen und sich ein passendes Loch zu suchen. »Wir brauchen jemanden für den Zaun«, fügte sie verlegen hinzu.

Michael sagte noch immer nichts. Sein Blick taxierte den Schwarzen, dann – sehr viel länger und nicht unbedingt freundlich – Claire und schließlich das Fenster, durch das der Farbige hereingesehen hatte.

Offensichtlich begriff er die Bedeutung dieses Blickes, denn plötzlich wirkte er doch verlegen. Mit einer raschen Bewegung streifte er die Kapuze seines Parkas zurück und sagte: »Ich … ich habe es an der Tür versucht, aber … aber niemand hat aufgemacht.«

Also hatte sie sich das Klopfen doch nicht eingebildet. Claire zog es allerdings vor, nicht weiter auf dieses Thema einzuge-hen. »Solomon heißen Sie, nicht wahr?« fragte sie. »Sie haben für die Petersons gearbeitet. Sie sprechen in den höchsten Tönen von Ihnen.« Sie deutete auf sich, dann auf Michael. »Ich bin Claire. Das ist mein Mann Michael.«

»Wir haben uns schon draußen kennengelernt«, sagte Michael

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ironisch. Claire beschloß, auch das zu übergehen, und legte wieder die

Hand auf die Schulter ihrer Tochter, die Solomon mit abwech-selnd auf zur einen und der anderen Seite schräggehaltenem Kopf ansah. »Das ist Emma.«

»Guten Morgen«, sagte Emma. Etwas Sonderbares geschah: als Solomon auf Emma herab-

blickte, ging eine deutliche Veränderung in seinem Gesicht vor sich. Alle Verlegenheit und jedes Unbehagen waren plötzlich wie weggeblasen; sie konnte sehen, daß er sofort und ohne den leisesten Hintergedanken Vertrauen zu Emma faßte.

»Guten Morgen«, sagte er. »Es freut mich, deine Bekannt-schaft zu machen.«

Emma lachte über diese etwas ungewöhnlichen Worte, die sie allenfalls aus dem Fernsehen kannte, wenn Erwachsene einander begrüßten, und aus Solomons Lächeln wurde ein strahlendes Lachen. Er war kein Erwachsener, der ein Kind ansah, sondern begrüßte einen völlig gleichberechtigten Partner.

Claire rief sich ins Gedächtnis zurück, wer Solomon war. Was er war.

Michaels linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. Er sagte noch immer nichts, aber manchmal hatte er eine ganz bestimmte Art, nichts zu sagen, die beredter war als alle Worte.

Claire räusperte sich verlegen. »Ich … denke, ich ziehe mir nur rasch meine Schuhe an und gehe dann mit Solomon in den Garten«, sagte sie. Zu Emma sagte sie: »Und du fragst unseren Gast, ob er etwas trinken möchte.«

»Meine Mom hat gesagt, ich soll Sie fragen, ob Sie irgend etwas wollen«, wiederholte Emma.

»Ja«, sagte Solomon. »Ein brandneues Fahrrad. Mit einem Korb an der Seite und Gangschaltung.«

Emma lachte, während Claire und Michael einen verwirrten Blick tauschten. Claire war sich nicht sicher, ob Solomon

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Emma auf den Arm nahm oder ob er ihre Frage ernst genom-men hatte. Auf jeden Fall schien er ihr harmlos genug, um ihn mit Emma für eine Minute allein zu lassen. Während Emma zustimmte, daß ein neues Fahrrad wirklich toll wäre, ging Claire in die Diele und nahm ihre Gartenschuhe aus dem Schrank.

Michael kam ihr nach. »Warum hast du mir nichts gesagt?« »Ich habe es vergessen«, antwortete Claire. »Es tut mir leid.

Sie haben gestern abend angerufen, aber ich dachte nicht, daß er so früh kommen würde.«

Michael warf einen Blick durch die offenstehende Tür in die Küche, wo Emma dabei war, die Milchflasche aus dem Kühlschrank zu hieven. Sie mußte dazu auf einen Stuhl steigen und all ihre Geschicklichkeit aufwenden, um den schweren Dreiliterbehälter zu balancieren. Solomon sah ihr lächelnd zu. Er stand dicht hinter ihr, vielleicht, um rasch zugreifen zu können, sollte sie das Gleichgewicht verlieren.

»Glaubst du, daß wir ihn mit Emma allein lassen können?« flüsterte Michael.

Claire schüttelte lächelnd den Kopf, während sie versuchte, den rechten Slipper abzustreifen und in den groben Arbeits-schuh zu schlüpfen. Bei solchen Bewegungen merkte sie manchmal doch, daß sie um gute zwanzig Pfund von ihrem Idealgewicht entfernt war. »Schatz, ich bitte dich!« sagte sie. »Sie schicken doch niemanden, der gefährlich ist. Solomon ist ein großes Kind, mehr nicht.«

»Das macht mir ja gerade Sorgen«, sagte Michael. Claire hatte den Kampf mit den rechten Schuh zu ihren

Gunsten entschieden und wandte sich ihrem zweiten Gegner zu.

»Ich habe mit den Petersons gesprochen, ehe ich zugesagt habe«, sagte sie. »Du solltest sehen, was er mit ihrem Garten-haus gemacht hat. Der Mann muß ein wahrer Künstler mit Farbe und Werkzeug sein.« Und außerdem, fügte sie in

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Gedanken hinzu, mochte er Emma, und Emma mochte ihn. Was Claire anging, hatte er damit schon halb gewonnen.

»Können wir uns das leisten?« fragte Michael. Nicht nur dieses Haus, auch der Umzug war um etliches teurer gewesen, als sie vorher kalkuliert hatten.

»Er kostet nicht viel«, antwortete Claire. Sie war erstaunt gewesen, als sie erfahren hatte, wie billig die Better-Day-Society Leute vermittelte. »Aber ich kann den Zaun selbst richten, wenn es dir lieber ist.«

Michael sagte nichts. Ihr letztes Argument hatte ihn überzeugt. Wortlos wandte er

sich um und ging die Treppe hinauf, um sich zu Ende zu rasieren.

Eine halbe Stunde später waren sie damit fertig, den Garten zu inspizieren. Michael hätte eigentlich längst losfahren müssen, aber sein Zutrauen in Solomons Harmlosigkeit schien wohl doch nicht so groß zu sein, wie Claire gehofft hatte. Vielleicht war er auch einfach nur neugierig. Auf jeden Fall hatte er sie und Emma begleitet, während sie Solomon den Garten zeigten und ihn auf das eine oder andere aufmerksam gemacht hatten. Vor allem die Abgrenzung zu ihren Nachbarn zur Rechten konnte problematisch werden, vermutete Claire. Ein wunder-schöner Rhododendronstrauch stand, direkt auf der Grund-stücksgrenze, ein wahres Prachtstück. Den Maschendrahtzaun zu entfernen, ohne den Busch zu zerstören, würde so gut wie unmöglich sein.

Auch Solomon schien das Problem erkannt zu haben. Auf seinem zu groß geratenen Kindergesicht erschien ein Aus-druck, als betrachte er ein schwerkrankes Kätzchen, während er ihrem Blick folgte. »Ja, ich sehe das Problem«, sagte er. »Der Drahtzaun soll weg?«

»Ja«, antwortete Michael und kam Claire damit zuvor. »Der

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neue Zaun soll um das ganze Grundstück gehen, und das Tor soll« – er wies in die Richtung, in der Solomons Fahrrad stand und sah in der gleichen Bewegung auf die Armbanduhr, – »dort drüben hin.«

»Wollen Sie, daß die Leute durch den Zaun drinnen bleiben sollen oder lieber draußen?« fragte Solomon.

Zum zweiten Mal an diesem Morgen war Solomon der Grund für einen erstaunten Blick, den Claire und ihr Mann tauschten. Emma machte ein gewichtiges Gesicht und legte die Stirn in Falten. Für einen Verrückten, dachte Claire, war das gar keine so dumme Frage.

»Tja … beides«, sagte Michael verwirrt. Solomon sah ihn fragend an und kritzelte etwas auf seinen Block, und Michael gestand mit einem verlegenen Achselzucken: »Hauptsächlich sollen sie draußen bleiben.«

»Okay.« Solomon vergrub den Block in einer der zahllosen Taschen seines Parkas, sah sich noch einmal aufmerksam in alle Richtungen um und ging dann zur westlichen Ecke des Grundstückes. Claire beobachtete aus ungläubig aufgerissenen Augen, wie er einen Fuß vor den anderen stellte und mit ausgebreiteten Armen, die Zunge zwischen die Zähne ge-klemmt, losmarschierte, wie ein Kind, das über eine Mauer balanciert. »Eins, zwei, drei, fünf, neun …« zählte er.

Emma lachte. Michael riß ungläubig die Augen auf, und Solomon nahm die Arme herunter, drehte sich zu ihnen herum und grinste. »Das war nur ein Scherz. Ich habe ein Maßband – sehen Sie?«

Er zog ein Maßband aus der Tasche, in der er den Notizblock hatte verschwinden lassen (sie schien wahrhaft unergründlich zu sein, und Claire fragte sich beinahe, wozu er noch den Anhänger an seinem Fahrrad brauchte), und wedelte damit. Michael lächelte nervös, aber Claires Gesicht blieb unbewegt. Sie hatte zwar selbst vorhin Solomon mit aller Kraft verteidigt, aber sie wurde immer weniger schlau aus ihm. Ein Verrückter,

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der ganz bewußt den Narren spielte? »Dann … ist also alles klar«, sagte sie lahm. »Klar wie Wasser«, bestätigte Solomon. Er wedelte noch

einen Moment mit seinem Maßband in der Luft herum, sah Claire und Michael abwechselnd an und wartete sichtbar darauf, daß sie etwas sagten, und Claire und Michael ihrerseits sahen ihn an und warteten darauf, daß er etwas tat.

Schließlich räusperte sich Michael. »Ich … muß los«, sagte er. »Ich bin schon viel zu spät dran. Wann wollen Sie anfan-gen, Solomon?«

Der Schwarze sah ein bißchen unglücklich aus. »Jetzt?« Claire verstand selbst nicht genau, warum sie der Vorschlag

überraschte, aber Michael schien es genauso zu gehen. Er zögerte. Es gab keinen logischen Grund, nicht sofort mit der Arbeit zu beginnen – Solomon war hier, er hatte alles Werk-zeug, das er brauchte, und das Wetter war gut. Trotzdem sah Michael alles andere als begeistert aus.

Claire hatte die Lösung. »Ich werden den ganzen Vormittag nicht da sein«, sagte sie. »Ich habe einen Termin beim Arzt. Und meistens dauert es Stunden.«

»O ja, Sie … bekommen ein Baby, nicht?« Das zweihundert Pfund schwere Kind, das vor ihr stand, begann verlegen von einem Fuß auf den anderen zu treten, während sein Blick über Claires Leib strich. »Babys sind in Ordnung. Ich … ich mag Babys. Wissen Sie schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«

»Ein Junge«, antwortete Claire automatisch. Solomon ver-wirrte sie immer mehr. »Aber –«

»Solomon und ich könnten doch schon einmal anfangen«, schlug Emma vor. »Der alte Zaun muß weg, ehe der neue kommt. Ich könnte ihm helfen.«

Und allein mit ihm im Haus bleiben? Mit einem Mann, den sie seit nicht einmal einer halben Stunde kannte? Aber sie brachte es nicht fertig, so bestimmt abzulehnen, wie es wahr-

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scheinlich richtig gewesen wäre. Emma hatte Solomon ganz offensichtlich in ihr Herz geschlossen; und Emma war eine gute Menschenkennerin, trotz ihrer sieben Jahre.

»Wir werden sehen«, sagte sie. »Aber es wäre sehr praktisch«, fuhr Emma fort. »Ich bräuchte

nicht zu Mrs. Peterson, und Solomon müßte keinen ganzen Tag verlieren.«

Claire seufzte. Es gab Gelegenheiten, da war Emma für ihr Alter schon beinahe ein bißchen zu scharfsinnig. Was nichts daran änderte, daß sie recht hatte; zumindest was Solomon anging. Bei den Petersons … nun, sie lebten vier Häuser entfernt die Straße hinunter und kümmerten sich manchmal um Emma. Obwohl sie es gerne taten und auch Emma Mrs. Peterson mochte, wußte Claire, welche Last sie im Grunde für sie war; Mrs. Peterson war beinahe siebzig.

»Wir werden sehen«, sagte sie noch einmal. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, daß die Sache schon

entschieden war.

Sie behielt recht; zumindest zum Teil. Emma, Mrs. Peterson und sie hatten einen Kompromiß geschlossen, der keinen der Beteiligten wirklich zufriedenstellte, aber das hatten Kompro-misse nun einmal an sich. Statt Emma zu Mrs. Peterson zu bringen, war Mrs. Peterson zu ihnen gekommen, um gewis-sermaßen auf Emma und Solomon zusammen aufzupassen. Viel Überredungskunst war dazu nicht nötig gewesen; im Grunde hatte es ausgereicht, Solomons Namen zu nennen. Solomon schien nicht nur Emmas Herz im Sturm erobert zu haben.

»Mrs. Bartel?« Die Stimme der Sprechstundenhilfe holte Claire in die Wirk-

lichkeit des ultramodernen Wartezimmers zurück, in dem sie die letzte halbe Stunde zugebracht hatte.

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»Das bin ich.« Sie schlug die zwei Monate alte Ausgabe von ›AMERICAN BABY‹ zu, in der sie geblättert hatte, und legte sie auf das kleine Acrylglastischchen zurück, ehe sie der Sprechstundenhilfe folgte. Der eigentliche Empfang befand sich in einem zweiten, kleineren Raum, der durch ein gewalti-ges Salzwasseraquarium vom Wartezimmer getrennt war.

Auch hier war alles supermodern, hell, freundlich und vor allem teuer. Bescheidenheit schien nicht unbedingt zu Doktor Motts ausgeprägten Charakterzügen zu gehören. Und warum auch? Nach allem, was Claire über ihn gehört hatte, war Dr. Mott nicht nur einer der teuersten Gynäkologen von Seattle, sondern auch einer der besten. Trotzdem – etwas hier gefiel ihr nicht.

Claire rief sich in Gedanken zur Ordnung. Was sie spürte, war wahrscheinlich nur die ganz normale Scheu des ersten Besuches bei einem neuen Arzt. Schließlich war ein Gynäko-loge kein Zahnarzt.

»Sie sind heute zum ersten Mal bei Dr. Mott?« fragte die Sprechstundenhilfe, während sie sich über den Tresen beugte und mit einer geschickten Bewegung ein noch fast leeres Krankenblatt, auf dem Claires Name stand, von einem Stapel auf ihrem Schreibtisch fischte. Mit der anderen Hand deutete sie zugleich auf die Tür des Untersuchungszimmers. Claire ging hin und öffnete sie, während sie antwortete: »Ja. Der Arzt, der meine Tochter entbunden hat, hat seine Praxis aufgegeben. Dr. Mott war so nett, mich weiter zu betreuen – obwohl sein Terminkalender sicher sehr voll ist.«

Zumindest das Wartezimmer war es gewesen. Wäre es nach der Reihenfolge des Eintreffens gegangen, hätte Claire wahr-scheinlich noch Stunden warten müssen. Sie hatte vorsichts-halber nicht gefragt, welchem Umstand sie diese Vorzugsbehandlung zu verdanken hatte. Aber die verwirrten und zum Teil auch eindeutig verärgerten Blicke der anderen Patientinnen waren ihr nicht entgangen.

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»Er ist einer der besten«, bestätigte die Schwester, während sie Claire ins Untersuchungszimmer folgte. Es war so modern und hell wie das Wartezimmer und der Empfang draußen und, wie Claire erwartet hatte, mit dem Besten ausgestattet, was Technik und Design möglich machten. Und wie alles andere auch wirkte es ein bißchen steril.

»Er wird übrigens auch bald Vater.« Die Schwester befestigte das Patientenblatt auf einem Klemmbrett, von dem Claire ziemlich sicher war, daß es aus Silber bestand, wenn nicht aus Platin, und reichte ihr einen Kittel aus weißem Papier. »Bitte ziehen Sie alles aus und diesen Kittel hier an.«

Sie deutete auf einen Wandschirm. Claire zögerte einen Augenblick. Sie war alles andere als eine militante Grüne; dazu genoß und liebte sie die Annehmlichkeiten viel zu sehr, die das moderne Leben bot. Aber die Zeiten von Wegwerfkitteln sollten doch eigentlich vorbei sein. Trotzdem trat sie nach kurzem Zögern hinter den Wandschirm, entkleidete sich und streifte den Papierkittel über. Als sie wieder hinter dem Schirm hervortrat, ging die Tür auf, und Dr. Mott betrat den Raum.

Sein Anblick überraschte Claire. Sie wußte, daß sie einem Mann Anfang Vierzig gegenüberstand, aber er schien keinen Tag älter als Michael. Hätte man die beiden nebeneinanderge-stellt, hätte Mott wahrscheinlich jünger gewirkt. Er war sehr groß, schlank, und er strahlte etwas von dem aus, was auch das Ambiente seiner ganzen Praxis ausmachte. Es fiel Claire schwer, das Gefühl in die richtigen Worte zu kleiden, aber Mott war ein bißchen wie diese Räume hier – modern, teuer und gut. Sein Gesicht war schmal und auf eine schwer greifba-re Art zugleich energisch wie beinahe kindlich. Die kurzge-schnittene Lockenfrisur paßte zu ihm. Er war ein Mann, der sicher auf Frauen wirkte, dachte Claire. Und er war ein Mann, der sich dieser Wirkung in jeder Sekunde bewußt war und nichts tat, um es sich nicht anmerken zu lassen, sondern es im Gegenteil in vollen Zügen genoß. Außerdem war er ihr auf den

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ersten Blick unsympathisch, ohne daß sie sagen konnte, warum.

»Guten Tag«, sagte Claire. Die Worte klangen ein bißchen unbeholfen, und Claire fragte sich, ob Mott wohl spürte, welchen Eindruck er auf sie machte. Sie hoffte, nicht. Was sie tat, war ziemlich ungerecht. Letztendlich konnte Mott nichts dafür, daß sie seine Praxis nicht mochte – sie war zu ihm gekommen, nicht umgekehrt.

Falls Mott irgend etwas von ihren Gefühlen ihm gegenüber ahnte, ließ er es sich nicht anmerken.

»Mrs. Bartel?« antwortete er lächelnd. »Guten Tag. Ich bin Doktor Mott.« Er lächelte. Es war ein warmes, sehr offenes Lächeln, und obwohl Claire sicher war, daß er genau dieses Lächeln jeder seiner Patientinnen schenkte, brachte er das Kunststück fertig, es so wirken zu lassen, daß sie das Gefühl hatte, es gelte ganz allein nur ihr.

Er reichte ihr die Hand. Sein Händedruck war kräftig und fest, und er dauerte gerade eine Winzigkeit länger, als nötig gewesen wäre, aber nicht lange genug, um aufdringlich zu wirken.

»Das … freut mich«, sagte sie. Mott verwirrte sie immer mehr. Er war ein Mann, der sehr charmant wirkte, und viel-leicht war genau das der Grund, aus dem ihr Unbehagen noch weiter wuchs – und sich ihr schlechtes Gewissen immer deutlicher bemerkbar machte. Sie hatte kein Recht, ihm ein solch grundloses Mißtrauen entgegenzubringen.

»Danke schön, mich auch«, antwortete Mott. Er ließ ihre Hand los und nahm das silberne Klemmbrett, um einen Blick auf ihr Krankenblatt zu werfen. Während er es mit routinierter Schnelligkeit, aber trotzdem sehr aufmerksam überflog, fragte er: »Na, wie geht’s uns denn heute?«

»Gut«, antwortete sie, ganz gegen ihre Art stockend und fast mühsam um jedes Wort ringend. »Das … das Baby ist sehr lebhaft. Es strampelt Tag und Nacht.«

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»Das ist normal, zu diesem Zeitpunkt«, sagte Mott, ohne den Blick vom Krankenblatt zu wenden. »Aber das wissen Sie ja, nicht? Das hier ist schon Ihr zweites Kind.« Er lächelte, sah sie aber nicht an. »Sie sind ein Profi. Das macht es für alle Beteiligten leichter.« Er machte eine Bewegung, um das Klemmbrett aus der Hand zu legen, hob es aber dann noch einmal und warf einen etwas längeren Blick auf das Kranken-blatt.

»Hier steht, daß Sie unter Asthma leiden. Hatten Sie in letzter Zeit irgendwelche außergewöhnlichen Beschwerden?«

Claire überlegte eine Sekunde, ob sie ihm von ihrem Beinahe-Anfall von heute morgen erzählen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Daß sie sich wie eine hysterische Jungfer benommen hatte, hatte nichts mit ihrer Schwangerschaft zu tun. Im Gegenteil – seit sich das neue Leben in ihr regte, machte ihr die Krankheit viel weniger zu schaffen. Es gab jetzt manchmal Wochen, in denen sie sie kaum bemerkte. »Nein, überhaupt nicht«, antwortete sie.

»Gut. Dann wollen wir mal.« Mott legte das Klemmbrett aus der Hand und deutete in der gleichen Bewegung auf den Untersuchungsstuhl, auf dessen Sitzfläche seine Assistentin bereits ein frisches Gazetuch ausgebreitet hatte. »Darf ich bitten?«

Claire zögerte. Ihr Mißtrauen war in einer einzigen Sekunde wieder da, schlimmer als zuvor. »Ich … ich wußte gar nicht, daß Untersuchungen der Vagina nach dem dritten Schwanger-schaftsmonat üblich sind«, sagte sie. Sie kam sich dabei selbst ein bißchen albern vor. Wer war sie eigentlich, einem Arzt zu sagen, wie er seine Arbeit zu tun hatte? Was war nur mit ihr los?

»Sind sie auch nicht«, antwortete Mott ungerührt. Er wandte sich zu der Schwester um und ließ sich von ihr dabei helfen, in die dünnen OP-Handschuhe zu schlüpfen. »Normalerweise. Das nächste Mal untersuchen wir auch erst nach der sechsund-

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dreißigsten Woche. Aber ich möchte gerne meine neuen Patientinnen, wenn sie das erste Mal hier sind, gründlicher untersuchen.«

Das klang einleuchtend – aber es überzeugte Claire einfach nicht. Dr. Manning, der sie während der Schwangerschaft mit Emma betreut hatte, war so völlig anders gewesen … Aber dann dachte sie an heute morgen und kam zu dem Schluß, daß sie sich für einen Tag schon ausreichend blamiert hatte. Beinahe hastig nahm sie auf dem Untersuchungsstuhl Platz und schloß die Augen, um die Prozedur über sich ergehen zu lassen.

Die Krankenschwester nahm diskret am Kopfende des Stuh-les Aufstellung, während Mott sich einen Hocker heranzog und sie rasch und sehr geschickt untersuchte. Er tat es sehr ausgie-big, und obwohl er sehr behutsam zu Werke ging, war es ihr so unangenehm, daß Mott es schließlich merkte.

»Sie sind ziemlich verkrampft«, sagte er. »Hatten Sie größere Aufregungen in den letzten Tagen?«

»Nein«, antwortete Claire. Sie erschrak fast selbst, als sie hörte, wie ihre Stimme klang – schrill und beinahe hysterisch.

Nur um überhaupt etwas zu sagen, fügte sie hinzu: »Es ist nur … na ja. Vielleicht bin ich doch nicht ganz der Profi, für den Sie mich halten.«

Mott lachte, stand auf und streifte die Handschuhe ab. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Es wird ein Junge, nicht?«

»Ja.« »Haben Sie schon einen Namen für ihn?« »Wir … haben uns noch nicht endgültig entschieden«, ant-

wortete Claire. Als sie sich aufsetzte, klingelte das Telefon, das an der Wand neben der Tür hing. Motts Assistentin ging hin und nahm den Hörer ab.

»Ich frage nur, weil ich auch einen Sohn bekommen werde«, sagte Mott lächelnd. »In drei Wochen. Meine Frau und ich sind schon ganz aufgeregt. Eigentlich komisch, nicht? Wenn hier

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jemand Profi sein sollte, dann doch wohl ich – und ich bin genauso nervös wie jeder andere werdende Vater.«

»Doktor?« Die Krankenschwester hob den Telefonhörer und deckte die Muschel mit der linken Hand ab. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck von leisem Unmut. »Mrs. Miller. Sie fragt schon wieder nach den Untersuchungsergebnissen.«

Mott seufzte. »Gut – Sie können sie ihr geben. Es ist alles in Ordnung. Wenn sie noch Fragen hat, rufe ich sie später zurück. Ähm – Maria?«

Die Schwester hatte den Hörer schon wieder halb zum Ohr gehoben, senkte ihn jetzt aber erneut und deckte ihn automa-tisch wieder ab. »Ja?«

»Reden Sie draußen mit ihr. Und wenn Sie schon einmal dabei sind, können Sie auch gleich im Labor nach den Ergeb-nissen der Krebsvorsorge fragen – sonst ruft sie in zehn Minuten nämlich wieder an.«

Maria drückte einen Knopf auf dem Telefon, hängte ein und verließ das Zimmer, und Mott wandte sich lächelnd an Claire. »Verzeihen Sie bitte. Diese Frau ist … ein wenig nervös.« Er blinzelte ihr zu. »Dabei ist es schon ihre vierte Schwanger-schaft. Man sollte doch meinen, daß sie allmählich Übung hat.«

»Das macht doch nichts«, antwortete Claire. Mott bedeutete ihr mit Gesten, aufzustehen und sich auf die schmale Leder-couch neben dem Paravent zu setzen, nahm ihr Krankenblatt zu Hand und kritzelte eine Bemerkung darauf, ehe er wieder neben sie trat.

»Untersuchen wir erst einmal die Brust«, sagte er. »Würden Sie sich bitte freimachen?«

Claire gehorchte. Ihre Finger zitterten, während sie aus den Ärmeln des Papierhemdes schlüpfte und das Oberteil herabrut-schen ließ. Obwohl sie es vermied, ihn direkt anzusehen, konnte sie Motts Blick fast körperlich fühlen. Etwas stimmte nicht. Alles in ihr schrie Alarm, und diesmal nutzte es nichts, daß sie sich selbst eine hysterische Närrin schimpfte. Mott sah

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sie an, begutachtete ihre Brüste, aber er tat mehr. Er sah sie nicht an wie ein Arzt seine Patientin, er starrte sie an, und in seinen Augen war plötzlich etwas, das … ihr angst machte.

Als er sie berührte, zuckte sie spürbar zusammen. Seine Finger fuhren über ihre Brust, kneteten sie sanft und ausgiebig, tasteten hierhin und dorthin, streichelten ihre Haut in kleinen, enger werdenden Kreisen … Claire versteifte sich. In ihrer Brust erwachte ein dünner, aber wohlbekannter Schmerz. Ihr Herz jagte. Was tat er da?

Mott trat noch dichter an sie heran und einen halben Schritt hinter sie, so daß ihre Schulter gegen seinen Bauch gelehnt war.

Sie konnte spüren, daß seine Hände ganz leicht zitterten. »Seit ein paar Tagen haben wir sehr schönes Wetter, finden Sie nicht auch?« fragte er. Etwas mit seiner Stimme … stimmte nicht. Etwas mit dem, was er tat, stimmte nicht.

»O ja«, antwortete Claire mühsam. »Sehr … schön.« Sie spürte, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper anspannte, als wolle er zerreißen. Motts Finger hörten auf, ihre rechte Brust zu kneten, und glitten hinüber zur linken, ohne sich dabei von ihrer Haut zu lösen.

Das kann nicht sein, dachte sie. Ich bilde mir das ein. Das kann nicht wirklich sein.

Ein blaues Flackern drang durch das Fenster herein, und von weit, weit her mischte sich das Grollen eines Donnerschlages in das Summen der Klimaanlage. Claire fuhr erschrocken zusammen.

»Man soll es nicht beschreien«, sagte Mott. Er lachte leise. »Aber eine kleine Abkühlung tut uns jetzt vielleicht allen sehr gut.« Seine Hände kneteten ihre Brust, befühlten, begrapschten sie, und sie konnte hören, wie sich sein Atem beschleunigte.

Dann spürte sie die leise Berührung an ihrer Schulter, die noch immer an seinem Leib lehnte. Hatte er … eine Erektion? Aber das konnte doch nicht sein! So etwas … passierte in

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Geschichten. Man las davon in der Zeitung. Aber es geschah doch nie wirklich!

»Ich gehe nach einem Gewitter sehr gerne spazieren«, fuhr Mott fort. Seine Stimme war jetzt ganz nahe, und sie begriff, daß sich sein Gesicht ihrem Ohr bis auf Millimeter genähert haben mußte. Claire saß da wie erstarrt. Sie konnte kaum noch atmen.

»Es ist wirklich überaus wichtig, daß Sie Ihre Brust regelmä-ßig selbst untersuchen«, flüsterte Mott an ihrem Ohr. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein. Entspannen Sie sich, Claire.«

Claire hörte kaum noch, was er sagte. Alles begann sich um sie zu drehen, und der Schmerz in ihrer Brust wurde schlim-mer. Gerade als sie glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, richtete sich Mott hinter ihr auf und trat einen halben Schritt zurück.

Zitternd raffte Claire den Kittel vor der Brust zusammen und sah zu ihm hoch. Mott lächelte weiter sein plötzlich ganz berufsmäßiges, nichtssagendes Lächeln. Sein Gesicht war fast ausdruckslos, aber Claire sah das Fieber in seinen Augen, einen Glanz, der nicht dorthin gehörte, nicht hier und nicht bei ihr.

Sie hatte sich nicht getäuscht. Alles in ihr weigerte sich noch immer zu glauben, daß es wirklich passiert war, aber sie hatte sich nicht getäuscht. Plötzlich sprang sie auf, war mit einem Schritt hinter dem Paravent und zog sich an, so schnell sie nur konnte. Mott sagte nichts, sondern sah sie nur schweigend und noch immer mit dem gleichen, plötzlich völlig falsch wirken-den Lächeln an, dann nahm er wieder das Krankenblatt zur Hand und begann seelenruhig, weitere Notizen zu machen.

Claire stürmte aus dem Raum. Als sie am Empfang vorbei kam, begann sie zu laufen. Die Sprechstundenhilfe rief ihr nach, daß sie noch den nächsten Termin vereinbaren mußten, aber das hörte sie nicht einmal. Immer schneller werdend, durchquerte sie das Wartezimmer, verließ die Praxis und rannte

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schließlich den Flur hinab und zum Aufzug. Kurz bevor sie ihn erreichte, geschah das, was sie befürchtet

hatte. Der Schmerz in ihrer Brust erwachte mit einer lautlosen Explosion zu grausamer Agonie. Eine eiserne Faust schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht mehr atmen.

Claire taumelte, prallte gegen die Wand neben der Treppe und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Ihr Atem ging schnell, stoßweise und keuchend, aber sie bekam trotzdem keine Luft. Der Flur begann sich um sie zu drehen. Sie registrierte kaum, wie jemand stehenblieb, sie besorgt ansah und dann fragte, ob sie krank sei oder Hilfe brauchte. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihre Handtasche, grub darin und durchlebte eine einzige, aber entsetzliche Sekunde, in der sie ihren Inhalator nicht fand.

Der Mann, der ihr Hilfe angeboten hatte, wiederholte seine Frage, aber Claire hätte nicht einmal antworten können, wenn sie gewollt hätte. Buchstäblich mit letzter Kraft preßte sie die kleine Kunststoffmaske über Mund und Nase und drückte auf den Inhalator. Mit einem hörbaren Zischen fuhr der feine Nebel in ihre Kehle.

Es tat weh, wie immer, aber die Wirkung trat beinahe sofort ein. Das Medikament ätzte ihre Atemwege frei, und sie bekam wieder Luft. Der blutfarbene Nebel vor ihren Augen begann sich zu lichten, und auch der Schmerz verebbte. Er verschwand nicht ganz, sank aber auf ein erträgliches Maß zurück.

Claire nahm noch weitere zwei tiefe Atemzüge aus dem Gerät, ehe sie es absetzte und beinahe angstvoll versuchte, aus eigener Kraft zu atmen. Es ging. Es war knapper gewesen als am Morgen – entschieden zu knapp, dachte sie –, aber sie war ein zweites Mal an diesem Tag davongekommen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Claire sah auf und blickte ins Gesicht des Mannes, der neben ihr stehengeblieben war, und sie sah jetzt keine Sorge mehr darin, sondern eindeutig Angst. »Sind Sie krank? Soll ich einen Arzt rufen?«

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Claire schüttelte automatisch den Kopf. Die Bewegung verlagerte ihr Blickfeld ein kleines Stückchen nach rechts, in die Richtung, aus der sie gekommen war, und ein neuerlicher, heißer Schreck durchfuhr sie.

Die Tür der Praxis hatte sich abermals geöffnet. Dr. Mott war auf den Flur herausgetreten und starrte sie an.

Claire fuhr so schnell herum und lief davon, daß der Mann, der ihr seine Hilfe angeboten hatte, mit einem hastigen Schritt zur Seite treten mußte, um nicht über den Haufen gerannt zu werden.

Der Wagen schleuderte die Auffahrt hinauf. Er hatte Solomons Fahrrad so knapp verfehlt, daß Claire bereits auf das Krachen des Aufpralls und fliegende Trümmerstücke gewartet hatte. Mit einem harten Ruck brachte sie den Kombi nur eine Handbreit vor dem Garagentor zum Stehen, riß die Tür auf und vergaß in ihrer Erregung, daß sie noch angeschnallt war, so daß sie mit einem harten Ruck zurück auf den Sitz geworfen wurde, als sie aufspringen wollte. Ihre Finger zitterten so heftig, daß sie große Mühe hatte, den Gurt zu lösen. Mit einem Satz sprang sie aus dem Wagen und rannte zum Haus. Ihr Herz raste noch immer. Sie hatte geglaubt, sich auf dem Weg nach Hause schon irgendwie zu beruhigen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Auf den letzten zwei Meilen war sie nicht mehr sicher gewesen, es zu schaffen.

Solomon unterbrach seine Arbeit und warf ihr einen verwun-derten Blick zu, während sie die drei Stufen zum Haus hinauf-stolperte. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie um ein Haar den Schlüssel abgebrochen hätte, als sie ihn ins Haustürschloß steckte.

Sie stürmte ins Haus, rannte auf die Treppe zu und registrierte beiläufig, daß Mrs. Peterson und Emma in der Küche standen und mit Geschirr klapperten. Der Duft von frisch gebackenem

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Kuchen zog durch das Haus. Emma krähte ein fröhliches »Hallo!«, aber Claire ignorierte

es ebenso wie Mrs. Petersons fragenden – und eine Sekunde später bestürzten – Blick. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und stürmte hinauf ins Bad. Erst als sie die Tür hinter sich zuge-worfen hatte und schweratmend dagegen lehnte, fühlte sie sich einigermaßen sicher.

Claire versuchte, sich gewaltsam zur Ruhe zu zwingen. Sie mußte aufpassen, daß sie sich nicht in etwas hineinsteigerte, aus dem es keinen Ausweg mehr gab. Ihr Brust tat schon wieder weh, und sie wußte, daß der Inhalator in ihrer Handta-sche keine Wunderwaffe war. Ihr Arzt hatte sie gewarnt, daß er vielleicht eines Tages versagen konnte, wenn sie ihn zu oft benutzte.

Es klopfte. »Mrs. Bartel?« fragte Mrs. Peterson. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete Claire. »Keine Sorge. Ich bin okay. Mir ist nur … ganz plötzlich übel geworden.« Sie war selbst erstaunt, wie überzeugend ihre Stimme klang. »In meinem Zustand erlebt man manchmal unangenehme Überraschungen.«

»Sie verlangen auch zu viel von sich, mein Kind«, sagte Mrs. Peterson. »Sie müssen vorsichtig sein. Schließlich sind Sie jetzt für zwei Menschen verantwortlich, nicht nur für sich. Brauchen Sie irgend etwas?«

»Nein«, antwortete Claire. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Es fiel ihr immer schwerer, ihrer Stimme nicht anmer-ken zu lassen, wie es wirklich in ihr aussah. »Kümmern Sie sich noch einen Moment um Emma, bitte. Ich … ich komme gleich herunter.«

Sie beherrschte sich noch lange genug, bis Mrs. Peterson gegangen und sie selbst auf halbem Wege zum Waschbecken war, aber dann brach alles aus ihr heraus. Einem ersten, halb erstickten Schluchzen folgte ein Schwall von Tränen, den sie nun nicht mehr zurückhalten konnte und auch nicht mehr

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wollte. Um das Geräusch ihres Weinens zu übertönen, drehte sie

beide Wasserhähne auf, so daß sich das Bad rasch mit feuchten Schwaden füllte. Die Wärme drohte sie zu ersticken, aber sie drehte das heiße Wasser nicht ab, und sie widerstand auch der Versuchung, das Fenster zu öffnen. Sie wollte allein sein, sich verkriechen, und die heißen Dampfschwaden schienen ihr gerade recht, sich vor der ganzen Welt zu verstecken.

Endlose Minuten stand Claire einfach da, schwer auf den Rand des Waschbeckens gestützt und von einem Weinkrampf nach dem anderen geschüttelt. Ihr Hals tat mittlerweile weh vom Weinen, und ihre Augen mußten so verquollen sein wie die eines Frosches. Das Weinen sollte erleichtern, doch das tat es nicht. Sie kam sich so … schmutzig vor. Und – völlig absurd, aber ihre Gefühle scherten sich nicht um Logik – sie hatte immer mehr das Gefühl, daß sie es gewesen war, die etwas Verbotenes getan hatte.

Sie hielt die Hände unter den Kran, ließ das eisige Wasser einige Sekunden lang über ihre Handgelenke fließen und schöpfte es anschließend ins Gesicht. Es erleichterte, aber nur ein bißchen. Keuchend sah sie auf, begegnete ihrem eigenen Konterfei in der beschlagenen Oberfläche des Spiegels und stellte fest, daß sie genau so aussah, wie sie sich fühlte: entsetzlich. Ihr kurzgeschnittenes dunkles Haar klebte in nassen Strähnen an Stirn und Schläfen, und ihre Wangen waren eingefallen, als hätte sie eine wochenlange schwere Krankheit hinter sich. Ihre Augen hatten einen fiebrigen Glanz. Nein, so konnte sie nicht hinausgehen. Außerdem hatte sie noch immer das Gefühl, beschmutzt zu sein.

Sie zog sich aus, trat unter die Dusche und hielt das Gesicht in den dampfenden Wasserstrahl, bis sie das Gefühl hatte, bei lebendigem Leibe gehäutet zu werden. Aber selbst dann nahm sie die Temperatur nur um ein winziges bißchen zurück. Sie glaubte, nie wieder im Leben wirklich sauber werden zu

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können; ganz egal, wie sehr sie sich auch wusch. Claire blieb lange unter der Dusche. Das Gewitter, das sich

schon angekündigt hatte, als sie in Motts Praxis gewesen war, zog vollends herauf, aber Claire hörte weder die grollenden Donnerschläge, noch sah sie das Flackern der Blitze, das für eine kurze Zeit den Hochsommerhimmel über der Stadt zerschnitt.

Das Gewitter zog weiter, ohne wirkliche Erleichterung ge-bracht zu haben, und nach fast einer Stunde trat Claire unter der Dusche hervor, ohne sich wirklich sauber zu fühlen. Sie wickelte sich in ein Handtuch und trat wieder an den Spiegel. Sie sah ein wenig besser aus – aber wirklich nur ein wenig. Ihr Gesicht wirkte nicht mehr ganz so verheult, dafür aber rot wie ein Krebs, und in ihren Augen war noch immer dieses Flak-kern, das sie fast selbst erschreckte.

»Claire?« Claire zuckte zusammen und drehte sich mit einer abrupten

Bewegung herum, als sie Michaels Stimme hörte. Sie hatte nicht bemerkt, daß er das Bad betreten hatte.

»Michael! Du … du hast mich erschreckt.« »Bist du in Ordnung« fragte Michael. Er kam näher. Sein

Blick verriet zweierlei: daß er ihrem automatischen Nicken keine Sekunde glaubte – und daß er nicht zufällig hier war.

Claire wurde erst jetzt bewußt, daß es viel zu früh für ihn war. »Wieso bist du schon hier? Hast du eher Schluß gemacht?«

»Mrs. Peterson hat mich angerufen«, antwortete Michael, »nachdem du eine halbe Stunde nicht aus dem Bad herausge-kommen bist. Das war vor« – er sah auf die Uhr – »zwanzig Minuten. Was ist los? Bist du krank? War irgend etwas bei der Untersuchung? Stimmt mit unserem Baby etwas nicht?«

»Nein!« sagte Claire in erschrockenem Tonfall. »Es ist alles in –«

Es war vorbei. Ihre ohnehin nur mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung zerbrach wie ein mürbe gewordener Damm

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unter einer Springflut. Sie warf sich an seine Brust und begann hemmungslos zu weinen. Diesmal erleichterte es.

Michael sagte nichts. Er schloß sie sanft in die Arme, strei-chelte ihr nasses Haar und wartete schweigend, bis sie von sich aus zu erzählen begann. Es dauerte lange.

»Es war … die Art, wie er mich angefaßt hat«, berichtete sie, immer noch mühsam um ihre Beherrschung ringend. Der Schrecken ließ nicht nach. Sie fühlte noch immer das gleiche, ungläubige Entsetzen wie vorhin, als sie in Motts Untersu-chungsraum gesessen und seine Hände auf sich gespürt hatte. Sie fragte sich, ob es wohl jemals wieder ganz vergehen würde. Sie war so tief verletzt worden wie niemals zuvor in ihrem Leben. »Er hat mich nicht untersucht, weißt du? Ich glaube, es … es hat ihn … sexuell erregt.«

»Erregt?« Michaels Stimme war frei von Zweifel, aber auch Zorn oder Vorwurf oder irgendeinem anderen Gefühl. Es hatte nichts damit zu tun, daß er ihr etwa nicht glaubte oder ihre Worte für übertrieben hielt. Sie kannte Michael; in Momenten wie diesem war er ganz Wissenschaftler, der nicht wertete, sondern nur zuhörte, Fakten sammelte, um sich ein Bild zu machen. »Bist du sicher?«

Sie nickte. Für einen Moment war es ihr nicht möglich, zu antworten. Wieder schnürten ihr die Tränen die Kehle zu, aber diesmal drängte sie sie zurück. Sie hatte für einen Tag weiß Gott genug geweint.

»Er hat mich nicht berührt, wie ein Arzt es tut. Und dann … seine Stimme. Er atmete schwer und … und seine Stimme war …« Wieder fehlten ihr die Worte. Wie sollte sie etwas in Worte fassen, das sie nicht einmal richtig in Gefühle fassen konnte? »Ich glaube, er hatte eine Erektion«, sagte sie schließ-lich.

Mike richtete sich kerzengerade auf, und Claire sagte hastig: »Du hast versprochen, ruhig zu bleiben.«Mike blieb ruhig, obwohl sie spürte, wie schwer es ihm fiel. »Du glaubst!« fragte

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er. Nein. Sie glaubte es nicht. Sie wußte es. »Er hatte eine Erek-

tion.« Mike atmete tief ein. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber seine

Hände begannen sich zu öffnen und wieder zu schließen, als versuche er, etwas zu packen und zu zerquetschen. »Hat er … hast du dich gewehrt? Oder wegzulaufen versucht? Hast du geschrien oder irgend etwas –«

»Ich war wie gelähmt vor Schrecken«, unterbrach ihn Claire, schon wieder von dem absurden Bedürfnis erfüllt, sich vertei-digen zu müssen. »Ich weiß nicht. Ich war … ich war völlig durcheinander.«

»Hattest du Angst, daß er dir weh tun würde?« fragte er. Obwohl sie ihn selbst gerade zur Ruhe gemahnt hatte: Es gab

Momente, da haßte sie ihn fast für seine Ruhe, für die Kälte in seiner Stimme und seine analytische Art, zu denken.

»Nein«, sagte sie. »Ich … war nicht sicher.« »Bist du es jetzt?« frage Mike. Das war sie. Mehr als jemals zuvor im Leben. Trotzdem:

»Aber … wenn ich ihn anzeige, und ich habe mich geirrt …« »Denkst du denn, du hast dich geirrt?« fragte Mike. »Denn

wir müssen es den Behörden melden«, sagte Mike. Claire starrte ihn an. »Aber das … das kann ich nicht. Wenn

… wenn ich –« »Wenn du es nicht tust«, unterbrach sie Mike, »wenn wir

diesen Vorfall nicht melden, dann wird er dasselbe mit anderen Frauen machen. Du hast dich bestimmt nicht geirrt?«

»Ich kann das nicht, Mike«, sagte sie. »Ich kann das wirklich nicht –«

»Du mußt«, sagte Mike. »Bitte, Liebling – hör mir zu. Ich weiß, wie schwer es ist, aber du mußte es tun. Wenn du sicher bist, dann … dann bist du es dir selbst und all diesen anderen Frauen schuldig, mit denen er es bereits getan hat – und vielleicht noch tun wird.«

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Als ob sie das nicht wüßte! Aber begriff er denn nicht, was er da von ihr verlangte?

Die Entscheidung, die sie zu treffen hatte, war ungeheuerlich. Wenn sie sich irrte, oder auch wenn sie sich nicht irrte und es einfach nur nicht beweisen konnte – und wie konnte sie das? –, dann waren entweder sie und Mike oder Dr. Mott oder auch beide ruiniert, ganz gleich, wie diese Geschichte ausging. Und wenn sie sich nicht irrte und er wirklich war, was sie glaubte, dann würde er weitermachen, und er würde …

»Ganz egal, wie du dich entscheidest, Liebling«, drang Mikes Stimme in ihre Gedanken, »ich stehe auf deiner Seite.«

Irgendwie machte er damit alles nur noch schlimmer. Für einen Moment lief das, was – vielleicht – in den nächsten Tagen geschehen würde, vor ihrem geistigen Auge ab. Ihre Anzeige. Die ungläubigen Blicke, die Fragen, ob sie denn auch wirklich sicher sei und ob sie wüßte, über wen sie da rede, die Journalisten, Dr. Motts energisches Leugnen und die Attacken seiner Anwälte, die versuchen würden, sie als Lügnerin und hysterische Ziege hinzustellen, die Meldungen in der Zeitung und vielleicht sogar im Fernsehen … sie wußte plötzlich, was Michael wirklich gemeint hatte, als er sagte, er stünde auf ihrer Seite, ganz gleich, wie sie sich entschied. Es wäre so leicht, dachte sie. Nichts tun. Sie konnte sich einen anderen Arzt suchen, nie wieder zu Dr. Mott gehen und versuchen, diese schrecklichen Minuten einfach zu vergessen, sie zu verdrängen wie einen üblen Traum.

Aber zugleich spürte sie auch, daß sie das nicht konnte. Sie wußte, daß sie sich nicht geirrt hatte. Michael würde nie wieder ein Wort über diese Geschichte verlieren, wenn sie sich entschied zu schweigen, das wußte sie, aber sie selbst würde es sich nicht verzeihen.

Sie antwortete nicht laut auf Michaels Frage. Aber am nächsten Morgen gingen sie zusammen zur Ärzte-

kammer und zeigten Dr. Mott an.

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Es kam so, wie sie befürchtet hatte. Noch am gleichen Tage erreichte sie ein Brief von Dr. Motts Rechtsanwälten, in dem ihr eine Verleumdungsklage und eine siebenstellige Schadener-satzforderung angedroht wurde. Am Abend griff der lokale Fernsehsender die Meldung auf, und bereits am nächsten Morgen meldeten sich vier weitere Frauen bei den Behörden, die genau wie Claire von Dr. Mott ein bißchen eingehender untersucht worden waren, als nötig gewesen wäre.

Motts Anwälte zogen daraufhin die angedrohte Klage zurück, und Dr. Mott schloß sich in seiner teuren Praxis ein und jagte sich eine Kugel durch den Kopf.

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Sechs Monate später Es war ein sehr heißer und langer Sommer gewesen, und auch der Herbst brachte kaum Abkühlung, obwohl es oft regnete und keine Woche verging, in der Seattle nicht mindestens ein schweres Gewitter erlebte.

Claire hatte einen gesunden, kräftigen Jungen zur Welt gebracht, und schon lange vorher hatte sich die Aufregung um Dr. Mott und seinen Tod gelegt. Für eine Weile hatte sie sich noch der Nachstellungen aufdringlicher Reporter erwehren müssen, und für eine etwas längere Weile hatte sie dann und wann noch an Dr. Mott gedacht und an die Tragödie, die sie ungewollt heraufbeschworen hatte. Claire war betroffen gewesen, als sie von seinem Selbstmord gehört hatte, und entsetzt, als sie in den Nachrichten hörte, daß seine Frau eine Fehlgeburt erlitten und ihr Kind verloren hatte. Sie hatte sogar daran gedacht, zu ihr zu gehen und ihr zu sagen, wie leid ihr alles tat. Aber es war bei dem Vorsatz geblieben, und vermut-lich war das auch gut so. Trotzdem war Claire ein leises Schuldgefühl nie wirklich losgeworden, wenn sie an Mott und seine Frau dachte. Was immer geschehen war, war nicht ihre Schuld; aber sie war an der Sache beteiligt gewesen, und das allein reichte. Wie Michael so gerne sagte: Man kann nicht im Dreck wühlen, ohne schmutzige Finger zu bekommen. Sie fühlte sich schuldig, ganz egal, ob ihr die Logik sagte, daß das Unsinn war.

Aber das alles war Vergangenheit. Nach Joes Geburt war wieder so etwas wie Normalität in ihr Leben eingekehrt, und mit jedem Tag Abstand, den sie zu jenen schrecklichen Ereignissen gewann, kamen sie ihr ein bißchen mehr wie ein böser Traum vor. Irgendwann würde sie sie ganz vergessen.

Claire ließ ihren Blick noch einmal über das Frühstücks-Arrangement schweifen, während sie mit der linken Hand die

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Wiege schaukelte, in der Joe lag. Er war wach, wie meistens zu dieser Zeit. Joe schlief sehr wenig für einen gerade drei Monate alten Säugling. Aber er war auch ein sehr außergewöhnlich ruhiges Baby. Er schrie selten. Meistens war er damit zufrie-den, einfach in seiner Wiege zu liegen und aus seinen erstaun-lich wachen blauen Augen zu beobachten, was rings um ihn herum geschah.

Hinter ihr polterten Michael und Emma die Treppe hinab, und zugleich nahm Claire aus den Augenwinkeln einen Schatten wahr, der sich der Tür näherte. »Ich gehe jetzt zur Hintertür«, drang Solomons Stimme von draußen herein. »Ich komme immer näher zur Hintertür. Ich bin an der Tür. Und jetzt komme ich in die Küche.«

Claire lächelte, als Solomon behutsam Kopf und Schulter in die Küche steckte, ehe er ganz eintrat – was blieb ihr auch anderes übrig? Seit der etwas verlegenen Art, wie sie sich kennengelernt hatten, kündigte Solomon sein Kommen immer so an, und das beinahe jeden Morgen. In den ersten Tagen war Claire nicht sicher gewesen, ob Solomon sie nun auf den Arm nahm oder nicht. Sie hatte es aufgegeben, Solomon erklären zu wollen, daß es durchaus ausreichte, wenn er einfach nur anklopfte.

»Guten Morgen, Mrs. Bartel«, sagte er auf eine Art, mit dem vielleicht ein außergewöhnlich wohlerzogenes Kind einen Erwachsenen begrüßt hätte. Claire hatte es auch aufgegeben, ihm das abgewöhnen zu wollen. – Vielleicht war das von allem die größte Schwierigkeit, die sie im Umgang mit Solomon hatte – man konnte ihm durchaus etwas erklären, aber man mußte verdammt aufpassen, wie man es tat. Solomon ähnelte in dieser Hinsicht einem Computer, der nur ein einziges Mal programmiert werden konnte: er war erstaunlich lernfähig, aber wenn er etwas auf eine bestimmte Weise tat, gab es fast nichts mehr, was ihn wieder davon abbringen konnte.

»Guten Morgen, Solomon«, antwortete Claire. Es hatte eine

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Weile gedauert, bis sie begriffen hatte, daß Solomon großen Wert auf die Einhaltung bestimmter Umgangsformen legte. Diese manchmal schon fast lächerlichen Förmlichkeiten änderten nichts daran, daß Solomon längst zur Familie gehörte.

Wie jeden Morgen führte ihn sein erster Gang zur Kaffeekan-ne, neben der die Tasse mit seinem aufgedruckten Namen stand. Claire hatte sie eigens für ihn anfertigen lassen, und das Ergebnis hatte ihre kühnsten Erwartungen übertroffen. Solo-mon hatte sich gefreut wie ein Kind und war fast eine viertel Stunde lang aufgeregt durch das Haus gelaufen, wobei er die Tasse wie einen Schatz an sich gedrückt und sie immer wieder Michael und Emma gezeigt hatte.

Er schenkte sich ein, sah sich suchend um und bedankte sich noch einmal und in seiner gewohnten Förmlichkeit, als Claire ihm Süßstoff und Milch reichte. In diesem Moment polterten Michael und Emma nebeneinander in die Küche. Emma krähte Solomon ein fröhliches Guten Morgen entgegen. Solomon strahlte über das ganze Gesicht, während Joe, erschrocken über den plötzlichen Lärm, mit den Beinen strampelte und leise zu weinen begann. Claire warf ihrer Tochter und ihrem kaum weniger albernen Mann einen strafenden Blick zu, der Micha-els Grinsen aber eher noch breiter werden ließ.

»Ups!« sagte Emma. »Entschuldige, Mom.« »Ups!« fügte Michael feixend und im gleichen Tonfall hinzu. »Entschuldige, Mom.« Claire verdrehte in geschauspielertem

Entsetzen die Augen, aber sie war klug genug, nichts zu sagen und Michael damit womöglich ein Stichwort zu geben, noch mehr herumzublödeln. Sie hatte es längst aufgegeben, vernünf-tig mit Michael reden zu wollen, wenn er mit seiner Tochter herumalberte.

Joes Weinen wurde ein bißchen heftiger, und als Claire sich zu ihm herumdrehte, sah sie, wie Solomon die Tasse abstellte und den Jungen behutsam aus seinem Körbchen nahm. »Nicht weinen, kleines Baby«, sagte er. »Emma wollte dich nicht

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erschrecken. Sie hat nur einen Spaß gemacht, siehst du?« Claire fuhr sichtbar zusammen. Für den Bruchteil einer

Sekunde loderte beinahe so etwas wie Entsetzen in ihr auf, als sie Joe in Solomons Armen sah. Dabei stellte Solomon sich durchaus geschickt an. Er hielt den Jungen sehr vorsichtig, aber auch fest genug, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Zärtlichkeit, den sie noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte. Trotzdem ging sie zu ihm und nahm ihm Joe sanft, aber auch sehr entschieden aus den Armen.

»Danke schön, Solomon«, sagte sie. Solomon blinzelte. Sein Lächeln entgleiste für einen Moment. Er schien zu spüren, daß er etwas falsch gemacht hatte, aber er wußte nicht, was. Wenn es etwas gab, was Solomon fürchtete, dann war es, einen Fehler zu begehen.

»Hat man dir bei der Better-Day-Society nicht gesagt, daß du dich lieber nicht um das Baby kümmern sollst?« fragte Claire. Sie gab sich Mühe, den Tadel in ihrer Stimme nicht zu deutlich werden zu lassen, aber natürlich hörte ihn Solomon. Er hätte ihn wahrscheinlich auch gehört, wenn er gar nicht dagewesen wäre.

»Oh, Verzeihung«, sagte Solomon niedergeschlagen. »Das … das hatte ich vergessen. Ich wollte ihn nur trösten.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Claire. »Danke schön.« Sie schenkte Solomon ein Lächeln, von dem sie wenigstens hoffte, daß er es als so ehrlich empfand, wie es gemeint war, und wiegte Joe auf den Armen, bis er zu weinen aufhörte. Solomon sah ihr noch einen Moment zu, aber dann hatte er es plötzlich sehr eilig, seinen Kaffee auszutrinken und zu gehen. Claire sah ihm nach, bis er in der Garage verschwunden war, dann legte sie Joe behutsam in die Wiege zurück.

Als sie sich umdrehte, begegnete sie Michaels Blick, und für einen ganz kurzen Moment sah sie eine deutliche Spur von Mißbilligung darin. Sie wußte nicht, ob sie dem galt, was Solomon getan hatte, oder ihrer eigenen überzogenen Reaktion.

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Sie versorgte ihre Familie mit Kaffee, Orangensaft und den frisch gebackenen Waffeln, deren Duft schon seit einer geraumen Weile durch das Haus zog. Michael aß schweigend und tauschte nur dann und wann ein Scherzwort mit Emma, aber Claire spürte, daß er sie manchmal auf eine seltsame Art ansah; immer wenn er glaubte, daß sie es nicht bemerkte.

Auch Michael hatte sich in den letzten sechs Monaten verän-dert. Er trug jetzt einen kurzgeschnittenen sehr dichten Voll-bart, der ihn absurderweise jünger erscheinen ließ. Und er war irgendwie … ruhiger geworden. Die neuerliche Vaterschaft hatte ihn reifen lassen, ohne ihm dadurch irgend etwas von seiner jungenhaften Unbeschwertheit zu nehmen. Trotzdem wirkte er jetzt irgendwie erwachsener, auf eine schwer zu greifende, aber deutlich spürbare Art.

»Also?« sagte er schließlich. »Was ist los?« Claire sah von der Waffel auf, in der sie in den letzten Minu-

ten fast lustlos herumgestochert hatte. »Wie?« »Mach mir nichts vor«, sagte Michael lächelnd. »Du hast

doch etwas auf dem Herzen. Was ist es?« »Sieht man es mir so deutlich an?« fragte Claire verlegen. Es

war ihr unangenehm, so leicht durchschaubar zu sein. »Es steht in flammenden Lettern auf deiner Stirn geschrie-

ben«, behauptete Michael. Emma lachte. »Leider in einer Schrift, die ich nicht entziffern kann.«

Claire resignierte. Sie war tatsächlich niemals eine gute Schauspielerin gewesen. »Der Botanische Garten«, begann sie. »Er bekommt neue Gewächshäuser. Ich habe mit ihnen gesprochen, weißt du? Vielleicht kann ich von ihnen das Gerüst von einem der alten bekommen.«

Michael warf einen Blick durch das Fenster in den Garten hinaus, ehe er antwortete. Claire als eine Blumennärrin zu bezeichnen wäre der Wahrheit nur annähernd nahe gekommen. Ihr Garten machte vielleicht noch nicht viel her, aber das lag einzig daran, daß der Umzug und die anschließende Entbin-

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dung ihr bisher sehr wenig Zeit gelassen hatten, mit Schaufel, Hacke und Pflanzkelle darüber herzufallen. Michael war den Verdacht niemals ganz losgeworden, daß der große Garten allein der Grund war, daß sich Claire schließlich für dieses Haus entschieden hatte, statt für eines der anderen beiden, die in der engeren Wahl gewesen waren.

»Ich verstehe«, seufzte er. »Du willst dir ein Gewächshaus bauen.«

»Warum nicht?« fragte sie. Emma sah sie mit offenem Mund an, und Claire suchte ein paar Sekunden lang vergeblich nach den richtigen Worten. »Natürlich nur ein kleines. Keines von den großen – dafür hätten wir ja gar keinen Platz. Aber ich könnte ein Gerüst bekommen und auch alles, was man sonst noch so braucht, und ich … nun ja, ich müßte es nur noch verglasen.« Was ein kleines Vermögen kosten würde. Vor-sichtshalber sagte sie das nicht laut.

»Hältst du das für eine gute Idee?« fragte Michael. »So teuer wird es nicht«, sagte Claire fast hastig. »Ich könnte

das meiste selbst machen, und –« »Ich rede nicht vom Geld«, unterbrach Michael sie. Sein

Blick wurde ein wenig ernster. »Sondern davon, daß du schon wieder alles mögliche selbst machen willst. Du mutest dir einfach zu viel zu, Liebling. Das große Haus, der Garten, die Kinder …« Er seufzte, und Claire wußte, was kommen würde, noch bevor er weitersprach. »Wir sollten wirklich noch einmal darüber nachdenken, ein Kindermädchen einzustellen.«

Claire gewann ein paar Sekunden, indem sie einen weiteren Bissen von der längst kalt gewordenen Waffel nahm. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es ist so viel Geld.«

»Unsinn«, sagte Michael sanft. »Wir können es uns leisten, und das weißt du.«

Natürlich wußte sie es. Und das Geld war auch nicht der wahre Grund. »Von den Mädchen, die sich bis jetzt beworben haben, würde ich keiner auch nur zutrauen, unsere Blumen

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zuverlässig zu gießen – geschweige denn, sich um Joe zu kümmern«, sagte sie. Das kam der Wahrheit schon näher – aber der wahre Grund war es noch immer nicht. Der wirkliche Grund war, daß sie einfach nicht wollte, daß sich eine Fremde um Joe kümmerte. Michael wußte das, aber er war diploma-tisch genug, es nicht zu deutlich auszusprechen.

»Wir haben das Geld für ein Kindermädchen«, beharrte Michael. »Du mußt nicht mehr alles selbst machen, wie damals bei Emma …«

Emma, die ihren Namen gehört hatte, fühlte sich genötigt, etwas zu der Diskussion beizutragen. »Solomon!« schlug sie vor. »Der wäre doch ein gutes Kindermädchen.«

Claire lächelte. »Ich weiß nicht, ob Solomon der Richtige wäre«, sagte sie.

»Warum nicht?« Claire tauschte einen Blick mit Michael, sah aber sofort, daß

sie von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. »Weißt du, Schatz«, begann sie, »ich habe dir doch schon einmal erklärt, daß Solomon ein ganz besonderer Mensch ist. Erinnerst du dich?«

Emma machte ein gewichtiges Gesicht und nickte. »Ja.« »Und … nun ja, es gibt eben ein paar Dinge, die er besonders

gut kann: Zäune bauen, Wände streichen, Dächer reparieren und so etwas. Aber es gibt auch Dinge, die er leider nicht kann.«

»Aber was soll er denn machen, wenn er den Zaun fertig gestrichen hat?« wollte Emma wissen. In ihrer Stimme war fast so etwas wie Panik.

Diese Frage würde sich wahrscheinlich erst in zwei oder drei Jahren stellen, dachte Claire spöttisch. Solomon war wirklich gut, aber er war auch langsam. Er hatte Monate gebraucht, um den alten Zaun abzureißen und den neuen aufzustellen, und er war noch nicht damit fertig, ihn zu streichen. Allerdings war es auch ein kleines Kunstwerk geworden, auf das er mit Recht stolz sein konnte.

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»Wenn er mit dem Anstreichen fertig ist, dann werden wir sicher eine neue Arbeit für ihn finden«, sagte Michael. Er blinzelte seiner Tochter zu. »Keine Sorge – Solomon bleibt uns bestimmt noch eine ganze Weile erhalten.«

Michael leerte seinen Kaffee, sah auf die Uhr und stand mit einer plötzlich hastigen Bewegung auf. »Es wird Zeit. Wir haben heute ein volles Programm im Labor. Möglicherweise komme ich später. Ich rufe an.«

Claire begleitete ihn zur Tür, während Emma, deren Schulbus erst in zehn Minuten kam, ihre Aufmerksamkeit auf den Fernseher verlagerte, der mit abgeschaltetem Ton lief. Sie küßten sich zum Abschied, und Michael wandte sich nach rechts zur Garage, blieb aber nach zwei Schritten noch einmal stehen.

»Wir reden heute abend noch einmal über das Kindermäd-chen, okay?« sagte er.

»Und das Gewächshaus?« fragte Claire. »Ich meine, ich … will nicht drängen, aber sie sind begehrt. Wenn ich zu lange warte, sind sie alle weg.«

Plötzlich grinste Michael. »Darüber reden wir danach.« »Das ist Erpressung«, sagte Claire finster. »Ich weiß«, antwortete Michael feixend. »Das ist ja gerade

das Schöne.« Claire streckte ihm die Zunge heraus, und Michael lachte

noch lauter und machte sich endgültig auf den Weg, während Claire ins Haus zurückging.

Emma starrte noch immer mit scheinbar höchster Konzentrati-on auf den Fernseher, was Claire zu einem mißbilligenden Stirnrunzeln veranlaßte. Sie gehörte nicht zu jenen Müttern, die mit schon fast militantem Eifer gegen das Fernsehen wetterten, aber zum Frühstück mußte es nun wirklich noch nicht sein.

Kommentarlos ging sie an Emma vorbei und schaltete den

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Fernseher ab. Im allerersten Moment schien Emma nicht einmal aufzufallen, daß sie eine leere Mattscheibe anstarrte. Schließlich stand sie auf, schob ihren Teller mit einer demon-strativen Geste zurück und stand auf.

»Muß ich heute zur Schule?« fragte sie plötzlich. Claire sah sie verwirrt und besorgt an, öffnete aber die Haustür und machte eine entsprechende Geste. Emma verließ gehorsam das Haus, startete aber trotzdem noch einen letzten Versuch.

»Ich fühle mich gar nicht wohl, Mom«, sagte sie. Claire sah nach rechts, die Straße hinunter. Der Schulbus war

noch nicht in Sicht. »Geh noch mal ins Bad«, sagte sie. »Ich passe auf, daß der Bus nicht wegfährt.«

»Das ist es nicht.« Emma zog die Nase kraus. »Mein Kopf tut weh.«

Claire legte die Hand auf ihre Stirn. Kein Fieber. »Stimmt irgend etwas in der Schule nicht?« fragte sie geradeheraus.

»Nein. Ja. Ich …« Emma druckste einen Moment herum. Sie senkte den Blick. »Da ist ein Junge, der …« Sie atmete hörbar ein. Offenbar fiel es ihr schwer, weiter zu sprechen. »Er ist so gemein zu mir. Er … er ärgert mich den ganzen Tag.«

»Hast du mit Mrs. Henry darüber gesprochen?« fragte Claire. Emma nickte. Sie sah Claire nicht an. Es war Emmas erstes

Jahr in der Schule, die Probleme mit diesem Jungen waren für sie so groß und wichtig. Sie durfte keinen Fehler begehen, dachte Claire.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte sie. »Du gehst jetzt brav zur Schule. Ich hole dich heute nachmittag ab. Du zeigst mir den Jungen, und ich rede mit ihm.«

Emma nickte, aber sie sah nicht sehr erleichtert aus. Sie starrte weiter ihre Schuhspitzen an. »Kann Dad das nicht machen?« fragte sie.

»Dad? Warum?« »Er kann viel böser sein als du«, sagte Emma. »Ich verspreche, ich werde mächtig böse sein«, sagte Claire.

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Emma sah sie an. Sie sagte nichts, aber Claire kannte diese ganz bestimmte Art ihrer Tochter, nichts zu sagen. Claires Worte hatten sie nicht überzeugt, aber sie wollte ihre Mutter nicht verletzen.

Claire verspürte ein rasches, aber sehr intensives Gefühl von Stolz auf ihre Tochter. Emma war sehr reif für ihr Alter; manchmal fragte sie sich sogar, ob sie nicht sogar ein bißchen zu reif war.

Sie verscheuchte den Gedanken. »Es wird Zeit, Schatz«, sagte sie. »Der Schulbus wartet nicht.«

Emma stand widerwillig auf. Claire begleitete sie zur Tür, und tatsächlich bog der gelbgestrichene Schulbus um die Ecke, kaum, daß sie aus dem Haus getreten waren.

»Wo ist deine Jacke?« fragte Claire. Emma pflegte ihre Jacke beinahe regelmäßig zu ›vergessen‹. Der Morgen war zwar warm, und der Tag würde noch wärmer werden, aber der Sommer war vorbei; vor unangenehmen Überraschungen war man nicht mehr gefeit, was das Wetter anging.

»In der Küche«, antwortete Emma. »Ich hole sie.« Und verpaßt rein zufällig den Bus, dachte Claire spöttisch.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts da«, sagte sie. »Lauf zum Bus und bitte den Fahrer, einen Moment zu warten. Ich hole deine Jacke.«

Emma flitzte los, und Claire trat ins Haus zurück und ging rasch in die Küche. Sie fand die Strickjacke nicht auf Anhieb, so daß sie einige weitere Sekunden mit Suchen verlor. Sie rannte zurück zur Tür, aber sie ahnte bereits, daß sie zu spät kommen würde. Der Busfahrer hatte seinen Fahrplan einzuhal-ten und konnte nicht wegen jeder vergessenen Jacke warten.

Die hydraulischen Türen des Busses schlossen sich zischend, als Claire aus dem Haus trat. Sie begann zu laufen, doch in diesem Moment setzte sich der Bus bereits in Bewegung. Obwohl sie wußte, daß sie praktisch keine Aussicht mehr hatte, noch rechtzeitig zur Straße zu kommen, legte sie einen kurzen

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Spurt ein und winkte zugleich mit der Hand, die die Jacke hielt. Trotzdem wäre sie zu spät gekommen. Der Bus wurde schnel-

ler, nahm Kurs auf die nächste Straßenbiegung – und wurde jäh wieder langsamer. Die Bremslichter blinzelten nervös, während der Wagen mitten auf der Fahrtbahn zum Halten kam. Claire war stehengeblieben, lief jetzt aber noch einmal weiter und reichte Emma die Jacke durch ein Fenster.

Schwer atmend trat sie zurück, während der Bus weiterfuhr. Sie verspürte schon wieder einen leisen, scharfen Stich in der

Brust. Daß sie ihre Krankheit in den letzten Wochen so gut wie nicht gespürt hatte, hieß nicht, daß sie sich nun zu den olympi-schen Spielen anmelden konnte. Sie mußte vorsichtig sein.

Erst als der Wagen weitergefahren war, sah Claire den Grund, warum er überhaupt noch einmal angehalten hatte. Es war eine junge, sehr schlanke Frau, ungefähr in Claires Alter, vielleicht ein, zwei Jahre jünger. Sie hatte langes, hellblondes glattes Haar und ein schmales Gesicht mit sehr klaren Linien, das offen und auf den ersten Blick sympathisch wirkte. Sie trug weder Make-up noch irgendwelchen Schmuck und sehr einfache, trotzdem aber geschmackvolle Kleidung. In ihren Augen stand ein warmes Lächeln, das Claire verriet, daß sie den Bus ganz bewußt angehalten hatte, weil sie Claires Bredouille erkannt hatte.

»Vielen Dank«, sagte Claire. »Emma vergißt immer ihre Jacke. Dabei könnte es Regen geben.«

Der Himmel über der Stadt war beinahe ebenso strahlend wie das Lächeln der jungen Frau. Trotzdem antwortete sie: »Kinder sind doch alle gleich. Wenn man sie gewähren läßt, laufen sie im tiefsten Winter im T-Shirt herum und tragen im Sommer einen Pelzmantel.«

»Ja«, sagte Claire. Offensichtlich wollte die junge Frau mit ihr ins Gespräch kommen. Claire war ihr wirklich dankbar für ihre Hilfe, aber so etwas war ganz und gar nicht ihre Art. »Vielen Dank noch einmal«, sagte sie. Eine Sekunde lang sah

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sie die andere noch unschlüssig an, ehe ihr klar wurde, daß sie die Peinlichkeit damit nur noch betonte. Schließlich drehte sie sich um, um zu gehen.

»Ähm … Entschuldigung?« Claire blieb stehen und drehte sich noch einmal herum. »Ja?« »Sie wohnen doch hier«, sagte die junge Frau. »Ich … ich

suche jemanden, wissen Sie? Vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche die Bartels.«

Claire zögerte einen winzigen Moment, gerade lang genug, um ihr attraktives Gegenüber eingehender zu mustern. »Ich bin Claire Bartel«, sagte sie schließlich. »Kennen wir uns?«

»Noch nicht.« Die junge Frau überwand die restliche Entfer-nung zu Claire mit einem raschen Schritt und streckte ihr die Hand entgegen. Sie lächelte, wirkte aber kein bißchen über-rascht; der Umstand, daß die Frau, die sie nach Claire Bartel gefragt hatte, niemand anderes als ebendiese Claire Bartel war, schien sie nicht im geringsten zu irritieren. Ganz im Gegenteil: Claire war beinahe sicher, daß sie ziemlich genau gewußt hatte, wem sie gegenüberstand. Aber an ihrem Lächeln war nichts Falsches, und ihr Händedruck war fest und ehrlich. »Mein Name ist Peyton Flanders. Ich habe gehört, daß Sie ein Kindermädchen suchen.«

Nun war Claire an der Reihe, überrascht zu sein, und offen-sichtlich sah man ihr ihre Überraschung deutlich an, denn Peyton ließ nicht nur ihre Hand los, sondern trat auch ganz instinktiv einen Schritt zurück. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Ich kann später wiederkommen, wenn es jetzt nicht –«

»Nein, nein, schon gut«, unterbrach sie Claire. »Ich war nur … nicht darauf vorbereitet, das ist alles. Aber gehen wir doch ins Haus, Mrs. Flanders.«

»Peyton.« Peyton lächelte. »Niemand nennt mich Mrs. Flan-ders. Das klingt nach Haarknoten, Hornbrille und schwarzen Taftunterröcken, finde ich.«

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»Peyton, in Ordnung. Ich bin Claire. Kommen Sie, gehen wir ins Haus.« Sie erneuerten ihr Händeschütteln, dann gingen sie nebeneinander zum Haus zurück und traten ein. Peyton sah sich sehr aufmerksam um, sowohl auf dem Weg zum Haus als auch im Haus selbst, aber es war eine Art von Neugier, an der nichts Unangenehmes war. Vielleicht, weil sie nicht versuchte, sie irgendwie zu verbergen. Sie sah sich um, und was sie sah, schien ihr zu gefallen; es gab keinen Grund, ein Geheimnis daraus zu machen.

»Möchten Sie einen Kaffee?« fragte Claire, während sie ihren Besuch ins Wohnzimmer geleitete. Im stillen beglückwünschte sie sich dazu, gestern abend noch aufgeräumt zu haben. Claire hob sich die Hausarbeit manchmal bis zum nächsten Tag auf; für die Stunden, in denen Emma in der Schule und Joe noch nicht wach war. Gestern abend hatte sie, scheinbar einem sinnlosen Impuls folgend, mit Staublappen und Tablett das Erdgeschoß durchstreift, was ihr sogar eine spitze Bemerkung Michaels eingetragen hatte. Aber das Ergebnis ließ sich sehen: das Wohnzimmer blitzte vor Sauberkeit.

Peyton, die sich weiter mit der gleichen unverblümten Neu-gier umsah wie bisher, entging natürlich auch das nicht. Die Hausfrau in Claire registrierte es mit deutlichem Stolz; was die aufgeklärte, moderne junge Amerikanerin des ausklingenden zwanzigsten Jahrhunderts in ihr zu einem gedanklichen Stirnrunzeln veranlaßte.

»Wenn es keine Mühe bereitet.« Peytons Antwort kam unge-fähr eine Sekunde zu spät, um noch spontan zu sein.

»Überhaupt keine. Ich wollte sowieso gerade eine Tasse trinken. Er ist fertig.« Sie machte eine einladende Geste auf die Couch und ging in die Küche, ohne die Reaktion ihrer Besu-cherin abzuwarten.

Erst als sie damit beschäftigt war, Tassen, Milchkännchen und die Warmhaltekanne auf das Tablett zu räumen, kam ihr zu Bewußtsein, daß ihr Verhalten nicht nur nicht höflich, sondern

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auch leichtsinnig war. Schließlich war diese Peyton – was für ein sonderbarer Name, dachte sie flüchtig, eine Wildfremde, die sie vor kaum fünf Minuten das erste Mal gesehen hatte.

Michaels Kommentar zu ihrem Vertrauen, die Fremde völlig allein und unbeobachtet im Wohnzimmer zurückzulassen, konnte sie sich lebhaft vorstellen. Dazu kam, daß sie sehr sicher war, sich nicht mit ihr verabredet zu haben. Vielleicht steckte Michael dahinter. Sie traute ihm durchaus zu, ihr zögerliches Vielleicht als ganz energisches Ja gewertet und sich sofort auf die Suche nach einem Kindermädchen gemacht zu haben.

Ihr Mißtrauen war unangebracht gewesen – Peyton saß in lockerer Haltung auf der Couch, als Claire ins Wohnzimmer zurückkam, und sah sich mit der gleichen Neugier wie auch draußen um. Diesmal gefiel Claire die Offenheit ihres Blickes schon deutlich weniger. Aber sie rief sich in Gedanken zur Ordnung. Claire war niemals ein Freund vorschneller Urteile gewesen.

Sie schüttelte den Kopf, als Peyton aufstehen und ihr helfen wollte, lud ihre Last auf der Tischplatte ab und schenkte Peyton und sich ein, ehe sie das Gespräch eröffnete. »Um ehrlich zu sein, Peyton – ich hatte vollkommen vergessen, daß wir verabredet waren. Normalerweise werfe ich meine Termine nicht so durcheinander, aber –«

»Wir sind ehrlich gesagt gar nicht verabredet«, fiel ihr Peyton ins Wort. Sie gab damit zu, sie getäuscht zu haben, aber sie lächelte so entwaffnend, daß es Claire einfach nicht möglich war, ihr böse zu sein. Zumal sie dieses Eingeständnis nicht sonderlich überraschte.

»Nein?« sagte sie. »Hat eine Stellenvermittlung Sie ge-schickt?«

Peyton schüttelte den Kopf und nippte an ihrem Kaffee, ehe sie antwortete. »Ich habe mich an keine Vermittlung gewandt.« Ein zweiter Schluck Kaffee, gefolgt von einem etwas längeren

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Zögern, das dem nachfolgenden, dritten Eingeständnis größeres Gewicht verlieh. »Ich fürchte, das hätte nicht viel Zweck gehabt. Vermittlungen verlangen Zeugnisse, Empfehlungs-schreiben …«

»Und Sie haben keine«, sagte Claire in Peytons verlegenes Schulterzucken hinein.

»Ich habe bisher nur für eine einzige Familie gearbeitet«, sagte Peyton. »Sie sind aber weggezogen, und da wußte ich nicht, was ich tun sollte.«

Auch dieses Eingeständnis erweckte eher Claires Sympathien, statt sie ärgerlich zu machen. Peyton verwirrte sie mehr, als sie wahrhaben wollte. Sie war eine junge, ziemlich hilflose Frau, die von dem, was sie tat, selbst nicht sehr überzeugt war, vielleicht aber keine andere Wahl hatte. Trotzdem strahlte sie Selbstsicherheit und Stärke aus.

»Wie sind Sie dann auf uns gekommen?« fragte sie. »Ich war mit dem kleinen Mädchen im Park«, antwortete

Peyton, »und da hörte ich von anderen Kindermädchen, daß Sie jemanden suchen. Es … tut mir leid. Ich hätte wohl lieber doch nicht einfach so hereinplatzen sollen. Ich sehe, daß es Ihnen unangenehm ist.«

»Ach was«, antwortete Claire lachend. »Ich war ein bißchen überrascht, das ist alles.«

»Trotzdem.« Peyton klang plötzlich sehr entschieden. Sie stand auf. »Ich werde besser wieder gehen. Bitte, entschuldigen Sie den Überfall.«

Sie machte eine Bewegung zur Tür, aber Claire winkte sie mit einer raschen Geste zurück, ohne selbst aufzustehen. »Seien Sie nicht albern, Peyton. Wenn Sie schon einmal hier sind, können wir auch miteinander reden. Setzen Sie sich wieder.«

»Sind Sie sicher?« »Ganz sicher«, antwortete Claire. Mit einem Lächeln fügte

sie hinzu: »Außerdem habe ich uns Kaffee eingegossen, und es ist langweilig, allein zu trinken.«

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Peyton setzte sich wieder, und Claire maß sie mit einem neuerlichen, sehr aufmerksamen Blick, den Peyton gelassen erwiderte. Was Claire sah, verwirrte sie zutiefst, denn es gefiel ihr, aber es steigerte ihr Mißtrauen zugleich auch. Peyton Flanders mußte ungefähr in ihrem Alter sein, war aber etwas schlanker und von zarterem Wuchs, und sie war nicht nur hübsch, wie Claire bereits auf den ersten Blick festgestellt hatte. Sie war eine wirkliche Schönheit. Ihr Make-up war ein wenig zu plump und zerstörte mehr, als es verbesserte, und ihr letzter Frisörbesuch mußte ungefähr einen Monat zu lange zurückliegen, aber das waren nur Kleinigkeiten, die kaum dem ersten Blick standhielten; ebenso, wie ihre einfache Kleidung nicht war, was sie zu sein vorgab. Claire hätte sich Peyton Flanders ebensogut als Filmschauspielerin vorstellen können, die das einfache Mädchen spielte, ohne es wirklich zu sein.

Vielleicht war es das, was sie so sehr an der jungen Frau irritierte: Sie war kein Kindermädchen, ganz egal, wie sehr sie sich bemühte, es darzustellen. Viel deutlicher noch als das, was sie sah, war das, was Claire spürte. Ihre innere Stimme riet ihr mit Nachdruck, vorsichtig zu sein. Und vielleicht hätte sie sogar auf sie gehört, wäre ihr nicht in diesem Moment klar geworden, daß sie Peyton seit einer geschlagenen Minute anstarrte. So räusperte sie sich verlegen und begann ein wenig unbeholfen: »Normalerweise stelle ich immer ein paar dumme Fragen wie: Sind Sie schon alt genug, um Auto zu fahren …«

Peyton lachte. »… aber ich denke, das können wir uns in diesem Fall sparen.

Wie sind Sie –« Ihr rechter Ohrring löste sich. Claire wollte danach greifen, verfehlte ihn aber, und der kleine Anhänger fiel auf den Teppich und rollte direkt vor Peytons Füße. Die junge Frau bückte sich, hob ihn auf und drehte ihn einen Moment und mit kundigem Blick in den Fingern.

»Hier, bitte.« »Der Verschluß ist kaputt.« Claire nahm den Clip entgegen

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und steckte ihn ein. »Mein Mann sagt seit Monaten, daß ich ihn reparieren lassen soll, aber ich komme einfach nicht dazu. Irgendwann werde ich ihn wohl wirklich verlieren.«

»Das wäre schade«, sagte Peyton. »Es ist ein sehr schönes Stück.«

Offensichtlich war es mit ihrem Kennerblick doch nicht so weit her, dachte Claire. Die Clips waren Michaels erstes Geschenk gewesen, als sie an wertvollen Schmuck nicht einmal zu denken wagten. Sie trug sie wegen der Erinnerung, nicht wegen des materiellen Wertes.

»Also, wie sind Sie Kindermädchen geworden?« fuhr Claire fort.

Ein Schatten huschte über Peytons Gesicht. Sie gab sich alle Mühe, ihre Miene im Zaum zu halten, aber in ihren Augen war plötzlich eine Dunkelheit, die Claire schaudern machte – und ein heftiges Mitgefühl in ihr auslöste, noch bevor Peyton antworten konnte. Vielleicht hätte sie diese Frage nicht stellen sollen.

»Ich … war vor einigen Jahren selbst schwanger und habe innerhalb von ein paar Tagen meinen Mann und mein Baby verloren«, sagte Peyton leise.

»Das tut mir leid«, sagte Claire. »Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nicht …«

»Es macht nichts«, sagte Peyton. Das war gelogen. Der Schatten in Peytons Augen wuchs zu einer Schwärze heran, die sie für einen Moment zu übermannen drohte.

Sie beherrschte sich, aber Claire ahnte, wie schwer es ihr fallen mußte.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, einen solchen Schicksalsschlag zu erleiden. Michael und Joe inner-halb kürzester Zeit zu verlieren? Der Gedanke allein war so entsetzlich, daß sie davor zurückschreckte, ihn auch nur theoretisch weiter zu verfolgen.

»Sie müssen nicht darüber sprechen«, sagte sie sanft.

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»Es ist lange genug her, daß ich es kann«, behauptete Peyton. »Nach der Fehlgeburt wurde ich operiert, und …« Sie atmete hörbar ein und lächelte schmerzlich. »Ich kann nie wieder Kinder bekommen. Es war für mich eine sehr schwere Zeit, aber dann haben mich Freunde mit einer Familie bekannt gemacht, die ein Kindermädchen suchte. Ich dachte, ich versuche es einmal, und … es war ideal für mich und für die Familie. Ich … ich liebe Kinder. Ich bin wirklich gerne mit ihnen zusammen.« Sie sah Claire fest in die Augen. »Für mich ist es dann beinahe so, als ob ich selber Mutter wäre.«

Natürlich konnte Peyton das nicht wissen – aber sie verringer-te ihre Chancen, Joes Kindermädchen zu werden, mit diesen Worten ganz gewaltig. Begeisterung allein war es nicht, was Claire verlangte. Sie suchte jemanden, der sich um die Bedürf-nisse ihres Sohnes kümmerte, wenn sie selbst es nicht konnte. Keine Ersatzmutter. Claires Herz war so voller Liebe für ihr Kind, daß es die eines anderen Menschen wirklich nicht mehr brauchte.

»Haben Sie noch mehr Kinder?« fragte Peyton. »Nur Emma«, antwortete Claire. »Sie geht bereits zur Schule

– aber das wissen Sie ja.« Peyton nickte. »Zwei Kinder, ein Mann und dieses große

Haus … das ist viel Arbeit. Ich schätze, Sie brauchen jeman-den, der Ihnen hilft. Ich würde Ihnen selbstverständlich auch bei der Hausarbeit und im Garten zur Hand gehen.«

»Im Haus gerne, aber in meinen Garten kommen Sie nur über meine Leiche«, antwortete Claire lachend und registrierte mit einem Gefühl leiser Verwunderung, daß sie bereits mit Peyton sprach, als hätte sie sie schon eingestellt.

»Sie arbeiten gern im Garten?« »Ich bin besessen davon«, gestand Claire. »Wissen Sie, ich

möchte ein eigenes Geschäft eröffnen, mit einem eigenen kleinen Gewächshaus im Garten. Ich werde eine Menge zu tun und vielleicht wenig Zeit für die Kinder haben. So sind wir

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überhaupt auf die Idee gekommen, ein Kindermädchen zu suchen.«

»Ihr eigenes Geschäft. Wie wundervoll!« »Ja. Das war immer mein Traum. Jetzt könnte ich ihn mir

erfüllen, aber solange Joe noch so klein ist … Sie wissen ja, wie das mit einem Säugling ist. Er meldet sich immer genau dann, wenn man ihn am allerwenigsten gebrauchen kann. Obwohl Joe ein wirklich ruhiges Baby ist«, fügte sie fast hastig hinzu. Und als hätte er gehört, daß über ihn gesprochen wurde, meldete sich Joe in diesem Moment mit einem lauten Babyla-chen, das aus dem drahtlosen Babyphon drang, ins Wachsein zurück und erinnerte Claire daran, daß er noch immer in seinem Körbchen in der Küche lag. Einen Augenblick später wurde aus dem Lachen ein zaghaftes Weinen, und Claire stand mit einem entschuldigenden Lächeln auf.

»Das ist Joe«, sagte sie. »Er hat anscheinend gehört, was ich gesagt habe, und will seine Mutter gleich der ersten Lüge überführen.«

»Darf ich ihn sehen?« fragte Peyton.

»Beweg dich nicht!« Emma war noch einmal in die Klasse zurückgelaufen, um die

Strickjacke zu holen, die sie unter ihrem Pult liegengelassen hatte. Ganz wie ihre Mutter prophezeit hatte, waren im Laufe des Vormittags dunkle Wolken aufgezogen. Es regnete nicht, war aber doch fühlbar kühler geworden, und sie konnte sich die Standpauke lebhaft vorstellen, die sie erwartete, wenn sie mit einer Erkältung von einem Schulausflug zurückkehrte, wäh-rend die Jacke im Klassenzimmer zurückgeblieben war. Mrs. Henry hatte ihr nachgerufen, sich zu beeilen. Der Bus würde nicht warten; wenn sie ihn verpaßte, durfte sie den Rest des Vormittages in einer anderen Klasse verbringen, während ihre Mitschüler sich im Park vergnügten.

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Offensichtlich war es ganz genau das, was Roth im Sinn hatte – wenn nichts Schlimmeres. Emma hatte zu spät gemerkt, daß er ihr nachgekommen war.

»Was willst du?« fragte sie. Ihre Stimme zitterte, und Emma begriff, daß man ihr die Furcht nur zu deutlich anhörte. »Ich habe meiner Mutter gesagt, daß du es auf mich abgesehen hast. Wenn du mir etwas tust –«

»Du sollst dich nicht bewegen, hab’ ich gesagt!« fuhr Roth sie an. »Ich will dir nichts tun. Im Gegenteil. Da ist eine Biene!«

»Eine Biene? Wo?« Emmas Herz machte einen schmerzhaf-ten Sprung. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren, obwohl sie Roth jetzt ganz dicht hinter sich hören konnte. Sie war noch nie von einer Biene gestochen worden, aber nach allem, was sie darüber gehört hatte, mußte es ganz furchtbar sein.

»Direkt über dir«, antwortete Roth. »Sie … oh, oh!« Emma hörte ein leises Rascheln, und dann berührte etwas

ganz leicht ihr Haar – und setzte sich auf ihren Kopf. »Wo ist sie?« fragte Emma. »Sie sitzt direkt auf deinem Kopf«, antwortete Roth. »Ich an

deiner Stelle würde mich nicht bewegen. Sonst sticht sie dich.« »Tu sie weg!« wimmerte Emma. »Bitte, Roth, scheuch sie

weg!« »Ich bin doch nicht verrückt und lasse mich stechen«, antwor-

tete Roth. »Daran kann man sterben, weißt du das nicht?« Er trat an ihr vorbei, wobei sein Blick fest auf einen Punkt

über Emmas Scheitel gerichtet war. Er machte ein besorgtes Gesicht.

»Tu doch etwas«, wimmerte Emma. »Bitte!« Sie zitterte vor Angst, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie konnte die Biene jetzt ganz deutlich spüren – ein federleichtes Gewicht auf ihrem Kopf, das sich nicht bewegte, so sehr sie sich auch wünschte, sie möge davonfliegen, um jemand anderen zu stechen – zum Beispiel Roth, der vor ihr stand und sich jetzt

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nicht einmal mehr Mühe gab, Mitgefühl zu heucheln. Roth war der gemeinste Junge, den sie kannte. Er war ein gutes Stück kleiner als Emma, aber viel kräftiger, und außerdem war er ein Junge.

Er hatte es vom ersten Tag an auf Emma abgesehen gehabt. Anfangs hatte Emma versucht, das zu tun, was ihre Mutter ihr

geraten hatte: seine Provokationen einfach zu ignorieren und ihm im Notfall entschlossen und ruhig entgegenzutreten. Aber es hatte nichts genutzt. Es war immer schlimmer geworden.

Roth hatte ihr Stillhalten (nicht ganz zu Unrecht) für Angst gehalten. Und Roth hatte ihr in schwärzesten Farben ausge-malt, was ihr passieren würde, wenn sie ihre Eltern einweihte oder etwa zur Lehrerin ging. Daß sich Emma heute morgen ihrer Mutter anvertraut hatte, hatte all ihren Mut gekostet. Genutzt hatte es nichts.

»Ich hole Mrs. Henry« sagte Roth. »Bleib hier stehen und rühr dich nicht!« Damit fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Klassenzimmer.

Emma blickte ihm aus Augen nach, die sich allmählich mit Tränen zu füllen begannen. Sie hatte furchtbare Angst.

Zeit verging. Eine Minute. Zwei. Zwei Minuten vollkommen reglos zu stehen bedeutet schon für einen Erwachsenen eine gewaltige Anstrengung. Für Emma war es fast unerträglich. Sie spürte, wie sich all ihre Muskeln verkrampften. Ihre Beine begannen zu zittern und taten entsetzlich weh, und sie hätte am liebsten laut losgeschrien, wagte es aber nicht. Die Biene saß noch immer auf ihrem Kopf, ebenso reglos wie von Anfang an, aber sie war da und wartete zweifellos nur darauf, daß sie einen Muckser machte, um zuzustechen. Emma versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte: Ihr Kopf würde anschwellen wie eine Melone, und sie würde sich in Krämpfen auf dem Boden winden und schreien, falls sie nicht auf der Stelle tot umfiel, oder – Ihre Aufmerksamkeit ließ für eine Sekunde nach, und diese winzige Spanne reichte, das Gewicht auf ihrem

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Scheitel ins Rutschen zu bringen. Emma keuchte vor Schrek-ken – und riß ungläubig die Augen auf, als sie das kleine, braune Etwas sah, das neben ihrem rechten Fuß auf den Boden fiel und davonrollte. Es war keine Biene, sondern eine Erdnuß, die Roth höchstpersönlich dorthin praktiziert haben mußte.

Für einen Moment mischten sich Erleichterung, Zorn auf den ein Jahr älteren Jungen und Scham, auf diesen primitiven Trick hereingefallen zu sein, in Emma, so daß sie einfach nur dastand und die Nuß anstarrte. Dann fuhr sie herum, rannte aus der Klasse und sprang die Treppe herab, wobei sie immer zwei, manchmal sogar drei Stufen auf einmal nahm.

Sie erreichte die Tür gerade noch rechtzeitig genug, um zu sehen, wie der Bus vom Schulhof fuhr. Roth saß auf der hinteren Sitzbank, hatte das Gesicht gegen die Scheibe gepreßt und grinste sie höhnisch an. »Das Kinderzimmer liegt direkt gegenüber von unserem Schlafzimmer.« Claire bat Peyton mit einer entsprechenden Kopfbewegung, die Tür für sie zu öffnen, denn sie trug Joe auf den Armen. Sie hätte es zwar trotzdem selbst tun können, denn sie hatte in den Monaten seit Joes Geburt eine erstaunliche Geschicklichkeit darin entwickelt, Dinge zu tun, für die man eigentlich drei oder manchmal auch vier Hände brauchte. Aber Peyton schien immer genau zu wissen, was von ihr erwartet wurde.

»Es ist sehr schön«, sagte Peyton, als sie eintraten. Was eine weitere Lüge war, allerdings eine, die Claire ihr gerne verzieh. Das Zimmer war recht nett eingerichtet – aber mehr auch nicht.

»Es ist vor allem sehr praktisch«, antwortete Claire. »Solange Joe noch so klein ist, muß ich in manchen Nächten fünf- oder sechsmal zu ihm. Es wäre unpraktisch, wenn ich dazu jedesmal Treppen steigen müßte.«

»Und ziemlich anstrengend«, pflichtete Peyton ihr bei. Ihre

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Stimme kam Claire ein bißchen zu gönnerhaft vor. »Wenn er älter ist und die Nächte durchschläft, bekommt er

ein anderes Zimmer«, sagte Claire, die plötzlich das absurde Bedürfnis verspürte, sich zu rechtfertigen. »Es gibt unten noch ein leerstehendes Zimmer, gleich neben dem von Emma. Michael und ich haben schon ein paar gute Ideen, was den Ausbau angeht – und für die handwerkliche Seite haben wir Solomon.«

»Den Schwarzen?« fragte Peyton, während Claire Joe zu seiner Wiege trug und ihn behutsam hineinlegte. Joe brabbelte leise vor sich hin. Er war unruhig. Claire hatte Mühe, ihn hinzulegen und zuzudecken.

»Sie haben ihn gesehen?« »Flüchtig«, antwortete Peyton. »Er kam gerade mit einem

Farbeimer aus der Garage. Er hilft Ihnen im Haus?« »Solomon ist ein Juwel«, sagte Claire. »Eigentlich sollte er

uns nur einen Zaun bauen, aber mittlerweile hat er das halbe Haus umgestaltet. Er macht auf den ersten Blick einen unbe-holfenen Eindruck, aber geben Sie ihm einen Hammer und Farbe in die Hand, und er kann zaubern. Wir wüßten schon gar nicht mehr, was wir ohne ihn anfangen sollten.«

Unten im Haus fiel die Tür ins Schloß, und einen Augenblick später hörten sie Solomons Stimme: »Claire? Ich hätte da mal eine Frage.«

»Da ist er ja«, sagte Claire lächelnd. »Warten Sie einen Moment, bitte.« Lauter und zur Tür gewandt rief sie: »Ich komme.«

Peyton hatte das Zimmer wieder verlassen. Die Tür stand halb offen, so daß sie die unruhigen Laute des Babys hören konnte – wenn sie sich konzentrierte, sogar zweifach, denn das drahtlose Babyphon übertrug das leise Greinen des Kindes nach unten ins Wohnzimmer, wo das Empfangsgerät noch immer einge-

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schaltet war. Etwas lauter – aber nicht laut genug, um die Worte zu verstehen – drangen die Stimmen Claire Bartels und des Negers an Peytons Ohr. Die beiden schienen sich angeregt zu unterhalten; manchmal hörte sie Claires Stimme lachen.

Lautlos trat Peyton einen Schritt vor und beugte sich über das Treppengeländer. Sie sah zwei Schatten, mehr nicht. Sie zögerte noch eine Sekunde, dann wandte sie sich um, ging zum Kinderzimmer zurück und schob die Tür, die sie wohlweislich nicht ins Schloß gezogen hatte, weit genug auf, um hindurch-zuschlüpfen.

Ebenso lautlos näherte sie sich der Wiege. Das Baby schien ihre Nähe zu spüren, denn es wurde noch unruhiger, und Peyton verharrte für eine Sekunde mitten im Schritt, als ihr klar wurde, daß das Babyphon nicht nur das Weinen des Kindes, sondern auch jeden anderen Laut unerbittlich auffangen und ins Wohnzimmer hinuntersenden mußte.

Sie lauschte. Die Stimmen der beiden waren hier drinnen noch undeutlicher zu vernehmen, aber im Rhythmus der Worte hatte sich nichts verändert. Sie ging weiter, blieb neben der Wiege stehen und beugte sich über das Kind. Joe hörte für einen Moment auf zu weinen, als müsse er das neue Gesicht über sich erst mustern, um zu entscheiden, ob es sich lohnte, weiter auf einer vorgezogenen Mahlzeit zu beharren, und fuhr dann fort, leise und ohne besonders viel Nachdruck zu weinen.

Peyton streckte die Hände aus. Sie hatte nicht viel Zeit. Aber sie brauchte auch nicht viel Zeit. Eine Minute, vielleicht weniger. Ein Kind war so verletzlich, so leicht zu töten. Man mußte nicht einmal seine Hände einsetzen. Worte genügten. Ein Telefonat, eine Unterschrift auf einem Formular, und ein Leben war ausgelöscht, noch bevor es wirklich begonnen hatte. Wenn Claire auch nur noch eine Minute mit dem Schwarzen sprach, dann reichte ihre Zeit vielleicht sogar aus, um zu verschwinden, denn Peyton hatte sofort bemerkt, daß es einen zweiten Ausgang aus dieser Etage gab.

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Nicht, daß es drauf ankam. Peyton war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt versuchen würde, zu fliehen – obwohl ihre Chancen, davonzukommen, vermutlich nie wieder so gut sein würden wie jetzt. Claire kannte weder ihren richtigen Namen, noch wußte sie, wer sie war. Vermutlich ahnte sie nicht einmal, daß sie existierte. Aber nichts von alledem spielte eine Rolle.

Peyton hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, was geschehen würde, wenn sie getan hatte, wozu sie hier war.

Sie hatte über das Nachher gar nicht nachgedacht, weil es für sie kein Nachher gab. Ihr Leben diente nur noch einem einzigen Ziel, und das war, dieses Kind zu töten und damit seine Familie zu vernichten. Was danach geschah, mit ihr und dem Rest der Welt, war vollkommen gleich.

Und trotzdem zog sie nach einer Sekunde die Hände wieder zurück, richtete sich auf und ging wieder aus dem Zimmer. Joe weinte in seiner Wiege leise vor sich hin.

Ein dünnes, böses Lächeln erschien tief in Peytons Augen. Sollte er weinen, solange er es noch konnte. Sie würde dafür sorgen, daß es aufhörte.

Bald. Sehr bald. »… ja, komm bitte rauf und mach das Fenster von innen

rein«, sagte Claire, während sie vor Solomon die Treppe hinaufging. »Wenn du es nicht schaffst, warte, bis Michael zu Hause ist.«

Solomon zögerte. Aus Gründen, die nur er verstand und die nach Claires Meinung auch nur ihn etwas angingen, betrat er das obere Stockwerk, in dem ihr Schlafzimmer lag, nur äußerst widerwillig. Claire hatte ihn nie gefragt, warum das so war. Es gab Dinge, über die konnte man mit Solomon nicht vernünftig reden – es sei denn, man legte Wert auf eine halbstündige komplizierte Erklärung.

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Auch jetzt fiel Solomon rasch zurück, obwohl sie nicht einmal besonders schnell ging, während er schnaubend immer zwei Stufen auf einmal nahm. Claire lächelte, während sie ihm zusah. Manchmal verstand sie einfach nicht, wie ein Mensch zugleich so tolpatschig und so geschickt sein konnte. Solomon vermochte wie ein Affe auf einer Leiter herumzuturnen, bei deren bloßem Anblick ihr schon schwindelig wurde, und dabei drei Dinge zugleich zu erledigen – aber manchmal, wenn man ihm zusah, konnte man Zweifel bekommen, ob er überhaupt in der Lage war, sich aus eigener Kraft auf den Füßen zu halten.

Solomon blieb auf dem obersten Treppenabsatz stehen. Ein Ausdruck von Überraschung erschien auf seinem Gesicht, als er Peyton erblickte. Eine Sekunde später gesellten sich Miß-trauen und ein ganz sachter Schrecken hinzu. Claire beobachte-te diese Reaktion nicht das erste Mal bei Solomon. Es hatte nichts mit Peyton persönlich zu tun, das wußte sie. Solomon begegnete allen Fremden äußerst vorsichtig. Vielleicht hatte er schlechte Erfahrungen gemacht. Claire hatte ihn nie danach gefragt und würde es auch nicht tun, solange er nicht von sich aus davon anfing.

»Das ist Peyton«, sagte sie mit einer erklärenden Geste auf ihren Gast. »Peyton, das ist Solomon. Ich habe Ihnen von ihm erzählt.«

»Guten Tag«, sagte Peyton. »Freut mich.« Sie löste sich von ihrem Platz vor der Kinderzimmertür, wo sie offensichtlich auf Claires Rückkehr gewartet hatte, und trat Solomon entgegen. Sie lächelte, aber irgend etwas in diesem Lächeln war … seltsam, dachte Claire. Es war durchaus freundlich und offen, und sie betrachtete Solomon mit der gleichen unverblümten Neugier, mit der sie sich im Haus umgesehen hatte. Und doch war irgend etwas … anders daran, dachte Claire verwirrt.

Dann wußte sie es. Peyton sah Solomon nicht nur an, sie taxierte ihn; auf eine Weise, wie ein Boxer seinen Gegner ansehen mochte, während er nach einem schwachen Punkt in

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seiner Deckung sucht. Sie verscheuchte den Gedanken. Was war nur mit ihr los?

Peyton hatte ihr bisher nicht den mindesten Grund gegeben, in irgendeiner Weise mißtrauisch zu werden. Ganz im Gegenteil – ihre naive Ehrlichkeit begann mehr und mehr Sympathien in Claire zu wecken.

»Mich auch«, sagte Solomon. Er wirkte unsicher, aber das Mißtrauen in seinem Blick war verschwunden. Die Tatsache, daß Claire ihr zu vertrauen schien, reichte wohl aus, seine normalen Hemmungen zu überwinden.

Solomon schüttelte ihr die Hand und strahlte über das ganze Gesicht.

Peytons schlanke Finger verschwanden in seiner gewaltigen Pranke, und sie fuhr unmerklich zusammen. Solomons Griff schien ein wenig zu fest auszufallen, denn Peyton verlor für einen kurzen Moment die Beherrschung – auf ihrem Gesicht erschien eine Mischung aus Widerwillen und Kälte, die sie eine Menge von den Sympathien kostete, die Claire mittlerweile für sie empfand.

Allerdings nur für eine Sekunde, denn dann sah sie den wahren Grund für Peytons Erschrecken: Solomons Finger waren nicht ganz so schwarz, wie sie es eigentlich waren, sondern mit der blaßgrünen Farbe gesprenkelt, mit der er gerade die Fensterrahmen auf der Rückseite des Hauses strich. Sie hatten einen deutlichen Abdruck auf Peytons T-Shirt hinterlassen. Ein hübscher, grüner Abdruck, dachte Claire. Wetterfeste Latexfarbe, garantiert nicht auswaschbar.

»Oh!« sagte Solomon erschrocken. Hastig zog er die Hand zurück, starrte eine Sekunde auf seine Finger und dann eine weitere auf die beiden parallelen, grünleuchtenden Streifen auf Peytons T-Shirt und schien plötzlich ein sichtbares Stück in sich zusammenzuschrumpfen.

»Das … das tut mir sehr … sehr leid«, sagte er. »Entschuldi-gen Sie. Ich …«

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Wie immer, wenn er nervös war, begann er zu stammeln und unruhig auf der Stelle zu treten.

Peyton wischte ein paarmal mit dem Handrücken über den Fleck, ohne damit allerdings mehr zu erreichen, als die Farbe ein wenig gleichmäßiger auf ihrem T-Shirt zu verteilen. Sie runzelte die Stirn, aber sie sah jetzt eigentlich mehr überrascht als verärgert aus.

»Es … tut mir wirklich leid«, sagte Solomon noch einmal. Die Blicke, mit denen er sich umsah, erweckten in Claire den Eindruck, daß er nach einer Ritze im Boden suchte, in der er sich verkriechen konnte.

»Schon gut«, sagte Peyton. »Das macht doch nichts. So was passiert, nicht wahr? Das war ein Versehen.«

»Ja, ein … ein Versehen«, stammelte Solomon. »Es … es tut mir sehr …«

Er sprach nicht weiter. Seine Unsicherheit war wieder da, und plötzlich erschien in seinen Augen ein Schrecken, der weit über das Maß dessen hinausging, was Claire erwartet hatte. Hätte sie es nicht besser gewußt, dann hätte sie geschworen, daß Solomon in diesem Moment wirkliche Angst vor Peyton empfand. Sie nahm sich vor, später mit ihm zu reden und ihm klarzumachen, daß ein solches Mißgeschick jedem widerfahren konnte.

»Dann … dann gehe ich jetzt und arbeite weiter«, sagte Solomon. Er warf Claire einen beinahe flehenden Blick zu, aber er wartete ihre Reaktion gar nicht ab, sondern drehte sich um und lief so schnell die Treppe hinab, daß es einer Flucht gleichkam – was es wahrscheinlich auch war.

Claire sah ihm kopfschüttelnd nach, ehe sie sich wieder an Peyton wandte. »Ich werde Ihnen das T-Shirt ersetzen«, sagte sie. »Solomon ist manchmal ein bißchen ungeschickt, müssen Sie wissen.«

Peyton wehrte ab. »Aber das ist doch nicht nötig«, antwortete sie. »Ich glaube, ich habe ihn erschreckt.«

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»Dazu gehört nicht viel«, gestand Claire. »Ich hätte es Ihnen sagen müssen. Solomon ist … ein wenig naiv.«

Peyton legte den Kopf schräg. »Sie meinen, er ist … ver-rückt!«

Sowohl die Wortwahl als auch die Art, in der Peyton das Wort aussprach, gefielen Claire ganz und gar nicht. Sie setzte zu einer scharfen Antwort an – aber dann erinnerte sie sich daran, wie auch sie selbst und Michael noch vor einem halben Jahr über Menschen wie Solomon gedacht hatten, und mäßigte sich im letzten Moment.

»Nicht so, wie Sie vielleicht glauben«, antwortete sie. »Er ist ein bißchen zurückgeblieben, das ist alles, aber vollkommen harmlos. Ich würde niemanden in der Nähe meiner Kinder dulden, der wirklich unberechenbar wäre. Solomon ist wie ein großes Kind, wissen Sie? Und manchmal auch genauso tolpatschig.«

Aus dem Kinderzimmer drang Joes Weinen heraus, und Claire warf ihren vor fünf Minuten gefaßten Entschluß, eisern zu bleiben, über Bord.

Peyton folgte ihr, während sie das Zimmer betrat, Joe aus der Wiege nahm und gleichzeitig mit der linken Hand ihre Bluse aufknöpfte. »Ein wirklich süßer Kerl«, sagte sie. »Sie müssen sehr stolz darauf sein, ein so hübsches Baby zu haben.«

»Er ist das hübscheste Baby, das ich kenne«, bestätigte Claire. Sie lachte. »Aber das sagen wahrscheinlich alle Mütter über ihre Kinder.«

»Aber nicht alle haben recht damit«, sagte Peyton. Sie blieb unter der Tür stehen und sah eine Weile ungeniert zu, wie Claire ihrem Sohn die Brust gab. Es war Claire nicht im geringsten peinlich, obwohl sie sonst in dieser Hinsicht so eigen war, daß Michael schon mehr als einen Scherz darüber gemacht hatte. Vielleicht, weil sie spürte, daß Peytons Worte keine bloße Schmeichelei, sondern wirklich ehrlich gemeint gewesen waren.

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»Ich glaube, es wird Zeit für mich«, sagte Peyton nach einer Weile. »Ich fürchte, ich habe Sie schon den halben Vormittag aufgehalten.«

»Das macht nichts«, antwortete Claire. »Im Gegenteil: schön, daß Sie hier sind.«

Peyton schüttelte den Kopf. »Ich gehe jetzt besser«, sagte sie. »Ich werde Ihnen die Telefonnummer der Morans im Wohn-zimmer auf den Tisch legen – das sind die Leute, bei denen ich bisher gearbeitet habe. Ich melde mich dann später noch einmal bei Ihnen, falls ich darf. Bleiben Sie hier – ich finde schon allein hinaus.«

Die Worte setzten eine Vertrautheit voraus, die Claire unter normalen Umständen vielleicht schon wieder mißtrauisch gemacht hätte. Aber irgendwie waren die Umstände, unter denen sie Peyton kennengelernt hatte, nicht normal. Und plötzlich und ganz spontan entschloß sich Claire, der jungen Frau zumindest eine Chance zu geben. Michael würde nicht aufhören, sie zu drängen, ein Kindermädchen zu engagieren – und ganz egal, wie sie es drehte: sie konnte es schlechter treffen.

»Peyton?« sagte sie. Die junge Frau war schon halb draußen auf dem Flur gewe-

sen, aber jetzt drehte sie sich noch einmal herum. »Ja?« »Können Sie heute abend zum Essen kommen?« fragte

Claire. »Dann lernen Sie die ganze Familie kennen. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.«

»Heute?« Peyton nickte. »Sicher. Ich komme gerne.« »So gegen halb zehn?« schlug Claire vor Peyton war einver-

standen.

Solomons Hände hatten zu zittern begonnen, nachdem er das Haus verlassen hatte, und bisher hatte das Zittern nicht aufge-hört. Er hatte Angst, wie schon lange nicht mehr. Die Bartels

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waren gut. Sie waren ehrlich, sie waren fast immer fröhlich und guter Laune, und sie bezahlten ihn anständig, und vor allem: sie waren seine Freunde.

Solomon hatte sehr wenige wirkliche Freunde. Es gab eine Menge Menschen, die es gut mit ihm meinten, sicher – die Angestellten des Heimes, in dem er lebte, die Leute von Better Day, die meisten (nicht alle) Familien, bei denen er bisher gearbeitet hatte, aber wirkliche Freunde hatte er nur sehr wenige.

Um so wichtiger war es, auf die Bartels aufzupassen. Die fremde Frau gefiel ihm nicht. Sie hatten sich unter den

denkbar ungünstigsten Umständen kennengelernt, und zuerst hatte er versucht, seine Gefühle darauf zu schieben. Aber nicht sehr lange. Weil das einfach nicht die Wahrheit gewesen wäre.

Es war nicht der Farbfleck auf ihrem T-Shirt. Das war pein-lich gewesen, furchtbar unangenehm und peinlich, aber doch nur ein Versehen, über das sie nach dem ersten Schrecken vielleicht beide hätten lachen können, wäre da nicht noch mehr gewesen.

Solomon war nicht in der Lage, dieses mehr in Worte zu fassen, so wie er oft nicht in der Lage war, Dinge auszudrük-ken, die er deutlich spürte. Solomon war ein guter Menschen-kenner. Er spürte, ob ihn jemand mochte oder nur so tat, ob er ihn verachtete oder bemitleidete oder gar (auch das kam vor, auch wenn Solomon es nicht verstand) fürchtete.

Alles, was er bei dieser fremden Frau fühlte, war Gefahr. Sie hatte gelacht, sie war freundlich zu ihm gewesen, und ganz offensichtlich mochte Claire sie, und Menschen, die Claire mochte, waren meistens in Ordnung. Aber er hatte etwas hinter ihrem Lachen gesehen, das ihn zutiefst erschreckt hatte: Kälte und Haß. Solomon wußte, daß diese Gefühle nicht ihm persönlich galten. Nein, es war, als gelte dieser Haß der ganzen Welt, dem Leben an sich, und es war ein Haß, der durch nichts zu besänftigen war. Die fremde Frau war böse.

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Aber wie hätte er Claire das sagen können? Claire mochte sie, und viel schlimmer noch, sie vertraute ihr; das bewies schon der Umstand, daß sie sie allein in Joes Nähe gelassen hatte. Wie hätte er sie warnen können? Sie würde ihn fragen, wie er darauf kam, daß sie gefährlich sei, und er würde nur antworten können, daß er es spürte, und Claire würde nur lächeln und mit einer Ausflucht antworten. Nein; er würde sich gedulden müssen. Aber er würde auf der Hut sein. Solomon würde nicht zulassen, daß die fremde Frau Claire oder ihrer Familie etwas antat. Ganz bestimmt nicht.

»Totes Fleisch«, sagte Roth. Er sprach so leise, daß weder Emmas Mutter noch Mrs. Henry die Worte verstanden, obwohl sie nur ein paar Meter entfernt standen. Eigentlich sprach er gar nicht, sondern bewegte nur die Lippen, aber Emma verstand die Worte trotzdem so deutlich, als hätte er sie mit flammenden Lettern an die Tafel geschrieben. Totes Fleisch, Emma. Wenn du auch nur ein Wort sagst, bist du totes Fleisch.

Emma hatte Angst. Sie hatte geglaubt, daß alles gut werden würde, sobald ihre Mutter erst einmal da war, und im allerer-sten Moment hatte das auch gestimmt: ihre Mutter war herein-gekommen und hatte im Flüsterton mit Mrs. Henry gesprochen, und Emma hatte sich beschützt und sicher gefühlt.

Alles war gut gewesen, aber dann hatte Roth die Klasse betreten, und ein einziger Blick in seine Augen hatte gereicht, um aus Emmas unerschütterlicher Zuversicht eine ebenso tiefe Verzweiflung zu machen. Sie konnte ihrer Mutter und Mrs. Henry erzählen, wie sehr Roth sie quälte. Sie konnte ihnen erzählen, daß er ihr das Leben zur Hölle machte, und sie konnte ihnen erzählen, was er heute getan hatte.

Aber sie würde es nicht tun. Weil sie in Roths Augen gesehen und darin gelesen hatte, was ihr geschehen würde, wenn sie es tat.

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Totes Fleisch. Natürlich war Emma klar, daß Roth sie nicht töten würde.

Aber es gab schlimmere Dinge, die er ihr antun konnte. Und würde.

»Also, Emma«, sagte Mrs. Henry, »was hat Roth dir getan? Du kannst ganz offen reden. Dir kann nichts mehr passieren.«

Sie warf Roth dabei einen durchdringenden Blick zu, der ihn allerdings nicht sonderlich zu beeindrucken schien.

»Was hat er dir getan, Liebling?« fragte ihre Mutter. »Komm schon. Wir sind hier, um dir zu helfen.«

»Nichts«, antwortete Emma. »Es war … nichts.« »Nichts?« Ihre Mutter runzelte die Stirn, und sie sah nicht

einmal wirklich verärgert aus – aber Emma wußte natürlich, daß sie sich jetzt insgeheim fragte, warum, um alles in der Welt, sie eigentlich hergekommen war, um mit der Lehrerin zu sprechen.

»Er hat … mich geärgert«, sagte Emma. »Aber es war … nichts Schlimmes. Wirklich nicht.«

»Stimmt das auch?« beharrte Mrs. Henry. Mit einem schon beinahe drohenden Blick in Roths Richtung fügte sie hinzu: »Ich kenne Roth. Er ist alles andere als ein Engel. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Er wird dir nichts tun. Du kannst ganz offen reden.«

»Aber da war … wirklich nichts«, sagte Emma stockend. »Ich habe … mich erschrocken, aber es war nicht sehr schlimm.«

Die Blicke ihrer Mutter spiegelten pure Verwunderung wider, und Emma kam sich feige und erbärmlich dabei vor – vor allem aber eines: allein. Sehr allein.

Claire war noch immer ein wenig verärgert, als sie nach Hause kam. Natürlich hatte sie versucht, sich nichts von ihrer Ver-stimmung anmerken zu lassen, und ebenso natürlich hatte Emma doch gespürt, wie es in ihrer Mutter in Wahrheit aussah.

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Daß Emma gelogen hatte, war Claire klar. Ein einziger Blick ins Gesicht des kleinen, dicken Jungen hatte vollkommen ausgereicht, um jede weitere Erklärung überflüssig werden zu lassen. Kinder wie diesen Roth gab es an jeder Schule.

Claire hatte sich von seiner Unschuldsmiene ebensowenig täuschen lassen wie Mrs. Henry, und sie hatte durchaus Verständnis dafür, daß Emma schließlich einen Rückzieher gemacht hatte. Ihre Angst war einfach größer gewesen als ihr Mut, und das konnte Claire sehr gut verstehen. Es war ein Fehler gewesen, den Jungen in Emmas Gegenwart zur Rede zu stellen. So galt auch ein Gutteil der Verärgerung, die Claire auf der Fahrt nach Hause vergeblich niederzukämpfen versuchte, ihr selbst. Trotzdem verspürte sie eine Enttäuschung, die vielleicht ungerecht war, aber im Moment zu intensiv, um sie ganz zu verhehlen. Emmas Furcht vor Roth war größer gewesen als ihr Vertrauen zu ihrer Mutter, und dieser Gedanke tat weh. Sie nahm sich vor, später mit Michael darüber zu reden; und vielleicht würden sie gemeinsam beim Abendessen noch einmal mit Emma über die Sache sprechen.

Im Augenblick jedoch war sie beinahe erleichtert, als Emma wortlos in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloß – vorgeblich, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, in Wahrheit jedoch eher, um allein zu sein und der Peinlichkeit des Mo-ments zu entfliehen.

Noch einmal meldete sich die Stimme der Vernunft in Claire und sagte ihr sehr nachdrücklich, daß es spätestens jetzt an der Zeit war, zu ihrer Tochter zu gehen und ein klärendes Gespräch zu führen, und tatsächlich machte sie zwei Schritte in die entsprechende Richtung, blieb aber dann wieder stehen. So richtig der Gedanke war, sie konnte es nicht. Sie kannte sowohl ihre Tochter als auch sich selbst gut genug, um zu wissen, daß sie wahrscheinlich alles nur schlimmer machen würde. Sie hatte das Gefühl, in einem wichtigen Punkt versagt zu haben: ihre Tochter hatte ein Problem, und sie hatte versucht, ihr dabei

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zu helfen, und es nicht geschafft. Die Gründe spielten keine Rolle.

Claire machte auf dem Absatz kehrt und durchquerte das Wohnzimmer, um in die Küche zu gehen und mit dem Ab-wasch fortzufahren, den sie unterbrochen hatte, um Emma aus der Schule zu holen. Aus dem drahtlosen Babyphon, das auf dem Tisch stand, drang schon wieder Joes gedämpftes Brab-beln. Er weinte nicht, war aber wach. Claire seufzte lautlos in sich hinein. Nachdem sie jedem, der es hören wollte, erzählt hatte, daß Joe das mit Abstand ruhigste Baby war, schien er alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um seine Mutter der Lüge zu überführen.

Claire lächelte flüchtig über ihren eigenen Gedanken und ging zum Tisch, um das Gerät auszuschalten. Dabei fiel ihr Blick auf den Zettel, der daneben lag. Im allerersten Moment wußte sie nichts damit anzufangen – bis auf den Umstand, daß es sich wohl um eine Telefonnummer handeln mußte, denn die Ziffernkombination begann mit der Vorwahl von Seattle.

Die Nummer selbst sagte ihr nichts, und auch die Handschrift war ihr unbekannt; es waren kleine, akribisch scharf gemalte Zahlen, wie mit einer winzigen Schablone auf das Papier geworfen. Die Nummer sagte ihr nichts, obwohl Claire sich Telefonnummern normalerweise gar nicht aufzuschreiben brauchte, denn sie hatte ein nahezu perfektes Zahlengedächtnis. Dann fiel ihr ein, was Peyton im Hinausgehen gesagt hatte.

Das Babyphon, aus dem noch immer Joes elektronisch ver-zerrtes Weinen drang, in der einen, den Zettel mit der Nummer in der anderen Hand, ging Claire in die Küche, hob den Hörer des Wandtelefons ab und wählte die Nummer.

Dabei fragte sie sich, warum sie es überhaupt tat – sie war noch immer nicht vollkommen begeistert von der Idee, ein Kindermädchen einzustellen, und gerade das, was vorhin in der Schule passiert war, bestärkte sie in ihrer Meinung, daß die Erziehung eines Kindes die Sache seiner Mutter oder seines

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Vaters war, nicht die eines fremden Menschen, der dafür bezahlt wurde, und sei er noch so begeistert und zuverlässig.

Auf der anderen Seite hatte sie Peyton zum Abendessen eingeladen, und diese Einladung beinhaltete das Versprechen, zumindest noch einmal über ihre Bewerbung nachzudenken.

Das Freizeichen drang dreimal aus dem Hörer, dann wurde abgenommen, und eine helle, sympathische Frauenstimme mit einem deutlich britischen Akzent meldete sich: »Hallo?«

»Guten Tag«, antwortete Claire. »Bitte, entschuldigen Sie die Störung. Mein Name ist Claire Bartel. Ich rufe an, um mich über eine Mrs. Peyton Flanders zu erkundigen. Sie kennen sie?«

Eine Sekunde drang nichts als Schweigen aus dem Hörer, und Claire fürchtete schon, daß sie sich verwählt hatte, dann antwortete die Stimme in ihrem gepflegten englischen Akzent: »Selbstverständlich. Sie ist unser Kindermädchen. Worum geht es?«

»Mrs. Flanders hat sich bei uns beworben«, antwortete Claire, »und Sie als Referenz angegeben.«

»Beworben?« Die Stimme klang ein wenig irritiert. Dann: »Oh. Sie müssen Mrs. Bartel sein.«

»Claire Bartel, richtig«, antwortete Claire. »Ja, Peyton hat mir davon erzählt.« In die ein wenig schlep-

pend klingende, ausländische Stimme mischte sich ein deutli-cher Ton von Bedauern. »Nun, Mrs. Bartel, ich weiß nicht genau, was ich Ihnen sagen soll – außer vielleicht, Sie von Herzen zu beglückwünschen. Mein Mann und ich sind jeden-falls tieftraurig, Peyton zu verlieren. Von unserem Sohn gar nicht zu sprechen.«

»Dann waren Sie mit ihr zufrieden?« fragte Claire, was nach dem Gehörten eigentlich überflüssig war. Aber ihre unbekannte Gesprächsspartnerin beantwortete sie trotzdem.

»Zufrieden? Das ist gar kein Ausdruck. Peyton ist seit zwei Jahren bei uns, und sie ist in dieser Zeit so etwas wie ein

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Familienmitglied geworden. Unser Sohn liebt sie über alles, und wir …« Claire konnte das bedauernde Schulterzucken ihrer Gesprächspartnerin beinahe hören. »Nun, mein Mann und ich müssen aus beruflichen Gründen für einige Jahre zurück nach England. Wir haben Peyton angeboten, sie mitzunehmen, und ich glaube, sie hätte es auch gern getan. Aber sie möchte die Vereinigten Staaten nicht verlassen. Ich habe dafür Verständ-nis, aber trotzdem …« Eine Sekunde Schweigen, dann ein halblautes, nicht ganz überzeugendes Lachen. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Mrs. Bartel, dann verraten Sie mir weder Ihre Adresse noch Ihre Telefonnummer. Ansonsten würde ich garantiert nach unserer Rückkehr bei Ihnen aufkreuzen und versuchen, Ihnen Peyton wieder abzuwerben.«

Die Küche war ein einziges Chaos. Der Tag hatte geendet, wie er angefangen hatte – nicht besonders gut. Claire war den ganzen Tag nervös und fahrig gewesen, und irgendwie war ihr die Zeit davongelaufen. Sie hatte erst am späten Nachmittag begonnen, das Essen vorzubereiten, und wie immer, wenn man es besonders eilig hatte, klappte natürlich nichts. Anstatt Peyton in einem aufgeräumten Haus, vor einem gedeckten Tisch und in einem hübschen Kleid zu empfangen, war ihr Kindermädchen in spe in ein heilloses Chaos hineingeplatzt, in dem Claire tapfer, aber vergeblich versuchte, gleichzeitig das Essen zuzubereiten, Emma im Auge zu behalten, und sich um Joe zu kümmern, der die Nervosität seiner Mutter zu spüren schien und den ganzen Tag über unruhig geblieben war.

Mit Peytons Hilfe wurde es ein wenig besser. Sie hatte ener-gisch darauf bestanden, Claire bei der Zubereitung des Abend-essens zu helfen – was Claire ebenso energisch abgelehnt hatte –, aber sie kümmerte sich um Joe, der seinen Willen am Ende natürlich doch durchgesetzt hatte und nun in einem Körbchen auf der Anrichte neben der Tür lag, statt in seiner Wiege im

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Babyzimmer im ersten Stock, so daß Claire nur mehr den Herd, das aufgeschlagene Kochbuch in ihrer Linken (Claire gestand normalerweise ohne Scheu ein, daß sie keine besonders begabte Köchin war und oft darauf zurückgreifen mußte, aber manchmal wünschte sie sich doch, darauf verzichten zu können) und Emma zugleich im Auge zu behalten hatte, die auf einem Stuhl am anderen Ende der Anrichte stand und Salatblätter auf einem Teller arrangierte.

Claire taxierte die Verheerung, die sie damit anrichtete, mit einem flüchtigen Blick und beschloß, Emma gewähren zu lassen, ehe sie auf die Idee kam, ihrer Mutter auf irgendeine andere Weise zu helfen und dabei wirklichen Schaden anzu-richten.

Peyton verfolgte das Chaos rings um sie herum mit einem nicht mehr ganz verhohlenen Lächeln, konzentrierte sich aber auf Joe, und was Claire dabei auf ihrem Gesicht las, das ließ im Grunde jetzt schon ihre letzten Bedenken dahinschmelzen. Sie hatte noch lange mit Peytons bisheriger Dienstherrin gespro-chen, und wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was sie gehört hatte, dann mußte der Umstand, ein Kindermädchen wie Peyton Flanders zu bekommen, mit einem Hauptgewinn in der Lotterie gleichzusetzen sein. Die Frau war jedenfalls nicht müde geworden, Peyton in den höchsten Tönen zu loben – und was Claire sah, schien jedes Wort zu bestätigen. Dabei tat sie eigentlich gar nichts, sondern stand einfach nur neben Joes Körbchen und blickte auf ihn herab, streckte nur manchmal die Hand aus und hielt ihm einen Finger hin, damit er danach greifen konnte, oder streichelte zärtlich seine Wange. Aber in ihrem Blick war eine solche Wärme und Zuneigung – wenn sie jemals einen Menschen getroffen hatte, der Kinder wirklich liebte, dann war es Peyton Flanders.

Sie mußte wohl eine ganze Weile dagestanden und die junge Frau angestarrt haben, denn Peyton schien ihre Blicke zu spüren. Sie zog die Hand zurück, sah auf und lächelte ein

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wenig verlegen. »Er ist wirklich ein ganz besonders reizendes Baby«, sagte sie. »Sie haben großes Glück, ein solches Kind zu haben, Mrs. Bartel.«

Emma sah von ihrem Salatblätter-Puzzle auf und runzelte die Stirn, und Peyton fügte augenzwinkernd in ihre Richtung hinzu: »Aber du bist auch ganz besonders reizend.«

Reizend war vielleicht nicht das Wort, das ein Mädchen in Emmas Alter gern hörte, denn sie runzelte immer noch die Stirn, und Peyton beeilte sich, hinzuzufügen: »Und auch ziemlich talentiert, wie ich sehe. Hilfst du deiner Mutter oft beim Kochen?«

Emmas Gesicht hellte sich auf. »Ziemlich oft«, sagte sie. »Und du? Kochst du auch gerne?«

Peyton schüttelte heftig den Kopf. »Weder gerne noch gut«, antwortete sie, womit sie eine Hoffnung Claires rüde zerschlug. »Um ehrlich zu sein: wenn es keine Hamburger und Pizzas gäbe, wäre ich wahrscheinlich schon längst verhungert.«

Emma lachte, ließ ein Salatblatt fallen und sprang vom Stuhl, um es wieder aufzuheben. »Du kochst nie?« vergewisserte sich Emma.

»Nicht, wenn es sich vermeiden läßt«, bestätigte Peyton. »Aber hast du denn keine eigene Familie?« wollte Emma

wissen. Ein Schatten huschte über Peytons Gesicht, nur für den

Bruchteil einer Sekunde, aber doch lange genug, daß Claire ihn bemerkte. »Stell nicht solche indiskreten Fragen«, sagte sie tadelnd.

Aber Peyton hatte sich bereits wieder in der Gewalt. Sie schüttelte den Kopf, warf Claire ein entschuldigendes Lächeln zu und wandte sich wieder an Emma. »Das geht schon okay. Ich brauche keine eigene Familie, weißt du? Ich arbeite als Kindermädchen. Und ein Kindermädchen lebt in der Familie der Kinder, für die es sorgen muß.«

»Und wenn es eigene Kinder bekommt?« fragte Emma.

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»Dann wäre es kein Kindermädchen mehr, sondern brauchte selbst eines«, antwortete Peyton. Claire hielt sie dabei auf-merksam im Auge, aber die junge Frau hatte ihre Fassung vollends zurückgewonnen. Wenn Emmas Frage eine Wunde in ihr berührt hatte, so mußt sie sehr alt und bereits halb vernarbt sein.

Trotzdem: Claire war der Meinung, daß Emma für den Mo-ment genug Fragen gestellt hatte. Schließlich hatte sie Peyton nicht eingeladen, um sie einem Verhör zu unterziehen.

»Das reicht jetzt«, sagte sie und klappte ihr Kochbuch zu. »Wir müssen uns ein bißchen beeilen. Daddy kann jeden Moment nach Hause kommen.«

»Dann fange ich jetzt am besten damit an, die Salatsauce zu machen«, sagte Emma und machte ein gewichtiges Gesicht.

»Vielleicht deckst du erst einmal den Tisch«, antwortete Claire. »Daddy ist bestimmt hungrig, wenn er kommt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er noch lange auf das Essen warten möchte.«

»Gestatten Sie die Frage, was Ihr Mann von Beruf ist, Mrs. Bartel?« fragte Peyton.

»Daddy ist ein verrückter Wissenschaftler«, antwortete Emma und sprang vom Stuhl.

Peyton zog verwirrt die Augenbrauen zusammen, und Claire fügte lächelnd hinzu: »Michael ist Gen-Ingenieur. Die For-schungsanstalt, für die er arbeitet, heißt Spirotechnics. Im Moment versuchen sie, irgendwelche Bakterien so umzubauen, daß sie Feldfrüchte vor dem Frost schützen.«

»Dann ergänzen Sie und Ihr Mann sich ja hervorragend«, sagte Peyton.

Claire schüttelte den Kopf und lachte. »Die Pflanzen, für die ich mich interessiere, kann man eigentlich nicht essen«, sagte sie. »Aber es stimmt schon, so haben wir uns kennengelernt – im Botanischen Garten.«

»Es nennt sich Ice-Minus«, sagte Emma. Peyton sah sie

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verwirrt an, und Emma fuhr mit erklärender Gestik fort: »Die Bakterie, an der Daddy arbeitet. Er sagt, wenn es klappt, dann könnte man bald sogar im Winter Kartoffeln ernten.«

»Das wäre phantastisch«, sagte Peyton. »Ein wirklicher Segen für die Menschheit.«

»Wenn sie es jemals schaffen, ja«, fügte Claire hinzu. »Sicher ist es unvorstellbar schwierig.« Claire schüttelte den Kopf, seufzte und nickte. »Ich verstehe

nicht allzuviel davon, aber nach allem, was Michael erzählt, ist der viel schwierigere Teil wohl der, mit den Behörden und all ihren Vorschriften und Bedingungen fertig zu werden.« Peyton sah sie fragend an. »Die Leute geraten immer noch sofort in Panik, wenn sie das Wort Genmanipulation hören«, fuhr Claire fort. »Anscheinend haben sie Angst, daß eines Tages eine Bakterie aus einem Reagenzglas entwischen könnte und die Welt kurz darauf von einer Armee menschenfressender Kohlköpfe überschwemmt wird.«

Das Geräusch der Haustür unterbrach Claire. »Da ist Daddy!« rief Emma, sprang aufgeregt vom Stuhl und flitzte aus der Küche. Claire sah ihr kopfschüttelnd nach und maß den Stapel mit Tellern und Besteck, den Emma eigentlich ins Wohnzim-mer hatte hinübertragen sollen, mit einem vorwurfsvollen Blick, sagte aber nichts.

»Ich helfe Ihnen, den Tisch zu decken«, sagte Peyton, doch Claire schüttelte auch jetzt den Kopf.

»Das kommt gar nicht in Frage«, sagte sie. »Sie sind zu Gast hier, nicht zum Arbeiten.«

»Aber es ist purer Eigennutz«, behauptete Peyton lächelnd und griff nach den Tellern. »Ich bin hungrig. Je länger es dauert, desto länger muß ich auf das Essen warten.«

Claire lächelte dankbar, ließ sie gewähren und ging hinaus in die Diele, um Michael zu begrüßen. Emma hatte ihren Vater bereits erreicht und mit einer stürmischen Umarmung in Beschlag genommen, wie sie es jeden Abend tat, wenn er nach

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Hause kam, und Claire blieb ein, zwei Sekunden einfach stehen und sah den beiden zu. Ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit breitete sich in ihr aus, während sie sah, wie Michael seine Tochter zweimal im Kreis herumwirbelte und dann behutsam auf die Füße stellte.

»Hallo, Liebling«, sagte Michael. Er breitete die Arme aus, ging ihr entgegen und stockte dann im Schritt. Stimmt etwas nicht? fragte sein Blick, und Claires Augen antworteten ebenso lautlos: Nein. Doch. Später.

»Hallo, Schatz«, antwortete sie laut. »Wie war dein Tag?« »Mühsam wie immer.« Er ging weiter, schloß sie in die Arme

und küßte sie, vielleicht etwas länger und vielleicht etwas zärtlicher, als zur Begrüßung nötig gewesen wäre – und dann fuhr er zusammen und schob sie fast erschrocken eine halbe Armeslänge von sich fort. Sein Blick war auf einen Punkt hinter Claire gerichtet, und für eine halbe Sekunde spiegelten seine Augen nur Verwirrung; und einen Ausdruck peinlichen Berührtseins. Claire drehte sich herum und sah, daß Peyton unter der Wohnzimmertür erschienen war.

»Oh«, sagte Michael. »Wir haben … Besuch?« Er räusperte sich. Claire ahnte, wie unangenehm ihm die Situation war. So aufgeschlossen und modern Michael auch sein mochte, so gab es doch Dinge, in denen er so schüchtern war wie ein Zehnjäh-riger. Aber auch das gehörte zu den Dingen, die Claire ganz besonders an ihm liebte.

»Michael, das ist Peyton Flanders«, sagte sie. Sie machte eine entsprechende Geste und sah Peyton an. »Peyton, das ist mein Mann Michael.«

Wenn Peyton auch nur annähernd so sensibel war, wie Claire vermutete, so mußte sie spüren, wie unangenehm Michael der Augenblick war. Aber sie überspielte es perfekt. Mit einem freundlichen Lächeln ging sie Michael entgegen und reichte ihm die Hand; die linke, denn in der rechten trug sie einige Servietten und ein Steakmesser, dessen Spitze zu Boden

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gerichtet war. »Guten Abend«, sagte sie. »Ich freue mich, Sie kennenzuler-

nen.« »Peyton ist unser neues Kindermädchen«, platze Emma

heraus. »Sie kümmert sich ab sofort um Joe.« Michael war nun vollends verwirrt. Claire hatte zwar vorge-

habt, ihn im Institut anzurufen und ihm von ihrem Gast zu berichten, es schließlich aber doch nicht getan; zum einen, weil Michael es haßte, wenn sie ihn bei der Arbeit anrief, um private Dinge mit ihm zu besprechen, zum anderen, weil sie es da noch für eine gute Idee gehalten hatte, ihn mit Peytons Anwesenheit zu überraschen. Irgendwie schien alles, was mit Peyton Flanders zu tun hatte, von Anfang an unter keinem guten Stern zu stehen.

Es war Peyton, die die Situation entspannte. »So weit ist es noch nicht«, sagte sie. »Ihre Frau war so freundlich, mich zum Abendessen einzuladen, damit Sie gemeinsam über meine Bewerbung nachdenken können.«

So hatte Claire es eigentlich nicht gemeint. Aber sie hatte mittlerweile Peyton gegenüber ein viel zu schlechtes Gewissen, um ihre Worte sofort richtigzustellen. Außerdem sah Michael in seiner Verwirrung schon beinahe komisch aus.

»Aha«, sagte er – was im Moment wohl die intelligenteste Antwort war, zu der er sich aufraffen konnte.

»Vielleicht besprechen wir alles in Ruhe beim Essen«, schlug Claire vor. »Emma und ich haben dein Leibgericht gekocht.«

Peyton wartete höflich, bis Michael und Claire an ihr vorbei-gegangen waren, ehe sie das Wohnzimmer betrat. Aber es war nicht nur die Höflichkeit des Gastes, die sie dazu veranlaßte.

Peyton war die einzige, der aufgefallen war, daß sich der defekte Verschluß von Claires Ohrclip wieder gelöst hatte, so daß das Schmuckstück zu Boden fiel. Weder Michael noch Claire hatten das gedämpfte Geräusch gehört, mit dem er auf dem Teppichboden aufschlug. Peyton hatte es gehört. Aber

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diesmal hatte sie sich nicht danach gebückt, um ihn Claire zurückzugeben.

Das hatte sie erst getan, nachdem die Bartels an ihr vorbeige-gangen waren und ohne daß einer der beiden oder Emma es merkten.

Und sie gab das Schmuckstück auch nicht zurück, sondern ließ es blitzschnell in der Jackentasche verschwinden.

»Mein Gott«, sagte Michael und schob seinen Teller zurück, »das war wirklich köstlich!« Er lehnte sich zurück, ließ die flachen Hände auf den Bauch klatschen und stieß hörbar die Luft aus. »Das beste Essen, das ich seit Monaten bekommen habe. Meinen Glückwunsch.«

»Das war eine Gemeinschaftsarbeit«, sagte Claire. Sie deutete auf ihr Tochter. »Emma hat mir geholfen.«

»Tatsächlich?« erkundigte sich Michael. »Ich habe die Salatsauce gemacht«, bestätigte Emma. Sie

strahlte vor Stolz, und Claire konnte dieses Gefühl durchaus verstehen. Auch wenn Emma die fertige Sauce nur ein wenig verfeinert hatte (und das noch dazu unter Peytons Anleitung, aber Claire war diskret genug gewesen, so zu tun, als bemerke sie es nicht), so ließ sich das Ergebnis durchaus sehen; vor allem für eine Siebenjährige.

»Emma ist ein richtiges kleines Genie«, sagte Peyton. »Ich glaube, ihre Mutter wüßte gar nicht mehr, was sie ohne sie anfangen sollte.« sie blinzelte Claire verstohlen zu, während Emma über das ganze Gesicht strahlte.

»Wenn das Gewächshaus erst fertig ist, dann kümmere ich mich um die Erdbeeren und das Gemüse«, sagte sie.

»Wir werden nicht sehr viel Erdbeeren und Gemüse in unse-rem Gewächshaus haben, Schatz«, sagte Claire sanft.

»Auch kein kleines bißchen?« fragte Emma. Claire zögerte. »Vielleicht ein ganz kleines bißchen«, antwor-

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tete Claire. Sie hob die Hand und deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von ungefähr zwei Zentimetern an. »Vielleicht so viel.«

»Werden wir denn überhaupt ein Gewächshaus haben?« fragte Michael. »Soviel ich weiß, hat der Botanische Garten noch nicht zugesagt.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Der Botanische Garten hatte schon zugesagt, und Claire wußte das. Er war es, der noch nicht zugesagt hatte. Claire sah ihn verwirrt an, vielleicht auch ein ganz kleines bißchen verärgert. Sie hatte niemals wirklich geglaubt, daß Michael so weit gehen würde, sie tatsächlich zu erpressen. Letztendlich würde sie ihr Ge-wächshaus bekommen, ob sie nun ein Kindermädchen einstell-te oder nicht.

Peyton räusperte sich. Sie konnte nicht wissen, was Michaels Frage bedeutete, aber sie war sensibel genug, Claires über-raschtes Stirnrunzeln zu registrieren. »Hilfst du mit, das Geschirr abzuräumen, Emma?« fragte sie.

Auch Claire wollte aufstehen, aber Peyton winkte energisch ab. »Emma und ich machen das schon«, sagte sie. »Nicht wahr, Emma?«

»Klar«, antwortete Emma. »Null Probleme.« Claire kapitulierte. Mit einem resignierenden Lächeln sah sie

zu, wie Peyton und Emma die Teller zusammenstellten und in die Küche trugen. Sie war nicht ganz sicher, wer von beiden sich dabei weniger geschickt anstellte. Peyton mochte ein begnadetes Kindermädchen sein, aber von Hausarbeit verstand sie offensichtlich nicht sehr viel.

»Nun, Schatz?« Michael wiederholte seine Frage, während Peyton und Emma in der Küche lachten und mit Geschirr klapperten.

»Werden wir ein Gewächshaus haben?« »Ich denke schon«, sagte Claire. Michaels Blick wurde fragend, und Claire senkte die Stimme

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zu einem Flüstern, das in dem Lärm aus der Küche fast unterging. »Was hältst du von ihr?«

»Sie scheint ideal zu sein«, antwortete Michael. Er grinste. »Jung. Hübsch. Eine gute Figur. Und was das wichtigste ist:

unverheiratet und –« Claire trat ihm unter dem Tisch vors Schienbein, und Michael

fuhr zusammen und verzog das Gesicht. Aber im nächsten Augenblick wurde er schon wieder ernst. »Ich denke, sie ist in Ordnung«, sagte er. »Jedenfalls scheint sie sich gut mit Emma zu verstehen. Wenn ihre Papiere in Ordnung sind, solltest du sie einstellen.«

»Sie hat nicht besonders viele Papiere«, gestand Claire. »Sie hatte erst eine Stelle. Aber ich habe mit der Frau telefoniert, für die sie bisher gearbeitet hat, und sie war sehr zufrieden mit ihr.«

»Dann stell sie ein«, sagte Michael. »Je eher, desto besser.« »Vielleicht erst einmal für ein Jahr«, sagte Claire. »Oder auch zwei«, fügte Michael hinzu. Er grinste schon

wieder auf diese ganze bestimmte Art, von der er genau wußte, daß sie sie auf die Palme brachte, aber Claire konnte es ihm nicht einmal wirklich verübeln. Wenn sie ganz ehrlich zu sich war: sie wollte Peyton. Trotzdem sagte sie: »Erst einmal für eins, dann sehen wir weiter.«

Aus der Küche drang das Klirren eines Tellers, der auf den Fliesen zerbrach, gefolgt von einem erschrockenen Laut Emmas, der fast sofort in ein Lachen überging.

Michael seufzte: »Aber nicht als Küchenhilfe. Das können wir uns nicht leisten.«

Der Lärm hatte Joe erschreckt. Mit einer Verzögerung von einigen Sekunden begann er zu weinen, und Claire stand auf, um zu ihm zu gehen. Michael folgte ihr. Er ließ keine Gele-genheit aus, seinen Sohn zu sehen.

Peyton war jedoch schneller gewesen. Sie stand über Joes Körbchen gebeugt da, tätschelte ihn beruhigend – und fuhr

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plötzlich so heftig zusammen, daß auch Claire erschrocken eine halbe Sekunde im Schritt verharrte, ehe sie schneller weiterging.

»Mein Gott, Joe!« keuchte Peyton. »Was ist?« fragte Peyton. »Was hat er? Was ist mit ihm?« Peyton antwortete nicht, sondern nahm Joe mit einer hastigen

Bewegung hoch. Joe hustete, protestierte mit schwachen Bewegungen und einem noch schwächeren Weinen gegen diese ungewohnt grobe Behandlung und hustete wieder.

»Was ist mit ihm?« fragte Claire noch einmal. Ihr Schrecken verwandelte sich zu etwas, das einer Panik verdächtig nahe kam, und sie spürte, wie Michael neben ihr beinahe wirklich in Panik zu geraten begann – und dann riß sie erschrocken die Augen auf, als Peyton die Finger in Joes Mund steckte.

»Was tun Sie –?!« Claire brach erschrocken ab, Peyton zog die Hand wieder

zurück, aber ihre Finger waren jetzt nicht mehr leer. Sie hielten einen Ohrclip aus dunkelrotem Rubin.

Claires Clip. »Oh, mein Gott!« sagte Peyton. »Sehen Sie nur! Das hatte er

im Mund! Er hätte daran ersticken können!« Ein eisiger Schrecken breitete sich in Claire aus. Ihre Hand

fuhr nach oben, griff nach ihrem rechten Ohr und fand … nichts.

»Mamis Ohrring!« sagte Emma erschrocken. Michael sagte nichts. Er sah nur abwechselnd den Ohrclip in

Peytons Hand und Claire an, und obwohl sein Blick nicht einmal eine Andeutung von Vorwurf enthielt, hatte Claire das Gefühl, im Boden versinken zu müssen.

»Er … er muß ihn mir vorhin abgenommen haben, als ich ihn heruntergeholt habe«, stammelte sie. Für einen Moment begannen sich die Küche und das ganze Haus um sie herum zu drehen, und für einen noch kürzeren Moment erwachte ein dünner, aber grausamer Schmerz in ihrer Brust. Verzweifelt

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kämpfte sie beides nieder. Panik war vielleicht normal in einem Moment wie diesem, aber sie war nicht normal. Panik konnte sie umbringen.

»Es … es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe es nicht gemerkt. Der … dieser verdammte Verschluß. Ich hätte ihn längst …«

»Es ist gut«, unterbrach sie Michael. Er nahm Peyton den Jungen ab und versuchte, ihn zu beruhigen, hatte aber nicht sonderlich viel Erfolg damit. Joe schrie eher noch lauter.

»Ich wollte niemanden erschrecken«, sagte Peyton. Aus irgendeinem Grund sah sie beinahe schuldbewußt aus. Viel-leicht hatte sie Angst, daß Michael Claire Vorwürfe machte.

»Erschrecken?« Michael sprach so laut, daß Joe noch heftiger zu weinen begann und mit Armen und Beinen strampelte. »Um Gottes willen, Peyton – Sie haben Joe möglicherweise das Leben gerettet! Wir sind alle heilfroh, daß Sie da waren.«

Er versuchte, Joe irgendwie zu beruhigen, und er stellte sich nicht einmal sehr ungeschickt dabei an. Aber das Baby spürte seine Furcht und wurde immer unruhiger. Schließlich nahm Claire ihm Joe ab und preßte ihn schützend an ihre Brust.

»Es ist gut, Liebling«, flüsterte sie. »Alles ist in Ordnung. Mami ist bei dir.«

Joe beruhigte sich nicht, aber er schrie wenigstens nicht noch lauter, und nach einer Weile begann sich auch die Panik in Claire wieder in ganz normale Furcht und schließlich einen allmählich abflauenden Schrecken zu verwandeln.

»Gott sei Dank waren Sie im richtigen Moment da«, sagte Claire. Sie sah Peyton dankbar an, dann tauschte sie einen fragenden Blick mit Michael, der Peyton keineswegs entgehen konnte, aber das war ihr in diesem Moment vollkommen egal.

Michael nickte nur. »Mrs. Flanders«, sagte Claire lächelnd, »Sie sind eingestellt.

Wenn Sie wollen, ab sofort.«

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Der Zwischenfall, so glimpflich er letzten Endes auch ausge-gangen war, hatte die Stimmung des Abends gründlich verdor-ben.

Peyton war nicht mehr sehr lange geblieben. Sie hatte Claire geholfen, Joe für die Nacht fertig zu machen und ins Bett zu bringen, und danach hatte Michael darauf bestanden, daß sie alle zusammen auf den Schrecken noch einen Kognak tranken.

Es war keine sehr gute Idee gewesen. Claire trank nur sehr selten Alkohol, denn auch das gehörte zu den Dingen, die ihre Krankheit ihr verbot, und an diesem Abend war ihr schon gar nicht danach. Aber sie wollte Michael nichts abschlagen, und so hatte sie zusammen mit Peyton und ihm noch eine qualvolle Viertelstunde zugebracht, bis Peyton schließlich aufstand und erklärte, daß es nun wirklich an der Zeit sei, nach Hause zu gehen. Michael und sie waren unmittelbar darauf zu Bett gegangen, aber Claire fand lange keinen Schlaf.

Ebensowenig wie Michael. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie lagen schweigend nebeneinander in der Dunkelheit und berührten sich nicht einmal, und Claire war mittlerweile hysterisch genug, sich mehr und mehr einzureden, daß das kein Zufall war.

Natürlich wußte sie, daß das Unsinn war. Sie hatten den Zwischenfall mit keinem Wort mehr erwähnt, und Claire kannte Michael gut genug, um einfach zu wissen, daß er ihr nicht die Schuld an dem gab, was geschehen war. Niemand trug die Schuld daran. Niemand hätte es voraussehen oder verhindern können. Und es war ja noch nicht einmal etwas passiert.

Aber das war nur der logische Teil ihres Denkens, der ihr das sagte. Viel stärker war im Moment ein anderer, der ihr in düstersten Farben ausmalte, was alles hätte passieren können. Joe hätte den Ohrclip herunterschlucken können. Er hätte sich verletzten können. Er hätte sterben können. Wenn Peyton nicht gewesen wäre …

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Claire begriff gerade noch rechtzeitig, daß sie sich in eine Panik hineinsteigerte, und brach den Gedankengang mit großer Mühe ab.

Der Schmerz in ihrer Brust war wieder da, ihr treuer Beglei-ter, der ihr wie ein eingebautes Meßgerät jede Stimmungs-schwankung mit unerbittlicher Präzision signalisierte, und im gleichen Maße, in dem er zunahm, erwachte auch die Angst wieder in ihr, daß er diesmal vielleicht nicht wieder verebben, sondern bleiben und stärker und stärker werden würde, bis aus dem dünnen Stich eine unerträgliche Pein und aus der leichten Atemnot ein Erstickungsanfall geworden war. Diese Angst wiederum, nicht ganz unbegründet, denn sie hatte alles schon ein paarmal erlebt, fachte die Panik noch mehr an … ein Teufelskreis, den sie nur zu gut kannte.

Aber daß sie ihn kannte, machte es ihr auch zugleich möglich, ihn zu durchbrechen. Claire setzte sich auf, schlug die Bettdek-ke zurück, schloß die Augen und zwang sich, ein halbes dutzendmal hintereinander sehr ruhig und sehr tief ein- und auszuatmen. Sie widerstand der Versuchung, nach dem Inhalator zu greifen, der in der obersten Schublade des Nachtti-sches neben ihr lag, aber es war das beruhigende Gefühl, ihn in Griffweite zu wissen, das ihr schließlich half, den Anfall vollends niederzukämpfen.

Das Bett neben ihr knarrte, und nur einen Augenblick später wurde das Licht auf Michaels Nachttisch eingeschaltet, und sein Gesicht blinzelte verschlafen aus den Kissen zu ihr hinauf. Seine Augen waren ein wenig trüb. Er hatte tatsächlich bereits geschlafen, dachte Claire. Sie nahm es ihm beinahe übel, daß er sich nach allem, was passiert war, einfach so ins Bett legen und einschlafen konnte. Und ebenso gleichzeitig kam sie sich bei diesem Gedanken ziemlich mies vor.

»Was ist los mit dir?« »Nichts«, antwortete Claire. »Ich kann nur nicht einschlafen.

Aber das ist kein Grund für dich, dasselbe zu tun.« Die Worte

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klangen selbst in ihren Ohren holprig und wenig überzeugend, und ihre Stimme hatte jenen scharfen, gehetzten Ton, den auch Michael nur zu gut kannte. Der Schleier aus Müdigkeit verschwand aus seinen Augen, und er setzte sich mit einem Ruck auf.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte er alarmiert. Er vermied das Wort, das sie beide so fürchteten, ganz bewußt, aber es spielte gar keine Rolle, ob er es nun aussprach oder nicht. Ihre Brust hob und senkte sich so schnell, als wäre sie gerade dreimal um den Block gejoggt. Sie bekam kaum Luft. Die Verlockung, nach dem Inhalator zu greifen und sich Erleichte-rung zu verschaffen, war plötzlich fast übermächtig. Aber sie widerstand ihr. Jedes Mal, das sie sich des Inhalators bediente, bedeutete einmal weniger, daß er ihr noch helfen würde. Das Medikament war kein Wundermittel. Vor ihr lagen noch sehr, sehr viele Jahre, in denen sie es wahrscheinlich noch sehr, sehr oft brauchen würde; und dringender als jetzt.

»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte sie, obwohl sie sich dabei selbst fast lächerlich vorkam. »Ich konnte nur nicht schlafen, das ist alles.«

Michael setzte sich weiter auf, sah ihr einige Sekunden lang schweigend ins Gesicht und berührte dann flüchtig und fast scheu ihren Arm. »Es ist wegen Joe, nicht wahr?« fragte er.

Claire nickte. Sie wußte, daß Michael nur darauf wartete, daß sie seine Berührung erwiderte, um sie in die Arme zu nehmen und tröstend an sich zu drücken, aber obwohl sie sich im Moment vielleicht nichts mehr wünschte als das, machte sie diesen kleinen Schritt nicht. Sie fühlte sich alleingelassen. Das Gefühl war völlig unberechtigt und vor allem nicht sehr fair Michael gegenüber, aber es war nun einmal da.

»Ich darf gar nicht daran denken, was alles hätte passieren können«, flüsterte sie.

»Ja«, sagte Mike und nickte. Claire hob verwirrt den Kopf und sah ihm ins Gesicht, und Michael fuhr in sehr ernstem Ton

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und mit noch ernsterem Blick fort: »Das Haus hätte einstürzen und ihn unter sich begraben können. Ein betrunkener Lkw-Fahrer hätte seinen Truck in unserer Küche parken können. Oder ein Düsenjäger hätte vom Himmel fallen und sein Körbchen treffen können.«

»Was soll das?« fragte Claire scharf. »Du –« »Ich«, unterbrach Michael sie betont und machte eine ent-

schiedene Handbewegung, die sie vollends zum Verstummen brachte, »mache nichts anderes als du, Liebling. Ich male mir aus, was alles passieren könnte.« Er schüttelte den Kopf. Seine Stimme wurde um mehrere Tonlagen sanfter, aber nicht leiser.

»Es war ein Unfall, Claire. Ein dummer Zufall, für den niemand etwas kann. Unfälle passieren nun einmal. Manche kann man vermeiden, manche nicht, aber es hat noch nie irgend etwas gebracht, sich hinterher mit Selbstvorwürfen fertigzuma-chen.«

Das war beinahe wörtlich das, was sie selbst vor wenigen Minuten gedacht hatte, und es war ebenso richtig und logisch wie ihre eigenen Überlegungen. Es war auch der Grund, aus dem Michael hatte einschlafen können und sie nicht.

»Es war meine Schuld«, beharrte sie, als verspüre sie plötz-lich den unwiderstehlichen Zwang, sich selbst zu kasteien. »Ich wußte, daß der Verschluß nicht in Ordnung war. Er ist schon ein paarmal aufgegangen, ohne daß ich es gemerkt habe. Ich hätte ihn längst zum Juwelier bringen sollen.«

»Ja, verdammt, und ich hätte dir das Ding niemals schenken sollen!« sagte Michael scharf. Wieder schüttelte er den Kopf. »Die Kette läßt sich beliebig fortsetzen. Wenn du lange genug suchst, dann findest du immer irgend jemanden, der die Schuld trägt; ganz egal, was passiert ist. Aber das ist nicht wahr. Und selbst, wenn es so wäre, würde es nichts mehr an dem ändern, was passiert ist.«

»Er hätte sterben können, Michael«, sagte Claire. »Aber er ist nicht gestorben«, antwortete Michael. »Was ist

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los mit dir, Claire? Es ist nicht das erste Mal, daß wir einen Säugling haben. Du weißt, wie Kinder sind. Sie sind immer irgendwie in Gefahr, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt. Später wird er vielleicht eine Treppe hinaufkrab-beln und aus eigener Kraft nicht mehr zurückkönnen, und noch später auf einen Baum steigen. Er wird anfangen, Fahrrad zu fahren und dabei in Gefahr sein, von einem Lastwagen über-rollt zu werden, und irgendwann wird er ein eigenes Auto oder ein Motorrad haben …« Er breitete die Arme aus und drehte die Handflächen nach oben. »Du wirst vor lauter Sorgen weiße Haare bekommen und einen Herzinfarkt erleiden, ehe er fünf ist, wenn du nicht aufhörst, in jeder Situation gleich das Schlimmste zu denken.«

Claire schwieg dazu. Michael hatte recht, hundertmal recht, mit jedem Wort, das er sagte, aber sie konnte nun einmal nicht aus ihrer Haut – obwohl sie sich selbst eingestehen mußte, daß sie tatsächlich überreagierte.

»Ich glaube, es ist alles einfach zuviel für dich«, fuhr Michael nach einer Weile fort.

»Was?« »Das alles hier. Die Kinder. Das große Haus. Die Arbeit im

Garten …« Er war diskret genug, ihre Krankheit nicht zu erwähnen, und fuhr nach einer beredten Pause fort: »Du hättest schon viel früher auf mich hören und jemanden einstellen sollen, der dich ein bißchen entlastet.«

»Du glaubst, ich werde nicht mehr damit fertig«, sagte sie traurig.

»Ich glaube, du wirst mit allem fertig, wenn es sein muß«, antwortete Michael. »Ich glaube nur nicht, daß es sein muß. Niemand muß ständig bis an seine Grenzen gehen. Du brauchst weder dir selbst noch mir unentwegt zu beweisen, wie stark du bist. Ich weiß das. Es ist sehr vernünftig, daß du Peyton eingestellt hast. Du hättest es schon viel eher tun sollen.«

»Leider hat sie sich erst jetzt auf die Stelle beworben«, sagte

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Claire lächelnd, aber Michael blieb ernst. »Du weißt, was ich meine«, antwortete er. Natürlich wußte sie es, und sie wußte auch, was Michael

meinte. Es ging nicht um Peyton; jedenfalls nicht hauptsäch-lich. Aber Peyton war das zweite Problem. Claire war immer noch nicht hundertprozentig sicher. Es hatte nichts mit Peyton persönlich zu tun – spätestens seit dem heutigen Abend wußte sie, daß sie sich kein besseres Kindermädchen wünschen konnte als Peyton Flanders. Aber sie war immer noch nicht sicher, ob sie ein Kindermädchen haben wollte.

Das Schicksal hatte sich in den letzten Tagen einige böse Scherze mit ihr erlaubt, und heute abend war alles einfach nur eskaliert, aber vielleicht verstanden sie den Wink auch falsch. Vielleicht war es genau anders herum, als Michael glaubte, und der Sinn dieser Botschaft war, daß sie sich mehr um ihre Kindern kümmern sollte, nicht weniger.

»Hat sie gesagt, wann sie anfangen kann?« fragte Michael. Claire machte eine Bewegung, die eine komplizierte Mi-

schung aus einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem Achselzucken darzustellen schien. »Sie wollte morgen früh noch einmal vorbeikommen«, sagte sie. »Aber ich denke, sie ist sofort frei. Ich habe mit der Frau telefoniert, für die sie bisher gearbeitet hat. Die Leute wandern aus, nach Übersee … England, glaube ich. Sie sitzen praktisch schon auf gepackten Koffern.«

»Dann könnte sie gleich morgen früh anfangen«, sagte Mi-chael. »Ich werde Solomon sagen, daß er das Zimmer neben der Waschküche herrichtet. Die Wände müssen gestrichen werden, aber das sind nur ein paar Stunden Arbeit. Wenn sie nicht gerade mit zwölf Schrankkoffern und einer eigenen Chippendale-Garnitur einzieht, reicht es allemal, bis wir eine bessere Lösung gefunden haben.«

Claire hörte kaum hin. Und sie antwortete auch nicht. In ihrer Kehle saß ein bitterer, harter Kloß, und sie mußte sich mit aller

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Macht beherrschen, damit ihre Hände nicht so stark zitterten, daß Michael es bemerkte. Seine Worte taten weh, und es war ein Schmerz von einer Art, die ihr ebenfalls nicht neu war. Neu war vielleicht nur die Intensität, mit der sie ihn plötzlich verspürte. Alles, was er tat und sagte, geschah in bester Absicht; Mike hätte sie niemals absichtlich verletzt oder ihr auch nur aus Fahrlässigkeit Schmerz zugefügt. Ganz egal, wie behutsam er es formulierte, und ganz egal, wie sehr er es abstritt – sie war kein vollwertiger Mensch. Ihre Krankheit machte so vieles, was für andere selbstverständlich war, für sie zu einem Abenteuer.

Sie sprach nichts von alledem aus, und auch Michael sagte nichts mehr, sondern saß nur noch eine Weile schweigend neben ihr und hielt ihre Hand, bis er schließlich das Licht löschte und sich zurücksinken ließ, und auch Claire legte sich wieder hin, schloß die Augen und versuchte einzuschlafen.

Aber es dauerte sehr lange, bis es ihr schließlich gelang, und der Schlaf, in den sie am Ende sank, war nicht sehr erholsam.

Solomon sah die böse Frau schon von weitem. Das war nicht besonders schwierig, denn er stand auf den obersten Sprossen einer fast fünf Meter hohen Leiter, auf die er hinaufgestiegen war, um die Fenster im ersten Stock abzuschmirgeln, so daß er fast die gesamte Straße überblicken konnte, und er hatte das Taxi, aus dem sie ausgestiegen war, schon von weitem gese-hen. Doch dann war etwas sehr Sonderbares geschehen – auch wenn Solomon erst im nachhinein klar wurde, wie seltsam es wirklich war: Das Taxi war in gemäßigtem Tempo am Haus der Bartels vorbei und fast bis ans andere Ende der Straße gefahren, ehe es gewendet und an der Bushaltestelle an der Ecke angehalten hatte, und die böse Frau war ausgestiegen. Solomon hatte sie sofort erkannt, obwohl sie viel zu weit entfernt war, um ihr Gesicht zu sehen, und ganz andere

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Kleidung trug. Obwohl der Tag noch einmal sehr warm werden würde, trug sie Mantel und Hut. In der rechten Hand hielt sie einen schäbigen, aber sehr großen Koffer, in der anderen balancierte sie ein in dünnes Papier eingeschlagenes Paket, dessen Inhalt offenbar zerbrechlich war, der Vorsicht nach zu schließen, mit der sie es handhabte, als sie aus dem Taxi stieg.

Aber all dies registrierte Solomon nur am Rande, denn er war viel zu verblüfft von dem, was sie tat, um mehr als einen flüchtigen Gedanken an ihr Aussehen zu verschwenden.

Das Taxi hatte unmittelbar an der Bushaltestelle gehalten, und im ersten Moment glaubte Solomon einfach, Peyton hätte sich geirrt; schließlich war sie erst einmal hiergewesen, und auch Solomon hatte in den ersten Tagen manchmal Schwierigkeiten gehabt, das richtige Haus auf Anhieb zu finden.

Aber Peyton hatte sich nicht in der Adresse geirrt. Solomon beobachtete mit immer größer werdender Verblüffung, wie sie das Taxi zahlte und der Wagen dann in die gleiche Richtung davon fuhr, aus der er gekommen war – und somit erneut am Haus der Bartels vorbei, während Peyton sich zu Fuß auf den Weg machte. Ihr Koffer mußte sehr schwer sein, denn sie ging unter seiner Last stark nach rechts gebeugt, und sie bewegte sich nur mit kleinen, mühsamen Schritten. Für den Weg zurück, den sie bequem mit dem Wagen hätte fahren können, benötigte sie gute fünf Minuten, nach denen sie ziemlich erschöpft sein mußte. Solomon verstand nicht, warum sie etwas so Dummes tat.

Solomon sah schweigend zu, wie Peyton sich dem Haus näherte und die Auffahrt hinaufkam. Auf halben Wege blieb sie stehen und wechselte den Koffer von der rechten in die linke Hand, das Paket von der linken in die rechte. Ihr Gepäck mußte wirklich sehr schwer sein.

Plötzlich hatte Solomon ein sehr ungutes Gefühl. Vor einer Stunde hatte Michael ihm aufgetragen, das Gästezimmer im Keller zu streichen, ohne ihm zu erklären, warum, und Michael

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hatte versprochen, es im Laufe des Tages zu erledigen, obwohl er noch genug Arbeit hatte, die weitaus wichtiger war; schließ-lich stand das Gästezimmer seit einem halben Jahr leer, ohne auch nur ein einziges Mal benutzt worden zu sein. Aber Solomon maßte sich nicht an, Michaels Wünsche in Frage zu stellen.

Aber jetzt wünschte sich Solomon doch, Michael wenigstens nach dem Grund seiner Anweisung gefragt zu haben – obwohl das, was Solomon sah, eigentlich deutlich genug war: Peyton kam mit einem Koffer. Als ihm bewußt wurde, was das bedeutete, erschrak er.

Solomon hatte schon die Kälte und Verachtung, die er in ihrem Blick gelesen hatte, nicht vergessen; und auch nicht das andere, Schlimmere, das er nicht mit Worten beschreiben konnte, aber ganz deutlich fühlte. Er mußte Claire vor dieser Fremden warnen, die nur Schlechtes bringen konnte. Am besten jetzt gleich.

Salomon begann, die Leiter hinabzusteigen, machte aber nach der zweiten Sprosse schon wieder halt. Er würde nicht schnell genug sein. Außerdem – was sollte er sagen? Daß er fühlte, daß diese Frau böse war? Daß er eine entsetzliche Dunkelheit in ihren Augen gesehen hatte? Alles das wäre wahr, ganz zweifel-los, aber Solomon wußte auch, daß Claire ihm nicht glauben würde.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, blieb Peyton plötzlich mitten im Schritt stehen. Sie hatte das Haus mittlerweile erreicht und die Hand bereits nach dem Klingelknopf ausge-streckt, doch dann zögerte sie noch einmal, trat einen halben Schritt zurück – und Solomons Herz machte einen erschrocke-nen Sprung, als sie den Blick hob und direkt zu ihm hinaufsah.

Er war völlig sicher, daß sie ihn nicht gesehen hatte – sie hatte ihn gar nicht sehen können, so, wie sie sich dem Haus genähert hatte –, und er war ebenso sicher, daß er kein verräte-risches Geräusch gemacht hatte, denn er war vor Schrecken ja

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wie erstarrt gewesen, und trotzdem irrte ihr Blick nicht etwa umher, sondern bohrte sich direkt und wie ein glühender Pfeil in seine Augen.

Peyton lächelte, aber es war kein wirkliches Lächeln. Sie sah ihn an, aber ihr Blick war nicht wirklich ein Blick. Ihr Lächeln war eine Drohung, die unvorstellbaren Schrecken versprach und eine Angst in ihm erweckte, die er nie zuvor kennengelernt hatte, und ihr Blick wie eine Schwertklinge, die ihn durchbohr-te und ihn mit einem Schmerz erfüllte, wie er ihn niemals erlebt hatte.

Du bist der erste, sagte dieser Blick.

Claire stand an der Spüle und wusch das Frühstücksgeschirr ab. Ihre Hände bewegten sich ganz automatisch, schnell und geschickt.

Zu sagen, daß sie keine besonderes gute Nacht gehabt hatte, wäre geschmeichelt gewesen. Sie hatte miserabel geschlafen, und zum ersten Mal seit Monaten hatte sie den Wecker nicht gehört und war erst durch das Klappern des Geschirrs in der Küche und Michaels und Emmas Stimmen wach geworden. Jemand hatte den Wecker abgeschaltet, hatte sie dann festge-stellt.

Die Erkenntnis hatte eine ziemlich komplizierte (und wohl auch ein bißchen paranoide) Kausalkette in Claires Gedanken in Gang gebracht, über die sie an jedem anderen Morgen wahrscheinlich nur matt gelächelt hätte, die ihr aber nach dem gestrigen Tag und der darauffolgenden Nacht von einer geradezu zwingenden Logik erschien: Michael war vor ihr wach geworden und hatte den Wecker abgestellt, um sie zu schonen. Sie erkannte durchaus die gute Absicht dahinter, aber sie wußte auch, wie dringend Michael im Moment seine Kräfte brauchte – seine Arbeit bei Biotechnics stand kurz vor dem Abschluß, das bedeutete eine Menge Streß für Michael und

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seine Mitarbeiter. Wenn er trotzdem auf eine Stunde Schlaf verzichtete, damit sie ihr zugute kam, dann mußte er ihre Verfassung für noch weitaus schlechter halten, als er zugege-ben hatte.

Der Gedanke war wie Salz in ihren Wunden gewesen. Micha-el war ein verdammt guter Beobachter. Wenn Michael glaubte, daß sie am Ende ihrer Kräfte war, dann war sie es vermutlich auch.

Claire nahm den letzten Teller aus dem Becken, stellte ihn auf das Abtropfblech und legte mit der anderen Hand den ver-schmorten Schalter um, der das Wasser ablaufen ließ. Die offenstehende Klappe der Geschirrspülmaschine kam ihr wie eine höhnisch herausgestreckte Zunge vor. Ihre Gedanken bewegten sich nur träge, und Claire versuchte vergeblich, sich einzureden, daß sie einfach nur übermüdet war. Der Fernseher lief, aber sie hörte die Worte des Sprechers kaum. Solomon arbeitete irgendwo draußen am Haus. Sie hatte ihn an diesem Morgen noch nicht gesehen, wohl aber gehört, als die Garagen-tür aufgegangen war, und wenige Minuten später den dumpfen Laut, mit dem er die Leiter ans Haus lehnte.

Auf der Straße fuhr ein Wagen vorbei, aber auch das regi-strierte sie nicht bewußt. Irgendwie kam es ihr vor, als wäre sie immer noch nicht wach. Das graue Licht und die Ruhe, die sich im Haus ausgebreitet hatte, nachdem Emma gegangen war, schienen sie einzulullen wie ein benommenmachender Nebel. Claire wunderte sich ein wenig über sich selbst; sie neigte weder zur Melancholie, noch war sie depressiv. Was gestern abend geschehen war, war selbst bei aller übertriebenen Vorsicht einfach kein Grund, in Panik zu geraten oder gar in schwärzeste Depressionen zu stürzen.

Aber vielleicht war es ja gar nicht der Zwischenfall mit Joe gewesen. Er war nur der Anlaß, der kleine Stein, der eine Lawine ins Rollen brachte, die sich schon seit langer Zeit in ihr aufgestaut hatte. Es hatte im Grunde gar nichts mit Joe zu tun,

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gestand sie sich ein. Es hatte mit ihr zu tun. Es waren die Stunden, die sie danach wachgelegen hatte. Die Stunden, in denen sie sich in einem von sinnlosen Bildern und gestaltloser Furcht erfüllten Schlaf herumgeworfen hatte, aus dem sie immer wieder erwacht war, gepeinigt von Furcht und Atemnot und schließlich den Erinnerungen, die mit immer größerer Macht über sie hereinbrachen. Es war das stumme Mitleid, das sie in Michaels Augen gelesen hatte, als sie schließlich in die Küche kam.

Es war das gräßliche Bewußtsein, kein vollwertiger Mensch mehr zu sein.

Claire machte sich nichts vor. Die Ärzte waren sehr offen zu ihr gewesen. Ihre Krankheit war nicht lebensbedrohlich – zumindest nicht akut –, und es gab gute Medikamente, so daß sich ihr Zustand auch auf Jahre hinaus nicht drastisch ver-schlimmern würde, wenn sie gewisse Vorsichtsmaßnahmen beachtete, aber es bestand auch keine realistische Aussicht, sie wirklich zu heilen. Ihre Krankheit zog sich durch jeden Bereich ihres Lebens. Es waren nicht nur die großen körperlichen Anstrengungen, die sie meiden mußte, sondern auch jede Aufregung, jeden Schrecken, aber auch jede Freude. Jegliche Art von Gefühlen konnte gefährlich für Claire werden, und es war dieses Wissen, das es so schlimm für sie machte. Irgend-wann einmal würde sie aufwachen und feststellen, daß sie innerlich gestorben war, ein seelischer Krüppel, der Angst vor seinen eigenen Emotionen hatte.

Es klingelte. Claire fuhr beinahe erschrocken zusammen und hatte für eine Sekunde Mühe, dem Laut irgendeine Bedeutung zuzuordnen. Dann fuhr sie fast hastig herum, trocknete sich die Hände ab und eilte zur Tür, wobei sie mit dem Handrücken über das Gesicht fuhr. Sie hatte Angst, geweint zu haben. Aber ihre Wangen waren trocken.

Es war Peyton. Im allerersten Moment erkannte Claire sie kaum und sah sie einfach nur verwirrt an. Peyton trug einen für

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die Jahreszeit viel zu warmen Mantel und einen reichlich altmodischen Hut, und wie in dem Bemühen, einer Figur aus einem Agatha-Christie-Roman ähnlich zu sein, hielt sie einen zerschrammten Lederkoffer in der rechten Hand und etwas, das wie ein mit Tuch abgedeckter Vogelkäfig aussah, in der linken Hand.

»Guten Morgen, Mrs. Bartel«, sagte sie freundlich lächelnd, aber auch mit einem ganz sacht angedeuteten Stirnrunzeln. Erneut – und diesmal sehr schmerzhaft – kam Claire zu Bewußtsein, welch ausgezeichnete Beobachterin Peyton Flanders war. Sie mußte sofort gemerkt haben, daß mit ihr etwas nicht stimmte. Aber sie war diskret genug, ihr Erstaunen zu überspielen. »Es tut mir leid, daß ich so spät komme, aber der Bus –«

»Das macht doch nichts«, unterbrach sie Claire. Sie hatte bisher weder auf die Uhr gesehen, noch überhaupt an Peyton gedacht.

Und es fiel ihr im allerersten Moment auch fast schwer, sich zu einem Lächeln durchzuringen. Peyton erinnerte sie an den vergangenen Abend. Sie war ein Teil des Steines, der die Lawine ausgelöst hatte. Natürlich trug sie nicht die mindeste Schuld an dem, was geschehen war – ganz im Gegenteil –, aber sie hatte damit zu tun, und das allein reichte im Moment, ihr etwas Negatives zu verleihen.

Peyton legte den Kopf schräg, und zu der Verwirrung in ihrem Blick gesellte sich … Sorge? Mißtrauen? Und Claire beeilte sich plötzlich, zurückzutreten und die Tür ganz zu öffnen.

»Kommen Sie herein«, sagte sie. »Ich bin gerade damit fertig, das Chaos zu beseitigen, das Michael und Emma hinterlassen haben.«

Sowohl der lockere Ton als auch ihr Lächeln überzeugten Peyton nicht, aber sie trat rasch an Claire vorbei in die Diele und stellte ihren Koffer ab. Unter dem Tuch, das das andere

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Gepäckstück verhüllte, drang ein Klingen und Klimpern hervor, als sie es zu Boden setzte.

»Ich hoffe, Sie haben den Schrecken von gestern abend gut überwunden«, sagte Peyton, während sie sich aus ihrem Mantel schälte.

Claire nickte. »So schlimm war es ja Gott sei Dank nicht. Sie waren ja im richtigen Moment zur Stelle.« Mit einem Gefühl leiser Verwirrung betrachtete sie Peytons Gepäck. Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit Peyton ausgemacht zu haben, daß sie tatsächlich schon heute einzog – aber zweifellos hatte sie genau das vor.

»Ich habe mir schwere Vorwürfe gemacht«, fuhr Peyton fort. »Wenn Joe etwas passiert wäre, hätte ich es mir nie verziehen.«

»Sie?« wunderte sich Claire. »Es war mein Ohrclip.« »Aber ich hätte es merken müssen«, beharrte Peyton. »Für so

etwas ist ein Kindermädchen da. Wenn Sie mir das Wohl Ihres Kindes anvertrauen, dann bedeutet das, daß ich hundertprozen-tig dafür verantwortlich bin.«

Ja, weil seine eigene Mutter es nicht mehr schafft, auf ihn achtzugeben, fügte Claire bitter in Gedanken hinzu.

Dieses Gefühl mußte sich wohl deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn Peyton sah sie eine Sekunde lang fast erschrocken an, ehe sie in verändertem Ton fortfuhr: »Bitte, entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht weh tun.«

Claire spürte die gute Absicht hinter ihren Worten. Im Um-gang mit Erwachsenen schien Peyton weit weniger geschickt zu sein als in dem mit Kindern.

»Ist das Ihr ganzes Gepäck?« fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»Das meiste«, bestätigte Peyton. »Ich habe noch einen klei-nen Koffer in einem Schließfach am Busbahnhof, aber da ist er erst einmal gut aufgehoben. Wenigstens für ein paar Tage, bis ich ein Zimmer gefunden habe. Sie kennen nicht zufällig eine Pension hier in der Nähe oder ein preiswertes Hotel?« Sie

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lächelte schüchtern. »Ich mußte leider heute schon ausziehen, wissen Sie. Der Umzug überstürzt sich ein bißchen.«

»Ich weiß.« Peyton blickte fragend, und Claire fuhr in erklä-rendem Tonfall fort: »Ich habe die Nummer angerufen, die Sie aufgeschrieben haben. Und das mit dem Hotel kommt gar nicht in Frage. Sie wohnen selbstverständlich hier. Es kommt zwar ein bißchen plötzlich, aber wir werden schon eine Lösung finden.«

»Ich will Ihnen keine Umstände machen, Mrs. Bar-«, begann Peyton.

»Claire«, sagte Claire. »Ich glaube, über das Mrs. Bartel waren wir schon hinaus – es sei denn, Sie möchten, daß ich Sie wieder Mrs. Flanders nenne. Dann bestehe ich allerdings auch darauf, daß Sie sich die Haare zu einem Knoten hochstecken und eine Hornbrille tragen.«

»Das würden Sie bedauern, glauben Sie mir«, seufzte Peyton. Sie lachte. »Also gut. Um ganz offen zu sein – ich hatte gehofft, daß Sie mir dieses Angebot machen. Es ist nicht leicht, in Seattle ein Zimmer zu bekommen. Schon gar nicht in dieser Gegend.«

»Und schon gar nicht schnell, und ganz bestimmt nicht preis-wert«, fügte Claire hinzu. »Kommen Sie – ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«

Sie wollte nach dem Koffer greifen, aber Peyton schüttelte den Kopf und griff statt dessen nach dem, was Claire immer noch für einen Vogelkäfig hielt. »Ich habe da noch etwas«, sagte sie. Plötzlich sah sie wieder verlegen aus. »Ein Begrü-ßungsgeschenk. Es ist leider nicht für Sie, sondern für Joe.«

»Aber das wäre doch nicht nötig ge –«, begann Claire, und brach überrascht und erstaunt mitten im Wort ab, als Peyton vorsichtig das weiße Tuch zur Seite schlug. Darunter kam kein Vogelkäfig zum Vorschein, sondern ein aus feinem, milchig-weißem Glas gefertigtes Windspiel, das eine Folge melodi-scher, glockenheller Töne von sich gab, als Claire es vorsichtig

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bewegte. »Das … das ist ja wunderschön!« sagte Claire. Peyton bewegte das Windspiel erneut und ein bißchen hefti-

ger, und eine weitere Folge elfenhafter Töne schwang durch das Haus. »Wenn sie das hören, schlafen die Babys viel besser«, sagte Peyton. Ihre Augen leuchteten.

»Ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann«, sagte sie – und begriff schon im gleichen Moment, in dem sie die Worte aussprach, daß sie Peyton damit verletzte. Trotzdem fuhr sie fort: »Es muß ein Vermögen gekostet haben.«

»Es war ein Geschenk meines Mannes«, antwortete Peyton. »Wir wollten es in unserem Kinderzimmer aufhängen, aber …«

Ein Schatten huschte über ihre Züge, und für einen Moment gewahrte Peyton wieder die gleiche Dunkelheit in ihren Augen, die sie schon einmal darin erblickt hatte. Peyton hatte behaup-tet, es mache ihr nichts aus, darüber zu reden, aber das war eine Lüge.

»Wissen Sie was?« sagte sie, um erneut das Thema zu wech-seln. »Jetzt zeige ich Ihnen erst einmal, wo Sie wohnen werden, und danach hängen wir es gemeinsam auf. Am besten direkt über Joes Wiege, so daß er es sehen kann, wenn er aufwacht.«

»Ja, gut«, sagte Peyton. Vorsichtig setzte sie ihre Last ab und folgte Claire, die sich bereits herumgedreht hatte und die Kellertür öffnete. Sie tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn wie üblich erst beim zweiten Tasten und drehte ihn herum. Ein hartes Klacken erscholl, und unter ihnen glomm ein trübgelber Schein auf.

»Passen Sie mit dem Treppengeländer auf«, sagte Claire. »Es ist nicht besonders stabil. Ich werde Solomon bitten, sich gleich als nächstes darum zu kümmern – und um das Licht auch«, fügte sie fast verlegen hinzu, als sie die Treppe weit genug heruntergegangen war, daß Peyton die nackte Glühbirne

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sehen konnte, die an einem Draht von der Decke hing. »Aber das sind nur Kleinigkeiten. Ein paar Handgriffe, die schnell erledigt sind.«

Sie durchquerten den Keller, der nicht mehr ganz so staubig, aber noch immer so unaufgeräumt und vollgestopft wie am Tage ihres Einzuges war, gingen an der offenstehenden Tür zur Waschküche vorbei und steuerten die hintere Treppe an.

»Sie haben einen eigenen Eingang«, erklärte sie mit einer Geste auf die rückwärtige Tür. »So müssen Sie nicht jedesmal durch die Wohnung, wenn Sie einmal später gehen oder kommen wollen. Und das hier wäre dann Ihr Reich.«

Sie öffnete die Tür des Gästezimmers und machte einen Schritt zur Seite, damit Peyton als erste eintreten konnte. Nach der Dunkelheit im Keller kam ihr der Raum selbst überra-schend hell vor, und er war es auch, denn er hatte ein großes Fenster, und zwei starke Neonröhren sorgten zusätzlich für weißes, helles Licht, und er war auch überraschend groß, denn der Keller erstreckte sich nicht nur unter dem Wohnbereich, sondern auch unter der Garage und einem Teil des Gartens, so daß der Raum die Dimensionen eines kleinen Appartements hatte – und auch entsprechend eingerichtet war. Die Möbel waren nicht neu, aber tadellos in Schuß, und vor acht Jahren, als sie sie – damals noch für ihre eigene Wohnung – gekauft hatten, waren sie durchaus modern gewesen.

Peyton blieb in der Mitte des Zimmers stehen und sah sich rasch, aber sehr aufmerksam um. »Sehr schön«, sagte sie.

»Wie gesagt, es ist vielleicht alles ein bißchen überstürzt«, sagte Claire. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich für dieses Zimmer entschuldigen zu müssen. »Die Wände müssen neu gestrichen werden, und ich fürchte, die Fenster sind seit einem Jahr nicht mehr geputzt worden, aber –«

»Es gefällt mir«, unterbrach sie Peyton. »Wirklich?« fragte Claire. Peyton nickte heftig. »Es ist phantastisch. Viel größer als das,

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das ich bis jetzt hatte. Und heller.« »Sie können es sich gestalten, wie Sie wollen. Das beste wird

sein, ich schicke Solomon nachher zu Ihnen, damit Sie ihm selbst sagen, welche Farben Sie haben möchten. Und ich glaube, ich habe irgendwo auch noch ein paar Gardinen, die wir aufhängen könnten …«

»Es ist perfekt«, beharrte Peyton. Sie lächelte, »Sie wissen ja gar nicht, wie glücklich ich bin, hier sein zu dürfen, Claire. Ich glaube, besser hätte ich es kaum treffen können.«

»Das gilt wohl für beide Seiten«, antwortete Claire, und es war keine leere Floskel, sondern genau so gemeint. Etwas sehr Seltsames war geschehen, seit Peyton das Haus betreten hatte und sie gemeinsam hier heruntergekommen waren – ganz plötzlich fühlte sie sich wieder besser. Sie konnte das Gefühl nicht begründen, aber sie wußte, daß dieser Stimmungsum-schwung irgendwie mit Peyton zu tun hatte. Vielleicht lag es an ihrer sonderbar sanftmütigen Art.

»Ich bin Ihnen doch lästig«, sagte Peyton plötzlich, und Claire begriff, daß sie sicher eine Minute dagestanden und an Peyton vorbei ins Leere gestarrt hatte.

»Nein«, widersprach sie. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun, Peyton. Wirklich nicht. Ich halte nichts davon, aus Höflichkeit zu lügen, wissen Sie? Ich hatte …« Sie suchte einen Moment nach Worten und rettete sich in ein etwas gequältes Lächeln. »Heute ist einer von diesen Tagen, an denen alles schiefzuge-hen scheint.«

»So etwas kenne ich«, pflichtete ihr Peyton bei. »Am besten steht man an einem solchen Tag erst gar nicht auf.«

»Ja, aber dann würde einem wahrscheinlich die Schlafzim-merdecke auf den Kopf fallen.« Sie lachte. »Wissen Sie was? Wir gehen jetzt nach oben und trinken eine Tasse Kaffee, und danach schnappen Sie sich Solomon und erklären ihm, was er hier unten alles tun soll.«

»Falls Joe noch nicht wach ist«, schränkte Peyton ein.

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Die Worte enthielten einen unausgesprochenen Tadel, der Claire ein ganz kleines bißchen ärgerte. Aber sie kam nicht zum Antworten, denn in diesem Moment schüttelte sie ein Hustenanfall, nicht sehr heftig, aber anhaltend, und als er vorbei war, brauchte sie Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. Peyton musterte sie besorgt.

»Sind Sie krank?« fragte sie. »Die trockene Luft hier unten«, antwortete Claire, kopfschüt-

telnd und noch immer hörbar um Atem ringend. »Großer Gott, ich fürchte, ich habe hier seit Monaten nicht mehr richtig gelüftet.« Sie ging zum Fenster, öffnete es und nahm zwei, drei tiefe Atemzüge, ehe sie mit etwas leiserer Stimme fortfuhr: »Aber Sie haben recht: ich bin krank.«

»Asthma?« vermutete Peyton. Claire drehte sich überrascht zu ihr herum. »Woher wissen

Sie das?« »Gestern abend, als ich die Schublade mit dem Besteck

gesucht habe«, sagte sie. »Ich habe ein Medikament gefun-den.«

Tatsächlich bewahrte Claire die Nachfüllpackung für ihren Inhalator in einer Küchenschublade auf. Aber das beantwortete nicht die Frage. »Woher kennen Sie dieses Mittel?«

»Mein Mann war Arzt«, antwortete Peyton. »Noch kein richtiger Arzt mit einer eigenen Praxis, sondern gerade mit dem Studium fertig. Wir wollten gerade darangehen, die Praxis zu gründen, als er starb.«

»Das tut mir wirklich sehr leid«, sagte Claire. »Das muß es nicht. Ein halbes Jahr später wäre es schlimmer

gewesen. Dann säße ich jetzt auf einem Berg von Schulden, den ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende nicht abtragen könnte.« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie etwas zur Seite schieben. »Seit dieser Zeit kenne ich jedenfalls eine Menge Medikamente. Mein Mann war alles anderes als ordentlich. Unsere Wohnung sah manchmal aus wie eine

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Mischung aus Apotheke und Universitätsbücherei. Ich habe mich schon gewundert, wer in Ihrer Familie dieses Mittel braucht, aber ich wollte nicht indiskret sein und fragen. Es ist sehr stark, nicht wahr?«

»Ich brauche es nur selten«, antwortete Claire. »Eigentlich so gut wie nie. Aber das Gefühl, es in der Nähe zu haben, ist sehr beruhigend. Wenn ich es nicht in Griffweite habe, fühle ich mich … irgendwie nackt. Albern, nicht?«

»Das ist überhaupt nicht albern«, sagte Peyton. »Ich kann das gut verstehen. Die meisten Menschen glauben, daß Asthma eine Krankheit ist, die man auf die leichte Schulter nehmen kann, wie eine harmlose Allergie oder so etwas. Aber ich weiß von meinem Mann, daß das nicht stimmt.«

»Es ist die Hölle«, sagte Claire leise. »Wenigstens manchmal. Es stimmt schon – es gibt Tage, da spüre ich es kaum. Wenn ich ein bißchen vorsichtig bin, kann ich fast wie ein normaler Mensch leben. Aber eben nur wenn, und eben nur fast, verste-hen Sie?«

»Es ist die Art zu leben, die sie Ihnen aufzwingt«, vermutete Peyton.

»Ja.« Ein sonderbares Gefühl von Vertrautheit ergriff von Claire Besitz. Sie sprach normalerweise ungern über ihre Krankheit; nicht einmal mit Michael. Irgendwie war das bei Peyton anders; bei ihr verspürte sie keine Scheu; nichts von den üblichen Hemmungen, über ihr Handicap zu reden, wie Michael es normalerweise nannte. »Es ist schwer zu erklären, aber …«

»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Peyton. »Es gibt nichts Normales, nicht wahr? Es zieht sich durch alle Bereiche Ihres Lebens.«

»Man kann nicht die winzigste Kleinigkeit tun, ohne vorher darüber nachzudenken«, bestätigte Claire. Sie war ein wenig erstaunt, wie gut Peyton zu verstehen schien, was diese Krankheit den Betroffenen antat. Asthma war keine von den

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Krankheiten, mit denen man allgemeines Mitgefühl ernten oder gar kokettieren konnte, sondern wurde meistens unterschätzt – von Außenstehenden, von den Kranken selbst, ja, sogar von manchen Ärzten.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und verließ das Zimmer. Die Dunkelheit des Kellers erschien ihr intensiver als bisher, es war eine feindselige Dunkelheit. »Es gibt Schlimmeres«, sagte sie. »Man kann damit leben, wenn man sich daran gewöhnt hat. Ich glaube, man kann mit allem leben, wenn es sein muß.«

Peyton folgte ihr. Sie sagte nichts dazu. Aber sie sah sehr traurig aus.

Solomon sah das Hindernis erst im letzten Moment und beinahe zu spät. Er hatte kein Licht gemacht – die trübe Vierzigwattbirne verbreitete ohnehin mehr Schatten als Helligkeit, und er kannte sich hier unten gut genug aus, um im Notfall auch mit verbundenen Augen seinen Weg zu finden; mit Ausnahme Claires, die ihre Waschküche hier unten eingerichtet hatte, kam keiner der Bartels oft in den Keller, während Solomon sich in diesem Teil des Hauses nahezu heimisch fühlte.

Aber jemand hatte umgeräumt. Unmittelbar vor der Treppe stand eine der Kisten, die bisher in einem anderen Teil des Kellers gestanden hatten. Solomon wäre um ein Haar darüber gefallen. Im allerletzten Moment machte er einen hastigen Schritt zur Seite, der ihn sein Gleichgewicht wiederfinden ließ. Die beiden Eimer, die er in den Händen trug (und vor allem der Kellerboden) hatten entschieden weniger Glück. Die Farbe schwappte über den Rand und ergoß sich über seine Schuhe und den Fußboden.

Hastig setzte Solomon seine Last ab und machte einen halben Schritt zur Seite, überlegte es sich dann aber anders, als er den weißen Fußabdruck sah, den er dabei hinterließ, und schlüpfte

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aus dem Schuh. Einen Moment lang fühlte er sich hilflos. Um die Schuhe war es nicht schlimm – Solomon besaß noch ein weiteres Paar, und natürlich zog er zur Arbeit nur diese alten Schuhe an. Schlimm war es für den Boden. Claire würde zwar nicht mit ihm schimpfen – das tat sie nie, und das war einer der Gründe, aus denen Solomon sie so mochte –, aber natürlich würde sie nicht glücklich über den Fleck sein, und Michael sicher auch nicht.

Die Tür des Gästezimmers wurde geöffnet, und Peyton Flanders’ Gestalt erschien als scharf abgegrenzte Silhouette vor dem Neonlicht dahinter. Eine Sekunde lang stand sie einfach nur da und starrte ihn an, und obwohl auf ihrem Gesicht nicht die mindeste Regung zu erkennen war, begann sich Solomon unter ihrem Blick sofort unbehaglich zu fühlen. Er rechnete damit, daß sie wütend werden würde.

Statt dessen hob sie nur flüchtig die linke Augenbraue. »Was hast du jetzt schon wieder angerichtet?« fragte sie. Solomon konnte sich nicht erinnern, zuvor irgend etwas angerichtet zu haben, aber Peytons Frage war nicht von der Art gewesen, die eine Antwort erwartete. »Schickt dich Mrs. Bartel?« fuhr sie fort.

»Wegen des Zimmers, ja.« Solomon streckte die Hand nach dem Farbeimer aus und zog sie wieder zurück, ohne die Bewegung zu Ende geführt zu haben. »Aber ich wußte nicht, daß Sie schon hier sind. Ich … ich kann später wiederkommen und die Wände streichen.«

»Das ist nicht nötig. Jedenfalls im Augenblick nicht.« Pey-tons Blick löste sich von seinem Gesicht und wanderte an seiner Gestalt herab, blieb einen Moment an seinen mit Farbe bekleckerten Schuhen und etwas länger an dem weißen Fleck auf dem Fußboden hängen.

»Aber Claire hat gesagt –« »Mrs. Bartel«, verbesserte ihn Peyton mit leicht erhobener

Stimme, in der ein unausgesprochener Tadel über die Vertraut-

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heit lag, daß er, der Schwarze, Claire mit ihrem Vornamen ansprach, »hat mir gesagt, daß du das Zimmer streichen sollst. Aber ich habe eine andere Aufgabe für dich. Mit Farbe scheinst du ja sowieso deine Schwierigkeiten zu haben.« Sie kam auf ihn zu und griff dabei in die Tasche ihrer kurzgeschnittenen, modernen Kostümjacke. »Kannst du lesen?«

»Selbstverständlich, Ma’am«, antwortete Solomon automa-tisch. Aus dem Munde jedes anderen hätte diese Frage Empö-rung in Solomon wachgerufen, zumindest eine jener ironisch-bissigen Antworten, zu denen Solomon durchaus in der Lage war und die die wenigsten von ihm erwarteten. Aber es war, als fühle er Peytons Überlegenheit. Sie war eine Frau, die es einfach gewohnt war, zu befehlen, so selbstverständlich, wie Solomon daran gewöhnt war, daß es immer jemanden gab, der ihm sagte, was er zu tun hatte.

»Na ja, wenigstens etwas«, seufzte Peyton. Sie händigte ihm einen Zettel aus, machte aber eine ablehnende Geste, als er ihn auseinanderfalten und lesen wollte. »Das Zimmer hat Zeit«, fuhr sie fort. »Du wirst morgen früh als erstes zu dieser Adresse gehen – noch bevor du hierherkommst. Du besorgst die Sachen, die ich dir aufgeschrieben habe, und bringst sie zu mir. Zu mir, verstehst du, nicht zu Mrs. Bartel. Zu bezahlen brauchst du nichts. Frage einfach nach Mr. Perkins; er weiß Bescheid.«

Solomon startete einen letzten, halbherzigen Versuch, sich zu widersetzen. »Aber Michael hat gesagt, daß –«

»Mr. Bartel«, fiel ihm Peyton ins Wort, »hat dir aufgetragen, mein Zimmer zu renovieren. Ich möchte, daß du statt dessen etwas anderes für mich erledigst, das auch nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen wird. Wo ist das Problem?«

»Kein Problem«, sagte Solomon hastig. »Dann ist es ja gut«, antwortete Peyton. »Und noch etwas: Es

soll eine Überraschung für die Bartels werden. Also kein Wort zu ihnen, ist das klar?«

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»Völlig klar, Ma’am«, sagte Solomon. »Gut. Und« – sie deutete auf den Farbfleck auf dem Boden,

während sie sich bereits wieder herumdrehte, um in ihr Zimmer zurückzugehen, »wisch das weg.«

Claire schloß behutsam die Kinderzimmertür hinter sich und blieb noch einige Augenblicke stehen, um zu lauschen, aber durch das dünne Holz drang nur die Stille, die sich im Laufe der letzten halben Stunde über das gesamte Haus ausgebreitet hatte. Emma schlief. Ihre Augen waren irgendwann zwischen der zweiten und dritten Strophe von Schlafe, mein Kindchen, schlaf ein, zugefallen. Claire hatte gehofft, noch einmal in Ruhe mit ihrer Tochter reden zu können, aber Emma hatte ihre Versuche, das Gespräch geschickt auf das Thema Schule – genauer gesagt: Roth – zu lenken, mit noch größerem Geschick abgeblockt, und schließlich hatte Claire aufgegeben. Ein Gespräch zu erzwingen hatte noch nie etwas genutzt. Und vielleicht bedeutete Emmas Schweigen ja, daß sich die Situati-on in der Schule ein wenig entspannt hatte.

Claire bewegte sich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Es gab keinen Grund dafür, aber im Haus herrschte eine beinahe heilige Stille, die Claire nicht stören wollte.

Sie ging am Schlafzimmer vorbei, öffnete Joes Tür und erinnerte sich zu spät, daß sie das nicht mehr mußte. Joe schlief; das Empfangsgerät des drahtlosen Babywalkmans stand nicht mehr auf ihrem Nachttisch, sondern auf dem Peytons, und vor ihr lag – zum ersten Mal seit Monaten wieder! – eine Nacht, in der sie nicht ein halbes Dutzend Mal geweckt wurde und aufstehen mußte, sondern sieben oder acht herrliche Stunden einfach durchschlafen konnte, ohne daß ein Teil ihres Bewußtseins immer auf einen verräterischen Ton aus dem Babyphon wartete. Eine himmlische Vorstellung.

Allerdings nur in der Theorie.

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Praktisch sah es wohl eher so aus, daß es sicher noch Wochen dauern würde, wenn nicht abermals Monate, bis sie sich auch nur halbwegs an diesen neuen Zustand gewöhnt hatte; so weit sie das überhaupt wollte, hieß das. Claire war immer noch nicht völlig sicher, ob sie überhaupt ein Kindermädchen für Joe wollte.

Sie mochte Peyton. Sie war sicher, einen guten Griff mit ihr getan zu haben; ein Glücksfall, wie man ihn nur selten im Leben erfuhr; und sie freute sich auf all die kleinen Bequem-lichkeiten und Vorteile, die Peytons Anwesenheit für sie bedeuten würde. Aber ein Teil von ihr, der unlogisch, egoi-stisch, eifersüchtig und vielleicht auch ein ganz kleines bißchen paranoid, aber einfach nicht zum Schweigen zu bringen war, erklärte ihr noch immer mit penetranter Hartnäckigkeit, daß Joe ihr Kind sei und niemand ein Anrecht auf auch nur ein Quentchen des Glücks hätte, das seine bloße Anwesenheit bedeutete.

Davon ganz abgesehen, hatte sie Peyton schließlich nicht engagiert, um Joe gar nicht mehr sehen zu müssen, sondern ihr den lästigen Teil der Arbeit abzunehmen, die ein Kind nun einmal mit sich brachte – also öffnete sie behutsam die Tür des Babyzimmers und trat auf Zehenspitzen ein. Sie verursachte nicht den mindesten Laut, aber der Luftzug, den sie mit sich brachte, ließ die dünnen Gläser des Windspieles schwingen.

Eine Folge leiser, melodischer Töne schwang durch das Zimmer, und Claire verharrte für einen Moment mitten im Schritt; fest davon überzeugt, daß dieses winzige Geräusch ausreichen mußte, Joe zu wecken.

Nach einer Sekunde ging sie weiter, schloß die Tür hinter sich und trat an die Wiege heran. Das Windspiel kommentierte ihre Annäherung mit einer weiteren, glockenhellen Melodie, aber Joe wurde auch davon nicht wach. Peyton schien recht zu haben mit dem, was sie darüber gesagt hatte: die zarten, hohen Töne, die ein Erwachsener zum Teil schon gar nicht mehr

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wahrnahm, schienen eine ungemein beruhigende Wirkung auf Säuglinge auszuüben.

Claire blieb mehre Minuten neben Joes Wiege stehen und sah auf ihren Sohn herab. Sie widerstand der Versuchung, ihn hochzunehmen und an sich zu drücken, schon, weil sie ihn nicht wecken wollte, aber ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit überkam sie, und damit einher ging eine sonderbare Verwir-rung über ihre eigenen Gefühle während der beiden zurücklie-genden Tage. Der Anblick des friedlich in seinem Bett schlafenden Kindes machte ihr klar, wie närrisch sie sich benommen hatte. Sie hatte wahrlich keinen Grund, mit dem Schicksal zu hadern. Sie hatte zwei wundervolle, gesunde Kinder, einen Mann, der sie ebensosehr liebte wie sie ihn, dieses phantastische Haus und die Aussicht auf eine Zukunft ohne finanzielle Sorgen – hatte sie wirklich heute morgen noch geglaubt, Grund zu irgendwelchen Depressionen zu haben?

Lächerlich. Nach einer Weile verließ sie das Zimmer, ging über den Flur

und betrat das Bad. Die Verbindungstür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Michael saß im Bett, balancierte ein Notizbrett auf den angezogenen Knien und kaute auf einem Kugelschreiber, während sein Blick mit höchster Konzentrati-on auf das Blatt vor ihm gerichtet war.

Er arbeitet zuviel, dachte Claire. Das war an sich nichts Neues – Michael arbeitete immer zuviel, denn er hatte einen Job, der das nun einmal mit sich brachte, und sie hatte sich schon vor langer Zeit damit abgefunden. Aber in den letzten Wochen übertrieb er es entschieden.

Nun, vielleicht gab es ja eine Möglichkeit, ihn wenigstens für eine Weile auf andere Gedanken zu bringen …

Sie schloß die Badezimmertür, trat für einen kurzen Moment unter die Dusche und schlüpfte in ein anderes, sehr viel aufreizenderes Neglige. Einen Moment lang blieb sie unter der Tür stehen und sah zu Michael hinüber, aber er schien sie gar

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nicht zu bemerken. Die Spitze seines Kugelschreibers verur-sachte leise, kratzende Geräusche, während sie über das Papier huschte. Sie lächelte, schüttelte lautlos den Kopf und ging dann zur Tür. Michael sah auf, runzelte die Stirn – und konzentrierte sich weiter auf seine Arbeit.

Claire drehe den Schlüssel herum, lehnte sich in bewußt aufreizender Haltung gegen den Türrahmen und sagte: »Klopf, klopf.«

Der Kugelschreiber kratzte eine Sekunde lang weiter über das Blatt und verharrte, als Michael abermals den Blick hob und sie ansah; diesmal entschieden länger. »Liebling, du weißt, daß ich diesen Bericht bis nächste Woche fertig haben muß«, sagte er.

»Sicher«, antwortete Claire, ging zum Bett, versetzte dem Klemmbrett einen Stoß und nahm selbst auf seinem freigewor-denen Schoß Platz. »Ich habe auch nicht vor, dich eine Woche lang aufzuhalten.« Sie küßte zärtlich seine Schulter, ließ ihre Lippen an seinem Hals emporwandern und knabberte an seinem Ohr.

»Das ist nicht fair!« protestierte Michael. »Was ist nicht fair?« fragte Claire harmlos. »Einen Mann mitten in seiner Arbeit zu überfallen, noch dazu

zu dieser nachtschlafenden Zeit!« »Wer spricht von Schlafen?« erkundigte sich Claire. Sie

seufzte. »Also gut – was denkst du, wie lange du noch brauchst?«

Michael machte ein nachdenkliches Gesicht. »Fünf oder sechs Tage, wenn ich mich ein bißchen beeile und nicht zu viel Zeit mit unwichtigen« – Claires Zähne gruben sich ein wenig heftiger in sein Ohr, und Michael verbesserte sich hastig: »Also gut – gibst du mir Zeit bis halb zwölf? Ich will nur diesen Gedanken zu Ende formulieren.«

Claire stand mit einer sichtbar widerwilligen Bewegung auf, stieg über ihn hinweg und streckte sich auf ihrer Seite des

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Bettes aus. »Es ist jetzt zwanzig nach elf«, sagte sie nach einem Blick auf den Wecker. »Ich werde versuchen, so lange durchzuhalten … übrigens – ist Solomon eigentlich noch da?«

»Solomon? Wieso?« »Nun, er ist ein gutaussehender junger Mann, oder? Groß,

kräftig …« Michael blickte sie ein paar Sekunden lang mit perfekt ge-

schauspielertem Entsetzen an, ehe er lachend nach seinem Block griff und weiterschrieb. Claire kuschelte sich an seine Seite.

Michael hielt Wort – er brauchte tatsächlich sogar weniger als die angekündigten zehn Minuten, um den Abschnitt zu Ende zu schreiben. Aber als er schließlich Block und Stift aus der Hand legte und sich zu Claire hinüberbeugte, waren ihre Augen geschlossen, und ihr regelmäßiger, schwerer Atem verriet, daß sie längst eingeschlafen war. Michael hauchte ihr einen zärtlichen Kuß auf die Stirn, bevor auch er sich auf die Seite rollte, das Licht löschte und fast augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlummer sank.

»Haltet sie fest!« Hände, die nach ihr griffen, sie hielten. Fest, viel zu fest. Sie taten ihr weh. Sie bäumte sich auf, kämpfte mit aller Kraft gegen die Hände, die sie auf die harte, kalte Unterlage preßten und ihr weh taten, und gegen den anderen, viel schlimmeren Schmerz, der in ihrem Inneren wühlte und grub.

Die Todesangst gab ihr übermenschliche Kräfte. Sie schüttel-te die Hände ihrer Peiniger ab, aber nur für einen Moment. Sofort Wurde sie erneut und diesmal noch kräftiger ergriffen und niedergedrückt. Der Schmerz war unbeschreiblich. Sie hatte das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden.

»Verdammt noch mal, haltet sie doch fest! Sie bringt sich um!«

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Eine andere Stimme: »Wir müssen operieren – sofort. Ist der OP bereit?«

Sirenen, weit entfernt. Lärm. Huschende Lichter, die immer schneller über ihr hinwegzogen und in ihre Augen stachen wie glühende Messer, und schnelle, hämmernde Schritte, in fast regelmäßigen Abständen vom dumpfen Krachen der Türen unterbrochen, die vor ihnen aufgestoßen wurden und hinter ihnen wieder zufielen.

»Auf den Tisch – schnell, verdammt!« Die rasende Bewegung hörte auf. Sie wurde ergriffen und auf

einen kalten Tisch gelegt, und statt der Hände schmiegten sich nun unzerreißbare Lederbänder um ihre Hand- und Fußgelen-ke.

Sie zerrte mit aller Kraft daran, hatte aber keine Chance. »Mrs. Mott – bitte, beruhigen Sie sich. Sie müssen keine

Angst haben. Wir kümmern uns um Sie. Es wird alles gut.« Ein Gesicht erschien über ihr, das bereits halb hinter dem dunklen Grün einer Operationsmaske verborgen war. »Wir geben Ihnen gleich etwas gegen die Schmerzen, aber Sie müssen sich beruhigen.«

Sie tobte. Ihre Vernunft sagte ihr, daß der Mann recht hatte und sie alles nur schlimmer machte, wenn sie sich wehrte, aber Schmerzen und Angst fegten jeden Ansatz klaren Denkens davon. Sie bäumte sich mit verzweifelter Kraft gegen die Fesseln auf. »Mein Baby! O Gott, mein Baby! Sie müssen mein Baby retten!«

»Wir tun, was in unseren Kräften steht. Keine Angst. Sie sind in guten Händen.«

Ein dünner Schmerz bohrte sich in ihre rechte Armbeuge. Eine Sekunde später stach eine zweite Nadel in ihren Hand-

rücken, und etwas Brennendes, Heißes floß in ihre Vene. Eine kalte Ledermanschette wurde an ihrem Gelenk befestigt, ein halbes Dutzend Elektroden an ihrer Stirn und Brust. Der Operationssaal begann sich mit Menschen zu füllen, und in das

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Rumoren der Stimmen und das Geräusch ihrer hektischen Bewegung mischten sich mehr und mehr elektronische Geräu-sche, allen voran ein hektisches Piepsen im Takt ihres Herz-schlages, aber viel zu schnell.

Dann änderte sich etwas. Eine spürbare Angst lag in der Luft. Die Stimmen wurden lauter, die Bewegungen schneller und hektischer. »Er schafft es nicht!«

»Mein Baby!« schluchzte sie. »Bitte, retten Sie mein Baby! Es ist egal, wenn ich sterbe, aber Sie müssen es retten!«

Das Piepsen wurde schneller, lauter und plötzlich unregel-mäßig, ein rasender, unrhythmischer Takt, der sich selbst zu überholen versuchte und dabei immer hektischer wurde –

»Wir verlieren ihn!« – dann plötzlich abbrach und zu einem einzelnen, langgezo-

genen Ton wurde, und Peyton erwachte, zitternd, am ganzen Leib in Schweiß gebadet und von dem gleichen Entsetzen erfüllt, mit dem sie an jedem Morgen in den zurückliegenden sechs Monaten erwacht war, denn der Traum kam jede Nacht, und er war in jeder Nacht gleich, und auch das Entsetzen, das er mit sich brachte, war in jeder Nacht gleich. Es verlor nichts von seiner Intensität.

Vielleicht, weil sie es nicht wollte. Ihr Kind war tot; gestorben, noch bevor es geboren war, und

dieser Traum, die Erinnerung an die Schmerzen und die Angst waren alles, was sie jemals von ihm gehabt hatte.

Peyton setzte sich auf und griff nach dem kleinen Radiowek-ker, der auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand. Die Leuchtziffern zeigten 3 Uhr 25, und der monotone Pfeifton aus ihrem Traum war noch immer da – es war der Alarm, der sie geweckt hatte. Peyton schaltete ihn ab, und für einen Moment begannen ihre Hände heftiger zu zittern, denn die Stille schien wie eine schwarze Woge über ihr zusammenzuschlagen. Sie hatte das Bedürfnis zu schreien. Sie wußte, daß sie es in den ersten Wochen manchmal getan hatte. Aber es hatte keine

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Erleichterung gebracht, und nachdem sie damit begonnen hatte, ihre Rache zu planen und vorzubereiten, hatte sie bewußt und mit wachsendem Erfolg dagegen angekämpft. Hier durfte sie nicht schreien.

Sie setzte sich weiter auf, schlug die Decke zurück und lauschte einen Moment auf die Geräusche, die aus dem Lautsprecher des Babyphons drangen, vernahm aber nur ein monotones, statisches Rauschen, dessen Ursache darin lag, daß sie die Empfindlichkeit des Senders oben in Joes Zimmer bis zum Maximum aufgedreht hatte. Es war ein wirklich gutes Gerät, wahrscheinlich sogar besser, als die Bartels ahnten. Vorhin, als Claire zu Bett gegangen war, hatte Peyton nicht nur gehört, daß sie kurz zuvor noch einmal in Joes Zimmer gewesen war, sondern auch, daß sie sich hinterher noch im Schlafzimmer mit Michael unterhalten hatte, auch wenn sie natürlich die Worte nicht verstehen konnte. Sie hätte gehört, wenn Claire oder Michael noch wach gewesen wären.

Peyton stand auf, verließ das Zimmer und durchquerte lautlos und ohne Licht zu machen den Keller. Sie hatte den Weg früher am Abend mehrmals zurückgelegt und sich jeden Schritt genau eingeprägt, so daß sie die Treppe auch im Dunkeln sicher fand. Daß sie die Einrichtung des Kellers zum Teil umgestellt hatte, war kein Zufall. Peyton tat niemals etwas gedankenlos, und sie überließ nichts dem Zufall. Nach ihrer kleinen Umräumaktion war Peyton die einzige, die sich noch ohne Licht im Keller zurechtfand. Jeder andere, der kam und sie möglicherweise bei etwas überraschen würde, bei dem sie sich besser nicht überraschen ließ, würde unweigerlich genug Lärm machen, um sie zu warnen.

Sie ging die Treppe hinauf, blieb im Flur noch einmal stehen und lauschte und machte sich dann auf den Weg ins Oberge-schoß. Sorgfältig zählte sie die Stufen ab. Sie hatte diese Treppe vorhin gründlich inspiziert und festgestellt, daß die neunte Stufe ein wenig knarrte; nicht besonders stark, so leise,

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daß es tagsüber wahrscheinlich gar nicht zu hören war, aber es war mitten in der Nacht, und in der vollkommenen Stille, die im Haus herrschte, mußte selbst der winzigste Laut gut zu hören sein. Sie durfte Claire nicht unterschätzen. Sie vertraute ihr, aber sie hatte auch die übersensiblen Sinne einer Mutter, die sich bisher vierundzwanzig Stunden am Tag allein um ihr Kind gekümmert hatte.

Peyton war sich darüber im klaren, daß sie ein enormes Risiko einging, ihr Vorhaben gleich am ersten Abend durchzu-führen. Es wäre sehr viel sicherer – und auch klüger – gewe-sen, einige Tage oder sogar Wochen zu warten, bis sie wirklich sicher war, Claires volles Vertrauen zu genießen.

Aber sie wußte nicht, ob ihr so viel Zeit blieb. Die Bartels kannten sie zwar nicht persönlich, doch ihr Bild war damals fast ebensooft in den Zeitungen gewesen wie das Victors, und das Risiko, daß irgend jemand sie erkannte, war nicht von der Hand zu weisen. Peyton glaubte nicht, daß ihr mehr als drei oder vier Wochen Zeit blieben.

Mit einem großen Schritt überstieg sie die knarrende Stufe, öffnete die Tür zu Joes Zimmer und trat ein. Das Windspiel klimperte leise. Seine Töne waren nur ein Hauch, den sie eher spürte als wirklich hörte. Trotzdem blieb sie dreißig Sekunden lang mit angehaltenem Atem gegen die Tür gelehnt stehen und lauschte, ehe sie weiterging. Nichts.

Peyton zögerte noch ein allerletztes Mal. Noch hatte sie nichts getan, was nicht wieder gutzumachen gewesen wäre. Noch konnte sie zurück; das Zimmer verlassen, ihre Sachen packen und so spurlos und schnell aus diesem Haus und dem Leben der Bartels verschwinden, wie sie aufgetaucht war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte keine Angst vor dem, was sie tun würde, oder seinen Folgen – es war die Entschei-dung, die sie zögern ließ.

Noch einmal, ein allerletztes Mal in ihrem Leben, spürte Peyton ein schwaches Aufflackern von Vernunft und stellte

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sich die Frage, welchen Sinn Rache hatte. Sie brachte ihr Victor nicht zurück, sie kittete nicht den Scherbenhaufen, in den sich ihr Leben verwandelt hatte, und sie machte ihren Sohn nicht wieder lebendig.

Vielleicht war es nur eine Sekunde, die sie zögerte. Aber sie ließ sie verstreichen, und sie tat nichts, um dem Sog der Rache zu entgehen, und dann war es zu spät. Die Antwort auf ihre Frage erschien wie mit flammenden Lettern geschrieben in ihren Gedanken: Rache mußte sein. Sie war schädlich, zu nichts anderem nutze, als zu zerstören und noch größeren Schaden anzurichten. Es war das Prinzip der Strafe, auf seine biblische Eindeutigkeit reduziert, und es besagte, daß man nichts tun konnte, ohne sich der Konsequenzen dieses Tuns gewärtig zu sein.

Peyton war nicht so vermessen, wirklich zu glauben, daß es allein Claires Schuld war. Letztendlich war es Victor gewesen, der die Katastrophe ausgelöst hatte, vielleicht sogar den allergrößten Teil der Verantwortung trug. Aber Victor hatte bezahlt, einen Preis, der viel zu hoch gewesen war für einen einzigen Moment der Schwäche. Claire noch nicht. Diese Frau hatte ihr Leben zerstört. Sie hatte ihr alles weggenommen, was sie jemals besessen hatte, hatte ihr alles gestohlen, was sie jemals geliebt hatte, und selbst das, was sie noch lieben wollte. Und dafür würde sie ihr Leben zerstören, würde ihr alles wegnehmen, was sie besaß, und alles zunichte machen, was sie liebte.

Sie ergriff ein Kissen, trat an die Wiege heran und beugte sich über Joe. Der Junge war wach und sah sie an, gab aber keinen Laut von sich. Für eine Sekunde schwebte das Kissen drohend über ihm, und noch einmal dachte Peyton – genau wie vor zwei Tagen, während Claire draußen gewesen war und dem Schwachsinnigen Anweisungen gab –, wie leicht es wäre; eine Minute, vielleicht noch nicht einmal, eine kaum spürbare Kraftanstrengung, und alles wäre vorbei, das Leben dieses

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Kindes so gründlich und unwiderruflich ausgelöscht wie das ihres eigenen, und das Claires und ihres Mannes für alle Zeiten verändert, denn sie hätten etwas kennengelernt, von dessen wahrer Bedeutung sie bis jetzt noch nicht einmal eine Vorstel-lung hatten – den Schmerz.

Aber sie wollte nicht den Tod dieses Kindes. Von allen Beteiligten war der Junge der unschuldigste – er war ja noch nicht einmal dagewesen, als das Leben ihres Kindes endete. Und es wäre zu leicht.

Sie trat wieder von der Wiege zurück, legte das Kissen auf den Schaukelstuhl neben dem Fenster, in dem Claire sonst immer saß, um ihren Sohn zu füttern, und nahm den Jungen dann aus dem Bett. Joe begann nun doch zu weinen, wenn auch nicht sehr laut, und wenn auch nur für ein paar Augenblicke.

Das Geräusch übte eine sonderbare Wirkung auf Peyton aus, schien etwas in ihr zu berühren, von dem sie bisher gar nicht gewußt hatte, daß es noch da war. Ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit überkam sie, eine Empfindung von solcher Intensität, daß sie erschauerte. Noch vor einem Augenblick hatte sie allenfalls Sympathie für dieses Kind empfunden, nicht viel mehr als der normale Beschützerinstinkt jeder Frau, die ein hilfloses Kind erblickt, aber auch beinahe so etwas wie Zorn, denn tief in sich neidete Peyton diesem Jungen das Leben, das ihrem eigenen Sohn vorenthalten worden war. Jeder Atemzug, den er tat, jedes Lächeln, das er seiner Mutter schenkte, hatte er ihr gestohlen.

Nichts von alledem war geblieben. Die Nähe des Kindes und das Geräusch seiner Stimme erfüllten Peyton mit einer Wärme und Zufriedenheit, von der sie vergessen hatte, daß sie jemals in der Lage gewesen wäre, sie zu empfinden.

Peyton setzte sich und öffnete die oberen Knöpfe ihres Nachthemdes. Ein glückliches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie ihrem Sohn zum ersten Mal in seinem Leben die Brust gab.

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»Gut, dann bis später. Ich melde mich vielleicht in einer Stunde noch einmal – und Sie geben mir Bescheid, falls er bei Ihnen auftaucht.« Claire hängte das Telefon ein, griff nach ihrer Kaffeetasse, um einen Schluck des kalt gewordenen Getränkes zu nehmen, und sah zum wiederholten Mal an diesem Morgen aus dem Fenster. Der Anblick war derselbe, der sich ihr auch zuvor geboten hatte: die Garagentür stand offen, und sie konnte das dahinterliegende Tohuwabohu selbst über die große Entfernung hin deutlich erkennen. Aber etwas fehlte, was in den vergangenen Monaten zu einem festen Bestandteil dieses Bildes geworden war – Solomons Fahrrad. Claire runzelte die Stirn, leerte ihre Kaffeetasse und mahnte sich in Gedanken zur Ordnung. Solomon war schließlich kein Säugling. Es würde sicher einen triftigen Grund für seine Verspätung geben.

Sie hörte Schritte, drehte sich herum und sah Peyton, die gerade die Kellertür hinter sich schloß. Ohne es zu merken, trat sie dabei auf den häßlichen Farbfleck, den Claire am Morgen auf den Fliesen vor der Tür entdeckt hatte. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie hatte versucht, ihn wegzuwischen, aber sie war kläglich gescheitert. Das Reinigungsmittel, mit dem sie ihm zu Leibe gerückt war, hatte die Farbe nicht einmal aufge-hellt. Sie fragte sich, wo zum Teufel dieser Fleck herkam.

»Guten Morgen, Claire«, sagte Peyton. Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie in die Küche kam.

Sie trug das Babyphon in der Hand. Das Gerät war einge-schaltet, gab aber keinen Laut von sich. Peyton sah müde aus, obwohl sie eine Stunde länger als Claire und der Rest der Familie geschlafen hatte.

»Guten Morgen«, antwortete Claire. »Haben Sie gut geschla-fen?«

»Nicht besonders«, gestand Peyton. »Aber dafür viel zu lange, fürchte ich. Bitte, entschuldigen Sie, aber –«

»Der erste Tag in einem neuen Haus.« Claire machte eine

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wegwerfende Handbewegung. »Ich verstehe das. Michael und ich haben eine Woche gebraucht, ehe wir uns an die neue Umgebung gewöhnt haben. Das vergeht. Einen Kaffee?«

Peyton nickte. Während Claire eine Tasse aus dem Schrank nahm, kam sie näher und behielt sie dabei scharf im Auge. »Es kommt bestimmt nicht noch einmal vor«, versicherte sie. »Ich werde mir gleich heute einen lauteren Wecker besorgen.« Ein sanfter Schrecken mischte sich in ihrer Stimme. Ihr Blick suchte den Baby-Walkman, den sie auf der Anrichte abgestellt hatte. »Joe ist doch noch nicht wach?«

»Er schläft wie ein Stein«, erwiderte Claire. Sie schenkte Kaffee ein, reichte Peyton die Tasse und goß auch sich selbst nach. »Eigentlich hätte er sich schon vor einer halben Stunde melden müssen, aber bisher ist er nicht wach geworden. Und ich bringe es nicht übers Herz, ihn zu wecken.«

Peyton trank ihren Kaffee in einem Zug, trug die Tasse zur Spüle und sah sich unternehmungslustig um. »Dann sollten wir die Gelegenheit nutzen und uns gemeinsam in die Arbeit stürzen«, sagte sie.

»Sie sind als Kindermädchen engagiert, nicht als Haushalts-hilfe.

»Solange Joe noch so klein ist, werde ich kaum etwas zu tun haben«, widersprach Peyton. »Wollen Sie wirklich, daß ich die Hände in den Schoß lege und Ihnen zusehen, wie Sie arbeiten? Außerdem würde mir wahrscheinlich vor lauter Langeweile die Decke auf den Kopf fallen.«

Claire lächelte flüchtig, aber sie antwortete nicht sofort, und Peyton schien ihr Schweigen falsch zu deuten, denn sie sah plötzlich wieder deutlich schuldbewußt aus und sagte: »Sie sind doch verärgert.«

»Nein.« Claire schüttelte heftig den Kopf. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun.«

»Was ist es dann? Haben Sie Probleme? Ich meine, nicht, daß es mich etwas anginge, aber –«

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»Solomon ist noch nicht da«, sagte Claire. Peyton sah einfach nur verwirrt aus, und plötzlich kam sich

auch Claire beinahe albern vor. Sie lächelte erneut und diesmal beinahe verlegen. »Ich weiß, es klingt albern, aber ich mache mir ein wenig Sorgen.«

»Weil er eine Stunde zu spät kommt?« »Solomon ist die Pünktlichkeit in Person«, erwiderte Claire.

»Er ist in den ganzen sechs Monaten nicht einmal zu spät gekommen. Ich habe bei Better Day angerufen, aber dort sagen sie, daß er wie immer das Haus verlassen hat. Er muß ein paar ziemlich gefährliche Straßen überqueren, und da …«

»… machen Sie sich Sorgen, weil er … hilflos ist«, führte Peyton den Satz zu Ende, als sie nicht weitersprach.

»Ich weiß, es ist albern«, sagte sie zum wiederholten Male. »Schließlich ist er ein erwachsener Mann. Aber manchmal ist er doch ziemlich unbeholfen.«

»Wenn Sie wollen, fahre ich die Strecke ab, die er normaler-weise nimmt«, bot Peyton an.

Claire dachte einen Moment lang ernsthaft über diesen Vor-schlag nach, aber dann schüttelte sie den Kopf. »Das wäre vielleicht doch ein bißchen übertrieben«, sagte sie. »Warten wir noch eine halbe Stunde. Wenn er bis dahin nicht aufge-taucht ist, rufe ich noch einmal bei Better Day an. Dann sehen wir weiter.«

»Eine gute Idee. In der Zwischenzeit können wir ja gemein-sam –« Peyton bracht mitten im Satz ab, legte den Kopf schräg und sah eine Sekunde lang stirnrunzelnd an Claire vorbei aus dem Fenster. »Da ist er ja!«

Tatsächlich bog Solomon in diesem Moment auf seinem Fahrrad in die Einfahrt. Er fuhr ein wenig schneller als ge-wohnt, wohl in dem vergeblichen Versuch, die verlorene Zeit aufzuholen, und er stellte das Rad mit dem klobigen Hänger auch nicht unmittelbar hinter dem Tor ab, wie er es normaler-weise tat, sondern bugsierte es umständlich in den hinteren, mit

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Kisten und Kartons und allem möglichen anderen Krempel vollgestopften Teil der Garage.

»Sehen Sie?« sagte Peyton lächelnd. »Kein Grund, sich aufzuregen. Ich bin sicher, er hat eine ganz harmlose Erklärung für alles.«

Ihre Stimme war völlig frei von Tadel oder Spott, aber Claire interpretierte beides hinein, und sie reagierte mit einem deutlichen Gefühl von Verärgerung darauf – das allerdings nicht etwa Peyton, sondern nur ihr selbst galt, denn sie hatte es zum zweiten Mal innerhalb von zwei aufeinanderfolgenden Tagen geschafft, sich vor ihr zur Närrin zu machen. Zuerst spielte sie ihr perfekt die Rolle der Weinerlich-Depressiven vor, dann die der Hysterikerin. Kein schlechter Durchschnitt für zwei Tage.

»Ja«, antwortete sie mit einiger Verspätung. »Fragen wir ihn einfach.« Sie öffnete die Tür und ging hinaus, und Peyton folgte ihr, nachdem sie das Babyphon wieder an sich genom-men hatte.

Sie erreichten die Garage in dem Moment, in dem Solomon heraustrat und das Tor zu schließen begann – was schon wieder ungewöhnlich war. Normalerweise ließ er es offenstehen, zumindest, solange das Wetter es zuließ; er mußte ständig zu seinem Anhänger, um Werkzeuge oder irgendwelche Utensili-en herauszukramen.

Solomon fuhr zusammen, als er sie erblickte. »Oh, Claire«, sagte er verlegen. »Hallo … Guten Morgen. Und … guten Morgen, Miss Flanders.«

»Guten Morgen, Solomon«, antwortete Claire. »Wo bist du gewesen? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

Solomon schien ein Stück in sich zusammenzuschrumpfen. Er konnte Claires Blick nicht standhalten und schaute weg. Claire entging auch nicht, daß Solomon noch einmal zusam-mengezuckt war, als er Peyton ansah, die schräg hinter ihr stehengeblieben war. Zwischen Solomon und Peyton stimmte

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etwas nicht, das hatte sie schon beim ersten Mal bemerkt. Sie nahm sich vor, später und allein mit Solomon darüber zu reden.

»Ich bin … aufgehalten worden«, antwortete Solomon stok-kend. Er wurde immer nervöser. Seltsamerweise blickte er Peyton an, nicht Claire.

»Aufgehalten?« Solomon suchte sichtlich nach Worten. »Ich hatte … es war

…« »Hattest du Probleme mit dem Fahrrad?« fragte Peyton. »Mit dem Fahrrad, ja.« Solomon strahlte. »Ja, ich hatte

Probleme. Einen … einen platten Reifen. Jemand hat eine Flasche zerbrochen und die Scherben nicht weggeräumt. Die Leute sind so unachtsam. Ich mußte … ein Stück laufen und einen neuen Schlauch besorgen.«

»Du hättest anrufen können«, sagte Claire. »Wir haben uns wirklich Sorgen um dich gemacht, weißt du?«

»Das … tut mir leid«, sagte Solomon stockend. »Das nächste Mal rufe ich an. Ganz bestimmt. Das tue ich. Und ich … ich werde heute eine Stunde länger arbeiten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.«

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Claire automatisch. Sie drehte sich zum Haus um. »Ich rufe jetzt besser bei Better Day an und sage Bescheid, daß du angekommen bist, ehe sie sich auch noch unnötige Sorgen machen.« Sie machte einen Schritt, blieb plötzlich wieder stehen und drehte sich noch einmal herum; mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie etwas entdeckt, aber einige Sekunden gebraucht, um ihrer Beobachtung die richtige Bedeutung zuzumessen.

Das hatte sie auch. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, während ihr Blick über Solomons Schuhe glitt und an der weißen Farbe daran hängen blieb. Sie sagte nichts.

Peyton lächelte.

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Emma rührte in einem Eimer mit Farbe. Sie stellte sich nicht besonders geschickt dabei an – vorsichtig ausgedrückt –, so daß nicht nur das Gras, auf dem der Eimer stand, sondern auch ihre Hände und vor allem ihr Kleid mittlerweile über und über mit weißen Tupfern gesprenkelt waren; kleine, aber hartnäcki-ge Flecke, die kaum mehr herauszubekommen waren, wie Claire aus leidvoller Erfahrung wußte – sie hatte es vorgestern nachmittag mit der gleichen, strahlend weißen Latexfarbe zu tun gehabt, und sie hatte gute zwei Stunden gebraucht, um den häßlichen Klecks von den Bodenfliesen abzuschrubben.

Aber sie unterdrückte das Gefühl leiser Mißbilligung, das ohnehin mehr der Erinnerung an ihre eigene Reinigungsaktion als dem Anblick von Emmas verdorbenem Kleid entsprang, und erfreute sich statt dessen an dem konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Tochter. Es versetzte sie immer wieder in Erstaunen, mit welcher Freude Emma bei der Sache war, wenn sie Solomon helfen konnte. Am Anfang hatte sie das erwartet – schließlich war Emma ein Kind, und Kinder begeistern sich prinzipiell für alles Neue –, aber diese Begeiste-rung hatte in den sechs Monaten nicht um einen Deut nachge-lassen, sondern war eher noch gestiegen.

Manchmal fragte sich Claire, ob es wirklich die Arbeit war, die Emma so begeisterte, oder ob es einfach an Solomon lag.

Solomon jedenfalls lebte regelrecht auf, sobald ihre Tochter in seiner Nähe war.

Solomon tauchte aus dem dunklen hinteren Teil der Garage auf, in dem er sich bisher lautstark rumorend zu schaffen gemacht hatte, nickte Claire flüchtig zu und ging dann neben Emma in die Hocke. Seine Hand legte sich in einer freund-schaftlichen Geste auf ihre Schulter. »Du machst das wirklich gut«, sagte er, während er Emmas unregelmäßigem, spritzen-den Rühren mit beifälligen Blicken folgte, und er sagte es in einer Art, die die Worte glaubhaft klingen ließ.

Ihre Augen leuchteten. Sie rührte noch heftiger in der Farbe,

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so daß nun auch ihr Gesicht kleine, weiße Tupfer abbekam. Das, fand Claire, ging nun doch zu weit. Um Emmas Kleid war es nicht schlimm – sie hatte ihr wohlweislich ein altes Kleid herausgesucht, als sie verkündete, daß sie mit ihren Schularbei-ten fertig war und nun hinausgehen würde, um Solomon bei der Arbeit zu helfen, aber Claire verspürte wenig Lust, in den nächsten beiden Stunden ebenso heftig an ihrer Tochter herumzuschrubben wie an den Fliesen im Hausflur. Sie räusperte sich ein- zweimal, bis Emma schließlich aus ihrer Konzentration hochfuhr und zu ihr aufsah.

»Na?« fragte Claire augenzwinkernd. »Paßt du auch auf, daß Solomon alles richtig macht?«

»Hundertprozentig«, erwiderte Emma mit jenem Ernst, zu dem nur Kinder imstande sind. Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. »Wir haben es gefunden. Es war genau da, wo Dad gesagt hat.« Sie sprang auf (wobei sie beinahe den Farbeimer umge-stoßen hätte) und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten in der Garage. Claire folgte ihr etwas langsamer, während Solomon einige Augenblicke zögerte, ehe er sich ihnen anschloß.

Claires Augen benötigten einige Sekunden, um sich an das Halbdunkel in der Garage zu gewöhnen, aber Emma war bereits halb auf einen der fast mannshohen Stapel aus Kisten und Gerümpel geklettert, die das hintere Drittel des Raumes einnahmen, und zerrte mit beiden Händen an einem gut mannslangen Stab. »Da ist es, siehst du? Es muß nur neu gestrichen werden. Ich werde Solomon genau zeigen, wie man es macht«, fügte sie mit wichtigem Gesichtsausdruck hinzu.

Claire streckte rasch die Hände aus, als Emma unter der Last ihres Gewichts zu wanken begann. Am Ende des Stabes, der tatsächlich mehr als zwei Meter lang und am unteren Ende dick mit Teer bestachen war, damit das Holz im Boden nicht wegfaulte, befand sich ein maßstabgetreues Modell ihres Hauses. Die Farbe war ein wenig verblaßt, es war über und

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über voller Staub und Spinnweben, aber man konnte trotz des schwachen Lichtes erkennen, daß es sich um ein kleines Kunstwerk handelte, das jemand mit sehr viel handwerklichem Geschick und noch mehr Liebe angefertigt haben mußte. Die Leute, von denen sie das Haus gekauft hatten, hatten es ihnen gewissermaßen als ›Zugabe‹ geschenkt, und Claire hatte sich wie ein Kind darüber gefreut.

»Das ist ja phantastisch!« sagte Solomon. »Es … es sieht genau wie Ihr Haus aus!« Er drehte ein paarmal den Kopf hin und her und musterte abwechselnd das Vogelhaus und den Ausschnitt seiner größeren Ausgabe, der hinter dem Garagen-tor sichtbar war.

»Die Leute, denen das Haus vorher gehört hat, haben es gebaut«, sagte Claire. »Wir stellen es im Frühjahr wieder auf – vielleicht gleich vorne an der Straße, neben dem neuen Gartentor.«

»Es wird jedes Frühjahr aufgestellt«, sagte Emma fröhlich. »Wenn die Martins wiederkommen.« Sie lachte, als sie Solomons verwirrten Blick bemerkte.

»Wer … sind die Martins?« fragte er zögernd. »Eine Schwalbenfamilie«, antwortete Claire. »Sie kommen

jedes Jahr wieder, seit dieses Haus steht.« »Das ist schön«, sagte Solomon. »Ich würde auch wieder-

kommen.« Emma lachte. Sie sah sehr fröhlich aus, und sehr glücklich,

und erneut verspürte Claire ein heftiges, warmes Gefühl von Zärtlichkeit für ihre Tochter – aber auch eine fast ebenso tiefe Dankbarkeit Solomon gegenüber. Was Peyton für Joe und sie bedeutete, das war Solomon ganz eindeutig für Emma. Es mußte wohl tatsächlich so sein, wie sie selbst vor ein paar Tagen erst gedacht hatte: ganz egal, von welchem Standpunkt aus sie ihr Leben betrachtete – sie hätte es kaum besser treffen können.

Ihre Armbanduhr ließ dreimal ein feines Piepsen hören, und

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Claire wandte sich mit einem entschuldigenden Lächeln um und ging zum Haus zurück, nachdem sie Solomon noch einmal gebeten hatte, darauf zu achten, daß Emma wenigstens einen Teil der Farbe dazu benutzte, das Vogelhaus zu streichen, statt ihre Haut aufzuhellen. Es wurde Zeit, Joe zu füttern. Sie war in seinem Zimmer gewesen, bevor sie hier herausgekommen war, aber er hatte noch geschlafen, und sie hatte darauf verzichtet, ihn zu wecken, und den Alarm ihrer Uhr noch einmal eine halbe Stunde vorgestellt. Aber nun war es eindeutig spät genug.

Sie waren für den Abend mit Marlene und Marty zum Essen verabredet, und sie wollte Peyton nicht gleich an einem ihrer ersten Tage mit einem quengelnden Kind allein lassen, das hungrig war, weil es seinen normalen Rhythmus verschlafen hatte.

Sie betrat das Kinderzimmer, hob Joe aus dem Bett und nahm in dem Schaukelstuhl neben dem Fenster Platz. Ihr Sohn schien wild entschlossen zu seinen, seinen persönlichen Rekord im Dauerschlafen zu brechen, denn er wachte selbst jetzt noch nicht von sich aus auf, so daß Claire ihn mit sanfter Gewalt wachrütteln mußte. Er blinzelte sie müde an, und obwohl selbst Claire nicht glaubte, daß ein drei Monate alter Säugling dazu in der Lage war, einen solch komplizierten Gedankengang zu artikulieren, schien alles, was sich in seinem Blick spiegelte, die Botschaft zu sein, daß sie ihn gefälligst in Ruhe weiter-schlafen lassen sollte. Claire lächelte.

»Na, was ist denn, mein Liebling?« fragte sie. »Nun komm schon – mach die Augen auf. Wir wollen Peyton doch heute abend nicht gleich mit einem schlechten Gewissen allein lassen, oder?«

Joes Blick schien auszudrücken, daß ihm das herzlich egal sei, solange sie endlich aufhörte, ihn zu belästigen, aber er protestierte nicht, als sie ihn an die Brust legte, sondern begann sogar träge zu saugen. Allerdings nur für einen ganz kurzen

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Moment; dann drehte er den Kopf zur Seite, spuckte die Milch wieder aus und begann leise zu weinen und zugleich mit Armen und Beinen zu strampeln.

»Was hast du denn nur?« fragte Claire verwirrt. »Du mußt doch hungrig sein. Es ist schon spät!«

Joe war nicht hungrig. Er begann lauter zu weinen. Claire versuchte noch einmal, ihn anzulegen, aber diesmal preßte er die Lippen fest aufeinander und schob sich mit erstaunlicher Kraft von ihr fort.

»Okay, okay, ich habe verstanden«, sagte Claire hastig. »Ganz wie der Herr wünschen.« Sie seufzte tief. Joe hörte auf, in ihrem Armen zu strampeln, aber er blieb unruhig. Claire unternahm keinen dritten Versuch, ihn zu stillen, sondern trug ihn nach einigen Augenblicken zum Bett zurück und legte ihn hin. Aus Joes unwilligem Greinen wurde ein zufriedener Laut, der sich fast wie das Schnurren einer Katze anhörte. Er schlief sofort wieder ein.

Claire war verwirrt – und ein wenig beunruhigt. Natürlich war Joe kein Computer, der auf Knopfdruck funktionierte, aber normalerweise verschlief er niemals eine Mahlzeit, sondern beharrte energisch darauf, pünktlich und ausgiebig gefüttert zu werden. Für eine Sekunde fragte sie sich, ob er vielleicht krank wurde.

Aber Joe sah nicht krank aus – ganz im Gegenteil: wie er so dalag und bereits wieder friedlich eingeschlafen war, machte er den Eindruck eines sehr zufriedenen, glücklichen Kindes. Claire nahm sich vor, später noch einmal nach ihm zu sehen. Ein drei Monate alter Säugling hatte ja auch das Recht auf einen schlechten Tag.

»Ich glaube nicht, daß es besonders spät wird«, sagte Claire, während sie ungeschickt versuchte, mit der linken Hand den Verschluß des Armbandes zu schließen, das sie über das rechte

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Gelenk gestreift hatte. »Aber ich habe Ihnen für jeden Fall die Nummer des Union Square Grill aufgeschrieben. Der Zettel liegt unten, neben dem Apparat im Wohnzimmer. Sie können uns dort jederzeit erreichen.«

»Das wird wohl kaum nötig sein«, antwortete Peyton. »Ich war gerade noch einmal bei Joe. Er schläft wie ein …« Sie zögerte, runzelte die Stirn und hob dann mit einem angedeute-ten Lächeln die Schultern. »Nun ja, wie ein Baby.«

»Das muß daran liegen, daß er eines ist«, erwiderte Claire, ebenfalls lächelnd, wurde aber sofort wieder ernst und konzen-trierte sich stirnrunzelnd auf den Verschluß, der sich beharrlich weigerte zuzuschnappen. »Im Ernst – ich weiß gar nicht, ob ich wirklich gehen soll. Irgend etwas stimmt mit Joe nicht. Er wollte heute nicht trinken.«

»Vielleicht kommt er allmählich in ein Alter, in dem er seinen eigenen Willen zu entwickeln beginnt.« Peyton sah noch einige Sekunden lang zu, wie sich Claire mit dem Verschluß des Armbandes abmühte, dann streckte sie wortlos die Hand aus und half ihr.

»Das ist ein wirklich schönes Stück, das Sie da haben«, sagte sie.

»Gefällt es Ihnen?« Claire hielt ihr Handgelenk ins Licht, so daß die Steine in einem warmen, regenbogenfarbigen Licht aufzuflammen schienen. Sie gab sich keine Mühe, den Besit-zerstolz aus ihrer Stimme zu verbannen. »Ich habe es auf einer Auktion gekauft … Sie dürfen es gerne auch einmal tragen, wenn Sie wollen.«

»Das wäre nett«, antwortete Peyton. »Falls sich einmal eine passende Gelegenheit ergibt, komme ich gerne darauf zurück.«

Die Antwort machte Claire urplötzlich klar, wie wenig sie im Grund über Peyton Flanders wußte, aber Claire wollte nicht aufdringlich erscheinen. Wenn Peyton das Bedürfnis hatte, über sich und ihr Leben zu sprechen, dann würde sie früher oder später damit beginnen.

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Sie trat an den Schrank und nahm das Kleid heraus, das sie anziehen wollte – ein Traum aus dunkelblauer Seide, der schon auf dem Bett ausgebreitet herrlich aussah, angezogen aber einfach phantastisch wirkte. Es war nicht ihr teuerstes, aber ihr liebstes Kleid, sie besaß es seit annähernd acht Jahren, aber es war von jener zeitlosen Schönheit, die auch in weiteren acht Jahren noch bewundernde oder neidische Blicke hervorrufen würde.

»Das ist ja ein Traum!« sagte Peyton. »Ja, es ist herrlich, nicht wahr?« Claire ging zur Frisierkom-

mode, setzte sich vor den Spiegel und überlegte einen Moment, welches Parfüm sie auflegen sollte.

»Heute ist bestimmt ein besonderer Tag«, sagte Peyton. Sie war hinter Claire getreten und sah durch den Spiegel zu, wie sie behutsam einen Tropfen Chanel auf ihren Zeigefinger gab und ihn hinters Ohr tupfte. Ihre Blicke folgten aufmerksam Claires Bewegungen.

»Das ist er«, betätigte sie mit einiger Verspätung. »Schon, weil ich endlich wieder eine Gelegenheit habe, dieses Kleid zu tragen. Vielleicht erscheint es Ihnen ja albern, aber ich komme mir unheimlich sexy und traumhaft schön in diesem Kleid vor. Es ist ein Geschenk von Michael.« Sie stand auf, trat zum Bett und streckte die Hand nach dem Kleid aus, trat aber dann wieder zurück. »Vielleicht ziehe ich besser erst die Schuhe an«, sagte sie. »Ich habe noch ausreichend Gelegenheit, das Kleid zu zerknittern, wenn wir im Wagen sitzen.«

Sie ging zum Kleiderschrank, öffnete ihn und trat hinein. Ihre Stimme drang nur noch gedämpft aus dem Inneren des begeh-baren Möbels heraus. »Was denken Sie – welche Schuhe ziehe ich an? Rote oder schwarze?«

Peyton war wieder an die Frisierkommode herangetreten. Ihr Blick huschte rasch und sehr aufmerksam über die offenste-hende Tür des Kleiderschrankes, das Bett und schließlich noch einmal sichernd zur Tür. Sie war nur angelehnt, und durch den

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schmalen Spalt konnte sie erkennen, daß der Fluß draußen leer war.

»Wollen Sie eine Stola tragen?« fragte sie. Sie streckte die Hand aus, nahm die Flasche mit Chanel No 5, die Claire ordentlich wieder verschlossen und an ihren Platz zurückge-stellt hatte, und schraubte sie auf, ohne den Kleiderschrank dabei auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Ja«, antwortete Claire. »Oder vielleicht auch nicht … ach, ich … ich weiß es nicht.«

»Dann nehmen Sie schwarze«, sagte Peyton. Sie ließ ein paar Tropfen Parfüm in ihre hohle linke Hand fallen, verschloß den Flakon wieder und ging zum Bett. »Die passen auf jeden Fall.«

»Ja, meinen Sie?« Claire machte sich lautstark irgendwo im Inneren des Schranks zu schaffen. Man konnte hören, wie eine Schublade aufgezogen und gleich darauf wieder geschlossen wurde; einen Moment später eine zweite. Peyton hob das Kleid mit der rechten Hand hoch, ließ den Parfümtropfen auf das weit ausgeschnittene Rückenteil fallen und legte es wieder zurück, und hinter den Schranktüren fuhr Claire mit einem hörbaren Seufzen fort: »Ja, ich glaube, Sie haben recht. So kann ich auf keinen Fall etwas falsch –«

Das Geräusch der Türglocke unterbrach sie. Peyton fuhr ganz leicht zusammen und trat einen Schritt vom Bett zurück. Für eine halbe Sekunde sah sie erschrocken aus. Aber sie hatte sich fast augenblicklich wieder in der Gewalt. Als Claire aus dem Schrank trat, lag auf Peytons Gesicht wieder der Ausdruck freundlicher Hilfsbereitschaft.

»Da sind sie schon«, sagte Claire. Sie seufzte erneut. »Nicht einmal eine halbe Stunde zu spät. Ich muß sagen, Marlenes Unzuverlässigkeit wird allmählich unberechenbar. Ich muß mit ihr reden. Es geht nicht an, daß sie plötzlich pünktlich kommt.«

Peytons Gesichtsausdruck machte klar, wie wenig Sinn dies für sie ergab. Aber Claire unternahm keinen Versuch, ihre Worte irgendwie zu erklären, sondern trat rasch ans Bett heran

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und begann das Kleid anzuziehen. Unten im Haus schlug die Glocke in zweites Mal an, und

einen Augenblick später war Martys Stimme zu vernehmen, der Michael begrüßte und sich im gleichen Atemzug für die Verspätung entschuldigte.

»Wo ist Marlene?« erkundigte sich Mike. Claire hörte, wie Marty das Haus betrat, aber sie wartete vergeblich auf das Geräusch der Tür.

»Im Wagen. Sie telefoniert. Ich weiß, wir sind zu spät, aber … wo ist Claire? Ich will wirklich nicht drängen, aber unser Tisch war für acht bestellt, und jetzt ist es fast halb neun …«

Das war wieder einmal typisch Marty, dachte Claire. Er kam zwar ständig zu spät, aber das hinderte ihn keineswegs daran, alle anderen zur Eile anzutreiben.

»Sie ist gleich so weit«, antwortete Michael. »Ich gehe sie holen.«

Claire hörte seine Schritte die Treppe hinaufkommen und beeilte sich noch mehr, das Kleid überzustreifen – natürlich mit dem Ergebnis, daß genau das geschah, was immer geschah, wenn man es ganz besonders eilig hatte: es klappte nicht. Der Reißverschluß klemmte.

»Warten Sie«, sagte Peyton hastig. »Ich helfe Ihnen. Nicht, daß am Ende noch etwas kaputt geht – das wäre zu schade.«

Claire ließ mit einer erzwungen ruhigen Bewegung die Hände sinken und sah im Spiegel zu, wie Peyton hinter sie trat und den Reißverschluß hochzog. Ihre Geschicklichkeit hielt durchaus mit ihrer Hilfsbereitschaft Schritt: sie brauchte kaum eine Sekunde für etwas, womit sich Claire eine geschlagene Minute vergebens abgemüht hatte.

Michael klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. »Bist du fertig, Schatz?« fragte er. Er stieß einen bewundern-den Pfiff aus. »Du siehst phantastisch aus! Wir werden allen im Lokal die Schau stehlen!«

»In einer Minute«, antwortete Claire. »Geh schon vor und

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nimm Marlene das Telefon weg.« »Ich bin doch nicht verrückt«, antwortete Michael mit ge-

spieltem Entsetzen. »Das Telefon ist das einzige, woran sie wirklich hängt. Sie würde erst mich und dann sich selbst umbringen.« Er wandte sich wieder zur Tür. »Beeil dich, okay?«

Claire nickte – obwohl er es gar nicht mehr sehen konnte –, strich glättend über ihr Kleid und warf noch einen abschließen-den Blick in die Runde, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch nichts vergessen hatte.

»O nein!« sagte sie plötzlich. Peyton sah sie fast erschrocken an. »Was ist?« »Da ist ein Fleck?« Claire deutete auf den Spiegel, in dem ihr

eigenes Abbild zu sehen war. Auf dem Rückenteil ihres Kleides war ein kleiner ölig glänzender Fleck zu erkennen. Er war nicht viel größer als eine Münze, aber dafür um so auffäl-liger.

»Aber … wie kann denn das sein?« wunderte sich Peyton. Sie sah betroffen aus.

Claire tastete mit der Hand nach dem Fleck, schnupperte an ihren Fingerspitzen. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, war ihr mehr als vertraut. »Es ist Parfümöl«, sagte sie niederge-schlagen. »Ich glaube, ich hatte noch Parfüm an den Fingern.« Sie hätte sich selbst ohrfeigen können. Und sie war extra so vorsichtig gewesen!

»Aber so etwas kann man doch mit Clubsoda wegmachen«, sagte Peyton. »Warten Sie hier! Ich laufe rasch hinunter in die Küche und hole welches.«

Claire widersprach nicht, und sie versuchte auch nicht, Pey-ton zurückzuhalten. Aber sie begann das Kleid auszuziehen, noch bevor Peyton die Treppe erreichte.

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Marty hatte das Haus wieder verlassen und stand unter der geöffneten Tür; einerseits, um auf diese Weise seinem Drängen Nachdruck zu verleihen, größtenteils aber wohl, weil er sich eine Zigarette angezündet hatte und dies nicht in einem Nichtraucherhaus tun wollte. Michael und er unterhielten sich halblaut, als Peyton die Treppe herunterkam, aber sie unterbra-chen ihr Gespräch beim Geräusch ihrer Schritte und drehten sich gleichzeitig zu ihr herum.

Ihre Reaktionen waren völlig unterschiedlich. Michael hatte ganz offensichtlich erwartet, Claire zu sehen, und sah ziemlich überrascht aus; vielleicht sogar verstimmt. Auch Marty war überrascht, aber sein Erstaunen war angenehmer Art. Was er sah, gefiel ihm, und er machte keinen Versuch, es zu verber-gen.

Auch Peyton war von Marty Cravens Anblick durchaus angetan. Er war ein Jahr jünger als Michael, sah aber um mindestens fünf Jahre jünger aus und war von schlanker, sportlicher Statur. Sein glattrasiertes Gesicht und die offenen, blauen Augen strahlten eine Lebensfreude und Unbefangenheit aus, die ihm etwas von einem großen Jungen gaben, der im Grunde seines Herzens nie wirklich erwachsen geworden war und das auch nicht wollte. Es war genau dieses Image, dem Marty einen Gutteil seines beruflichen Erfolges zu verdanken hatte, denn es führte nur zu oft dazu, daß er unterschätzt wurde; selbst von Leuten, die es eigentlich besser wissen mußten. Marty wußte das und pflegte es entsprechend sorgfältig. Wären die Umstände anders gewesen, dachte Peyton, hätte sie sich durchaus für ihn interessieren können.

»Marty, das ist Peyton.« Michael hatte seine Überraschung überwunden und erinnerte sich an seine Pflichten als Hausherr. »Peyton – das ist Marty Craven. Ein Freund der Familie.«

»Guten Abend, Peyton«, sagte Marty. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Wenn man Marlene glauben darf, dann spricht Claire seit ein paar Tagen von nichts anderem mehr als Ihnen,

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wenn sie mit ihr telefoniert.« »Guten Abend«, antwortete Peyton. Sie lächelte verlegen.

»Bitte, entschuldigen Sie … ich muß dringend etwas für Claire besorgen.«

Zwischen Michaels Augenbrauen erschien eine senkrechte Falte. Eine Sekunde lang sah er fragend und beinahe vorwurfs-voll zum oberen Ende der Treppe.

Marty wartete, bis Peyton in der Küche verschwunden und nicht mehr in Hörweite war, dann stieß er einen leisen, aner-kennenden Pfiff aus. »Wir sollten uns auch Kinder anschaf-fen«, sagte er feixend. »Wie um alles in der Welt ist es dir gelungen, Claire dieses Mädchen aufzuschwatzen? Hast du sie betrunken gemacht?«

»Sie ist Claires Entdeckung.« »Claires?« Marty riß ungläubig die Augen auf. »Deine Frau

muß mit Blindheit geschlagen sein – oder gibt es da ein peinliches Geheimnis zwischen euch, von dem ich nichts weiß?«

Michael spielte den Beleidigten. »Meine Frau vertraut mir eben«, sagte er.

Das Geräusch einer Autotür, die vor dem Haus zugeschlagen wurde, hielt Marty davon ab, zu antworten. Schritte näherten sich, und einen Augenblick später erschien Marlene neben ihrem Mann. Sie war ein Jahr älter als er, und ihr sah man ihr wirkliches Alter an. Marlene Craven war nicht nur äußerlich das genaue Gegenteil ihres Mannes. Michael hatte selten ein ungleicheres Paar zu Gesicht bekommen, das zugleich so gut zusammenpaßte.

»Was ist los?« fragte sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Sie werden uns den Tisch im Restaurant nicht ewig freihalten.«

»Hi, Marlene«, sagte Michael. »Wer hat angerufen und reserviert – Claire oder du?«

»Ich.« Marlene blinzelte. »Wieso?«

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»Dann haben wir noch Zeit«, antwortete Michael ernsthaft. »Wenn du angerufen hast, haben sie den Tisch sowieso erst ab neun reserviert. Schließlich kennen sie dich dort.«

»Ha, ha, ha«, machte Marlene. »Wirklich sehr komisch … Aber jetzt mal im Ernst. Wo ist Claire? Wir sollten wirklich nicht mehr zu lange warten. Es ist Wochenende, und auf den Straßen ist wahrscheinlich die Hölle los.«

»Sie kommt jeden Moment«, antwortete Michael. »Eigentlich wollte sie längst hier sein.«

»Hoffentlich«, sagte Marlene. »Ich möchte nicht …« Sie brach ab. Ihr bisher nur angedeutet-mißbilligendes Stirnrunzeln vertiefte sich, als sie die Blicke bemerkte, die ihr Mann in Richtung Küche warf. »Was ist los mit dir?« fragte sie.

»Los? Was soll mit mir los sein? Nichts.« Er sah Michael an, und beide grinsten.

In diesem Augenblick kam Peyton aus der Küche zurück, eine kleine, bauchige Flasche mit Clubsoda in der rechten und einen Stapel Kleenex-Tücher in der linken Hand tragend. Auf Marlenes Gesicht erschien ein deutlicher Ach-so-ist-das-Ausdruck, während Peyton nur unverbindlich lächelte und weitergehen wollte.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte Marlene. Sie trat Peyton entgegen und streckte die Hand aus. »Sie müssen Peyton sein.«

Peyton erwiderte Marlenes Händedruck mit nur zwei Fingern (zwischen den anderen hielt sie die Sodaflasche) und wollte weitergehen.

»Chanel«, sagte Marlene. »Wie bitte?« »Chanel No. 5.« Marlene sog übertrieben die Luft durch die

Nase ein. »Sie tragen dasselbe Parfüm wie Claire. Chanel No. 5.«

»Das stimmt.« Peyton lächelte. »Claire war so freundlich, es mir zu gestatten. Aber wenn Sie mich jetzt vielleicht entschul-

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digen …« »Sagen Sie – kennen wir uns nicht doch irgendwoher?«

unterbrach sie Marlene. »Irgendwie … ich bin fast sicher, daß wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Kaum«, antwortete Peyton. »Ich war bisher –« »Auf einer Party« sagte Marlene. »Ja, es war auf einer Din-

nerparty. Bei …« Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Warten Sie – ich komme noch drauf.«

»Ja – aber vielleicht später«, sagte Claire vom oberen Ende der Treppe her. »Ich glaube, wir sind ein wenig spät dran.« Sie trug jetzt ein knappsitzendes, schwarzes Abendkleid, in dem sie auch phantastisch aussah, das aber keinem Vergleich mit dem Traum aus blauer Seide standgehalten hätte. Sie lächelte, aber nicht nur Michael sah ihr an, daß ihr in Wirklichkeit zum Heulen zumute war.

»Hallo, Claire!« Marlene eilte ihr mit weit ausgebreiteten Armen entgegen und begrüßte sie herzlich. »Du siehst großar-tig wie immer aus!«

»Hm«, machte Claire. »Ich dachte, du wolltest das Blaue –« begann Michael und

brach mitten im Satz wieder ab, als ihn ein eisiger Blick Claires traf.

»Stimmt mit dem Kleid, das ich anhabe, irgend etwas nicht?« »Im Gegenteil«, sagte Michael hastig. »Ich dachte nur …aber

es ist ja auch egal. Du siehst in jedem Kleid einfach umwerfend aus.«

Claire blickte auf die Rasche in Peytons Hand und machte eine bedauernde Geste. »Ist schon gut, Peyton«, sagte sie. »Es hätte sowieso keinen Zweck gehabt. Aber ich danke Ihnen für den Versuch.«

»Würde mir eine der Damen vielleicht erklären, was hier los ist?« fragte Michael.

»Nein«, antwortete Claire. »Sie wissen, wo Sie uns errei-chen.«

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»Sicher«, sagte Peyton. »Aber es ist bestimmt nicht nötig. Amüsieren Sie sich gut.«

»Das werden wir«, versprach Claire. Aber sie sah nicht besonders begeistert aus, als sie Arm in Arm mit Marlene das Haus verließ.

Emma saß mit angezogenen Knien auf dem Teppich und verfolgte gebannt das Geschehen auf der Mattscheibe. Peyton hatte die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, Licht kam nur von einer kleinen Nachtlampe neben ihrem Bett und dem Fernse-her. Emmas Hand tastete ab und zu nach der Tüte mit Popcorn, die neben ihr stand. Aber sie löste ihren Blick nicht einmal für einen Sekundenbruchteil vom Fernseher. Über die Mattscheibe flimmerten die Schwarzweißbilder eines uralten Jack-Arnold-Films; der heutigen Folge der ›Monster-Parade‹, in der jeden Abend in der Stunde vor Mitternacht ältere Horror- oder Monsterfilme gezeigt wurden.

Der Film wurde von den bunten Bildern eines Werbespots unterbrochen, und Emma löste ihre Konzentration zum ersten Mal seit fünf Minuten von der Mattscheibe. Peyton war nicht sicher, ob sie in den letzten fünf Minuten überhaupt geatmet hatte. Zumindest hatte sie in dieser Zeit ganz bestimmt nicht geblinzelt.

»Das ist toll!« sagte sie atemlos. »Wie das Monster sich aus dem Netz befreit und das Boot umgeworfen hat …«

»Es ist nur ein Film«, erinnerte Peyton. Sie saß neben Emma, genau wie sie mit angezogenen Knien und eine Hand auf der Popcorn-Dose, die neben ihr stand. Emma hatte sich eng an ihre Schulter gekuschelt.

»Ich weiß«, antwortete Emma altklug. »Niemandem passiert wirklich etwas, und das Monster ist nicht echt. Manchmal kann man sogar noch den Reißverschluß erkennen.« Sie seufzte. »Aber Mami läßt mich solche Filme trotzdem nie sehen. Sie

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sagt, ich wäre noch zu klein dazu.« »Und eigentlich hat sie damit sogar recht«, sagte Peyton. Emma sah verwirrt hoch. »Wieso läßt du mich den Film dann

sehen?« »Weil du und ich Freundinnen sind«, antwortete Peyton.

»Und richtige Freundinnen müssen auch ein gemeinsames Geheimnis haben. Das gehört einfach dazu.«

»Wirklich?« Emma bekam vor Staunen runde Augen. »Wirklich«, bestätigte Peyton. »Weißt du, was ein Geheimnis

ist?« »Etwas, das du niemandem erzählen darfst, ganz egal, was

passiert.« »Das stimmt. Siehst du, und jetzt haben wir unser eigenes

Geheimnis. Etwas, das nur du und ich wissen.« Peyton stand auf, ging zu dem Kühlschrank, der zur Einrichtung des Keller-Appartements gehörte, und kam mit zwei Dosen Diät-Cola zurück. Eine davon reichte sie Emma, ehe sie wieder Platz nahm und in beiläufigem Tonfall weitersprach. »Es war schön, deinen Onkel Marty und deine Tante Marlene zu treffen. Sind sie nett?«

»Riesig«, bestätigte Emma. »Sie sind die nettesten Erwachse-nen, die ich kenne – außer Solomon und dir, natürlich.«

»Ich bin keine Erwachsene«, sagte Peyton. »Ich bin deine Freundin – schon vergessen? Unser eigener Geheimclub.« Sie kreuzte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. »Und das ist unser geheimes Zeichen. Du darfst es niemandem verraten.«

»Ich schwöre«, sagte Emma feierlich. »Wie lange kennen deine Mum und dein Dad Marlene und

Marty schon?« fragte Peyton. Die Frage klang beiläufig, und sie sah Emma dabei nicht einmal an, sondern blickte scheinbar konzentriert auf den Fernseher, auf dem der Film mittlerweile weiterging. Aber innerlich war sie nicht halb so gelassen. Marlene hatte sich nichts eingebildet, als sie geglaubt hatte, sie schon einmal gesehen zu haben.

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Peyton glaubte es nicht, sie wußte es. Im Gegensatz zu Mar-lene erinnerte sie sich sogar, bei welcher Gelegenheit sie sich begegnet waren: vor zwei Jahren waren Victor und sie zu einer Cocktailparty eingeladen gewesen, zu der auch die Cravens gekommen waren. Sie waren sich nicht vorgestellt worden, aber Victor hatte mit einem der anderen Gäste über die Cravens gesprochen – und warum sollte Marlene nicht umgekehrt mit jemandem über den berühmten Modearzt und seine Frau geredet haben? Peyton hatte damals eine andere Frisur getra-gen, selbstverständlich auch ein anderes Kleid, und vor allem ein anderes Image – aber Marlene erinnerte sich trotzdem, ihr Gesicht schon irgendwann einmal gesehen zu haben. Und früher oder später würde ihr auch wieder einfallen, wann und wo das gewesen war. Und vielleicht auch, daß damals nicht nur eine andere Frisur, sondern auch ein anderer Name zu ihrem Gesicht gehört hatte.

»Daddy und Tante Marlene kennen sich schon ewig«, antwor-tete Emma nach einiger Zeit. »Bestimmt schon hundert Jahre, wenn nicht länger. Dad sagt immer, sie hätten schon zusammen im Sandkasten gespielt. Daddy und Tante Marlene sind nämlich früher zusammen gegangen.« Sie betonte das Wort übertrieben, und wahrscheinlich nahm sie auch an, daß dies der Grund für den sonderbaren Ausdruck war, der plötzlich in Peytons Augen erschien, denn sie fügte leiser und fast verlegen hinzu: »Jedenfalls sagt Mami das immer.«

»Und deine Mami hat nichts dagegen, daß dein Dad und Tante Marlene weiter befreundet sind?«

»Sie und Marlene sind doch auch Freundinnen«, antwortete Emma. »So wie du und ich. Vielleicht haben sie ja auch ein Geheimnis miteinander.«

»Ja, vielleicht«, sagte Peyton. Sie wirkte mit einem Male sehr nachdenklich. »So, dein Dad war also früher mit Marlene Craven befreundet.« Sie blickte sekundenlang ins Leere, dann schien ihr klar zu werden, daß Emma sie anstarrte, denn sie gab

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sich einen sichtbaren Ruck und fuhr mit veränderter Stimme fort: »Was ist mit dir? Hast du schon einen Freund?«

»Ich? Igitt!« Emma schüttelte sich übertrieben. »Jungen sind doof! Ich kann sie nicht leiden.«

»Warum nicht?« Emma zögerte, zu antworten. »Wenn ich dir etwas erzähle«,

sagte sie schließlich, »versprichst du dann, es niemandem zu verraten?«

Peyton hob die überkreuzten Finger. »Geheimzeichen!« »Paß auf: es gibt in unserer Schule einen Jungen, der ist immer sehr böse. Ich meine, er ist wirklich sehr gemein zu mir. Er macht Hackfleisch aus mir, wenn ich es jemandem sage.«

»Hat deine Mutter sich denn nicht beschwert?« fragte Peyton. »Sie hätte zu deiner Lehrerin gehen können.«

»Das hat sie gemacht«, sagte Emma, »aber es hat nicht viel genutzt. Er hat mich zwei Tage in Ruhe gelassen, und dann wurde alles noch viel schlimmer. Er hat gesagt, wenn ich noch einmal zu meiner Mutter gehe, dann bringt er mich um.«

»Aber das glaubst du nicht wirklich, oder?« »Nein«, sagte Emma. Sie klang nicht sehr überzeugt. Peyton überlegte einige Augenblicke. »Hmmm«, sagte sie

nachdenklich. »Mal sehen, was wir da tun können. Er hat dir also verboten, mit deiner Mutter zu reden. Aber hat er dir auch verboten, mit deiner Freundin zu sprechen …?«

Das Essen war so gut gewesen, wie Claire es in Erinnerung hatte, vielleicht sogar noch ein bißchen besser. Der Union Square-Grill besaß nicht umsonst den Ruf, eines der besten Restaurants der Stadt zu sein, und es kam auch nicht von ungefähr, daß Tische mittlerweile mindestens drei Tage im voraus reserviert werden mußten. Soviel Claire wußte, hatte Marlene sogar eine Woche im voraus reserviert – was aber nichts daran geändert hatte, daß sie trotzdem von einem

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freundlichen Ober zur Bar komplimentiert worden waren, wo sie noch eine gute Dreiviertelstunde hatten warten müssen, bis ihr Tisch endlich frei wurde. Das Essen hatte sie für die Wartezeit dann allerdings mehr als entschädigt.

Jetzt fühlte sie sich nicht nur rundherum satt und zufrieden, sondern auch auf eine wohlige Art müde; und sehr entspannt. Es war lange her, daß sie sich einen Abend wie diesen gegönnt hatten – seit Joes Geburt gar nicht mehr, und in den drei oder vier Monaten davor auch nur sehr selten. In den letzten Wochen vor ihrer Niederkunft hatte Claire das Gefühl gehabt, sich immer mehr der Figur einer römischen Bodenvase anzupassen, und das Haus schließlich kaum noch verlassen. Sie nahm sich vor, es in Zukunft wieder öfter zu tun. Jetzt endlich konnte sie es ja wieder.

Sie sah auf die Uhr. Elf war längst vorbei. Es würde Mitter-nacht werden, bis sie zu Hause waren. Dieser Gedanke wurde von einem leisen Rumoren ihres schlechten Gewissens beglei-tet.

»Nervös?« fragte Marlene, der Claires wiederholter Blick zur Uhr nicht entgangen war. Sie hatte sich entspannt in ihrem Stuhl zurückgelehnt und rauchte eine Zigarette.

»Nein«, antwortete Claire. »Es ist nur … Joe hat mir heute gar nicht gefallen. Er wollte nicht trinken.«

»Kinder spüren, wenn ihre Eltern etwas vorhaben, und schie-ßen prinzipiell quer. Das ist ein Naturgesetz«, behauptete Marlene. »Und dann gibt es Mütter, die suchen nur nach einem Vorwand, um ein schlechtes Gewissen haben zu können, weil sie meinen, daß man kein Recht mehr auf ein bißchen eigenes Leben besitzt, sobald man erst einmal ein Kind hat.«

Claire sah Marlene über den Tisch hinweg ernst und fast ein bißchen erschrocken an. »Und du meinst, ich gehöre zu diesen Müttern?« fragte sie.

»Gott bewahre, nein«, antwortete Marlene. »Ich habe nur Angst, daß du irgendwann einmal dazugehören könntest, wenn

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du nicht aufpaßt.« »Ach?« »Wann sind wir das letzte Mal essen gewesen?« fragte Mar-

lene und schnippte ihre Zigarettenasche auf die Reste ihrer Mahlzeit. »Vor sechs Monaten? Sieben?«

»So ungefähr«, gestand Claire. »Siehst du? Und wann warst du mit Michael das letzte Mal

zusammen aus gewesen?« »Vor sechs oder sieben Monaten«, sagte Claire. »Hier. Zu-

sammen mit euch.« »Das habe ich gemeint«, sagte Marlene. »Okay, Marty und

ich haben keine Kinder, und ich bin vielleicht nicht gerade prädestiniert, dir Ratschläge im Umgang mit einem Säugling zu geben – aber ich sehe, wohin dein Leben führen kann, wenn du nicht verdammt aufpaßt. So etwas geht schnell und ohne daß du es merkst.«

»Jetzt übertreibst du«, sagte Claire. Es hörte sich nicht sehr überzeugt an – vielleicht, weil Marlenes Worte zu sehr dem ähnelten, was sie selbst vor gar nicht langer Zeit gedacht hatte.

»Nein«, erwiderte Marlene. »Du kümmerst dich entschieden zu wenig um dich selbst, Liebes. Sorge um Kinder und Familie ist ja ganz in Ordnung, aber ein gesundes Maß an Egoismus sollte auch sein. Ich glaube, ich muß ein bißchen mehr auf dich aufpassen. Sieh dich doch an. Du hast nicht einmal jetzt Ruhe, sondern rutschst auf deinem Stuhl herum, als hättest du Hummeln im Hintern, und würdest am liebsten sofort nach Hause rennen, um nachzusehen, ob auch ja alles in Ordnung ist.«

»Schlechte Gewohnheiten lassen sich nun einmal nicht so schnell ablegen«, sagte Claire. »Aber wir haben ja jetzt Peyton.«

»Ja, die habt ihr«, bestätigte Marlene. Etwas an der Art, in der sie es tat, veranlaßte Claire zu einem Stirnrunzeln. Michael unterbrach sein Gespräch mit Marty.

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»Du magst sie nicht«, sagte Claire. Marlene schüttelte den Kopf. »Darum geht es nicht. Ihr müßt

sie mögen, nicht ich. Nein, ich überlege die ganze Zeit, woher ich sie kenne. Ich habe sie schon einmal gesehen.« Sie dachte einige Sekunden angestrengt nach und zuckte dann mit den Schultern. »Ganz abgesehen davon, Claire … wenn du einer attraktiven Frau bei dir zu Hause zuviel Macht überläßt, hast du bald Probleme.«

»Das kann ich nur bestätigen«, fügte Marty hinzu. »Macht?« Claire lachte. »Ich vertraue meinem Mann, wenn

du das meinst.« Sie lachten, aber Marlene wurde sofort wieder ernst und

schüttelte den Kopf. »Da gibt es doch diese Redensart … Die Hand, die das Baby … du weißt schon.«

Claire wußte es nicht, und Marlene dachte abermals einige Sekunden angestrengt nach, ehe Marty sie fragte: »Wieviel hast du für das Haus der Fletchers letzte Woche bekommen?«

»Drei Millionen und ein paar Zerquetschte«, antwortete Marlene abwesend. »Männer! Nimm einen guten Rat von mir an, Claire, und meide sie. Sie geben dir als Frau das Gefühl, eine Null zu sein, wenn du nicht mindestens fünfzigtausend im Jahr verdienst, und nach Feierabend soll man noch für sie da sein und Spaghetti für sie kochen. Und so ganz nebenbei soll man auch noch phantastisch aussehen.«

Michael beugte sich über den Tisch und langte nach Marlenes Zigarettenpackung. »Darf ich?«

Marlene nickte, und Claire schenkte ihrem Mann und ihr einen übertrieben strafenden Blick. »Du übst einen schlechten Einfluß auf ihn aus«, sagte sie. »Er raucht nur, wenn du dabei bist.«

»Eine Zigarette wird mich nicht umbringen«, verteidigte sich Michael. Er ließ Marlenes Feuerzeug aufschnappen und nahm einen tiefen Zug, war aber rücksichtsvoll genug, sich zur Seite zu drehen, als er den Rauch wieder ausstieß. Er wußte, wie

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allergisch Claire auf Zigarettenqualm reagierte. »Jetzt fällt es mir ein«, sagte Marlene. »Die Hand an der

Wiege ist die Hand, die die Welt regiert.«

Vielleicht würde dies einer der letzten wirklich warmen Tage des Jahres werden. Am Morgen waren Wolken aufgezogen, und für eine Weile hatte es so ausgesehen, als würde es Regen geben.

Aber nur für eine halbe Stunde, nach der es dafür um so mehr aufgeklart war. Der Herbst stand vor der Tür, aber der Wetter-gott schien entschlossen zu sein, noch einmal zu demonstrie-ren, wozu er in der Lage war, wenn er es wirklich wollte.

Peyton schob den Kinderwagen ein Stück den schmalen Parkweg hinauf, blieb stehen und sah dann auf die Uhr. Sie hatte noch einige Minuten Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Emma, und Claire erwartete sie ohnehin nicht vor Ablauf von zwei Stunden zurück. Wahrscheinlich war sie froh um jede Minute, die sie später kommen würde. Kurz bevor Peyton gegangen war, traf ein ganzer Lastwagen voller Bauarbeiter ein, die unverzüglich damit begonnen hatten, den größten Teil des Gartens in ein einziges heilloses Chaos zu verwandeln. In drei Tagen würde das Gerüst für Claires Gewächshaus geliefert werden, und bis dahin mußte nicht nur das Fundament fertig, sondern auch sämtliche Anschlüsse mußten gelegt sein.

Peyton war es recht, daß Claire derart beschäftigt war, dann kam sie wenigstens nicht auf die Idee, über andere Dinge nachzudenken. Außerdem hatte sie auf diese Weise nicht nach einem Vorwand suchen müssen, um ausgerechnet heute in den Park zu gehen.

Sie schlenderte weiter. Ihr Blick suchte den Kinderspielplatz in der Mitte des Parks. Emma war noch nicht da, aber sie gewahrte ein gutes Dutzend Jungen und Mädchen unterschied-lichen Alters, die den Sandkasten und die verschiedenen

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Spielgeräte bevölkerten. Auch der Rest des Parks war gut besucht; beinahe zu gut für das, was sie vorhatte. Peytons Blick tastete suchend umher und blieb schließlich an einer gemauer-ten Treppe aus schwerem Naturstein hängen, die sich nur wenige Schritte neben dem Spielplatz befand. Perfekt.

Eine junge Frau mit einem vielleicht zehnjährigen Mädchen an der Hand kam ihr entgegen. Beide warfen einen neugierigen Blick in den Kinderwagen, als Peyton an ihnen vorbeiging, und irgend etwas veranlaßte Peyton, stehenzubleiben und zu lächeln.

»Bitte, entschuldigen Sie«, sagte die Fremde ein bißchen verlegen, durch Peytons freundliches Lächeln aber ermutigt. »Darf sich meine Tochter vielleicht das Baby ansehen? Sie bekommt in sechs Monaten selbst einen kleinen Bruder.«

»Aber natürlich«, antwortete Peyton. Da Joe ohnehin wach war, nahm sie ihn aus dem Wagen und hielt ihn so im Arm, daß Mutter und Tochter ihn ausgiebig betrachten konnten. Joe schien das nicht zu gefallen; er protestierte gedämpft, begann aber nicht wirklich zu weinen.

»Oh, ist der süß«, sagte die Frau. »Ein Junge, nicht wahr?« »Sein Name ist Joe«, antwortete Peyton stolz. »Wie alt ist er?« »Drei Monate – fast vier.« »Ein wirklich hübscher Junge«, sagte die junge Frau. »Er hat

Ihre Augen.« »Wirklich?« fragte Peyton. »Ganz sicher«, antwortete die Fremde. »Ich sehe mir alle

Kinder an, die mir begegnen, aber einen so niedlichen kleinen Burschen sieht man selten. Sie müssen sehr stolz sein, einen solchen Sohn zu haben.«

»Das bin ich«, erwiderte Peyton. Sie tat nichts, um den Irrtum aufzuklären – nicht nur, weil es sich nicht lohnte und sie die junge Frau ohnehin nicht wiedersehen würde, sondern weil es im Grunde gar kein Irrtum war. Die Fremde hatte nur erkannt,

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was Peyton selbst schon lange wußte: Joe gehörte ihr. Er war das Kind, das Claire ihr gestohlen hatte. Er stand ihr zu, nicht dieser kaltherzigen Lügnerin, und daß nicht sie, sondern Claire ihn geboren hatte, besagte in diesem Zusammenhang wenig. Sie hatte ihr Recht auf dieses Kind im gleichen Augenblick verwirkt, in dem Peyton ihren Sohn verloren hatte. Und plötzlich und unwiderruflich erlosch jeder Schmerz über den Verlust ihres Sohnes in Peyton, denn sie sah mit einem Male ein, wie groß der Irrtum war, den sie begangen hatte. Ihr Sohn war nicht tot. Es war Claires Kind, das vor sechs Monaten im Seattle Memorial gestorben war, noch bevor es seinen ersten Atemzug tun konnte. Durch eine göttliche Fügung des Schick-sals waren die beiden Leben ausgetauscht worden, so daß ihr eigener Sohn im Körper einer Fremden sicher und gesund heranwuchs.

Peyton gewahrte eine Bewegung drüben beim Spielplatz, und ihre Gedanken kehrten abrupt zurück. Emma war zwischen den spielenden Kindern erschienen und sah so auffällig zu ihr herüber, wie es nur Kinder können, die versuchen, nicht aufzufallen.

»Ich muß weiter«, sagte sie und legte Joe vorsichtig in den Wagen zurück.

»Wir wollten Sie nicht aufhalten«, sagte die Fremde. »Bitte, entschuldigen Sie. Es war sehr freundlich von Ihnen.«

Peyton lächelte verzeihend. Sie war der Fremden nicht im geringsten böse. Ganz im Gegenteil – sie empfand eine solche Dankbarkeit, daß sie sie am liebsten in die Arme geschlossen und an sich gedrückt hätte, denn sie hatte ihr endgültig die Augen geöffnet. Peyton sah jetzt einiges klarer.

Sie ging weiter, verließ nach einigen Schritten den Weg und schob den Wagen über den kurzgeschnittenen Rasen direkt auf den Spielplatz zu. Emma sah ihr entgegen, aber sie widerstand – wenn auch mit sichtlicher Mühe – offenbar dem Impuls, ihr entgegenzulaufen, sondern wartete, bis Peyton den Kinderwa-

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gen in einigen Schritten Entfernung abgestellt, die Fußbremse angezogen und sie zu sich herangewunken hatte.

»Ist er da?« fragte Peyton. Emma deutete auf einen schwarzhaarigen, etwas dicklichen

Jungen, der auf dem Rand der Sandkiste hockte und mißmutige Blicke in die Runde warf. »Dort. Das ist Roth.«

Peyton hätte ihn wahrscheinlich sogar erkannt, wenn Emma nicht auf ihn gedeutet hätte. Roth war ein gutes Stück größer als Emma und die meisten seiner Altersgenossen, und man sah ihm bereits jetzt an, daß er in wenigen Jahren fett und aufge-schwemmt wie eine Qualle sein würde. Seine Augen waren klein und tückisch, und ihr Blick stets auf der Suche nach einem Opfer, das ihr Besitzer quälen und erniedrigen konnte. Er entsprach so sehr dem Klischee des brutalen Tyrannen, den es in jeder Schulklasse und in jeder Kindergartengruppe gab, daß es schon fast lächerlich war.

»Warte hier«, sagte Peyton. »Paß auf Joe auf. Ich bin gleich zurück.« Sie umrundete den Sandkasten einmal, so daß sie sich Roth von hinten näherte. Der Junge bemerkte sie, streifte sie aber nur mit einem flüchtigen Blick und hatte sie praktisch im gleichen Moment schon wieder vergessen, denn sie gehörte in keine der beiden Kategorien, die ihn als einziges interessierten: sie war weder Opfer noch Gefahr. Als Beute war sie entschie-den zu alt, und Erwachsene stellten prinzipiell keine Gefahr für ihn dar, denn schließlich war er ein Kind und fühlte sich von seiner Jugend beschützt. Kein Erwachsener würde es wagen, Hand an ihn zu legen. Diese Überlegung war nicht falsch – aber Roth hatte noch nie von verrückten Erwachsenen gehört.

Ohne ein Wort packte sie sein Handgelenk und riß ihn so hart herum, daß Roths Füße für eine Sekunde den Kontakt mit dem Boden verloren und er hilflos am ausgestreckten Arm in der Luft baumelte. Es mußte sehr weh tun, aber Roth schien so überrascht zu sein, daß er nicht sofort schrie. Dann begann er zu strampeln, brüllte wie am Spieß und wehrte sich mit aller

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Kraft. Peyton zerrte ihn einfach weiter, stieß ihn hinter die Treppe und so heftig gegen die Mauer, daß ihm die Luft wegblieb. Aus seinem panischen Kreischen wurde ein Keu-chen.

Seine Augen waren riesig und fast schwarz vor Furcht. »He, was … was soll das?« keuchte er. »Sind Sie verrückt

geworden? Lassen Sie mich los!« Peyton verdrehte seinen Arm noch ein bißchen mehr, und

Roth brach mit einem peinerfüllten Japsen ab. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Er wand sich verzweifelt in Peytons Griff, aber sie ließ nicht los.

»Hör mir zu«, sagte sie. »Ich habe eine Nachricht für dich. Von Emma. Du wirst sie in Ruhe lassen, hast du das verstan-den?«

»Sind Sie verrückt?« kreischte Roth. »Das dürfen Sie nicht –« Peyton verstärkte ihren Griff noch, und Roth wimmerte vor

Schmerz. Tränen liefen über sein Gesicht. »Ob du mich verstanden hast?«

»Ja, ja, ich hab’s kapiert!« stieß Roth atemlos hervor. »Ich werde ihr nichts mehr tun, das schwöre ich.«

»Gut«, sagte Peyton. Sie ließ seinen Arm los. Roth fiel auf die Knie und preßte den Arm gegen den Leib, wagte es aber nicht einmal, sie anzusehen, geschweige denn, aufzustehen und davonzulaufen.

»Ich rate dir, es nicht zu vergessen«, fuhr Peyton fort. »Denn wenn du es doch tust, dann komme ich wieder. Und dann mach ich wirklich ernst.«

Peyton sah sich von einem Dutzend Kindern – Emma einge-schlossen – umringt, als sie sich herumdrehte. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Furcht, Respekt, Staunen – aber auch eine gehörige Portion Schadenfreude und Faszination ange-sichts dieses völlig unerwarteten Aktes brutaler Gewalt. Offensichtlich, dachte Peyton, hatte Emma nicht übertrieben, was Roth anging. Sie schien nicht das einzige Kind in der

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Umgebung zu sein, das eine Rechnung mit ihm offengehabt hatte.

Sie drehte sich zu Emma um und überkreuzte rasch die Finger vor der Brust. Geheimclub, formten ihre Lippen, ohne das Wort laut auszusprechen. Emmas Augen leuchteten auf. Sie lachte, erwiderte das Zeichen und lief mit ein paar raschen Schritten an Peytons Seite, um etwas von der Bewunderung mitzubekommen, die die anderen Kinder Peyton zollten. Sie lief dabei so dicht an Roth vorbei, daß sie ihm um ein Haar auf die Hand getreten wäre, und das war gewiß kein Zufall. Roth zog den Arm erschrocken zurück und sah ihr nach, aber in seinem Blick war nichts mehr von der stummen Drohung, die Emma so gut gekannt und so sehr gefürchtet hatte, sondern nur noch Furcht – und ein widerwilliger Respekt, den er vielleicht nie mehr ganz verlieren würde.

»Das war toll«, sagte Emma, nachdem sie den Wagen geholt hatten. Sie sah immer wieder zu Roth und den anderen Kindern zurück. Roth war wieder aufgestanden, und Emma vermutete, daß er seine Wut nun an einigen der anderen Kinder auslassen würde. Trotzdem – der Mythos von Roths Unbesiegbarkeit war gebrochen. Es würde nie wieder so sein wie zuvor.

»Ab sofort wird er dich in Ruhe lassen«, sagte Peyton. »Und wenn nicht, sagst du mir Bescheid, und ich knöpfe ihn mir noch einmal vor.«

»Und dann?« fragte Emma. Peyton überlegte einen Moment. »Vielleicht breche ich ihm

den Arm«, sagte sie. »Oder erst einmal den kleinen Finger, für den Anfang.« Sie lachte, aber so, wie sie es gesagt hatte, hatte es sich nicht wie eine leere Drohung angehört. »Aber er wird dir nichts mehr tun, keine Angst.«

»Bestimmt?« fragte Emma. »Ganz bestimmt«, versicherte ihr Peyton. »Solche Typen sind

immer gleich. Im Grunde sind sie Feiglinge. Sie spielen sich nur auf, solange sie einem Schwächeren gegenüberstehen.

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Wenn sie wissen, daß sie den kürzeren ziehen, dann ziehen sie ganz schnell den Schwanz ein und laufen davon.«

»Warum hat meine Mum dann nicht schon längst dasselbe getan wie du gerade?« fragte Emma.

»Weil deine Mum deine Mum ist und ich deine beste Freun-din«, antwortete Peyton. »Und weil es nun einmal Dinge gibt, die Mütter nicht tun können, beste Freundinnen aber schon. Außerdem ist deine Mum nicht in unserem Geheimclub.«

»Das stimmt«, sagte Emma und überkreuzte die Finger. »Und deshalb darfst du ihr auch nicht erzählen, was heute

passiert ist«, fügte Peyton hinzu. »Versprochen?« »Versprochen«, sagte Emma.

Claires Hände zitterten ganz leicht, als sie den Kaffee eingoß. Sie hätten sehr viel heftiger gezittert, hätte sie sich nicht mit aller Kraft darauf konzentriert, diese einfache Tätigkeit auszuüben; trotzdem verschüttete sie einige Tropfen der heißen Flüssigkeit. Es war ein Wunder, daß ihr der Kaffee nicht über die Finger lief und sie sich verbrühte.

Claire stellte die Tasse ab, blickte stirnrunzelnd einige Se-kunden lang auf die häßlichen dunkelbraunen Flecken, die die Tischdecke verunzierten, und holte ein Kleenex. Heute würde wahrscheinlich einer von diesen Tagen werden, die man am besten im Bett verbrachte, die Decke hoch über den Kopf gezogen, oder gleich aus dem Kalender strich. Ihr treuer Begleiter, das Asthma, machte sich auch bemerkbar – zwar nicht besonders schlimm, aber das Atmen bereitete ihr doch ein bißchen mehr Mühe als sonst, und sie wußte, daß sie wahr-scheinlich gut beraten war, jede größere körperliche Anstren-gung heute zu vermeiden.

Zumindest wußte sie, warum sie sich so miserabel fühlte. Sie hatte in der zurückliegenden Nacht zweieinhalb Stunden geschlafen; wahrscheinlich sogar weniger. Gott, war sie müde!

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Sie hörte Schritte hinter sich und erkannte an ihrem Rhyth-mus, daß es Peyton war, die die Treppe herunterkam. Ohne sich nur umzudrehen, nahm sie eine Tasse vom Regal und goß Kaffee ein, diesmal ohne Mühe.

»Guten Morgen, Peyton«, sagte sie und reichte ihr die Tasse. Peyton griff danach und trank einen Schluck, ehe sie den

Gruß erwiderte. Sie sah fast so müde aus, wie Claire sich fühlte; aber das tat sie eigentlich fast jeden Morgen. Immerhin verging kaum eine Nacht, in der sie nicht mindestens einmal aufstand und nach Joe sah. Sie hatte es nicht gesagt, aber Claire hatte ihre Schritte ein paarmal auf der Treppe gehört. Peyton nahm ihre Aufgabe sehr ernst, vielleicht sogar ein wenig zu ernst, dachte Claire. Sie fragte: »Sie waren bei Joe?«

Peyton ging jeden Morgen zuerst zu Joe; noch bevor sie ins Bad ging und sich für den Tag zurechtmachte. Die Frage war ziemlich überflüssig. Peyton nickte nur.

»Sagen Sie … ist Ihnen in letzter Zeit irgend etwas an ihm aufgefallen?« fragte Claire.

»Nein.« Peyton sah sie verwirrt an. »Warum fragen Sie? Stimmt etwas nicht?«

»Nein«, antwortete Claire. »Es war nur …« Sie suchte einen Moment nach den passenden Worten und zuckte schließlich mit den Achseln. »Er ist in letzter Zeit irgendwie … anders«, sagte sie.

»Anders?« »Er will nicht mehr trinken, jedenfalls nicht mehr viel. Und

irgendwie …« Sie stockte wieder. Wie sollte sie etwas in Worte kleiden, das

sie nicht einmal in Gedanken richtig zu formulieren vermoch-te?

Es war nur ein Gefühl, vage und nicht klar artikulierbar. Joe war immer so ein … so freundliches Baby gewesen. Das hatte sich nicht geändert, aber seit ein paar Tagen hatte sie das verrückte Gefühl, daß er sich eben nicht mehr so sehr wie

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bisher freute, sie zu sehen. »Wahrscheinlich liegt es an mir«, sagte sie schließlich. »Ich

bin heute nicht gut drauf. Nehmen Sie mich nicht ernst, wenn ich Unsinn rede.«

»Sie sehen müde aus«, sagte Peyton. »Das bin ich auch«, bestätigte Claire. »Michael und ich haben

fast die ganze Nacht an seinem Report gearbeitet. Es geht um irgendwelche Forschungsgelder. Wenn er den Antrag nicht pünktlich abliefert, bekommen sie sie nicht, oder jedenfalls nicht früh genug. Und das könnte seine Arbeit um Monate zurückwerfen, vielleicht sogar ein Jahr.«

»Sie hätten mir Bescheid sagen können«, sagte Peyton. »Ich kann ganz gut Maschine schreiben.«

»Sie haben genug zu tun«, antwortete Claire. »Ich bekomme ohnehin ein schlechtes Gewissen, wenn ich daran denke, was Sie außer Ihren Pflichten als Kindermädchen noch alles tun.«

Michael kam die Treppe herunter. Er trug einen großen, wattierten Umschlag unter dem Arm, und angesichts der Tatsache, daß er auch nur eine halbe Stunde länger geschlafen hatte als sie, war er geradezu unverschämt guter Laune.

»Schönen guten Morgen«, flötete er. Peyton erwiderte den Gruß, während es bei Claire nur zu einem matten Lächeln reichte. Michael hauchte ihr einen Kuß auf die Wange, trank einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und drehte sich wieder um, um die Küche zu verlassen.

»Willst du nicht frühstücken?« fragte Claire. Michael machte eine Kopfbewegung auf den Umschlag, den

er unter den Arm geklemmt hatte. »Wollen schon, aber ich habe keine Zeit«, sagte er. »Das muß noch zum Kurierdienst, ehe ich ins Labor gehe.«

»Ich kann zum Kurierdienst fahren«, sagte Claire. »Du fährst nirgendwohin«, antwortete Michael. »Schau in

den Spiegel, und du weißt, warum. Du hast vergangene Nacht kaum geschlafen.«

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»Genau wie du«, erwiderte Claire. »Ja, aber ich muß sowieso hinaus in die feindliche Welt, du

nicht. Leg dich noch ein paar Stunden hin und ruh dich aus.« Claire spürte eine leise Verärgerung. Michaels Sorge war

ehrlich gemeint, aber er würde wohl nie begreifen, daß er ihr mit seiner manchmal übertrieben fürsorglichen Art das Gefühl gab, nur ein halber Mensch zu sein, und sie verletzte.

»Es macht mir wirklich nichts aus«, sagte sie, vielleicht eine Spur schärfer als nötig, denn Michael zog überrascht die Augenbrauen zusammen. »Ich wollte später ohnehin noch einmal zum Botanischen Garten fahren. Es gibt da noch ein paar Dinge wegen der Gewächshäuser zu klären.«

»Ich könnte fahren«, schlug Peyton vor. »Hast du wirklich so viel Zeit?« fragte Michael, der ein

bißchen irritiert zu sein schien, wie er sich verhalten sollte. »Das Zeug muß heute noch raus. Du weißt, wie wichtig es ist.«

»Es ist praktisch kein Umweg«, sagte Claire. »Und du hast es gehört – Peyton wird mich chauffieren. Du brauchst also keine Angst zu haben, daß ich vor einen Baum fahre.«

»Also gut.« Michael gab auf, als er den warnenden Unterton in ihrer Stimme registrierte. Er kam zurück, gab ihr den Umschlag und küßte sie zum Abschied. »Ich liebe dich. Mach’s gut.«

»Ich hole den Wagen«, sagte Peyton.

Im nachhinein war Claire dankbar, daß Peyton diesen Vor-schlag gemacht hatte. Sie waren unmittelbar losgefahren, nachdem Emma das Haus verlassen hatte, und Claire hatte sich im stillen eingestanden, daß sie wohl kaum in der Lage gewesen wäre, den Wagen unbeschadet durch das morgendli-che Verkehrsgewühl zu lenken. Sie fühlte sich nicht mehr so entsetzlich müde wie vorhin, aber ihre Augen brannten, und sie wäre wohl kaum fähig gewesen, auf eine gefährliche Situation

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entsprechend schnell zu reagieren. Da sie nicht plante, lange zu bleiben, hatte Claire entschieden,

zuerst zum Botanischen Garten zu fahren und den Brief auf dem Rückweg abzugeben. Peyton hatte begeistert zugestimmt; schließlich hatte Claire ihr oft genug davon vorgeschwärmt, daß sie mittlerweile selbst darauf brannte, diese exotische, fremde Welt einmal kennenzulernen.

Eine verwirrende Vielfalt von Gerüchen, Farben und Geräu-schen schlug ihnen entgegen, als sie das Gewächshaus betraten. Feuchtwarme Luft hüllte sie ein, und Claire begrüßte nachein-ander ein halbes Dutzend meist junger Männer und Frauen, die mit den verschiedensten Tätigkeiten beschäftigt waren. Peyton sah sich mit offenkundiger Faszination um.

»Ganz ehrlich, Claire, ich beneide Sie um dieses Hobby«, sagte sie. »Es ist herrlich hier.«

»Ja«, antwortete Claire. »Ich möchte es nicht mehr missen.« Sie blieb stehen, um das Blatt einer exotischen Orchideen-

pflanze geradezubiegen, das irgend jemand geknickt hatte. »Auch wenn es manchmal wirklich in Arbeit ausartet.«

Peyton lachte. »Wie lange machen Sie das schon ehrenamt-lich?«

Claire konnte sich nicht erinnern, ihr erzählt zu haben, daß sie diese Arbeit ehrenamtlich ausübte – auch wenn es der Wahr-heit entsprach –, aber sie achtete nicht darauf und antwortete: »Sieben Jahre. Ich komme meistens morgens hierher, um die Pflanzen zu wässern, die eine oder andere Kleinigkeit zu richten oder einfach ein bißchen zu reden. Wir sind so eine Art große botanische Familie hier, wissen Sie? Michael hält uns für ziemlich verrückt, glaube ich – wir sitzen manchmal stunden-lang zusammen und unterhalten uns über Wurzelkrankheiten von Pflanzen, über geschnittene Baumrinde und ähnlich interessante Dinge.«

»Wird Ihr eigenes Gewächshaus genauso aussehen wie das hier?« fragte Peyton.

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»Hoffentlich«, antwortete Claire. »Es wird natürlich viel kleiner sein. Es war schon immer mein Traum, mein eigenes Gewächshaus zu besitzen. Meine Eltern haben mich schon früher für verrückt gehalten. Mein Vater hat jedem erzählt, daß ich in Wahrheit auf einem Baum geboren worden bin.«

Während sie sprach, machten sich ihre Hände weiter mit großem Geschick an der Orchidee zu schaffen. Sie war so sehr auf ihre Tätigkeit konzentriert, daß sie nicht bemerkte, wie Peyton ein Stück zur Seite trat und sich verstohlen der Tasche näherte, die sie zwischen dem Pflanzentisch und Joes Kinder-wagen abgestellt hatte.

Der Umschlag mit Michaels Unterlagen lugte deutlich sicht-bar ein Stück daraus hervor.

»Michael meint manchmal, daß ich es übertreibe«, fuhr Claire fort. »Vielleicht hat er sogar recht damit – aber wissen Sie was, Peyton? Ich übertreibe gern.«

»Man kann nichts übertreiben, was man gern tut«, antwortete Peyton. Sie trat wieder an Claires Seite. »Es muß schön sein, ein solches Hobby zu haben. Etwas, worin man wirklich aufgeht.«

In ihrer Stimme war bei diesen Worten ein so sonderbarer Klang, daß Claire unwillkürlich in ihrem Tun innehielt und sich zu ihr umwandte.

Was sie sah, erschreckte sie beinahe. Peytons Begeisterung und Anteilnahme waren echt, aber unter diesen positiven Gefühlen war plötzlich auch etwas anderes zu erkennen, etwas so Dunkles, Destruktives und Schlimmes, daß Claire um ein Haar vor Peyton zurückgewichen wäre. Im allerersten Moment löste der Anblick eine tiefe Verwirrung in Claire aus; dann begriff sie, daß sie mit ihren harmlosen Worten wohl eine noch längst nicht verheilte Wunde in Peyton berührt haben mußte. Sie hatte plötzlich das intensive Bedürfnis, es wieder gutzuma-chen oder sich wenigstens bei Peyton zu entschuldigen.

»Peyton«, begann sie vorsichtig. »Wissen Sie, daß ich eine

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gute Zuhörerin bin?« Peyton sah sie fragend an; schwieg. »Nun, ich meine, ich … ich weiß eigentlich nichts über Sie«,

fuhr Claire fort, verlegen, unbeholfen und ein wenig verärgert über sich selbst, daß sie einfach nicht die richtigen Worte fand.

Schließlich sagte sie einfach geradeheraus: »Irgend etwas bedrückt Sie, Peyton. Ich spüre, daß Sie nicht glücklich sind. Wenn Sie irgendwann einmal das Bedürfnis haben, sich auszusprechen – ich habe immer Zeit für Sie.«

»Das ist wirklich nett von Ihnen«, antwortete Peyton. Ihre Stimme bebte, und ihr Blick hielt dem Claires nicht länger stand, sondern irrte wie ein taumelnder Schmetterling hierhin und dorthin, ohne irgendwo Halt zu finden. »Aber es gibt wirklich nicht viel zu erzählen. Was ich die letzten Jahre über getan habe, wissen Sie, und zuvor …« Sie hob die Schultern und versuchte zu lächeln, aber es mißlang. »Ich war noch ein halbes Kind, als ich meinen Mann kennenlernte. Er war zehn Jahre älter als ich, aber er war sehr charmant, sehr intelligent, sehr … sehr schön, wenn Sie wissen, was ich meine. Er liebte mich über alles, und ich verehrte und bewunderte ihn. Das hört sich jetzt bestimmt sehr albern für Sie an, nicht wahr?«

»Überhaupt nicht«, sagte Claire, und das war völlig ernst gemeint. Sie machte sich nie über die Gefühle anderer Men-schen lustig, ganz gleich, wie naiv sie ihr auch erscheinen mochten.

»Wissen Sie, er … er sagte immer, daß die Sonne aufgeht, wenn ich das Zimmer betrete. Als er erfuhr, daß ich schwanger war, da ist er fast verrückt geworden vor Freude. Wir haben stundenlang getanzt und gelacht, und … und er ist in die Stadt gefahren und hat mir das teuerste und schönste Umstandskleid gekauft, das er finden konnte, obwohl ich gerade erst im zweiten Monat war und es noch lange nicht brauchte.« Ein Schatten senkte sich in ihre Augen. Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich war völlig verzweifelt, als er ermordet

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wurde. Eine Weile wollte ich auch nicht mehr leben.« »Ermordet?« Claire riß ungläubig die Augen auf. »Er … er

wurde ermordet! O Peyton, ich wußte ja nicht, daß –« »Sie haben niemals herausgefunden, wer es war«, fuhr Peyton

fort. Sie flüsterte jetzt wirklich nur noch. Die Worte galten viel weniger Claire als ihr selbst, als sie fortfuhr: »Aber ich glaube, daß es so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit gibt. Ich glaube fest daran. Wer immer es getan hat, wird seine gerechte Strafe erhalten. Irgendwann.« Sie gab sich einen Ruck, sah auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Gibt es … gibt es hier eine Toilette?«

Claire deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »In der großen Halle rechts. Sie können es gar nicht verfeh-len.«

Peyton bedankte sich mit einem Nicken und entfernte sich schnell, und Claire sah ihr sehr lange und sehr bedrückt hinterher, ehe sie sich wieder herumdrehte und weiter an der Orchidee arbeitete. Peyton tat ihr sehr leid. Daß der Briefum-schlag mit Michaels Unterlagen nicht mehr in ihrer Tasche war, bemerkte sie nicht.

Peytons Selbstbeherrschung hatte so weit gereicht, sie das Gewächshaus mit halbwegs ruhigen Schritten durchqueren zu lassen. Draußen in der Halle begann sie schneller zu gehen, und die letzten Schritte bis zu der halb hinter einer gewaltigen Topfpalme versteckten Tür schließlich rannte sie. Die Halle war nicht leer; ein paar amüsierte, aber auch verständnisvolle Blicke folgten ihr, als sie in die Toilette stürmte und eine der Kabinen ansteuerte.

Die Blicke wären aber wahrscheinlich weit weniger mitfüh-lend und ganz bestimmt nicht amüsiert gewesen, hätte auch nur einer von ihnen ihr Gesicht getroffen. Der Ausdruck darauf war eine Mischung aus unerträglicher Qual und mörderischem Haß.

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In Peyton brodelte ein Vulkan. Sie hätte keine Sekunde länger bleiben können. Ihre Hände hatten sich selbständig machen und nach Claires Hals greifen wollen. Sie wollte sie töten. Jetzt. Nicht irgendwann. Nicht irgendwie, sondern jetzt, hier, mit ihren eigenen Händen das Leben aus ihr herauspressen. Ihr Verstand versuchte ihr zu erklären, daß das ein Fehler war. Ihre Rache war viel subtiler, und sie hatte sie zu weit und zu umsichtig vorbereitet, um jetzt alles zu riskieren. Aber das war nur ihr Verstand, der ihr das sagte. Ihr Haß wollte etwas anderes, und er war im Moment entschieden stärker als die Stimme ihrer Vernunft.

Ihre Kraft reichte noch aus, in eine der Kabinen zu stürmen und die Tür hinter sich zuzuwerfen, aber dann brach es aus ihr heraus: sie ballte die Fäuste und schlug und trat mit aller Gewalt gegen die Wände, hämmerte gegen die Tür, trat gegen das Becken und schlug so heftig gegen die dünnen Sperrholz-wände, daß das Holz Risse bekam. Die ganze Kabine wankte, dröhnte unter ihren Hieben und der Gewalt ihres Wutausbru-ches. In einer der benachbarten Kabinen wurde die Spülung betätigt; einen Augenblick später fiel eine Tür, und hastige Schritte entfernten sich. Aber Peyton konnte trotzdem nicht aufhören. Sie tobte und raste weiter, bis ihre Fäuste schmerzten und sie so erschöpft war, daß sie kaum noch die Arme heben konnte und erschöpft gegen die Tür sank. Alles drehte sich um sie, selbst dann noch, als sie die Augen schloß: Sie hatte das Bedürfnis zu schreien, so laut sie nur konnte, und nie wieder damit aufzuhören. Ich glaube daran, daß es so etwas wie eine höhere Gerechtigkeit gibt … O ja, sie glaubte daran! Sie wußte, daß es so war, und sie, Peyton, war ihr Werkzeug, die strafende Hand Gottes, die wie ein Racheengel über die Mörder ihres Mannes und ihres Sohnes kommen würde.

Mit zitternden Fingern griff sie unter ihre Jacke und zog den Umschlag hervor, den sie aus Claires Tasche genommen hatte. Er war sehr dick, denn er enthielt fast vierzig säuberlich in der

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Mitte gefaltete Schreibmaschinenseiten, aber Peyton zerriß ihn ohne sichtbare Mühe in kleine Fetzen, die sie ins Toilettenbek-ken hinabfallen ließ. Sie mußte dreimal abziehen, ehe auch das letzte Stück Papier im Abfluß verschwunden war.

Aber es half. Mit jedem Stapel kleiner, unregelmäßig geformter Papier-

schnipsel, die sie in das weiße Porzellanbecken hinabfallen ließ, beruhigte sich das Zittern ihrer Hände ein wenig mehr, und schließlich ging ihr Atem wieder so ruhig wie zuvor. Nach einer Weile öffnete sie vorsichtig die Tür, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß sie allein in dem Raum war, und trat aus der Kabine.

Claire machte sich Vorwürfe. Peyton hatte gelächelt und die unterbrochene Unterhaltung fortgesetzt, als wäre nichts geschehen, als sie von der Toilette gekommen war, aber sie war sehr lange dortgeblieben, und sie war sehr blaß gewesen; ihr Lachen eine Spur zu laut und ihre Bewegungen eine Spur zu schnell, um darüber hinwegzutäuschen, wie es wirklich in ihr aussah. Claires Frage hatte eine Wunde in ihr aufgerissen, die nicht einmal angefangen hatte, zu vernarben. Warum hatte sie ihre Neugier nicht im Zaum und einfach die Klappe halten können?

Sie lenkte den Wagen in eine Parklücke – Peyton hatte keinen Widerspruch eingelegt, als Claire sich kommentarlos selbst hinter das Steuer setzte, nachdem sie den Botanischen Garten verlassen hatten –, schaltete den Motor ab und griff nach der Umhängetasche, die sie achtlos auf den Rücksitz geworfen hatte.

»Soll ich das erledigen?« fragte Peyton. Claire lehnte ab. »Es geht schnell«, sagte sie. »Und ein

bißchen Bewegung tut mir jetzt bestimmt gut. Ich bin in zwei Minuten zurück.« Sie deutete auf die Parkuhr und blinzelte

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Peyton verschwörerisch zu. »Sie bleiben solange hier und passen auf, daß wir keinen Strafzettel bekommen.«

Sie stieg aus dem Wagen und betrat mit schnellen Schritten das Büro des FEDERAL OVERNIGHT SERVICE, das sich in einem eingeschossigen, rundum verglasten Bauwerk befand. Gedämpfte Musik schallte ihr entgegen, und Claire stellte mit einem flüchtigen Gefühl von Zufriedenheit fest, daß an den Schaltern kaum Betrieb herrschte. In der Reihe vor ihr befand sich nur eine einzige Kundin, so daß sie nicht mit einer nennenswerten Wartezeit rechnen mußte.

Automatisch wandte sie den Blick und sah durch das große Panoramafenster zu Peyton zurück, die im Wagen saß und den Rückspiegel im Auge behielt, um auftragsgemäß Ausschau nach einem Verkehrspolizisten zu halten.

»Madam?« Claire fuhr hastig herum und zauberte ein verzeihunghei-

schendes Lächeln auf ihr Gesicht, als ihr klar wurde, daß die junge Frau hinter dem Schalter sie schon eine geraume Weile angesehen und geduldig darauf gewartet hatte, daß sie ihr Anliegen vorbrachte. »Ich habe eine Briefsendung«, sagte sie, während sie ihre Tasche von der Schulter nahm und öffnete. »Eilzustellung. Wenn es geht, heute noch.«

»Kein Problem – wenn der Empfänger in diesem Bundesstaat wohnt.«

»Er befindet sich sogar in dieser Stadt«, antwortete Claire, »und –« Sie sprach nicht weiter, als ihr Blick in die Tasche fiel. Ihre Hand setzte die begonnene Bewegung ganz automatisch fort und griff dorthin, wo der Umschlag mit Michaels Unterla-gen sein sollte. Aber er war nicht da.

»Madam?« fragte die Angestellte erneut. »Ich … der Brief«, murmelte Claire. »Er ist nicht da. Aber

wir …« Schrecken begann sich in ihr breitzumachen, der fast sofort in einen Zustand überging, der einer Panik beunruhigend nahe kam. Sie begann immer hektischer in der Tasche zu

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kramen, obwohl das vollkommen sinnlos war: ein Umschlag von solcher Größe war einfach nicht zu übersehen.

»Der Brief ist nicht da«, sagte sie noch einmal. Sie klang sehr hilflos.

Der Blick der jungen Frau hinter dem Schalter blieb völlig teilnahmslos, aber trotzdem freundlich. »Vielleicht haben Sie ihn zu Hause liegenlassen, sagte sie. »Oder draußen im Wagen.«

Claire wußte, daß es nicht so war. Sie wußte mit unerschütter-licher Sicherheit, daß sie den Brief eingesteckt hatte, und sie war auch sehr sicher, daß er nicht im Wagen lag. Trotzdem klammerte sie sich für einen Moment fast verzweifelt an die Hoffnung, daß es doch so war. Es mußte einfach so sein. Wenn der Brief nicht im Wagen war, dann … Nein. Sie weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Rasch drehte sie sich um und stürmte aus dem Gebäude. Peyton zog überrascht die Brauen zusammen, als sie im Laufschritt auf den Wagen zueilte und die Tür aufriß. »Kein Grund zur Panik«, sagte sie scherzhaft. »Es ist kein Polizist in … Was haben Sie?«

Claire entriegelte die hintere Tür, riß sie auf und beugte sich über den Rücksitz. Nichts.

»Claire, was ist mit Ihnen?« fragte Peyton noch einmal. Sie klang besorgt.

»Der Brief«, antwortete Claire. »Der Brief mit Michaels Unterlagen. Er ist nicht mehr da.« Sie sah auf den Wagenboden und steckte schließlich die Hand in den Spalt zwischen Sitz und Rückenlehne, aber alles, was sie fand, waren ein paar Staubflocken.

»Aber Sie haben ihn doch in Ihre Tasche gesteckt«, sagte Peyton. »Das habe ich genau gesehen.«

Claire durchsuchte den Wagen ein zweites Mal. Sie sah auf den Boden, zwischen die Sitze, unter die Sitze, schließlich sogar in den Kofferraum und ins Handschuhfach, obwohl sie

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beides nicht einmal geöffnet hatte. Es blieb dabei – der Brief war nicht mehr da.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie zitterte am ganzen Leib, und in ihrer Brust erwachte ein wohlbekannter, stechen-der Schmerz, der rasch an Intensität zunahm. Jeder Atemzug fiel ihr ein bißchen schwerer als der vorhergehende.

»Michaels Unterlagen«, stammelte sie. »Wenn … wenn sie weg sind, dann … dann wirft das seine Arbeit um Monate zurück.«

»Aber Sie haben doch sicher eine Kopie gemacht«, sagte Peyton.

Claire schwieg. »Haben Sie das nicht?« Peyton runzelte ungläubig die Stirn.

»Claire, Sie müssen doch –« »Nein, verdammt, ich habe keine Kopie!« Claire schrie fast.

Peyton zuckte erschrocken zurück, und Claire fuhr nach ein paar Sekunden und mühsam beherrscht fort: »Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht anschreien. Es ist nur …«

Sie bekam keine Luft mehr. Ihre Kehle war einfach zuge-schnürt. Mit zitternden Händen öffnete sie ihre Tasche, grub hektisch darin herum und suchte nach ihrem Inhalator. Diesmal versuchte sie erst gar nicht, ohne ihn auszukommen.

Beinahe hätte sie es nicht einmal mit ihm geschafft. Das Schreckgespenst des großen Anfalls ging auch diesmal noch an ihr vorüber, aber es war knapp, und es dauerte Minuten, bis sich Claires Atem wenigstens halbwegs beruhigte und sich ihre Kehle so weit entkrampft hatte, daß sie das winzige Plastik-mundstück senken und wieder normale Luft atmen konnte. Hinten auf dem Rücksitz begann Joe in seinem Körbchen zu weinen.

»Ihr Asthma?« fragte Peyton mitfühlend. Claire nickte. »Ja. Es wird schlimmer, wenn ich mich aufre-

ge.« Es fiel ihr noch immer schwer, zu sprechen. Ihre Lungen taten weh, so angestrengt hatte sie versucht, Luft zu holen. Und

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sie spürte, daß die Gefahr noch nicht vorbei war. Wenn sie nicht sehr achtgab, würde der Anfall zurückkommen. Und das Medikament war fast aufgebraucht.

»Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte Claire. »Wir werden noch einmal gemeinsam überlegen, okay?« Sie öffnete die Tür, umrundete den Wagen und forderte Claire mit einer entsprechenden Geste auf, auf den Beifahrersitz zu rutschen. Claire gehorchte. Es war wohl wirklich besser, wenn sie jetzt nicht fuhr.

»Wir fahren jetzt noch einmal zurück zum Botanischen Garten«, sagte Peyton. »Und wenn es sein muß, suchen wir jeden Zentimeter auf den Knien ab. Wir werden den Brief schon finden. Schließlich kann er ja nicht vom Erdboden verschwunden sein.«

Aber genau das war er. Und er blieb es auch.

»Michael, der Brief ist wirklich verschwunden«, sagte Claire. »Ich … ich weiß auch nicht mehr, was ich noch tun soll. Peyton und ich haben jeden Stein im Gewächshaus herumge-dreht. Ich habe die Garage durchsucht, den Weg zur Garage, die Küche … Sogar den Parkplatz vor dem Botanischen Garten. Aber er ist nicht mehr da.«

Claire gab sich alle Mühe, ruhig zu klingen, aber es gelang ihr nicht. Sie brachte es nicht einmal fertig, den Unterton von Verzweiflung aus ihrer Stimme zu verbannen. Ihr Atem ging schon wieder schwer.

Sie hatte Michael im Labor angerufen, um ihm ihr Unglück zu beichten. Er hatte die Nachricht erstaunlich ruhig aufge-nommen, und er hatte auch nicht viel gesagt, nachdem er nach Hause gekommen war. Aber er war ungewöhnlich spät nach Hause gekommen, und er war ungewöhnlich ernst. Er schwieg auch jetzt, aber vielleicht war es gerade das, was Claire am

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meisten zu schaffen machte. Der unausgesprochene Vorwurf in seinen Augen war schlimmer als alles, was er hätte sagen können. Beinahe hätte sich Claire gewünscht, daß er sie angeschrien oder ihr wenigstens Vorhaltungen gemacht hätte.

»Was … haben sie denn gesagt?« fragte sie schließlich. Michael machte eine vage Handbewegung. »Ich könnte ihn

auch in einem Vierteljahr abgeben«, antwortete er. »Der Termin für dieses Quartal ist sowieso überschritten.« Er lächelte müde. »Versuch es von der positiven Seite zu sehen. Auf diese Weise bleibt uns genug Zeit, ihn noch einmal in aller Ruhe zu überarbeiten. Das kann ihn im Grunde nur besser machen.«

»Aber das kostet dich ein Vierteljahr!« »So schlimm ist es auch nicht«, behauptete Michael. Er log.

Er gab sich redlich Mühe, es überzeugend zu tun, aber Claire wußte natürlich, daß es schlimm war. Michael hätte nicht Nächte um Nächte durchgearbeitet, um diesen Termin zu halten, wenn er nicht wirklich wichtig gewesen wäre.

»Es tut mir so leid«, sagte Claire. Ihre Hand bewegte sich über die Bettdecke und näherte sich seiner, aber er griff nicht danach.

»Das weiß ich doch«, sagte er. »Aber es wird nicht besser, wenn du dir jetzt ununterbrochen Vorwürfe machst.«

»Vielleicht … hat ihn mir jemand gestohlen«, sagte Claire. Die Idee war albern, und das wußte Michael so gut wie sie. Niemand hätte einen Grund gehabt, diesen Brief zu stehlen. Weder hatte er irgend etwas von Wert enthalten, noch hatten Michael und sie Feinde; und soviel sie wußte, gab es auch keine Konkurrenten, die irgendein Interesse daran gehabt hätten, das Projekt zu sabotieren.

Nur um überhaupt von etwas anderem zu reden, sagte sie nach einer Weile: »Du denkst daran, dir den Samstag freizuhal-ten? Du weißt –«

»Das Sportfest in Emmas Schule, ja.« Michael drehte sich auf

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die Seite. Die Bewegung hatte nichts Demonstratives, er tat es ganz bestimmt nicht, um Claire auf diese Weise zu signalisie-ren, daß sie ihn jetzt besser in Ruhe lassen sollte. Aber Claire empfand es so.

Trotzdem fuhr sie fort: »Mrs. Henry sagt, daß sie eine wirk-lich gute Basketballspielerin ist. Sie hat gute Chancen, eine Urkunde zu bekommen, und sie …«

»Claire«, unterbrach Michael sie. »Ich bin wirklich müde. Laß uns morgen darüber reden, okay?«

Claire sagte nichts mehr. Sie wünschten sich gegenseitig eine gute Nacht, und nach einer kurzen Weile wurden Michaels Atemzüge flacher und ruhiger; er war eingeschlafen.

Es dauerte sehr viel länger, bis auch Claire einschlief. Sie weinte sich nicht wirklich in den Schlaf. Aber vielleicht hätte sie es gerne getan.

Der Sportplatz war groß für eine Schule in einem Viertel wie diesem, aber heute schien er vor Menschen schier aus den Nähten zu platzen. Die Schüler waren nicht nur mit ihren Eltern und Geschwistern gekommen; viele hatten Freunde mitgebracht, und auch Claire und Michael hatten Marlene und Marty mitgebracht und wollten Emma an ihrem großen Tag begleiten und sie und ihre Mannschaft nach Kräften anfeuern.

Peyton gefiel das nicht. Marlene hatte nichts gesagt, und sie behandelte sie so freundlich und zuvorkommend, wie es nur ging – aber Claire spürte einfach, daß irgend etwas nicht stimmte. Manchmal sah Marlene Craven sie auf sehr sonderba-re Weise an. Ein- oder zweimal hatte sie versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Es war Peyton bisher gelungen, ihr geschickt auszuweichen, aber sie wußte natürlich, daß ihr das auf Dauer nicht gelingen konnte, ohne dadurch Verdacht zu erregen. Marlene Craven war gefährlich. Peyton begann sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß ihr vielleicht noch

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weniger Zeit blieb, als sie bisher angenommen hatte. Die Zuschauer klatschten heftig Beifall, als eines der Kinder

einen Korb warf. Peyton glaubte, daß es Emma gewesen war, aber ganz sicher war sie nicht; da sie Joe auf den Armen trug, stand sie nicht unmittelbar am Spielfeldrand, sondern war dem ärgsten Gedränge ausgewichen und hatte sich ein Dutzend Schritte weit zurückgezogen.

Sie sah unauffällig auf die Uhr. Das Spiel sollte längst vorbei sein, und Joe begann allmählich unruhig zu werden. Sie überlegte, ob sie sich unter einem Vorwand verabschieden und eher nach Hause gehen sollte, entschied sich aber dann dagegen. Solange die Cravens in der Nähe waren, sollte sie besser alles vermeiden, was irgendwie auffiel.

»Oh, hallo!« sagte eine Stimme hinter ihr. Peyton drehte sich herum – und konnte selbst spüren, wie jeder Tropfen Blut aus ihrem Gesicht wich.

Hinter ihr stand die junge Frau aus dem Park. Peyton konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, einen

erschrockenen Blick zu Claire und den anderen zu werfen. Aber das war auch nicht nötig – offensichtlich hatte sich nun alles gegen sie verschworen, denn in diesem Moment erscholl der schrille Ton einer Trillerpfeife. Das Spiel war zu Ende.

»Wir haben uns vergangene Woche im Park getroffen«, sagte die junge Frau, die Peytons Erschrecken offensichtlich für Verwirrung hielt. »Ich wußte gar nicht, daß Sie auch ein Kind in dieser Schule haben.«

Sie kam näher, lächelte Peyton zu und hob den Arm, um Joe flüchtig über die Wange zu streicheln. »Meine Tochter geht in die Klasse von Mrs. Wheel – die gerade das Spiel verloren hat«, fügte sie mit einem resignierenden Lächeln hinzu. »Und Ihr Kind?«

Peyton begann allmählich in Panik zu geraten. Sie sah zu Claire und den anderen zurück. Emma hatte das Spielfeld verlassen und hüpfte nervös vor Aufregung von einem Fuß auf

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den anderen. Ganz offensichtlich hatte ihre Mannschaft das Spiel gewonnen, wie an Emmas strahlenden Augen zu erken-nen war. Im Moment war sie damit beschäftigt, Claire, Marlene und den beiden Männern aufgeregt von ihrem Sieg zu berich-ten, aber es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis sie sich daran erinnerte, auch Peyton in den Kreis derer einzubeziehen, von denen sie sich das ihr zustehende Maß an Bewunderung abholte. Michael hielt bereits nach ihr Ausschau – er hatte sie entdeckt und winkte ihr zu, aber Peyton reagierte nur mit einem Lächeln und tat so, als verstünde sie die Geste nicht.

»Ich meine, in welcher Klasse ist es?« fuhr die Frau fort, als Peyton nicht antwortete. Ihr Blick folgte dem Peytons und blieb an Emma hängen. »Ist das Joes Schwester?«

»Sie … Sie müssen mich verwechseln«, sagte Peyton. Der Blick ihres Gegenübers spiegelte vollkommenes Unver-

ständnis. »Wir haben uns vor zwei Tagen im Park getroffen«, sagte sie

verwirrt. »Erinnern Sie sich nicht? Meine Tochter wollte sich das Baby ansehen, und –«

»Sie irren sich«, unterbrach Peyton sie, nun schon etwas schärfer.

Aus der Verwirrung der jungen Frau wurde fast so etwas wie Schrecken, aber nur für eine Sekunde, dann versuchte sie noch einmal, den Irrtum aufzuklären. »Bestimmt nicht«, sagte sie. »Ich –«

»Wollen Sie mich eine Lügnerin nennen?« fuhr Peyton sie an. Die Frau blinzelte. Sie war sichtlich so überrascht, daß sie im

ersten Moment noch nicht einmal zornig wurde. Und Peyton gab ihr auch keine Gelegenheit dazu, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und begann, sich durch die Menschenmen-ge einen Weg zu Claire und den anderen zu bahnen.

Sie widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen und mit eigenen Augen davon zu überzeugen, daß die Frau ihr wirklich nicht folgte; aber es fiel ihr sehr schwer. Sie war wütend auf

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sich selbst. Wütend, der Versuchung nicht widerstanden zu haben, Joe als ihren eigenen Sohn auszugeben, und vor allem wütend über ihre Reaktion jetzt. Sie war in Panik geraten, und das durfte einfach nicht passieren. Die Wahrscheinlichkeit war äußerst gering, und trotzdem, sie konnte sich im Moment keinen Streit mit dieser Fremden leisten. Möglicherweise würde es ihr sogar gelingen, Claire und Michael mit irgendei-ner erdachten Geschichte zu täuschen, ganz bestimmt aber nicht Marlene Craven. Diese Frau war viel gefährlicher als Michael und Claire zusammen. Der Gedanke bestärkte Peyton in ihrem Entschluß, etwas gegen sie zu unternehmen; und zwar bald. Sie hatte sogar schon eine ungefähre Ahnung, wie.

»Peyton! Peyton!« Emma kam ihr mit weit ausgebreiteten Armen entgegengerannt und bremste im buchstäblich letzten Moment ab, als sie sah, daß sie Joe auf dem Arm trug. Vor lauter Aufregung konnte sie nicht stillstehen, sondern hüpfte von einem Bein auf das andere. »Hast du es gesehen? Hast du mich gesehen?«

»Ich habe alles gesehen«, antwortete Peyton lächelnd. »Du warst phantastisch.«

»Wir haben sie geschlagen!« sagte Emma stolz. »Sie hatten keine Chance.«

»Das konnten sie auch nicht«, antwortete Peyton. »Schließ-lich hast du gegen sie gespielt.«

Emmas Gesicht leuchtete auf. Aufgeregt fuhr sie auf dem Absatz herum, fuhrwerkte einen Moment mit den Händen in der Luft und rannte schließlich wieder auf Marlene zu, um ihr erneut von ihren Heldentaten zu berichten. Peyton sah ihr nach und lächelte. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Claire auf sie zukam, tat aber so, als bemerke sie es nicht, sondern drehte sich wie zufällig herum und suchte noch einmal nach der Frau, die sie im Park getroffen hatte. Sie entdeckte sie in fünfzehn oder zwanzig Meter Entfernung, in ein Gespräch mit einem dunkelhaarigen Mann vertieft und lachend. Offensichtlich hatte

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sie den Zwischenfall bereits vergessen. Trotzdem nahm sich Peyton vor, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

»Peyton – wo waren Sie? Wir haben Sie vermißt.« Claire blieb neben ihr stehen, nahm ihr Joe aus den Armen und runzelte flüchtig die Stirn, als er sich unruhig zu bewegen begann.

»Joe war ein bißchen unruhig« antwortete Peyton. »Und dort vorne bei Ihnen war es sehr laut. Ich wollte ihn nicht dem Lärm und der Aufregung aussetzen, deshalb bin ich ein paar Schritte zurückgegangen. Aber ich habe alles von hier aus beobachtet. Sie war wirklich toll.«

»Ja, das war sie.« Claire nickte heftig und begann, Joes Wange zu streicheln, aber er reagierte eher unwillig darauf und weinte nun leise. »Was hat er?« fragte sie.

Peyton entging der besorgte Unterton in ihrer Stimme kei-neswegs. Aber sie schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube, er ist müde. Das alles war zuviel für ihn. Er ist solche Aufregungen ja gar nicht gewöhnt.« Sie schwieg eine genau bemessene Weile und fügte dann in fragendem Ton hinzu: »Vielleicht sollte ich ihn nach Hause bringen, ehe er so aufgedreht ist, daß er am Ende die halbe Nacht nicht schläft.«

»Ja, vielleicht.« Claire machte eine Bewegung, um Peyton den Jungen zurückzugeben, tat es aber dann doch nicht. »Er ist ziemlich unruhig in letzter Zeit«, sagte sie. »Das gefällt mir nicht.«

»Er hat auch viel Neues erlebt«, antwortete Peyton. »Die Unruhe im Haus, die Bauarbeiter, die Maschinen und Ihre eigene Nervosität … Kinder spüren so etwas, wissen Sie?«

Claire fuhr ganz leicht zusammen, denn Peytons Worte hatten ihr den Vorfall von gestern wieder ins Gedächtnis gerufen – und das sollten sie auch –, aber sie sagte nichts darauf, sondern drehte sich halb herum und sah zu Emma, die Marlene wieder in Beschlag genommen hatte und heftig gestikulierend auf die gegnerische Mannschaft deutete, die mit hängenden Köpfen

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beisammen stand. »Sie mag Marlene und ihren Mann wirklich sehr«, sagte

Peyton. »Ja«, antwortete Claire. »Marlene und sie sind ein Herz und

eine Seele, solange ich mich erinnern kann.« »Sie hat keine eigenen Kinder?« »Marlene?« Claire schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte

keine, und ich glaube, das ist auch gut so. In einem Leben, wie Marty und sie es führen, ist kein Platz für Kinder.«

»Das klingt nicht sehr schön«, sagte Peyton. »Das ist es auch nicht, aber es ist die Wahrheit«, antwortete

Claire. »Marlene gehört zu den Menschen, die das, was sie tun, hundertprozentig tun. Sie mußte sich zwischen ihrer Karriere und einer Familie entscheiden, und sie hat sich entschieden. Ich glaube, es war richtig.«

»Wieso?« »Oh, es ist nicht so, wie es sich vielleicht anhört« sagte

Claire. »Ich bin sicher, sie wäre eine phantastische Mutter, wenn sie Kinder hätte. Aber sie hätte wahrscheinlich immer das Gefühl, dafür etwas anderes aufgegeben zu haben, was ihr ebenso wichtig gewesen wäre, und ich denke, daß Kinder auch so etwas spüren.«

Peyton sah eine Weile zu, wie Marlene und Emma sich unterhielten. »Wenn man die beiden so sieht, kann man das kaum glauben.«

»Sie liebt Emma wie ein eigenes Kind«, sagte Claire mit einem warmen Lächeln. »Und Emma hat sie auch sehr gern. Marlene war der erste Mensch, den sie angelächelt hat.«

»Ich glaube, Marlene läßt jeden lächeln«, sagte Peyton. »Sie ist so …«

»Bezaubernd?« half Claire aus. »Sehr«, bestätigte Peyton. »Sie ist zweifellos eine von diesen

Frauen.« Claire sah sie an, runzelte die Stirn. »Diesen Frauen?«

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»Sie wissen schon, was ich meine«, antwortete Peyton. »Sie sieht immer gut aus, ist immer gut gelaunt, witzig, schlagfertig … ich bin sicher, daß sie Männer wie ein Magnet anziehen muß.«

»Das stimmt«, antwortete Claire nach kurzem Überlegen. »Seltsam … so habe ich das noch gar nicht gesehen.«

Peyton lächelte.

Claire sah ein wenig besorgt aus, als sie das Schlafzimmer betrat. Die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse standen auf; sie hatte sich nicht mehr die Mühe gemacht, sie zu schließen, und knöpfte die Bluse jetzt weiter auf, während sie sich auf der Bettkante niederließ und in der gleichen Bewegung ihre Slipper von den Füßen streifte. Michael lag bereits im Bett. Es war noch nicht einmal sehr spät, aber der Tag war anstrengend gewesen.

Das Schulfest hatte noch lange bis in den Nachmittag hinein gedauert. Gottlob war morgen Sonntag. Claire freute sich darauf, in aller Ruhe ausschlafen zu können; endlich einmal. Ein weiterer Vorteil, wenn jemand da war, der sich um Joe kümmerte. Obwohl sie erst seit wenigen Tagen bei ihnen war, begann sich Claire zu fragen, wie sie es jemals ohne jemanden wie Peyton geschafft hatte, mit all der Arbeit fertig zu werden, und warum sie sich so lange gesträubt hatte, ein Kindermäd-chen einzustellen.

»Stimmt irgend etwas nicht?« fragte Michael plötzlich. Claire drehte sich zu ihm um und sah, daß er sie aufmerksam anblick-te. Er mußte wohl in ihrem Gesicht gelesen haben.

»Joe«, antwortete Claire. »Es ist nicht schlimm, aber ich … mache mir ein wenig Sorgen um Joe.«

»Was ist mit ihm?« fragte Michael. Er setzte sich auf. »Er will nicht mehr trinken«, sagte Claire. »Jedenfalls nicht

mehr so gut wie bisher. Er nimmt kaum noch die Brust. Wenn

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das so weitergeht, werde ich bald meine Milch verlieren.« Michael runzelte die Stirn. »Wie lange ist das schon so?«

fragte er. »Eine Woche …« Claire überlegte. »Vielleicht zwei. Ich bin

nicht sicher.« »Hast du mit dem Arzt darüber gesprochen?« »Ich habe ihn angerufen«, bestätigte Claire. »Er sagt, es wäre

nicht schlimm, solange er trotzdem zunimmt.« »Und das tut er?« »Ja – obwohl ich es nicht verstehe. Und er ist so … so unru-

hig in letzter Zeit. Früher war er immer sofort still, sobald ich ihn auch nur auf den Arm genommen habe. Jetzt beginnt er manchmal zu weinen, wenn ich ihn hochnehme.« Bei Peyton tat er das nicht. Aber das sprach sie nicht laut aus.

»Ich glaube, das ist ganz normal«, antwortete Michael. »Er wird älter. Du kannst nicht erwarten, daß er immer ein Säug-ling bleibt. Du solltest dir keine Sorgen machen.« Er lächelte, um seine Worte zu bekräftigen, ließ sich wieder zurücksinken und drehte sich auf die Seite.

»Gute Nacht, Schatz.«

Der Laborbericht sah sehr gut aus. Wenn die abschließenden Tests hielten, was die Zahlen und Buchstaben auf dem Papier versprachen, dann standen sie vielleicht schon ganz kurz vor dem entscheidenden Durchbruch, dachte Michael. Und das, was er unter dem Mikroskop gesehen hatte, schien die Ergeb-nisse der Versuchsreihe zu bestätigen.

Michael rückte die Petrischale unter dem Stereomikroskop zurecht, preßte die Augen gegen das Okular und drehte mit spitzen Fingern an der Schärfeeinstellung. Die Bakterienkultur gedieh prächtig. In der Schale vor ihm wimmelte und wuselte es nur so. Dabei hätte es diese Bewegung eigentlich gar nicht geben dürfen. Sie hatten die Kultur Temperaturen ausgesetzt,

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die mindestens die Hälfte des Bakterienstammes hätte umbrin-gen müssen und die Überlebenden so langsam machen wie eine Horde arthritischer Schnecken. Aber der Kälteschock schien den kleinen Biestern hervorragend zu bekommen.

Zweifellos – sie waren auf dem richtigen Weg. Noch ein paar Tests, ein paar kleine Verbesserungen (und die Kleinigkeit von drei Millionen Dollar an öffentlichen Geldern, fügte eine dünne, boshafte Stimme in seinen Gedanken hinzu, die sie nun erst in frühestens sechs Monaten bekommen würden), und die nächste Eiszeit konnte kommen.

Schritte näherten sich, dann tippte ihm jemand sacht auf die Schulter. Michael richtete sich auf und preßte für eine Sekunde die Lider zusammen, damit sich seine Augen wieder umstellen konnten, dann drehte er sich herum. Er sah sich einem jungen, bärtigen Mann mit frühzeitig beginnender Halbglatze und Nickelbrille gegenüber, der den weißen Kittel eines Technikers trug.

»Adam. Was gibt’s?« »Da ist Besuch für dich«, antwortete Adam. »Eine … Peyson

oder –« »Peyton«, half Michael aus. »Peyton ist hier? Hier im La-

bor?« »Sie ist in deinem Büro.« Adam grinste breit. »Du hast einen

verdammt guten Geschmack. Was erzählst du deiner Frau, wer sie ist, wenn sie euch zusammen sehen sollte?«

»Sie ist nur unser Kindermädchen«, antwortete Michael. »Aha.« Adams Grinsen wurde geradezu unverschämt. »Soso

… Wie ist es? Gibst du mir die Adresse der Agentur, die sie euch vermittelt hat?«

Michael ersparte sich die Mühe, darauf zu antworten. Es gab Dinge, über die konnte man mit Adam nicht diskutieren. Er war ein fähiger Mann, wie nahezu alle hier ein echtes As in seinem Beruf, aber das änderte nichts daran, daß er manchmal auch ein unglaublicher Kindskopf sein konnte. Michael ließ ihn

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einfach stehen und ging mit schnellen Schritten in sein Büro, das in einem kleinen gläsernen Verschlag am Ende des Labors untergebracht war. Er war verwirrt und ein wenig besorgt.

Wieso war Peyton hier? Er hatte bisher nicht einmal gewußt, daß sie die Adresse des Labors kannte.

Peyton saß auf einem Stuhl am Schreibtisch und beobachtete das Treiben im Labor durch die Glaswände hindurch mit unverblümter Neugier und offensichtlich großem Interesse. Sie trug ein einfaches, aber sehr geschmackvolles schwarzes Kleid, und irgend etwas an ihrer Frisur war anders; Michael konnte nicht genau sagen, worin der Unterschied bestand, aber es fiel auf. Und ihm fiel auch auf, wie schön Peyton war.

Peyton wandte den Blick in seine Richtung und machte eine Bewegung, um aufzustehen, aber Michael winkte rasch ab.

»Hallo, Peyton«, sagte er, wobei er sich keine Mühe gab, den überraschten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. »Was tun Sie denn hier?« Er bemerkte erst jetzt, daß Peyton nicht allein gekommen war: Joe lag in seinem Kinderwagen in dem Winkel neben der Tür, wo er vor Zugluft geschützt war, wenn jemand hereinkam. Nicht zum ersten Mal fiel Michael auf, wie umsichtig Peyton bei allem war, was sie tat; selbst bei ver-meintlichen Kleinigkeiten.

»Guten Tag, Michael«, sagte Peyton. Sie stand auf und trat neben ihn. Michael beugte sich über den Wagen. Er sah, daß Joe wach war, streckte die Hand aus und hielt ihm den Finger hin, damit er danach greifen konnte. Aber Joe reagierte nicht, sondern sah ihn nur weiter stumm und auf eine sonderbar ernste Art an, und Michael mußte plötzlich an das denken, was Claire ihm am Samstagabend erzählt hatte. Vielleicht stimmte ja wirklich etwas mit ihm nicht. Er verscheuchte den Gedanken und drehte sich zu Peyton um.

»Peyton«, wiederholte er seine Frage, auf die er bisher keine Antwort bekommen hatte. »Was führt Sie hierher? Hat Claire Sie geschickt?«

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»Nein«, antwortete Peyton. »Bitte, entschuldigen Sie, daß ich Sie bei der Arbeit störe. Ich weiß, daß Sie das nicht mögen, aber ich … ich wollte allein mit Ihnen sprechen. Claire hat mich nicht geschickt. Um ehrlich zu sein – sie weiß gar nicht, daß ich hier bin. Ich habe ihr erzählt, daß ich mit Joe in den Park gehe, und ein Taxi genommen.«

Michael war nun vollends verwirrt. »Ich wollte allein mit Ihnen reden«, sagte Peyton noch ein-

mal. »Es ist wichtig.« »Peyton, ich mag so etwas nicht«, sagte Michael gerade

heraus. »Wenn es etwas gibt, was mich oder Claire betrifft, dann –«

»Oh, es ist nicht, wie Sie vielleicht meinen«, unterbrach ihn Peyton. »Ich mache mir Sorgen um Claire, und ich glaube, Sie tun es auch – oder nicht?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Michael. Er deutete auf seinen Schreibtisch. Peyton überzeugte sich mit einem Blick in den Kinderwagen davon, daß Joe noch ruhig war und es wahr-scheinlich auch bleiben würde, ehe sie sich setzte, und Michael nahm ihr gegenüber auf der anderen Seite des Tisches Platz. »Nun?«

»Ich … weiß nicht richtig, wie ich anfangen soll«, sagte Peyton. »Vielleicht … bilde ich mir auch nur etwas ein, aber ich finde, daß Ihre Frau in letzter Zeit …« Sie stockte einen Moment. »Sie macht manchmal einen ziemlich deprimierten Eindruck, finde ich. Vor allem seit der Sache mit Ihrem Antrag.«

»Das stimmt«, sagte Michael. »Um ehrlich zu sein, es war auch ziemlich ärgerlich. Aber ich mache ihr keine Vorwürfe. Es ist schlimm, aber es ist nun einmal passiert, und es nutzt niemandem, wenn wir noch lange herumlamentieren.«

»Trotzdem macht sie sich Vorwürfe«, beharrte Peyton. »Aber das ist es nicht allein.«

»Sondern?« fragte Michael. Er wußte, was Peyton meinte.

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Auch ihm war nicht verborgen geblieben, daß Claire seit ein paar Wochen immer nervöser und fahriger zu werden schien, auch gereizter. Er hatte Claire bisher nicht darauf angespro-chen, schon weil er wußte, wie unwillig sie auf dieses Thema reagieren konnte. Er wunderte sich, daß es selbst Peyton aufgefallen war.

»Ist irgend etwas passiert, wovon ich nichts weiß?« fragte er. Peyton schüttelte beinahe hastig den Kopf. »Nein«, sagte sie.

»Natürlich nicht. Ich glaube nur, daß … nun ja, daß alles vielleicht ein bißchen zu viel für sie wird. Sie mutet sich einfach zu viel zu, wissen Sie?«

Michael nickte. »Claire hat nicht viele Fehler, aber das ist einer ihrer größten«, gestand er. »Sie scheint zu glauben, daß sie über unerschöpfliche Kraftreserven verfügt. Aber begehen Sie nicht den Fehler, Sie darauf anzusprechen. Das gehört nämlich zu den wenigen Themen, bei denen meine Frau so richtig wütend werden kann.«

Peyton lachte. Es war ein sehr sonderbares Lachen, das eigentlich nicht richtig fröhlich klang. Irgendwie machte sie ihn nervös; auf eine Art, die ihm fast Angst einflößte. Viel-leicht lag es am Licht oder an der Art, auf die sie sich gekleidet hatte oder ihr Haar trug – aber das Gefühl, das er vorhin schon einmal gehabt hatte, war wieder da, viel stärker noch. Er sah Peyton plötzlich als Frau, nicht mehr als das, was sie bisher für ihn gewesen war. Und irgend etwas an ihrem Lächeln schien … seinen geheimsten Wünschen zu antworten?

Unsinn. »Ich weiß, was Sie meinen«, fuhr er mit deutlich veränderter

Stimme fort und ohne sie anzusehen. »Das ist der Grund, warum wir erst Solomon und dann Sie eingestellt haben. Claire kann nicht aus ihrer Haut. Aber ich denke, es wird sich schon alles einlenken. Solomon erledigt die Arbeiten am Haus, und Sie kümmern sich um Joe … früher oder später wird sie schon von selbst zur Ruhe kommen.«

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»Sicher«, antwortete Peyton. »Aber ich hatte da eine Idee, wissen Sie?«

»So?« »Claire hat doch bald Geburtstag«, sagte Peyton. »Wie wäre

es, wenn wir eine Überraschungsparty für sie veranstalten? Sie könnten all ihre Freunde einladen, ohne ihr etwas zu sagen …«

»He!« sagte Michael. »Das ist eine hervorragende Idee!« »Bestimmt?« fragte Peyton. Sie klang erfreut, als hätte sie im

Grunde fest damit gerechnet, daß er die Idee schlichtweg ablehnen würde.

»Ganz bestimmt«, sagte Michael. »Wieso bin ich nicht von selbst darauf gekommen?«

»Was glauben Sie – ob Marlene uns dabei helfen würde?« »Helfen?« Michael lachte. »Sie würde uns einen Kopf kürzer

machen, wenn wir sie nicht an den Vorbereitungen beteiligen. Marlene liebt Verschwörungen jeder Art.«

»Wenn es so ist, dann sollten wir ihr vielleicht besser nicht sagen, daß das Ganze meine Idee war«, sagte Peyton. »Sonst denkt sie am Ende noch, ich wollte ihr die Freundin abspenstig machen.«

»Sie kennen Marlene ja schon ganz gut«, antwortete Michael lachend. Aber etwas an diesem Lachen war falsch. Etwas an dieser Situation war falsch, dachte er. Trotzdem gelang es ihm nicht mehr, seinen Blick von dem Peytons zu lösen. Sie hatte aufgehört zu lachen, aber ihre Augen lächelten weiter, und es war etwas Verlockendes darin, dem er sich nicht entziehen konnte – und es auch gar nicht wollte. Peyton war nicht das, wofür er sie bisher gehalten hatte. Sie war es nie gewesen.

Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfeldes ließ ihn aufblicken. Adam stand auf der anderen Seite der Glasscheibe, die sein Büro vom Rest des Labors trennte, und sah zu ihnen herein, und der Ausdruck auf seinem Gesicht schockierte Michael regelrecht. Mit einem Male wußte er, wie er Peyton angeblickt hatte.

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»Peyton, ich glaube, ich –« »Es wird Zeit, daß wir gehen«, fiel ihm Peyton ins Wort. »Ich

bin schon viel zu lange hier. Ich möchte nicht, daß Claire mißtrauisch wird und Fragen stellt. Schließlich möchte ich sie nicht belügen.« Sie stand beinahe hastig auf, und auch Michael erhob sich und trat noch einmal an den Kinderwagen heran, um sich von Joe zu verabschieden. Sein Sohn hatte die Gelegenheit genutzt, um einzuschlafen. Michael strich zärtlich mit der Hand über seine Wange und richtete sich wieder auf.

Als er sich herumdrehte, stand Peyton hinter ihm. Sie war ihm ganz nahe; so nahe, daß sie den Kopf in den

Nacken legen mußte, um ihm ins Gesicht zu blicken. Aber Michael konnte sich nicht rühren. Er war wie gelähmt. Ihre unmittelbare Nähe schien ihn zu paralysieren, und aus seiner Furcht wurde … etwas anderes. Michael wußte, was es war, und der Ausdruck in Peytons Augen machte ihm klar, daß sie es ebenso wußte, aber er war einfach unfähig, das Gefühl dahin zurückzuscheuchen, woher es gekommen war. Eine Sekunde lang standen sie einfach da, ihre Blicke ineinander versunken, und dann hob Peyton die Hand, und Michael war völlig sicher, daß sie nach seinem Gesicht greifen würde, um es zu sich herabzuziehen und ihn zu küssen. Er wollte es nicht, um nichts in der Welt, und zugleich gab es in diesem Moment nichts, was er sich mehr gewünscht hätte. Seine Augen weiteten sich. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann, und seine Hände wollten nach ihr greifen und sie an sich ziehen, um …

Peyton zog die Hand wieder zurück, und Michael sah, daß sie eine kleine, weiße Feder zwischen den Fingern hielt, die sie offensichtlich von seiner Schulter genommen hatte.

»Was ist das?« fragte sie in scherzhaftem Ton. »Haben Sie Hühner gerupft?«

Michael lachte. Es klang nervös und nicht echt. »Nicht in den letzten Tagen«, antwortete er, während er sich mit einer fahrigen Bewegung über die Schultern seines weißen Kittels

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strich. »Jetzt sollte ich aber wirklich gehen«, sagte Peyton. Sie zog

den Kinderwagen zurück, wartete, bis Michael ihr die Tür geöffnet hatte, und verließ das Büro.

Michael sah ihr nach, bis sie das Labor durchquert und ver-lassen hatte. Er kam sich wie ein Idiot vor.

Solomon betrachtete sein Werk mit unverhohlenem Stolz. Während der letzten Tage war so viel zu tun gewesen, daß er kaum dazu gekommen war, daran weiterzuarbeiten. Michael, Claire und er hatten sich zwar redliche Mühe gegeben, alles für die Ankunft des Gewächshaus-Skeletts vorzubereiten, aber natürlich war auf dem Grundstück ein heilloses Chaos ausge-brochen. Den ganzen Morgen über hatten ungefähr drei Dutzend Handwerker versucht, gleichzeitig auf einem Platz zu arbeiten, der höchstens Raum für ein Drittel von ihnen geboten hätte: Lastwagen waren gekommen und wieder gefahren, ein Betonmischer hatte mit seinen Zwillingsreifen den Rasen vor der Garage endgültig ruiniert, und schließlich hatte ein kleiner Kran das Metallgerüst des Gewächshauses angeliefert.

Am Ende hatte Claire – nachdem sie die letzte Quittung unterschrieben, den letzten Scheck ausgestellt und den letzten Handwerker nach Hause geschickt hatte – schlichtweg die Flucht ergriffen und sich in den Wagen gesetzt, um Emma von der Schule abzuholen. Normalerweise tat sie das nie, und das war auch nicht nötig; der Schulbus hielt nur wenige Schritte vom Haus entfernt, und es war um diese Tageszeit eine Tortur, mit dem Wagen in die Stadt zu fahren. Aber Solomon hatte verstanden, daß sie einfach wegmußte, um wenigstens für kurze Zeit zu Atem zu kommen und neue Kraft zu schöpfen.

Er selbst hatte die Zeit genutzt, am Sommerhaus der Familie Martin weiter zu arbeiten, wie er es Emma versprochen hatte. Nach all der Aufregung und dem Durcheinander der letzten

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Tage war ihm die Arbeit überraschend gut von der Hand gegangen, und jetzt war er fertig: das Haus war frisch gestri-chen, aufgestellt und sicher einzementiert, und Solomon hatte eine Farbe genommen, die sowohl unschädlich für seine Bewohner, als auch absolut wetterfest war. Er war stolz darauf, es in der kurzen Zeit geschafft zu haben, und er freute sich besonders, fertig geworden zu sein, bevor Claire und Emma nach Hause kamen. Emma würde sich freuen, das Vogelhaus wieder an seinem angestammten Platz zu sehen.

Solomon dachte mit einem Gefühl an Emma, mit dem er vielleicht an eine kleine Schwester gedacht hätte, hätte er Geschwister gehabt. Er mochte sie sehr. Er mochte auch Claire, Michael und den kleinen Joe sehr, aber Emma mochte er am meisten. Sie lachen zu sehen war die größte Belohnung, die es für ihn gab.

Solomon maß sein Werk mit einem letzten, prüfenden Blick, entdeckte eine Stelle, an der die Farbe nicht ganz gleichmäßig verlaufen war, und korrigierte den Fehler mit dem Pinsel, den er noch in der Hand trug.

Solomon wußte, daß er sich beeilen mußte. Claire hatte ihn gebeten, das Fenster in Joes Zimmer zu Ende zu streichen, und er haßte es, wenn sie ihn zweimal um etwas bitten mußte. Aber die Arbeit war schnell getan. Es war das letzte Fenster auf der Rückseite, und danach konnte er sich endlich daran machen, die Fassade neu zu streichen. Solomon sah dieser Arbeit mit gemischten Gefühlen entgegen – sie würde nicht sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, und sie war auch nicht sonderlich schwer, aber es war das letzte, was noch am Haus zu tun blieb. Während der letzten sechs Monate hatte Solomon zahllose Eimer Farbe und ungezählte Nägel, Holzschindeln und andere Materialien verarbeitet, um aus dem Haus wieder das Schmuckstück zu machen, das es sein sollte.

Michael und Claire hatten ihm zwar versprochen, daß sie auch danach noch genug für ihn zu tun haben würden, so daß

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er wenigstens noch für eine Weile bleiben konnte, aber Solomon hatte das Gefühl, daß sie das nur sagten, um ihm einen Gefallen zu erweisen. Er war gern hier. Er hatte sich niemals irgendwo so wohl gefühlt wie hier, und es lag nicht nur daran, daß ihm die Arbeit Spaß machte und er gut bezahlt wurde; für seine Verhältnisse sogar außergewöhnlich gut. Der eigentliche Grund waren Claire und ihre Familie. Sie waren so fröhlich. Trotz allen Ernstes, mit dem sie ihr Leben angingen und meisterten, immer so gut aufgelegt und guter Laune. Claire, Michael und die beiden Kinder waren nichts anderes als die Familie, die er nie gehabt hatte. Wenn er von hier wegmuß-te, dann würde es so sein, als würde er ein Stück seines Lebens verlieren.

Aber noch war es nicht soweit, und Solomon sah wenig Sinn darin, Trübsal zu blasen und sich die Tage oder auch Wochen, die er noch bleiben konnte, auf diese Weise selbst zu verder-ben. Trotz allem zufrieden mit sich und der Welt, ging Solo-mon in die Garage, um die Leiter und den Farbeimer zu holen.

Nachdem Peyton den Hinterausgang verriegelt hatte, ging sie zur Vordertür, warf einen sichernden Blick durch das schmale Fenster daneben und schloß auch sie ab. Sie wußte, daß Claire frühestens in einer halben Stunde zurück sein konnte, selbst wenn sie Glück hatte und nicht im Verkehr steckenblieb, und der Schwachsinnige war irgendwo draußen damit beschäftigt, das Vogelhaus anzumalen. Und trotzdem – es war besser, wenn sie auf Nummer Sicher ging. Der Zwischenfall auf dem Schulfest hatte sie nicht nur zu Tode erschreckt, sondern ihr auch auf drastische Weise klargemacht, daß sie trotz allem noch nicht vorsichtig genug war. Sie durfte jetzt nichts mehr riskieren.

Sie ging in die Küche, holte das Babyphon und stellte es auf das Schränkchen neben der Haustür. Sie hatte das Gerät

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umgeschaltet, so daß es nunmehr als Sender, nicht mehr als Empfänger arbeitete, und sie würde das gleiche mit seinem Gegenstück oben in Joes Zimmer tun, um auf alle Eventualitä-ten vorbereitet zu sein; sollte wider Erwarten jemand das Haus betreten, während sie oben war, so würde sie es hören und Zeit genug haben.

Peyton ging die Treppe hinauf, betrat Joes Zimmer und schloß auch dessen Tür sorgsam hinter sich ab. Das Windspiel über Joes Wiege klimperte leise, und sie konnte hören, wie sich das Baby in seinem Kissen bewegte. Ein zärtliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, ohne daß sie selbst es auch nur merkte. So wie sie die wahre Natur dieses Kindes erkannt hatte, so hatte auch Joe in letzter Zeit angefangen, seine wirkliche Mutter zu erkennen. Er spürte ihre Nähe jetzt immer deutlicher und wachte meist auf, noch bevor sie ihn hochnahm. Und im gleichen Maße, in dem er unwilliger und abweisender wurde, sobald Claire in der Nähe war, begann er ruhiger zu werden, wenn Peyton ihn nahm. Claire hatte nicht übertrieben, als sie ihr damals erzählte, er wäre eines der bequemsten und ruhigsten Babys, das sie jemals gesehen hatte – Joe weinte beinahe nie, und sie konnte die große Ruhe und Zufriedenheit spüren, die er während ihrer Anwesenheit ausstrahlte.

»Hallo, kleiner Schatz«, sagte sie, während sie Joe aus der Wiege nahm. Er blinzelte verschlafen und bewegte träge Arme und Beine, wie um ihr zu antworten, und als Peyton ihn zu dem Schaukelstuhl am Fenster trug, begann er zu lächeln. Er mußte ein sehr glückliches Kind sein, dachte Peyton, so, wie sie eine sehr glückliche Mutter war; vielleicht waren sie beide auf ihre Weise die glücklichsten Wesen auf der Welt, denn schließlich hatten sie beide geglaubt, einander für immer verloren zu haben. Peyton setzte sich, verlagerte Joes Gewicht auf den linken Arm und begann mit der freien Hand, ihre Bluse aufzuknöpfen. Joe wurde unruhig. Dies war zwar eigentlich nicht seine Zeit, aber er schien trotzdem hungrig zu sein.

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Peyton strich ihm mit einer flüchtigen Geste das Haar glatt, während sie ihn an die Brust legte. Joe hatte erstaunlich dichtes, volles Haar für ein Kind seines Alters, hatte aber sonderbarerweise weder ihre noch Victors blonde Haarfarbe gehabt, sondern im Gegenteil einen dunklen, fast schwarzen Schöpf.

Während Peyton den Schaukelstuhl in gleichmäßigem Rhythmus vor- und zurückbewegte, begann Joe zufrieden zu trinken, und sie spürte, wie sie mit jedem winzigen Tröpfchen Milch, das aus ihrer Brust in seinen Mund floß, auch ein winziges bißchen ihrer Liebe gab. Am Anfang hatte sie sich Sorgen gemacht, daß Claires Einfluß auf ihn schon zu stark war; immerhin hatte sie ihn drei Monate gehabt. Aber sie wußte längst, daß das nicht stimmte. Ihre Sorgen waren überflüssig gewesen. Drei Monate oder drei Jahre, es spielte keine Rolle.

Die Natur ließ sich nicht betrügen. Joe hatte seine wirkliche Mutter ebenso sicher erkannt, wie sie ihr Kind wiederentdeckt hatte. Und bald, dachte sie, würde sie mit dem Versteckspielen aufhören und aller Welt zeigen können, wem dieses Kind wirklich gehörte.

Etwas klapperte von außen gegen die Fensterscheibe, und Peyton fuhr so heftig zusammen, daß Joe sich verschluckte und erschrocken zu weinen begann. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie einen Schatten zu sehen, der sich hastig von der Fensterscheibe zurückzog.

Peyton stemmte sich umständlich aus dem Schaukelstuhl in die Höhe, trat ans Fenster und blickte hinaus.

Nichts. Natürlich nichts, dachte sie. Schließlich war sie hier im ersten Stock, wer also sollte –

Neben dem Fenster lehnte eine Leiter an der Wand. Sie befand sich gerade noch am Rande von Peytons Gesichtsfeld, und wahrscheinlich hätte sie sie nicht einmal bemerkt, wenn sie sich nicht bewegt hätte. Sie zitterte. Jemand war dabei, sie in

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aller Hast hinunterzuklettern. Peyton beugte sich vor, so weit es ging, preßte das Gesicht

gegen das Glas und sah eine breitschultrige Gestalt in einem fleckigen grünen Arbeitsoverall um die Hausecke verschwin-den. Der Schwachsinnige.

Verdammt! Dieser Idiot mußte alles gesehen haben! Diesmal geriet Peyton nicht in Panik, aber sie wurde für einen

Moment so wütend, daß sie kaum mehr klar denken konnte; und diese Wut galt keineswegs Solomon allein, sondern auch – und vielleicht sogar zum allergrößten Teil – ihr selbst.

Sie hatte schon wieder einen Fehler gemacht. Verdammt, was war nur mit ihr los? Claire hatte ihr sogar gesagt, daß Solomon die Fenster im ersten Stock streichen würde! Sie hatte es einfach vergessen.

Sie legte Joe ins Bett und ignorierte sein unwilliges Weinen. Schnell stürmte sie die Treppe hinunter und durch das Wohn-zimmer.

Aber sie war trotz allem nicht schnell genug. Claires Wagen bog in die Auffahrt ein, als sie die Haustür öffnete. Und noch bevor sie ganz aus dem Haus getreten war, kam Solomon aus der Garage und ging ihm entgegen.

Es war wie ein kalter Wasserguß. Für eine Sekunde – tatsäch-lich nur für eine einzige Sekunde, aber sie schien endlos zu dauern – war sie felsenfest davon überzeugt, daß es nun vorbei war. Solomon würde Claire erzählen, was er eben gesehen hatte, und Claire würde endlich zwei und zwei zusammenzäh-len und begreifen, was wirklich los war. Peytons Meinung nach war Claire ziemlich dumm – oder zumindest ziemlich vertrau-ensselig, was auf dasselbe hinauslief –, aber so dumm war sie nun auch wieder nicht. Und selbst wenn sie Solomon nicht auf Anhieb glaubte oder es ihr, Peyton, gelang, sich noch einmal irgendwie herauszureden, würde –

Schluß! Sie durfte sich nicht erlauben, so zu denken. Wenn sie erst

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einmal anfing, sich vorzustellen, daß sie verlieren konnte, dann war es nur noch ein kleiner Schritt, bis es wirklich geschah. Noch hatte Solomon nichts gesagt.

Sie verließ das Haus und warf die Tür absichtlich so laut hinter sich ins Schloß, daß sowohl Claire als auch der Schwachsinnige sich zu ihr umwandten. Claire blickte sie nur fragend an, doch auf Solomons breitem Gesicht erschien ein Schrecken, der nahe an Panik grenzte. Gut. Panische Menschen begingen Fehler – falls man diesen gehirnlosen Fleischberg überhaupt als Menschen bezeichnen konnte, dachte Peyton.

Vielleicht wäre sie trotzdem zu spät gekommen. Sie hatte wenig Erfahrung im Umgang mit Menschen wie Solomon, aber sie sah etwas in seinem Blick, das ihr ganz und gar nicht gefiel; eine wilde Entschlossenheit und eine Art trotzigen Mut, die sie diesem tumben Idioten gar nicht zugetraut hätte. Ihre Gedan-ken überschlugen sich. Sie wußte nicht, ob Claire ihr die Behauptung abnehmen würde, daß Solomon versucht hätte, sie zu vergewaltigen, aber schlimmstenfalls würde sie selbst das behaupten.

Doch Peyton mußte nicht zu diesem letzten Mittel greifen. Es war Emma, die ihr – ungewollt und ohne es zu wissen – zu Hilfe kam. Sie war auf der anderen Seite aus dem Wagen gestiegen und rannte jetzt aufgeregt auf Solomon zu. In den Händen hielt sie einen formlosen Klumpen aus Pappmache.

»Solomon! Solomon!« rief sie. »Schau, was ich gemacht habe!«

Solomon schien Peyton und das, was er gesehen hatte, auf der Stelle zu vergessen, drehte sich zu Emma um und ging in die Hocke, um ihr Werk zu begutachten.

»Wie schön«, sagte er. Mit einem schüchternen Lächeln fügte er hinzu: »Was ist es?«

»Ein Vogel. Sieht man das denn nicht?« fragte Emma. Solomon nickte heftig. »Doch, sicher. Das ist … sehr schön.

Ein richtiges kleines Kunstwerk.«

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Peyton kam langsam näher. Es kostete sie all ihre Kraft, sich weder von ihren wahren Gefühlen noch von ihrer Nervosität etwas anmerken zu lassen. Aber wahrscheinlich hatte zumin-dest Claire es gar nicht bemerkt. Sie blickte mit einem nur noch halb unterdrückten Lächeln auf Emma und Solomon herab, aber sie sah sehr erschöpft aus.

»Hallo, Peyton«, sagte sie. »Alles in Ordnung mit Joe?« Die Frage war beinahe nur rhetorisch; Claire stellte sie im-

mer, wenn sie auch nur für zwei Minuten das Haus verlassen hatte, und bisher hatte Peyton immer auf die gleiche Weise darauf geantwortet.

»Ja. Das heißt …« Claire drehte sich ganz zu ihr herum und zog fragend die

Augenbraue hoch. »Stimmt etwas nicht?« »Er ist nur … ein bißchen unruhig. Aus irgendeinem Grund

will er nicht schlafen«, antwortete Peyton. »Dann sehe ich besser nach ihm«, sagte Claire. Unter normalen Umständen hätte Peyton dies nicht zugelas-

sen; schließlich war es ihre Aufgabe, sich um Joe zu kümmern, ganz davon abgesehen, daß das Wohlbefinden ihres Sohnes Claire ganz und gar nichts anging. Aber im Moment kam es ihr sehr gelegen, daß Claire ging. Sie nickte nur, wartete, bis Claire außer Hörweite war, und ging dann weiter.

Solomon hockte noch immer vor Emma und sah mit ange-strengtem Gesichtsausdruck auf den zerdrückten Klumpen hinab, den sie in den Händen hielt. »Und das da«, fragte er, »ist das der Schwanz oder der Fuß?«

»Aber das sind doch die Federn«, antwortete Emma und lachte.

Solomon nickte. »Selbstverständlich. Wie dumm von mir, das sieht man doch gleich. Das ist wirklich ein richtiges kleines Kunstwerk, Emma.«

Emma strahlte. »Das hat Mrs. Henry auch gesagt«, sagte sie. »Sie hat gesagt, ich soll es noch bunt anmalen und morgen

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wieder mitbringen.« »Warum gehst du dann nicht ins Haus und fängst schon

einmal damit an?« mischte sich Peyton ein. Sie deutete lächelnd in die Richtung, in die Claire verschwunden war, dann auf Solomon. »Geh schon vor, Emma. Ich habe etwas mit Solomon zu bereden.«

Das Lächeln auf Solomons Gesicht erstarrte zu einer Grimas-se. Seine Augen füllten sich mit Furcht, und Peyton konnte sehen, wie seine Hände zu zittern begannen. Er wollte aufste-hen, aber es war, als fehle ihm selbst für diese kleine Bewe-gung plötzlich die Kraft.

»Hilfst du mir dabei?« fragte Emma. »Sobald ich hier fertig bin. Es dauert nicht lange.« Endlich wandte Emma sich um und ging, aber Peyton blieb

noch einige Sekunden lang reglos stehen und starrte auf Solomon hinab, der sich unter ihren Blicken wand wie ein Regenwurm, auf den sich der Fuß eines Riesen herabsenkte. Seine Lippen begannen zu zittern, brachten aber keinen Ton hervor, und irgendwie schien er die Kontrolle über sein Gesicht verloren zu haben; für einen ganz kurzen Moment sah er wirklich aus wie der schwachsinnige Idiot, der er war, dachte Peyton verächtlich.

Sie machte eine befehlende Geste, aufzustehen, und deutete dann auf die Garage. Wie sie erwartet hatte, gehorchte Solo-mon. Er erhob sich, drehte sich herum und lief mit eingezoge-nem Kopf vor ihr her.

Peyton wartete, bis sie auf der Rückseite der Garage ange-kommen und vom Haus aus nicht mehr zu sehen waren, dann machte sie eine befehlende Bewegung, anzuhalten, und maß Solomon mit einem neuen, abschätzenden Blick von Kopf bis Fuß.

»Nun, Solomon?« begann sie. »Hat dich das erregt, was du gesehen hast?«

Solomon begann nervös mit den Händen zu ringen. Er ver-

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suchte, ihrem Blick auszuweichen, aber sie ließ es nicht zu. »Warum antwortest du nicht?« fragte sie. »Hat es dich erregt?

Hat es dich angemacht?« Sie lächelte. Ihre Hände strichen über ihre Bluse, und Solomons Blicke folgten der Bewegung. Seine Augen wurden größer, und sie konnte sehen, wie sich jeder Muskel in seinem Körper zu verkrampfen schien.

»Gefallen dir meine Brüste?« fragte sie. »Willst du sie anfas-sen?«

»Nnnn … nein«, stammelte Solomon. »Bitte …« Er sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen,

und wahrscheinlich war es auch so. »Ich warne dich, du Idiot«, sagte sie leise, aber in so drohen-

dem Tonfall, daß Solomon in sich zusammenschrumpfte. »Erzähl bloß keinen Blödsinn.«

Solomons Hände ballten sich zu Fäusten. Zum allerersten Mal kam Peyton richtig zu Bewußtsein, was für ein Riese Solomon war und wie stark er sein mußte. Trotzdem hatte sie keine Angst vor ihm.

»Haben wir uns verstanden?« fragte sie. Solomon wand sich wie unter Schmerzen. »Sie … sie sind

meine Freunde«, stammelte er. »Sie dürfen ihnen nichts tun.« »Ich werde dir etwas tun, wenn du den Mund aufmachst, du

schwachsinniger Idiot«, sagte Peyton ruhig. »Und meine Version wird etwas anders klingen, weißt du?«

»Aber ich habe doch nur –« »Was glaubst du, wem sie glauben werden?« fragte Peyton. Solomon antwortete nicht mehr. Seine Augen füllten sich mit

Tränen, und er begann am ganzen Leib zu zittern. Peyton wußte, daß sie gewonnen hatte.

»Und jetzt verschwinde«, sagte sie. »Ich will dich heute nicht mehr in der Nähe des Hauses sehen.«

Mit einem Ruck drehte sie sich herum und ging. Solomon blieb allein zurück, zitternd, halb verrückt vor Angst und Verwirrung und nur noch mit letzter Kraft gegen die Tränen

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ankämpfend. Er hatte Angst. Angst, wie niemals zuvor im Leben. Und trotzdem: Claire und Michael waren seine Freun-de. Er würde nicht zulassen, daß ihnen irgend jemand etwas tat. Und wenn es sein eigenes Leben kosten sollte.

Claire stand am Küchenfenster und blickte hinaus. Das glaslose Skelett des Gewächshauses, das ein gutes Drittel ihres Gartens in Anspruch nahm, war von hier aus in voller Größe zu sehen, und der Anblick hätte Claire eigentlich mit Zufriedenheit und Stolz erfüllen sollen; trotz allem Chaos hatte alles hervorragend geklappt. Das Gerüst stand. Schon morgen würden der Elektri-ker und die beiden Klempner kommen, um Leitungen und Installationen anzuschließen, und die Scheiben standen schon seit einer guten Woche fertig geschnitten und auf Abruf beim Glaser. Mit ein bißchen Glück – und sehr viel Arbeit – war das Gewächshaus in einer Woche fertig.

Sie hatte allen Grund zur Freude. Aber im Moment war sie einfach nur erschöpft. Sie hätte viel darum gegeben, sich jetzt einfach ins Bett zu legen und zwei oder drei Stunden zu schlafen. Sie hätte es auch gekonnt – nachdem sich die Aufre-gung endgültig gelegt hatte, war im Haus eine Ruhe eingetre-ten, die ihr nach all der Hektik und dem Durcheinander der letzten Tage beinahe schon unnatürlich vorkam. Der Grund, aus dem sie es nicht tat, war Michael.

Der einzige angenehme Effekt, den das Verschwinden seines Antrages gehabt hatte, war, daß er nicht mehr bis in die Nacht hinein arbeitete. Zum ersten Mal seit Monaten war er pünktlich nach Hause gekommen. Sie wollte nicht, daß er sah, wie erschöpft sie wirklich war. Michael würde ihr keine Vorhal-tungen machen, aber allein der Gedanke an seine vorwurfsvol-len Blicke und den Ich-hab’-es-dir-ja-gleich-gesagt-Ausdruck in seinen Augen hielt sie davon ab. Außerdem mußte sie noch einen dringenden Anruf erledigen.

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Sie ging ins Wohnzimmer, schlug ihr Adreßbuch auf und suchte die Nummer des Glasers heraus, bei dem sie die Scheiben bestellt hatte. Sicher hatte der Mann bereits Feier-abend gemacht, doch Claire wußte, daß er einen Anrufbeant-worter besaß, auf dem sie ihm eine Nachricht hinterlassen konnte.

Sie nahm ab, streckte die Hand nach den Tasten aus und bemerkte erst dann, daß statt des erwarteten Freizeichens Michaels Stimme aus dem Hörer drang. Offensichtlich telefo-nierte er vom Apparat oben im Schlafzimmer aus.

Ganz automatisch wollte sie wieder einhängen; es war nicht ihre Art, zu lauschen, und wenn es etwas Wichtiges war, würde Michael es ihr gleich erzählen. Aber dann hörte sie eine andere Stimme, und obwohl sie den Hörer schon wieder fast auf die Gabel gelegt hatte, erkannte sie sie. Es war Marlene.

Überrascht – und aus einem Grund, der ihr im ersten Moment selbst schleierhaft war, auch ein wenig beunruhigt – hob sie den Hörer wieder und deckte dabei ganz automatisch das Mikrophon mit der freien Hand ab.

»Also, dann bis übermorgen«, sagte Michael in diesem Moment.

»Um vier, in dem kleinen Restaurant an der Ecke«, bestätigte Marlene. Sie lachte. »Glaubst du, daß du dich wegschleichen kannst, ohne daß Claire es merkt?«

»Sie ist daran gewöhnt, daß ich oft lange arbeite«, antwortete Michael.

Michael hängte ein, und nach einigen Sekunden legte auch Claire den Hörer behutsam auf die Gabel zurück. Sie war verwirrt. Sie begriff nicht, was sie gerade gehört hatte. Es ergab keinen Sinn, und wenn doch, so einen, den sie nicht begreifen wollte.

Sie hörte die Schlafzimmertür, stand auf und trat in die Diele hinaus, als Michael gerade die Treppe hinunterkam.

»Hallo, Schatz!« sagte er fröhlich. Er blinzelte ihr zu. »Alles

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bereit?« »Bereit?« Claire verstand nicht. »Solomon«, antwortete Michael. »Oh, das meinst du.« Claire nickte. Für einen Augenblick

hatte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Ihre Gedan-ken bewegten sich zäh wie klebriger Sirup. »Ja, sicher«, sagte sie stockend.

Michael machte noch zwei Schritte und blieb dann stehen. Er sah sie ein wenig alarmiert an. »Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte er.

»Natürlich«, versicherte ihm Claire. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Was soll nicht in Ordnung sein?«

Michael zuckte die Achseln, wandte sich um und ging weiter. »Dann hol bitte Emma und komm mit ihr hinter die Garage«, sagte er.

»Michael?« sagte Claire. Michael blieb stehen und sah sie an, ohne sich ganz herumzudrehen.

»Ja?« »Mit wem hast du telefoniert?« fragte Claire. »Telefoniert?« Michael runzelte die Stirn, als könne er sich

gar nicht daran erinnern, überhaupt telefoniert zu haben. Dann machte er eine wegwerfende Geste. »Ach, das. Das war Adam aus dem Labor. Irgendeine dumme Kleinigkeit. Manchmal habe ich das Gefühl, dort läuft überhaupt nichts, wenn ich nicht da bin.«

Er ging weiter und verließ das Haus. Claire starrte die ge-schlossene Tür hinter ihm an. Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Und ihr war sehr kalt.

Solomon hatte die Nähe des Hauses so gut es ging gemieden, wie Peyton befohlen hatte. Den ganzen Tag über hatte er mit sich gerungen, aber nicht den Mut aufgebracht, einfach hineinzugehen und mit Claire zu reden. Er hatte Angst, ihr zu

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sagen, was er gesehen hatte. Sein Verstand und sein Herz sagten ihm, daß Claire ihm

glauben würde, denn sie waren Freunde, und Freunde belogen sich nicht. Aber seine Erfahrung sagte ihm, daß es genau andersherum war. Peyton war eine böse Frau. Sie war grausam, und ihr Lächeln und ihr sanftmütiges Gesicht hatten Solomon von Anfang an nicht täuschen können. Aber sie gehörte auch zu jenen Menschen, denen man glaubte, während er zu denen gehörte, denen nicht immer geglaubt wurde, obwohl er niemals log.

Vor einer Stunde war Michael nach Hause gekommen, und beinahe hätte Solomon den Mut aufgebracht, zu ihm zu gehen und ihm alles zu erzählen; das, was er durchs Fenster gesehen hatte, und vor allem das, was Peyton ihm hinterher gesagt hatte. Vielleicht hätte er es sogar getan, aber Michael war sofort aus dem Wagen gestiegen und ins Haus gegangen, und Solomon hatte es nicht gewagt, ihm dorthin zu folgen.

Er öffnete seinen Anhänger und begann mit großem Ge-schick, sein Werkzeug hineinzusortieren. Es war spät. Er war fast eine Stunde länger als normal geblieben, um die Zeit wieder aufzuholen, die er dabei verloren hatte, das Vogelhaus aufzubauen, und er mußte sich ein wenig sputen, um vor Dunkelwerden nach Hause zu kommen. Es gab in dem Heim, in dem er wohnte, keine festen Regeln, was die Zeiten des Weggehens und Wiederkommens betraf, aber Solomon haßte es, im Dunkeln mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Das Rad war alt, aber trotzdem in gutem Zustand. Das Licht funktionier-te, und er hatte sogar eine kleine, batteriebetriebene Lampe an seinem Anhänger angebracht, doch er war schon mehr als einmal fast angefahren worden, als er nach Einbruch der Dunkelheit mit dem Rad unterwegs gewesen war. Er würde heute nicht mehr dazu kommen, mit Michael oder Claire zu reden. Aber morgen. Ganz bestimmt morgen. Er nahm sich vor, vielleicht am nächsten Tag etwas früher zu kommen. Mit

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etwas Glück traf er Claire und Michael beim Frühstück an, noch bevor Peyton kam.

Er hörte Schritte hinter sich, richtete sich auf und sah Micha-els Gestalt als scharf umrissene Silhouette vor dem Garagentor.

»Hallo, Solomon«, sagte Michael. »Hast du einen Moment Zeit?«

Ob er Zeit hatte? Solomon hätte Michael am liebsten vor Erleichterung umarmt. Er würde es ihm sagen. Jetzt. »Micha-el!« sagte er. »Ja, sicher. Ich … ich muß mit Ihnen reden.«

»Gleich«, antwortete Michael. »Aber zuerst muß ich dir etwas zeigen. Komm bitte mit.«

»Michael, ich –« begann Solomon, aber Michael hatte sich bereits herumgedreht und die Garage wieder verlassen. Er gestikulierte heftig zu Solomon, ihm zu folgen.

Solomon schritt kräftig aus, um Michael einzuholen. Er wußte nicht, was Michael von ihm wollte – es schien etwas Wichtiges zu sein –, aber das spielte jetzt auch keine Rolle. Er mußt mit ihm über die böse Frau reden. Jetzt. Solomon wußte, daß es nur schwerer wurde, wenn er die Entscheidung weiter hinausschob. Wenn er es heute nicht tat, würde er auch morgen Gründe finden, es wieder nicht zu tun, und ebenso übermorgen und den Tag danach.

Aber Michael gab ihm keine Gelegenheit, ihn anzusprechen, sondern ging so schnell vor ihm her auf die Rückseite der Garage zu, daß Solomon schon hätte rennen müssen, um ihn einzuholen.

Solomon machte einen letzten, weit ausgreifenden Schritt, bog um die Ecke – und blieb wie erstarrt stehen. Seine Augen weiteten sich ungläubig.

Auf der Rückseite der Garage standen Claire, Emma – und ein feuerrotes, auf Hochglanz poliertes Fahrrad, das mit einer gewaltigen rosaroten Schleife verziert war.

»Überraschung!« sagten Michael, Claire und Emma gleich-zeitig.

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Solomon blinzelte. Er war so überrascht, daß er im ersten Moment kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Verblüfft starrte er das Fahrrad mit der riesigen Schleife an – es war ein nagelneues Rad, mit einem hochgebogenen Lenker, einem breiten, bequemen Sattel und einer Zehngangschaltung, wie er mit einem einzigen Blick registrierte –, wandte sich zu Michael um und sah dann wieder abwechselnd Claire, Emma und schließlich erneut das Rad an. Seine Gedanken schlugen Purzelbäume.

Michael seinerseits blickte ihn an, auf eine ganz besondere, erwartungsvolle Art, und als Solomon auch nach einigen Sekunden noch nicht reagierte, trat er an ihm vorbei, nahm das Fahrrad und schob es mit einer Hand zu ihm hin. »Hier, das ist für dich«, sagte er.

»Und weißt du was?« fügte Emma hinzu. »Ich habe es für dich ausgesucht.«

»Es hat eine Gangschaltung«, sagte Claire, »genau, wie du es dir gewünscht hast. Und ein Körbchen hinten.«

»Emma hat sich genau daran erinnert«, fügte Michael hinzu und blinzelte seiner Tochter und Solomon gleichzeitig zu. »Du mußt nur die Kupplung für deinen Anhänger von deinem alten Rad abmontieren und an dieses anbauen. Wir wußten nicht genau, welche wir nehmen sollten. Es gab da verschiedene Modelle, weißt du?«

Solomon nickte abwesend. Er hörte Michaels Worte kaum. Er war fassungslos, und überwältigt vor Unglauben und Freude. Peyton und den häßlichen Vorfall vom Vormittag hatte er völlig vergessen. Niemals zuvor hatte ihm jemand ein solches Geschenk gemacht. Er fühlte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten, aber er schämte sich ihrer nicht und versuchte auch nicht, dagegen anzukämpfen. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme versagte einfach. »Ihr … ihr seid meine Freunde«, brachte er schließlich mühsam hervor.

Emma sprang lachend auf ihn zu und umarmte ihn so heftig,

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daß er beinahe das Rad fallengelassen hätte. Solomon drückte sie fest an sich. Emma lachte, und Claire und Michael betrach-teten die beiden mit einem sehr warmen, sehr freundschaftli-chen Lächeln.

Es war der glücklichste Tag in Solomons Leben.

»Sie hätten sein Gesicht sehen sollen, als Michael ihm das Fahrrad gab«, sagte Claire am nächsten Tag. Sie lachte. »Ich habe es richtig bedauert, keinen Fotoapparat dabeigehabt zu haben, um es aufzunehmen.«

»War er so verblüfft?« fragte Peyton. Claire und sie befanden sich in der Waschküche im Keller und sortierten Wäsche aus dem Trockner in verschiedenfarbige Plastikkörbe; eine monotone Arbeit, für Peyton auch noch eine ungewohnte Arbeit, und ihr waren die leicht amüsierten Blicke keineswegs entgangen, die Claire ihr dann und wann zuwarf. Aber schließ-lich hatte sie mehrmals behauptet, eine perfekte Hausfrau zu sein.

»So glücklich«, antwortete Claire. »Ich habe selten einen Menschen gesehen, der so glücklich ausgesehen hat wie Solomon in diesem Moment.«

»Ja, er ist ein netter Kerl«, bestätigte Peyton. Stirnrunzelnd betrachtete sie zwei gleichfarbige, aber verschieden große Socken, die sie aus dem Trockner herausgenommen hatte und die einfach nicht zueinander passen wollten, bis Claire sie ihr kommentarlos aus der Hand nahm und zielsicher in zwei verschiedene Körbe warf. »Er ist der netteste Kerl, den ich kenne«, antwortete Claire. »Michael und Marty natürlich ausgenommen. Aber ich wüßte gar nicht mehr, was wir ohne ihn machen sollten. Er hat dieses Haus regelrecht verzaubert. Und Emma liebt ihn über alles.«

Bei diesen Worten runzelte Peyton die Stirn. Sie sagte nichts, aber irgend etwas war seltsam an diesem Stirnrunzeln, und

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Claire sah sie eine Sekunde durchdringend an und wartete. Als Peyton keine Anstalten machte, ihr Schweigen zu brechen, wandte sich Claire wieder ihrer Arbeit zu.

Durch das nur angelehnte Fenster drang Emmas Lachen herein. Claire sah für einen Moment von ihrer Arbeit auf und beobachtete ihre Tochter und Solomon, die ausgelassen im Garten herumtollten. Der Rasensprenger lief. Emma und Solomon spielten Nachlaufen, wobei Emma immer wieder so geschickt Haken schlug, daß Solomon unter den Wasserstrahl geriet, wenn er ihr folgen wollte. Wahrscheinlich wäre es ihm ein Leichtes gewesen, dem Wasser auszuweichen, aber er tat Emma den Gefallen, jedesmal erschrocken aufzuschreien und einen komischen Hüpfer zur Seite zu machen, was Emma mit schallendem Gelächter quittierte.

Peyton trat neben sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick aus dem Kellerfenster zu werfen. »Ja, das sieht man«, sagte sie. »Und er sie.«

»Die beiden sind unzertrennlich«, bestätigte Claire. »Ich glaube, es würde Emma das Herz brechen, wenn Solomon nicht mehr da wäre.«

»Claire, mir … ist da etwas aufgefallen«, sagte Peyton. Etwas in ihrer Stimme alarmierte Claire. Sie drehte sich herum und sah Peyton ins Gesicht, aber vielleicht zum ersten Mal, seit sie im Haus war, hielt Peyton ihrem Blick nicht stand, sondern sah nach einer Sekunde nervös weg und drehte sich halb herum.

»Ja?« fragte Claire. »Es … es fällt mir schwer, darüber zu sprechen«, sagte

Peyton stockend. »Worum geht es?« fragte Claire. Peyton druckste einen Moment herum. Sie sah sie nicht an,

sondern blickte auf das Durcheinander aus Kleidungsstücken und Wäsche herab. »Um Solomon«, sagte sie schließlich. »Und Emma.« Das fügte sie sehr viel leiser hinzu.

Claire schüttelte verwirrt den Kopf, sagte aber nichts, sondern

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geduldete sich, bis Peyton nach einer geraumen Weile von selbst weitersprach, sehr leise, stockend, und noch immer, ohne sie anzusehen. Was sie zu sagen hatte, war ihr sichtlich unangenehm.

»Er benimmt sich irgendwie …« Sie suchte für einen Moment nach Worten. »Er benimmt sich irgendwie merkwürdig«, sagte sie schließlich.

»Merkwürdig?« Peyton nickte. »Was meinen Sie mit merkwürdig?« fragte Claire. »Er … er berührt Emma so eigenartig«, sagte Peyton. »Also, ich glaube, das bilden Sie sich nur ein«, sagte Claire

impulsiv. »Die beiden sind ununterbrochen zusammen. Sie spielen wie Kinder. Im Grunde ist Solomon ein Kind, wissen Sie? Er liebt sie wie eine Schwester, aber mehr auch nicht.« Sie hatte selbst das Gefühl, daß sie ein ganz kleines bißchen zu laut und zu schnell sprach. Peytons Worte hatten sie erschreckt, viel mehr, als sie sich eingestehen wollte. Trotzdem: es war purer Unsinn. Sie hatte niemals mit Solomon über dieses Thema geredet, nicht einmal in Andeutungen, aber sie hatte ernsthafte Zweifel, daß dieser gutmütige Riese überhaupt wußte, was Sex war. Solomon hatte ein großes Geschick darin entwickelt, darüber hinwegzutäuschen – aber im Endeffekt war er nicht mehr als ein acht- oder neunjähriges Kind, das sich irgendwie in den Körper eines Riesen verirrt hatte.

»Wahrscheinlich«, sagte Peyton. Sie lächelte nervös, aber es wirkte verunglückt, und obwohl sie Claire jetzt ansah, wich ihr Blick dem ihren noch immer aus. Das Gespräch war ihr überaus peinlich. Claire sah ihr an, daß es ihr bereits leid tat, überhaupt davon angefangen zu haben. »Solomon würde so etwas auf keinen Fall tun«, fuhr sie fort. »Abgesehen davon würde Emma Ihnen doch bestimmt davon erzählen.«

»Bestimmt«, sagte Claire. Sie war nervös. Was Peyton da andeutete, war so absurd, daß sie sich noch immer weigerte,

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auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Aber die Worte waren einmal ausgesprochen, und ob Unsinn oder nicht, sie hatten etwas in ihr in Bewegung gesetzt.

»Bitte, entschuldigen Sie, daß ich überhaupt davon angefan-gen habe«, sagte Peyton. »Ich … ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Und ich wollte Sie nicht beunruhigen. Und ich wolle auch nicht, daß Sie –«

»Schon gut«, unterbrach Claire sie. Sie versuchte zu lächeln, spürte selbst, daß es ihr nicht gelang, und drehte sich noch einmal zum Fenster. Solomon und Emma tobten immer noch fröhlich im Garten herum. Solomon war mittlerweile völlig durchnäßt, und auch Emmas Kleid klebte in nassen Falten an ihrem Körper. Es war Solomon endlich gelungen, Emma einzuholen.

Er ergriff sie, hob sie ohne Mühe hoch und schwenkte sie an seinen langen Armen drei-, vier-, fünfmal im Kreis herum, ehe er sie an sich drückte und kräftig umarmte, bevor er sie wieder vorsichtig auf die Füße setzte. Emma lachte hell.

»Es tut mir wirklich sehr leid, wenn ich …« begann Peyton noch einmal, aber wieder wurde sie von Claire unterbrochen.

»Es ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß Sie sich täuschen, aber es ist gut, daß wir darüber gesprochen haben.« Sie drehte sich mit einem Ruck herum. »Ich glaube, ich hole Emma jetzt besser herein. Sie wird sich eine Erkältung holen, wenn sie in den nassen Sachen weiter draußen herum-läuft. Würde es Ihnen etwas ausmachen, das hier allein zu Ende zu bringen.«

Peyton machte ein unglückliches Gesicht. »Ich kann es versuchen«, antwortete sie. »Aber ich übernehme keine Verantwortung, wenn Sie nachher Michaels Socken tragen müssen.«

Claire lachte. Es klang nicht echt, und die Bewegung, mit der sie sich vollends zur Tür wandte und hinausging, war eine Spur zu abgehackt und eine Spur zu schnell. Sie verließ die Wasch-

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küche, und Peyton konnte hören, wie sie sich durch das Halbdunkel des Kellers zur hinteren Tür tastete. Sie blieb am Fenster stehen, bis Claire draußen auftauchte und auf Emma und Solomon zuging. Dann drehte sie sich rasch herum, beugte sich über einen der Körbe und zog einen blauen Slip mit einem aufgestickten, bunten Schmetterling heraus, der Emma gehörte. Mit einer raschen Bewegung ließ sie ihn unter ihrer Bluse verschwinden. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

Es war Peytons freier Abend; der erste überhaupt, den sie sich genommen hatte, seit sie eingezogen war, und Claire hatte Joe selbst ins Bett gebracht. Er war unruhig und ziemlich quengelig gewesen, und er hatte noch weniger getrunken als sonst, was nicht unbedingt dazu beigetragen hatte, Claires Sorgen irgend-wie zu zerstreuen. Abgesehen davon, daß er sich allmählich zu einem echten Hungerkünstler zu entwickeln schien (und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn obwohl er kaum noch etwas trank, brachte er das Kunststück fertig, dabei weiter zuzuneh-men und bei bester Gesundheit zu bleiben), war er mittlerweile Lichtjahre davon entfernt, das außergewöhnlich friedliche Baby zu sein, als das Claire ihn jedem vorstellte. Er begann jetzt fast immer zu weinen, wenn sie ihn aus seinem Bett nahm. Claire nahm sich vor, sich die Sache noch ein paar Tage lang anzusehen und dann zum Arzt zu gehen. Sie hatte Vertrauen zu ihrem Kinderarzt, aber vielleicht konnte es ja nicht schaden, noch eine zweite Meinung einzuholen.

Sie hatten früh gegessen. Michael war auch heute pünktlich von der Arbeit gekommen, aber er war ungewöhnlich schweig-sam gewesen, und auch Claire hatte sehr wenig gesprochen und war am Ende fast froh, als Joe sich meldete und sie hinaufge-hen mußte, um nach ihm zu sehen. Die Atmosphäre im Haus war nicht gut. Sie hatte versucht, Peytons Worte zu vergessen. Als ihr das nicht gelungen war, hatte sie versucht, sie zu

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ignorieren. Und als ihr auch das nicht gelungen war, hatte sie nach allen möglichen anderen Erklärungen für den falschen Eindruck gesucht, den Peyton gewonnen zu haben schien. Es mußte eine andere Erklärung geben. Solomon war nicht so. Er durfte nicht so sein, und sei es nur, weil es Claire fast absurd vorkam, sich derart in einem Menschen getäuscht zu haben.

Emma kam ihr entgegen, als sie die Treppe hinunterkam. Sie trug bereits ihr Nachthemd, obwohl es noch fast eine halbe Stunde vor Emmas normaler Zeit war, zu Bett zu gehen. Aber Claire hatte ihr gesagt, sich schon fertigzumachen, ehe sie nach oben gegangen war. Sie mußte mit Michael reden; über Solomon, aber auch über etwas anderes.

»Geh schon in dein Zimmer, Liebling«, sagte sie. »Ich kom-me gleich nach, okay? Ich muß nur noch kurz mit Dad reden.«

Emma gehorchte wortlos. Sie war sichtbar nicht besonders glücklich, scheinbar grundlos früher als sonst ins Bett ge-schickt zu werden, aber sie spürte wohl auch, daß es besser war, ihrer Mutter jetzt nicht zu widersprechen. Claire strich ihr flüchtig über das Haar, schob sie sanft in Richtung Kinder-zimmer und wartete, bis Emma gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Was sie mit Michael zu bespre-chen hatte, war nicht für Emmas Ohren bestimmt. Keines der beiden Themen war das.

Michael hatte den Fernseher eingeschaltet, als sie ins Wohn-zimmer kam, aber die Sendung schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, denn er blätterte gleichzeitig in einem grünen Plastikordner und warf nur dann und wann einen Blick auf die Mattscheibe.

»Ist es schon wieder so schlimm, daß du dir Arbeit mit nach Hause bringen mußt?« fragte Claire. Das war vielleicht ein guter Anfang, dachte sie. Allerdings nur im ersten Moment, ehe sie begriff, daß es bei dieser Sache keinen guten Anfang gab.

»Ich muß nur ein paar Kleinigkeiten durchsehen«, antwortete

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Michael, ohne von seinen Papieren aufzublicken. Er begann auf dem Ende seines Bleistiftes zu kauen. »Aber wenn es dich stört, höre ich auf.« Er sah nun doch hoch. Eine Sekunde lang blickte er sie nachdenklich an, dann hellte sich sein Gesicht auf. »He«, sagte er, »wieso gehen wir nicht ins Kino oder fahren einfach in die Stadt und machen uns einen schönen Abend?«

Unter normalen Umständen hätte der Gedanke etwas Verlok-kendes gehabt; sie gönnten sich viel zuwenig Privatleben in letzter Zeit. Trotzdem schüttelte Claire den Kopf. »Peyton ist nicht da«, sagte sie.

Michael sah ein bißchen enttäuscht aus. Aber er sagte nichts mehr, sondern vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Nach einer Weile fragte Claire: »Hat Adam seine Probleme gelöst?«

»Adam?« »Er hat gestern extra angerufen«, erinnerte Claire. Wahr-

scheinlich kam es ihr nur so vor, und Michael schien es auch nicht zu bemerken – aber in ihrer Stimme war ein ganz sachter, fast hysterischer Unterton. Es dauerte lange, bis Michael antwortete. Entschieden zu lange.

»Ach, das. Das war nur eine Kleinigkeit. Aber gut, daß du mich daran erinnerst – ich muß morgen wohl wieder eine Stunde länger bleiben; vielleicht auch zwei.«

Claire spürte selbst, wie sie die Kontrolle über ihr Gesicht verlor. Sie war in diesem Moment sehr froh, daß Michael konzentriert weiter auf seine Papiere starrte, statt sie anzuse-hen. Mit einem Ruck drehte sie sich herum, damit er nicht sah, welche Reaktion seine Worte wirklich in ihr hervorriefen. Sie versuchte sich selbst einzureden, daß es Unsinn war. Sie bildete sich etwas ein. Sie sah Dinge und deutete sie falsch, so, wie Peyton Dinge gesehen und falsch gedeutet haben mußte. Sie hatte Michael immer vertraut. Solange sie sich kannten, hatte sie keine Sekunde an seiner Aufrichtigkeit gezweifelt, und sie hatte niemals Anlaß dazu gehabt. Sie war dabei, sich in

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etwas hineinzusteigern, und es betraf nicht nur Michael allein. Irgend etwas lief falsch, gründlich falsch, und das nicht erst seit gestern.

Aber das war nur ihr Verstand, der ihr das sagte. Neben der kühlen, sachlichen Stimme ihrer Vernunft war da auch noch etwas anderes in ihrem Kopf, ein häßliches, wortloses Wispern, das den Stachel des Mißtrauens tiefer und tiefer in ihr Fleisch trieb.

Michael räusperte sich. Sie hörte, wie seine Papiere raschel-ten, als er den Ordner zuklappte und weglegte. »Also?« fragte er. »Was ist los?«

Claire schloß die Augen und zählte in Gedanken bis drei, ehe sie sich mit einer betont langsamen Bewegung wieder zu ihm herumdrehte. »Was meinst du?« fragte sie.

Für eine Sekunde erschien jenes bestimmte Lächeln auf seinem Gesicht, das sie immer darauf sah, wenn sie versuchte, ihm irgend etwas zu verheimlichen oder herunterzuspielen. Es gehörte zu jenen wenigen Dingen, die sie nicht an Michael mochte, aber es hatte ihr niemals so weh getan wie jetzt. Zum allerersten Mal fragte sie sich, ob dieser Ausdruck vielleicht nicht nur gutmütiger Spott war, wie sie immer geglaubt hatte, sondern Verachtung.

»Was soll mit mir sein?« »Das frage ich dich«, antwortete Michael. Er machte eine

Bewegung, als wolle er aufstehen und zu ihr kommen, ließ sich dann aber wieder zurücksinken. »Seit ich nach Hause gekom-men bin, bist du …« Er zuckte mit den Schultern. »Seltsam.«

»Ich bin müde«, sagte Claire. »Ich bin einfach ein bißchen erschöpft, weißt du? Ich glaube, ich habe mich doch ein bißchen überanstrengt in den letzten Tagen.« Plötzlich hatte sie einfach nicht mehr die Kraft, mit ihm über Solomon zu reden. Sie wußte, wenn sie es tat, würde sie nicht mehr aufhören können, und dann würde auch alles andere aus ihr herausspru-deln.

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»Das ist doch nicht alles«, behauptete Michael. Warum sagte sie es ihm nicht? Warum, zum Teufel, stellte sie

ihm nicht einfach die Frage, die sie seit vierundzwanzig Stunden quälte? Sie war sicher, daß Michael alles mit ein paar Worten aufklären konnte. Sie würden gemeinsam darüber lachen können.

Aber sie brachte es nicht fertig. Sie schüttelte nur noch einmal den Kopf, sagte ganz leise: »Es ist nichts«, und drehte sich dann herum. »Ich sage nur eben Emma gute Nacht.«

»Tu das, Schatz. Gib ihr einen Gutenachtkuß von mir.« Michael griff nach seiner Mappe und schlug sie wieder auf, und Claire ging rasch aus dem Zimmer.

Emma saß auf ihrem Bett und spielte mit der Pappmache-Skulptur, die sie gestern in der Schule angefertigt hatte. Sie hatte sie kunterbunt angemalt, was den allgemein chaotischen Eindruck nur noch verstärkte, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht war der höchster Konzentration. Claire trat an ihr Bett, ließ sich auf die Kante sinken und sah ihrer Tochter fast eine Minute lang schweigend zu. Ein Gefühl tiefer Zärtlichkeit überkam sie, und doch war auch darin etwas von jenem Falschen, Schlechten, das sie auch eben gespürt hatte, als sie versucht hatte, mit Michael zu reden.

Emma ließ ihr Spielzeug sinken und sah auf. Sie blickte ihre Mutter fragend an.

»Ich habe dich sehr lieb, weißt du das eigentlich?« begann Claire. Die Worte waren ungeschickt. Was war nur mit ihr los? Irgend etwas schien ihre Gedanken zu lähmen.

»Ich weiß«, sagte Emma ernst. Ihr Lächeln war erloschen. Sie spürte, daß ihre Mutter nicht nur gekommen war, um ihr gute Nacht zu sagen.

»Du weißt, daß du mit uns über alles reden kannst«, fuhr Claire fort. »Ich meine, ganz egal, was passiert, ob es gut oder schlecht ist – du kannst uns alles erzählen. Was immer passiert, wird nichts daran ändern, daß Dad und ich dich sehr lieben.«

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»Ich weiß«, sagte Emma noch einmal. In ihren Augen war etwas, das Claire in diesem Moment zumindest vorkam wie ein erstes, sachtes Erschrecken.

»Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben«, sagte Claire. Das Reden fiel ihr immer schwerer. Die Worte schienen sich zu weigern, über ihre Lippen zu kommen, und sie klangen nicht nach dem, was sie sein sollten.

»Geheimnisse zwischen Leuten, die sich liebhaben, sind nicht gut.«

Diesmal erschrak Emma wirklich. Der Ausdruck in ihren Augen war nicht eingebildet, und ob Claire es wollte oder nicht – für eine Sekunde glaubte sie, noch einmal Peytons Worte von gestern zu hören: Sie würden es merken, wenn sie ein Geheim-nis vor Ihnen hat.

»Was ist es, Liebling?« fragte sie. Emma sah weg. »Nichts«, antwortete sie. Es war eine weitere, ungenutzte Chance. Claire wußte, daß

sie jetzt nur auf einer Antwort zu beharren brauchte. Emma war ein Kind, das seinen Eltern vorbehaltlos vertraute, und obwohl Claire sie bisher niemals eingesetzt hatte, wußte sie doch, daß ihre Autorität sehr wohl reichte, den Widerstand ihrer Tochter auf der Stelle zu brechen. Sie hätte ihr einfach nur zu befehlen brauchten, ihr ihr Geheimnis anzuvertrauen, und Emma hätte es ohne zu zögern getan. Doch der Schaden, den sie damit unter Umständen anrichten konnte, war vielleicht größer als der Nutzen.

So schüttelte sie nur den Kopf, strich Emma noch einmal zärtlich über das Haar und stand auf, während ihre Tochter sich zurücksinken ließ und auf die Seite drehte, um sie nicht mehr ansehen zu müssen. »Es ist in Ordnung«, sagte Claire. »Du mußt nichts sagen. Gute Nacht.«

Emma erwiderte ihr ›gute Nacht‹, und Claire verließ das Zimmer mit dem schrecklichen Gefühl, ihre Tochter zum ersten Mal im Leben angelogen zu haben. Nichts war in

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Ordnung. Gar nichts.

Claire führte den Glasschneider mit großer Konzentration an der Kante des Stahllineals entlang. Es gab ein Geräusch, als kratze sie mit einer Gabel über den Boden eines eisernen Topfes; ein Laut, der sie bis ins Mark erschauern und ihre Zähne schmerzen ließ. Sie ignorierte ihn, so gut es ging, führte den Schnitt zu Ende und zog das Werkzeug dann noch einmal mit großer Sorgfalt über die Scheibe. Eine dünne, kaum sichtbare Linie zog sich über das Glas. Aber als sie Lineal und Glasschneider zur Seite legte und auch nur ein wenig Druck auf die Scheibe ausübte, brach sie präzise entlang der ange-zeichneten Linie entzwei, und Claire hielt ein dreieckiges Stück Glas mit gefährlich scharfen Kanten in der Hand.

»Seien Sie vorsichtig damit«, sagte der dunkelhaarige Mann, der neben ihr stand. »Es gibt sehr häßliche Verletzungen, wenn man sich daran schneidet.«

Claire legte die Scheibe äußerst behutsam auf das kleine Tischchen neben sich, auf dem schon eine ganze Anzahl anderer, allesamt unterschiedlich geformter Glasstücke lagen, die sie im Verlauf der letzten Stunde zurechtgeschnitten hatte, und griff wieder nach Glasschneider und Lineal.

»Sie machen das wirklich gut«, sagte der Mann. Seine Stim-me hörte sich nicht so an, als wären die Worte ein leeres Kompliment oder bloße Freundlichkeit, und er mußte wissen, wovon er sprach, denn er gehörte zu den Glasern, die schon den ganzen Vormittag über damit beschäftigt waren, Dutzende von Scheiben abzuladen und in das Metallskelett des Ge-wächshauses einzupassen; ein unvorstellbares Durcheinander, in dem Claire schon nach Augenblicken hoffnungslos die Übersicht verloren hätte, denn kaum eine Scheibe war so groß wie eine andere oder hatte die gleiche Form. Das Gewächshaus

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war alt, und die Metallkonstruktion war im Laufe der Jahre unzählige Male umgebaut, repariert und geändert worden. Wenn es jemals so etwas wie ein System darin gegeben hatte, so war es längst verlorengegangen.

Der Mann sah ihr noch einen Moment mit anerkennenden Blicken zu, dann wandte er sich ab und ging zu seinen Kolle-gen zurück, die gerade dabei waren, eine besonders große Scheibe von der Ladefläche des Lasters zu heben, der vor der Garage stand. Claire war entsetzt gewesen, als sie hörte, welchen Preis die Firma für das Glas und den Einbau verlang-te, aber die Männer arbeiteten präzise und schnell, und sie waren jeden Penny wert. Sie hätten auch diese Arbeit hier erledigt – im Grunde war das, was Claire hier tat, ziemlich überflüssig, denn sie würde das Zuschneiden mitbezahlen müssen, ob sie es nun selbst erledigte oder nicht –, aber es machte Claire Spaß; sie hatte sich schon immer gern mit handwerklichen Tätigkeiten beschäftigt, und dies war eine völlig neue Erfahrung.

»Warum kann ich denn durch das Glas hier überhaupt nicht durchgucken?« fragte Emma. Sie hatte einen breiten Fiberglas-streifen aufgehoben und hielt ihn sich vor ihre Augen.

»Weil es kein richtiges Glas ist«, antwortete Claire. Emma ließ den Streifen sinken und sah sie erstaunt an. »Gibt

es denn falsches Glas?« Claire lächelte. »Es ist Fiberglas«, antwortete sie. »Eine ganz

besondere Art von Glas, mein Schatz. Weißt du, eigentlich ist es ein Kunststoff, der zwar Licht hindurchläßt, durch den man aber nicht durchsehen kann, wie durch richtiges Glas. Wir nehmen es für die Wände und die Tür, weil es nicht so leicht zerbricht.« Sie deutete nach oben. »Richtiges Glas nehmen wir nur für das Dach, damit die Sonne reinscheint. Auf diese Weise ist es hier drinnen immer warm.«

»Auch im Winter?« »Auch im Winter«, bestätigte Claire. »Das Glas läßt die

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Wärme der Sonne herein, aber nicht mehr hinaus, verstehst du?«

»Natürlich«, antwortete Emma mit einem Gesichtsausdruck, der Claire bewies, daß sie rein gar nichts verstanden hatte. Aber sie stellte keine weitere Frage mehr, denn in diesem Moment kam Peyton herein, und Emma eilte ihr entgegen, um ihr voller Besitzerstolz und aufgeregt alles zu zeigen und zu erklären.

Die Tür des Gewächshauses war geschlossen, aber da sie noch kein Glas hatte, machte sich Peyton nicht die Mühe, sie aufzumachen, sondern bückte sich kurzerhand unter der Mittelstrebe hindurch. Sie trug Joe auf den Armen, der wach war, sich aber völlig ruhig verhielt und sich mit offenkundiger Neugier in der Runde umsah. Der Anblick versetzte Claire einen flüchtigen, aber sehr tiefen Stich. Es war lange her, daß Joe so friedlich gewesen war, wenn sie ihn auf den Armen trug. Sie versuchte vergeblich, sich einzureden, daß das, was sie spürte, keine Eifersucht war. Aber sie konnte Peyton nicht die Schuld geben. Sie hatte sich in der letzten Zeit wenig um Joe gekümmert. Und Joe hatte das sensible Gespür aller Kleinkin-der, mit dem er ihre schwankende und nur zu oft nicht gute Stimmung aufgefangen und entsprechend reagiert hatte. Claire nahm sich fest vor, wieder mehr Zeit mit Joe zu verbringen, sobald das hier alles vorbei war. Es konnte nur noch wenige Tage dauern.

»Peyton, schau nur!« rief Emma aufgeregt. »Wir sind schon fast fertig. Und wir haben Fiberglas für die Wände, und für das Dach welches, das nur Licht hereinläßt, aber keine Wärme wieder nach draußen. So ist es auch im Winter immer schön warm hier drinnen.«

Im allerersten Moment war Peyton verwirrt, dann fing sie einen entsprechenden Blick Claires auf und lächelte. »Toll«, sagte sie. »Dann könnt ihr ja auch im Winter die schönsten Blumen hier drinnen ziehen.«

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»Und Erdbeeren«, fügte Emma hinzu. Sie wandte sich zu ihrer Mutter um. »Wo kommen die Erdbeeren hin?«

Claire deutete willkürlich in eine Ecke. »Ich denke, das wäre ein guter Platz.«

Peyton kam näher, wobei sie sich aufmerksam und mit einem Staunen, das fast ebenso groß war wie das in Joes Augen, umsah. Joe wurde nun doch unruhig. Peyton wiegte ihn sacht auf den Armen, und er hörte sofort wieder auf, sich zu bewe-gen. Das Neidgefühl in Claire wurde heftiger.

»Das ist wirklich phantastisch«, sagte Peyton. »Die Leute haben ein wahres Wunder vollbracht. Um ehrlich zu sein – vor ein paar Tagen hätte ich noch nicht geglaubt, daß das hier jemals wieder ein Gewächshaus wird.«

Sie fuhr zusammen und sah Claire ein bißchen erschrocken an, fast als wären ihr die Worte gegen ihren Willen herausge-rutscht.

Aber Claire lächelte nur. »Mir ging es genauso«, gestand sie. »Ich verstehe jetzt noch nicht ganz, wie sie es geschafft haben. Aber ich glaube, es ist auch besser, ich frage erst gar nicht danach. Das könnte den Preis in die Höhe treiben.«

Sie trat an eine wuchtige Konstruktion, die direkt unter dem Giebel des spitzen Daches von der Decke hing. Es war ein großes Zahnrad, das mit einer schweren eisernen Kurbel betätigt wurde und dazu diente, über einen Kettenantrieb einen Teil des Daches zu öffnen, um überschüssige Wärme hinauszu-lassen. Im Moment hatte das Dach noch kein Glas, die entspre-chenden Scheiben würden zuletzt eingesetzt werden, aber Claire hatte die Apparatur trotzdem bereits montieren lassen. Die Dachmechanik war der einzige Teil des Gewächshauses, der ihr Sorgen bereitete. Aus gutem Grund gab es einen massiven Sicherungsbügel, der das Zahnrad blockierte, damit sich die Fenster nicht zu schnell schlossen oder gar herunter-stürzten. Aber er war so alt wie alles hier, und da es sich um ein mechanisches Teil handelte, merkte man ihm sein Alter

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deutlicher an als dem Rest des Gewächshauses. Er blockierte manchmal.

»Was ist das?« fragte Peyton neugierig, als Claire nach der Kurbel griff und sie mit sichtlicher Anstrengung einmal drehte.

Anstelle einer langwierigen Erklärung deutete Claire nach oben und drehte noch einmal an der Kurbel. Zahnrad und Kette bewegten sich quietschend, und ein großer Teil des Daches begann sich rechts und links des Giebels zu heben, als versuche ein stählerner Schmetterling, nach einem langen Winterschlaf seine Flügel das erste Mal wieder zu spreizen.

»Genial«, sagte Peyton. »Im Prinzip ja«, antwortete Claire. »Auf diese Weise kann

man für frische Luft sorgen und überschüssige Wärme hinaus-lassen. Aber es funktioniert nicht richtig. Ich muß jemanden danach sehen lassen – Emma, leg das weg. Das ist kein Spielzeug.«

Die letzten Worte galten ihrer Tochter, die ihr Interesse an dem Fiberglasstreifen verloren und sich einem Klappspaten mit rasiermesserscharfen Kanten zugewandt hatte, der neben der Tür an der Wand lehnte. Emma stellte den Spaten gehorsam wieder zurück.

»Man kann sich richtig vorstellen, wie es einmal wird«, sagte Peyton. Ihre Begeisterung war echt, dachte Claire mit einem deutliche Gefühl von Stolz.

»Aber ich bin nicht nur deshalb gekommen«, fuhr Peyton fort. Sie hob die freie Hand, und Claire bemerkte erst jetzt, daß sie Joes Babyphon mitgebracht hatte. »Ich glaube, die Batterien sind leer«, sagte sie. »Ich wollte sie wechseln, aber die Klappe scheint sich verklemmt zu haben. Ich brauchte einen kleinen Schraubenzieher, um sie zu öffnen. Aber in der Schublade in der Küche habe ich keinen gefunden. Glauben Sie, daß Solomon vielleicht so etwas in seinem Wagen hat?«

»Solomon hat prinzipiell alles in seinem Wagen, was Ähn-lichkeit mit einem Werkzeug hat«, sagte Claire.

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»Er ist in der Garage, nehme ich an?« Peytons Worte klangen ein ganz kleines bißchen zögernd, und sie wußte auch sehr genau, daß Solomons Werkzeuganhänger in der Garage stand. Er stand immer dort. Aber Claire kannte auch den wahren Grund für Peytons Zögern. Seit ihrem Gespräch in der Wasch-küche war Peyton Solomon aus dem Weg gegangen, und die wenigen Male, da sie sich zwangsläufig oder auch zufällig begegnet waren, hatte man ihr deutlich anmerken können, wie unangenehm es ihr war. Claire hatte weder Solomon noch ihr gegenüber noch ein Wort über jenes Gespräch verloren, und sie hatte ihr auch nichts von ihrer Unterhaltung mit Emma erzählt.

Aber Peyton hätte schon blind, taub und vollkommen gefühl-los auf einmal sein müssen, um nicht zu spüren, was ihre Worte bewirkt hatten. Wahrscheinlich wäre es ihr unerträglich gewesen, Solomon jetzt gegenüberzutreten und so zu tun, als wäre gar nichts geschehen. Claire konnte sich ziemlich genau vorstellen, was in Peyton vorging. Es mußte sie große Über-windung gekostet haben, ihr überhaupt von ihrem Verdacht erzählt zu haben – dies war eine jener Situationen, die für keinen der Beteiligten angenehm waren, ganz egal, wie sie auch ausgingen.

»Schon gut«, sagte sie. »Ich gehe in die Garage und sehe nach. Passen Sie solange auf, daß Emma keine Dummheiten macht, okay?«

»Sicher.« Peyton klang erleichtert. »Kreuz oder Schlitz?« fragte Claire, während sie bereits zur

Tür ging. »Wie bitte?« Claire blieb noch einmal stehen und drehte sich um. Peyton

war an die Kurbel herangetreten und betrachtete abwechselnd sie und die halb hochgedrehten, glaslosen Fensterflügel mit großes Interesse.

»Der Schraubenzieher – sind es Kreuz- oder normale Schrau-ben?«

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»Oh.« Peyton hob das Babyphon und betrachtete es ange-strengt. »Ich wußte gar nicht, daß es da einen Unterschied … Kreuzschrauben. Glaube ich.«

»Ich hole beides.« Claire ging kopfschüttelnd weiter und verließ das Gewächshaus auf die gleiche, unorthodoxe Weise, auf die Peyton es betreten hatte. Der Lastwagen der Glaserei fuhr gerade ab, aber zwei der Männer waren dageblieben.

Sie winkte Solomon zu, der auf halber Höhe der Leiter stand, die an der Seite des Hauses lehnte, und überlegte eine Sekunde lang, ihn herunterzurufen, damit er sich um das Babyphon kümmerte. Aber es war der Mühe nicht wert. Bis sie ihn herbeigewunken und ihm erklärt hatte, was sie von ihm wollte, hatte sie den Schraubenzieher auch schon selbst gefunden.

Nach dem hellen Spätsommerlicht draußen war sie im ersten Moment fast blind, als sie die Garage betrat. Solomons fahrender Werkzeugkasten hob sich als klobiger Schatten gegen einen noch dunkleren Hintergrund ab, und Claire zögerte für einen Moment im Schritt. Langsamer ging sie weiter, tastete sich mit vorgestreckten Händen bis zu dem Hänger und stolperte unterwegs natürlich prompt über Solomons altes Rad. Michael hatte ihm angeboten, es mitzunehmen und im Labor in einen der großen Müllcontainer zu werfen, aber Solomon hatte beinahe entsetzt auf dieses Angebot reagiert. Sein Rad war zwar alt, aber es enthielt noch eine Unzahl brauchbarer Teile, die man ausschlachten und irgendwie noch gebrauchen konnte. Wahrscheinlich würde er aus den Teilen drei oder vier neue Räder zusammenbauen, dachte Claire spöttisch.

Sie klappte den Deckel auf, ließ sich davor in die Hocke sinken und warf einen prüfenden Blick über die Werkzeuge, die so sorgfältig und präzise nebeneinander aufgereiht lagen wie die Instrumente eines Chirurgen.

Und dazwischen lag ein blauer Slip. Im allerersten Moment begriff Claire gar nicht, was sie da

sah.

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Das hieß – wahrscheinlich begriff sie es schon, aber alles in ihr weigerte sich einfach, das Stück blauen Satinstoff als das zu erkennen, was es war.

Sie wollte danach greifen, aber sie konnte es nicht. Sie war wie gelähmt. Ein stählerner Ball mit nadelspitzen, zehn Zentimeter langen Stacheln saß plötzlich in ihrer Kehle und hinderte sie am Atmen. Ihre Hände begannen zu zittern, und es war, als wanke der massive Betonfußboden der Garage unter ihr.

Es war alles wahr. Sie hatte es einfach nicht glauben wollen, aber Peyton hatte

recht gehabt. Der blaue Putzlappen zwischen Solomons Werkzeugen war kein Putzlappen, sondern einer von Emmas Slips.

Sie wußte es mit unerschütterlicher Gewißheit, noch bevor sie ihn herausnahm und auseinanderfaltete und den gelben Schmetterling erkannte, den sie eigenhändig daraufgestickt hatte.

Es war alles wahr. All diese kleinen, harmlosen Spielchen, all diese freundschaftlichen, harmlosen Berührungen, all das Gelächter, die Blicke und Emmas Schweigen, als sie gestern abend mit ihr zu reden versuchte – nichts war so, wie sie sich einzureden versucht hatte. Peyton hatte recht gehabt. Mit jedem Wort.

Sie hörte Schritte hinter sich und betete, daß es Peyton war, oder Michael, der früher von der Arbeit nach Hause gekommen war, kein Fremder. Sie hätte den Anblick eines Fremden jetzt nicht ertragen.

Es war niemand von alledem. Es war Solomon. Irgend etwas in Claire schien zu zerbrechen. Sie schrie auf,

sprang auf ihn zu und begann mit beiden Fäusten auf ihn einzuschlagen. »Warum hast du das getan?« schrie sie, wieder und wieder und wieder. »Warum! Hast! Du! Das! Getan!« Und bei jedem Wort schlug und hämmerte sie weiter mit beiden

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Fäusten auf ihn ein. Sie traf ihn an Brust, Hals und Kopf, und obwohl er viel größer als sie war, mußten ihn ihre Hiebe schmerzen, denn sie schlug mit aller Kraft zu, aber Solomon machte keine Bewegung, ihren Hieben auszuweichen, sondern stand völlig fassungslos und mit weit aufgerissenen Augen da. Er schien überhaupt nicht zu spüren, daß sie ihn schlug. Sein Blick saugte sich an dem blauen Kinderslip fest, der unter dem hochgeklappten Deckel des Anhängers zwischen seinen Werkzeugen lag. Und nach einer Weile begann auch er zu schreien.

Michael war gekommen, so schnell er konnte. Trotzdem war im Grunde alles vorbei, als er eintraf. Er war schweigend aus dem Auto gestiegen und neben Claire getreten, und er hatte auch weiter nichts gesagt, sondern wortlos und mit einer Miene, in der sich Bitterkeit und Schmerz und noch immer nicht ganz erloschener Unglauben mischten, zugesehen, wie die beiden Polizeibeamten Solomon mit sanfter Gewalt in den Streifenwagen bugsierten und dann mit ihm abfuhren.

Claire fühlte sich … leer. Sie hatte geschrien, getobt und wie von Sinnen auf Solomon

eingeschlagen, bis Peyton endlich gekommen und sie von ihm weggezerrt hatte, während die beiden Arbeiter Solomon festhielten – es war nicht nötig gewesen, denn er hatte keinerlei Versuch unternommen, wegzulaufen oder sich irgendwie zur Wehr zu setzen, aber sie hatten es trotzdem getan – und auf das Eintreffen der Polizei gewartet, aber Claire hatte noch immer weiter geschrien und getobt, und vielleicht hätte sie es sogar jetzt noch getan, hätte nicht schließlich ein Asthmaanfall ihrer Raserei ein Ende gemacht. Es war der schlimmste seit Mona-ten, und er ließ sie ausgelaugt und nicht nur körperlich zu Tode erschöpft zurück.

Ihr Zorn war erloschen, aber mit ihm auch alle anderen

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Gefühle. Sie stand einfach da, und sie empfand nichts. Es war, als wäre der Schrecken zu groß gewesen; etwas in ihr schien kaputtgegangen zu sein wie ein überdrehtes Uhrwerk, das nicht mehr lief.

»Warum tun die Männer das, Mami?« Die Worte schienen nur langsam und undeutlich an Claires

Bewußtsein zu dringen. Es dauerte sogar eine Weile, bis sie überhaupt begriff, daß es Emma gewesen war, die diese Frage stellte. Und es dauerte noch länger, bis sie sich dazu durchrin-gen konnte, sich zu ihrer Tochter umzudrehen und sie anzuse-hen.

Emmas Gesicht war bleich. Claire konnte sich nicht erinnern, jemals im Gesicht eines Kindes einen solchen Schrecken und eine solche Verständnislosigkeit erblickt zu haben. Sie wollte antworten, aber ihre Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Und schließlich war es Michael, nicht sie, der auf Emma zutrat und die Hand nach ihr ausstreckte.

Emma drehte die Schulter zur Seite und wich so seiner Be-rührung aus.

»Sie sollen das nicht tun«, sagte sie. »Ich will nicht, daß sie Solomon wegbringen.«

Michael sagte nichts. Er sah Claire an, und in seinem Blick war eine stumme Aufforderung, etwas zu sagen, Emma zu erklären, was er ihr gar nicht erklären konnte. Claire hatte versucht, ihm am Telefon zu sagen, was geschehen war, aber sie war nicht sicher, ob er es wirklich verstanden hatte. Und trotzdem fühlte sie sich von Michael im Stich gelassen.

»Komm her, Emma«, sagte sie. »Ich … ich erkläre es dir.« Aber ihre Tochter wich vor ihr zurück, wie sie es gerade vor

Michael getan hatte, und der Ausdruck in ihren Augen er-schreckte Claire mehr als alles andere.

»Bitte, bleib stehen«, sagte sie. »Wir reden darüber.« Aber Emma blieb nicht stehen. Ganz im Gegenteil wich sie

noch zwei, drei Schritte vor ihr zurück, dann drehte sie sich um

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und lief zum Haus, so schnell sie konnte. »Emma, bitte, bleib stehen!« rief Claire ihr nach. Emma blieb nicht stehen, sondern rannte mit Riesensprüngen

auf das Haus zu und verschwand in der Tür. Claire machte eine Bewegung, wie um ihr zu folgen, und blieb dann wieder stehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte und auch nicht wollte. Und plötzlich war die Leere in ihr fort, doch das, was sie erfüllte, war beinahe noch schlimmer. Ihre Hände begannen wieder zu zittern. Sie wußte, daß es ihre Aufgabe war, Emma jetzt nachzugehen und mit ihr zu sprechen; jetzt, nicht irgendwann, nicht in einer Stunde oder in fünf Minuten, sondern jetzt. Jede Minute, die sie verstreichen ließ, konnte nichtwiedergutzumachenden Schaden anrichten.

Aber sie konnte es nicht. Es war Emmas Blick, der es ihr unmöglich machte. Sie hatte ihre Tochter zum zweiten Mal im Stich gelassen.

Das leise Weinen, das Peyton durch die geschlossene Tür hindurch gehört hatte, verstummte, als sie das Zimmer betrat.

Emmas rotes, verweintes Gesicht tauchte zwischen den Kissen des Bettes auf, auf das sie sich bäuchlings geworfen hatte, und im ersten Moment gewahrte Peyton einen Ausdruck darauf, der beinahe an Haß grenzte; dann, als Emma sie erkannte, wurde schlagartig Erleichterung daraus. Sie hatte ihre Mutter erwartet, nicht sie.

Peyton mußte sich mit großer Mühe beherrschen, um sich ihre Zufriedenheit nicht anmerken zu lassen. Es war nicht nur so, daß sie Solomon losgeworden war, und das schneller und leichter, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte auch den Blick in Michaels Augen gesehen, als er aus dem Wagen stieg und seine Frau und seine weinende Tochter ansah, und – was vielleicht noch wichtiger war – auch Emmas Vertrauen zu ihrer

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Mutter war nicht mehr ganz dasselbe wie noch vor einer Stunde. Aber sie hatte auch Emma weh getan, und das hatte sie nicht gewollt. Das Bedauern, mit dem sie das Mädchen in die Arme schloß, nachdem sie sich neben ihr auf die Bettkante gesetzt hatte, war echt.

Sie sagte nichts. Für eine lange Zeit saßen sie einfach in vertrautem Schweigen und aneinandergeklammert da, während Emma noch immer leise weinte und ihre Arme so fest um Peytons Hals geschlungen hatte, daß sie ihr fast den Atem abschnürte. Aber schließlich versiegten Emmas Tränen. Aus ihrem hemmungslosen Weinen wurde ein mühsames Schluch-zen, und endlich löste sie sich aus ihrer Umarmung, rutschte ein Stück von ihr fort und sah aus roten, verquollenen Augen zu ihr auf.

»Geht es besser?« fragte Peyton. Emma zog die Nase hoch und machte eine Bewegung, die

man mit einigem guten Willen als Nicken auslegen konnte. »Ich verstehe das nicht«, schluchzte sie. »Warum haben sie denn Solomon weggebracht? Er hat doch gar nichts getan.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Peyton. »Vielleicht … weißt du, ich glaube, deine Mom hat ihn nicht sehr gemocht. Ich wollte dem armen Solomon helfen, aber dann hatte ich Angst, daß sie mich auch wegschickt.«

Die Worte lösten einen neuen, beinahe noch tieferen Schrek-ken in Emmas Augen aus, der Peyton mit einer abermaligen Mischung aus Zufriedenheit und Mitgefühl erfüllte. Zum ersten Mal gestand sie sich ganz bewußt ein, daß dieser Kampf auch von ihr Opfer verlangte. Sie mochte Emma sehr, denn schließ-lich war sie die Schwester ihres Sohnes, und es brach ihr beinahe das Herz, dem Kind so weh tun zu müssen. Aber sie hatte keine Wahl.

»Warum hat sie das nur getan?« fragte Emma hilflos. »Das weiß ich nicht«, sagte Peyton wieder. Sie hob die

Schultern. »Eltern tun manchmal Dinge, die Kinder nicht

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verstehen.« »Aber das ist nicht gerecht«, sagte Emma. »Deine Mami war

bestimmt nicht so wie meine. Sie hätte so etwas nie getan.« Peyton mahnte sich selbst in Gedanken zur Vorsicht. Die

Verlockung war groß, das Messer mit einem Ruck in der Wunde herumzudrehen und Emmas Vertrauen zu ihrer Mutter endgültig zu zerstören. Vielleicht war der Moment dazu niemals so günstig gewesen wie jetzt. Aber sie durfte den Bogen nicht überspannen. »Ich habe keine Mami mehr«, sagte sie. »Sie ist tot.«

»Das tut mir leid«, sagte Emma. Peyton schüttelte lächelnd den Kopf. »Als sie starb, war ich

noch sehr klein. Ich kann mich nicht richtig an sie erinnern.« »Deine Mami ist schon gestorben? Wer hat sich denn dann

um dich gekümmert?« wollte Emma wissen. »Niemand«, antwortete Peyton. »Ich war immer ganz allein.

Weißt du – ich hätte viel darum gegeben, eine Mami zu haben. Selbst, wenn sie manchmal Dinge getan hätte, die ich nicht verstehe.«

Emma sah sie eine geraume Weile schweigend und sehr nachdenklich an. Dann sagte sie: »Und wenn meiner Mami irgend etwas Schlimmes passiert, würdest du dich dann um mich kümmern?«

»Natürlich würde ich das, mein Schatz«, antwortete Peyton und schloß Emma wieder in die Arme. »Und auch um deinen Dad. Ich würde mich um alles hier kümmern.« Sie umarmte Emma kräftiger, und sie drückte sie dabei fest an sich, damit Emma das triumphierende Lächeln auf ihrem Gesicht nicht sehen konnte.

Michael legte den Hörer auf die Gabel, stand auf und kam ins Badezimmer, in dem Claire dabei war, sich die Zähne zu putzen. Sie tat es seit zehn Minuten, seit Michael hinaufge-

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kommen war und begonnen hatte, vom Apparat auf seinem Nachttisch aus zu telefonieren. Sie hatte nur einen Teil des Gespräches verfolgen können, aber sie hatte immerhin mitbe-kommen, daß er am Anfang des Gespräches sehr erregt gewesen war, dann aber immer ruhiger und auch leiser gespro-chen hatte.

Sie wartete vergeblich darauf, daß er von sich aus zu erzählen begann. Michael hatte den ganzen Tag über sehr wenig mit ihr geredet. Natürlich hatte er Fragen gestellt; sehr viele Fragen sogar. Natürlich hatte sie darauf geantwortete, und er hatte mit weiteren Fragen reagiert, und er hatte lange und sehr ausführ-lich mit Peyton gesprochen. Nicht ein Wort des Vorwurfs war über seine Lippen gekommen, aber das war auch nicht nötig gewesen. Sein Schweigen und seine Blicke waren beredt genug.

»Was haben sie gesagt?« fragte Claire schließlich. Statt einer Antwort drehte Michael den Hahn auf und begann,

sich Wasser ins Gesicht zu schöpfen. »Wer?« fragte er, ohne sie anzusehen.

Die Antwort hatte den einzigen Zweck, Zeit zu gewinnen. »Mit wem immer du gerade auch telefoniert hast«, antwortete

sie scharf. »Es war Derrek«, antwortete Michael. »Der Leiter der Better

Day Society. Wir haben über Solomon gesprochen.« Er zögerte eine Sekunde, dann: »Ich habe ihm zugesagt, daß wir auf eine Anzeige verzichten, wenn sie uns versprechen, daß Solomon sich in Zukunft von Emma fernhält.«

In seiner Stimme war etwas beinahe Provozierendes. Er wartete darauf, daß Claire ihm widersprach. Daß sie sagte, daß ihr das nicht genügte. Oder daß sie sich wunderte, warum er diese Entscheidung nicht mit ihr abgestimmt hatte. Und all dies lag ihr auch auf der Zunge. Sie wollte das und noch viel mehr sagen, aber sie tat es nicht – sie spürte, daß sie einem ausge-wachsenen Streit so nahe wie nur selten zuvor waren.

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»Du denkst, es wäre meine Schuld«, sagte sie. »Unsinn«, antwortete Michael. Er drehte sich zum Wasch-

becken und griff nach seiner Zahnbürste. »Ich habe ihn hierher gebracht, und ich habe zugelassen, daß

das alles passiert, nicht wahr?« fuhr Claire fort. »Unsinn«, wiederholte Michael. »Natürlich ist es nicht deine

Schuld, Claire. Ich bin nur durcheinander. Ich muß das alles erst verarbeiten.«

»Woher hätte ich es wissen sollen?« fuhr Claire fort, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört. »Hättest du vielleicht jemand anderes gefunden?«

»Schließlich kann ich nicht alles selbst machen, oder?« fragte Michael. Seine Worte waren undeutlich, denn er hatte bereits begonnen, sich die Zähne zu putzen, beobachtete sie aber scharf durch den beschlagenen Spiegel. »Schließlich bin ich nicht den ganzen Tag zu Hause.«

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« fragte sie scharf. Michael hielt für einen Moment mit Zähneputzen inne, dann

zuckte er nur mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Tätigkeit zu.

Claire kochte innerlich vor Zorn. Aber sie fühlte auch, daß ein einziges weiteres Wort jetzt vielleicht reichte, um eine Katastrophe auszulösen; und dann würde sie vielleicht Dinge sagen, die ihr hinterher wirklich leid taten.

Mit einem Ruck drehte sie sich herum, ging ins Schlafzimmer und ließ sich auf das Bett fallen.

Ihre Gedanken drehten sich wirr im Kreise, und sie versuchte vergeblich, sich selbst zur Ruhe zu zwingen. Sie wollte … schreien. Was geschah nur? Noch vor zwei Wochen war ihre Welt so in Ordnung gewesen, wie sie es nur sein konnte, und jetzt brach sie rings um sie herum in Stücke, ohne daß sie auch nur das geringste daran ändern konnte. Nichts war mehr so, wie es gewesen war – aber vielleicht war es auch niemals so gewesen, wie es ausgesehen hatte. Sie hatte das Gefühl,

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allmählich verrückt zu werden. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, stand auf und ging aus

dem Zimmer. Michael sah ihr durch die geöffnete Badezim-mertür hindurch nach, machte aber keinen Versuch, sie zurückzuhalten oder anzusprechen.

Als sie im Erdgeschoß angekommen war, ging die Tür zu Emmas Zimmer auf und Peyton trat heraus. Sie sah erschöpft aus, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, den Claire nicht einzuordnen vermochte. Aus irgendeinem Grund gefiel er ihr nicht.

»Wie geht es ihr?« fragte Claire. Peyton legte den Zeigefinger auf die Lippen, schloß leise die

Tür hinter sich und deutete mit einer Kopfbewegung zur Küche. Claire nickte und folgte ihr. Sie selbst hatte im Laufe des Abends zweimal vergeblich versucht, mit Emma zu reden, und der Gedanke, daß ihre Tochter sich Peyton anvertraut haben mochte, statt ihrer eigenen Mutter, erfüllte sie mit einer absurden Eifersucht.

Peyton trat noch immer wortlos an die Anrichte, schenkte zwei Tassen Kaffee ein und reichte eine an Claire weiter. Sie nahm sie und nippte daran. Der Kaffee war kalt, aber stark. Sie nach noch einen Schluck. Sie würde in dieser Nacht so oder so nicht besonders gut schlafen.

»Sie schläft jetzt«, sagte Peyton. Sie lächelte, aber es sah müde aus und nicht echt, und der beabsichtigte Effekt wurde ins Gegenteil verkehrt. »Ich glaube, sie ist in Ordnung. Vertrauen Sie mir.«

Vertrauen? Claire sagte nichts, doch ihr Gesichtsausdruck mußte Bände sprechen, denn Peyton sah sie eine Sekunde lang fast erschrocken an und wirkte plötzlich verletzt. Claire bedauerte das, aber sie sagte kein Wort der Entschuldigung. Peytons Worte waren ihr wie böser Spott vorgekommen. Sie wußte nicht, ob sie jemals im Leben wieder in der Lage sein würde, irgend jemandem wirklich zu vertrauen. Das war

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vielleicht das schlimmste überhaupt – Claire hatte sich niemals eingebildet, unfehlbar zu sein, aber ihr war auf furchtbare Weise klar geworden, wie sehr sie sich in einem Menschen getäuscht hatte. Und vielleicht nicht nur in ihm.

»Hat sie … hat sie irgend etwas … gesagt?« fragte sie. Peyton schüttelte den Kopf. »Nein.« Wieder machte sich für einige Sekunden ein unangenehmes

Schweigen zwischen ihnen breit. »Die Kinderpsychologen sagen, daß das ganz normal ist«, sagte Claire schließlich. »Es wird eine ganze Weile dauern, bis sie überhaupt in der Lage ist, zu erzählen, was passiert ist. Kinder haben große Schwierigkei-ten, solche Dinge … in Worte zu fassen.«

»Sicherlich«, sagte Peyton. »Ich will sie nicht quälen«, fuhr Claire fort. »Ich glaube nicht,

daß es etwas nutzt, wenn ich ihr immer und immer wieder die gleichen Fragen stelle.«

Peyton sah sie mitfühlend an. »Claire«, begann sie. »Ich –« Claire unterbrach sie mit einem Kopf schütteln. »Ich habe

versucht, mit ihr zu reden, aber sie … sie spricht nicht mit mir. Sie ist so … so abweisend. Ich glaube, ich habe sie sehr enttäuscht. Ich hätte sie beschützen müssen. Es wäre meine Aufgabe gewesen, sie zu beschützen.«

»Nicht«, sagte Peyton leise. »Hören Sie auf, Claire. Sie quälen sich selbst.«

Aber Claire konnte nicht mehr aufhören. Sie hatte darauf gewartet, daß Michael ihr auf diese Weise zuhörte, daß er auf diese ganz bestimmte Weise einfach da war und schwieg, aber er hatte es nicht getan, und sie mußte einfach mit jemandem reden.

Plötzlich begann sie zu weinen. Ihre Hände zitterten so heftig, daß Peyton rasch zugriff und ihr die Tasse abnahm, und sie wehrte sich nicht, als Peyton sie an sich zog und die Arme um sie legte.

»Nicht«, sagte Peyton noch einmal. »Quälen Sie sich nicht,

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Claire. Das hilft niemandem. Emma am allerwenigsten.« »Ich hätte sie beschützen müssen«, fuhr Claire fort. »Es hätte

niemals passieren dürfen.« »Aber es ist nun einmal passiert«, sagte Peyton. »Da … da ist etwas, was Sie nicht wissen können, Peyton«,

sagte Claire leise. »Etwas, das es so schlimm macht.« Peyton hielt sie fest in den Armen, streichelte tröstend ihr

Haar. Claire fühlte sich beschützt und geborgen, als wäre plötzlieh sie das Kind, das in den Armen einer Erwachsenen Zuflucht gesucht hatte. »Und was?«

»Ich … ich wurde ebenfalls belästigt«, sagte Claire. »Vor einem halben Jahr. »Von … von meinem Frauenarzt.« Sie spürte, wie Peyton ganz leicht zusammenfuhr.

»Wie schrecklich«, sagte sie. »Ich weiß, wie es ist. Es … es ist das Schlimmste, was ich je

erlebt habe. Und Emma ist noch ein Kind. Sie ist so hilflos und so … so vertrauensvoll. Niemand hat das Recht, einem Kind so etwas anzutun.«

Peyton schwieg. »Ich glaube, Michael denkt, es ist mein Fehler«, fuhr Claire

fort. »Ihr Fehler? Aber wieso denn?« »Damals. Der … der Arzt. Dr. Mott. Ich habe mich nicht

gewehrt, wissen Sie? Ich konnte es nicht. Ich habe einfach dagesessen und es mit mir geschehen lassen.«

»Haben Sie das?« fragte Peyton. »Es einfach geschehen lassen?«

»Ich hatte Angst«, antwortete Claire. »Er … er war ein Ungeheuer. Ich war einfach gelähmt vor Angst, verstehen Sie?«

»Wie schrecklich«, sagte Peyton leise.

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Zu ihrer eigenen Überraschung war sie schließlich doch eingeschlafen und wachte erschrocken und mit dem sicheren Gefühl auf, verschlafen zu haben. Ihr erster Blick galt dem Bett neben sich – es war leer, dann dem Wecker. Es war beinahe zehn. Claire fuhr mit einem so heftigen Ruck hoch, daß ihr ein wenig schwindelig wurde. Jemand hatte den Wecker abge-schaltet. Und noch etwas war anders als sonst. Es war nicht so ruhig wie sonst um diese Zeit. Durch die offenstehende Tür drang leise Musik, die aus dem Erdgeschoß heraufschallte, und sie hörte Michaels, Emmas und auch Peytons Stimmen. Sie konnte die Worte nicht verstehen, aber sie klangen beinahe fröhlich.

Claire stand vollends auf, ging schlaftrunken ins Badezimmer und trat an das Waschbecken. Obwohl sie mehr als elf Stunden geschlafen hatte, fühlte sie sich erschöpft und noch immer benommen. Der Schlaf hatte sie nicht erfrischt. Hinter ihrer Stirn drehten sich die Gedanken noch immer wirr im Kreis, und für einen Moment hatte sie Schwierigkeiten, die Ereignisse des vergangenen Tages zu rekapitulieren.

Sie wusch sich flüchtig, zog sich an und ging nach unten. Als sie den Wohnraum betrat, bot sich ihr ein überraschender Anblick. Michael, Emma und Peyton saßen zusammen am Tisch und bastelten mit vereinten Kräften an einem Flugzeug-modell aus Kunststoff. Aus dem Radio dudelte eine fröhliche Melodie, und statt des verschüchterten, ängstlichen Kindes, das sie erwartet hatte, erblickte sie eine fröhliche Emma, die mit großer Konzentration und Begeisterung bei der Sache war und ihrem Vater und Peyton fachkundige Anweisungen gab, was den Zusammenbau des Modells anging.

»Guten Morgen«, sagte Claire. Peyton sah auf und lächelte ihr zu. Emma bedachte sie nur

mit einem flüchtigen Blick, während Michael … Nein, sie wußte es nicht. Aber seine Fröhlichkeit war nicht

echt, das spürte sie. Allerdings war er ein hervorragender

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Schauspieler. Der Anblick bewies, daß es Peyton und ihm irgendwie gelungen war, Emma nicht nur aufzuheitern, sondern sie scheinbar vergessen zu lassen, was überhaupt passiert war.

»Das Frühstück ist fertig«, sagte Peyton. »Es steht alles in der Küche.« Sie machte Anstalten, aufzustehen, aber Claire wehrte mit einer raschen Bewegung ab. Peyton ließ sich wieder zurücksinken und suchte ein weiteres Plastikteil aus dem Karton heraus, der vor ihr auf dem Tisch stand.

»Gehst du heute nicht ins Labor?« fragte Claire. Michael schüttelte den Kopf, ohne von seiner Tätigkeit

aufzusehen. »Ich habe mir ein paar Tage freigenommen«, sagte er. »Ich habe ohnehin mehr Urlaub angesammelt, als ich in den nächsten drei Jahren verbrauchen kann. Und im Augenblick drängt es nicht so. Könnte mir jemand den Kleber geben?«

Emma streckte automatisch die Hand nach der Tube mit Klebstoff aus, aber Peyton war schneller. Sie griff zu, reichte sie Michael, und für einen Moment berührten sich ihre Finger. Claire entging nicht, daß Michael fast unmerklich zusammen-fuhr, und ihr entging auch nicht, daß er für den Bruchteil eines Augenblickes die Kontrolle über sein Gesicht verlor. Er sah beinahe erschrocken aus. Claire preßte heftig die Lippen zusammen, drehte sich um und ging mit schnellen Schritten in die Küche.

Der Raum war so tadellos aufgeräumt wie schon lange nicht mehr. Die Kaffeekanne und ein Teller mit Sandwiches standen auf einem Tablett auf dem Tisch, doch davon abgesehen hätte die Küche auch aus einem Einrichtungskatalog stammen können. Peyton war nicht untätig gewesen, während sie oben im Bett gelegen und geschlafen hatte.

Sie rührte die Sandwiches nicht an, aber sie trank zwei Tassen Kaffee hintereinander. Schließlich ging sie ins Wohnzimmer zurück, betrat es aber nicht, sondern blieb an den Türrahmen gelehnt stehen. Emma, Michael und Peyton bastelten noch

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immer an dem Flugzeugmodell. Peyton saß jetzt neben Michael, der mit beiden Händen zwei Plastikteile gegeneinan-der drückte, während Peyton vorsichtig Klebstoff auftrug. Emma sah konzentriert zu und überwachte die Arbeiten mit fachmännischem Blick. Das Bild war völlig unverfänglich, es waren einfach drei Menschen, die gemeinsam etwas taten, das ihnen Freude bereitete, aber Claire versetzte es einen tiefen, heißen Stich. Sie fühlte sich ausgeschlossen, als wäre sie die Fremde hier, und nicht Peyton.

Ein Wagen näherte sich. Michael sah neugierig aus dem Fenster und erkannte Marlene Cravens roten Volvo, der wie üblich viel zu schnell die Auffahrt hinaufgeschossen kam und so hart vor der Garage abbremste, daß der Kies unter seinen Reifen davonspritzte. »Irgendwann wird sie es einmal nicht schaffen, und wir bekommen endlich ein neues Garagentor«, sagte Michael belustigt.

Claire blieb ernst. »Was tut Marlene hier?« fragte sie. »Ich habe sie angerufen«, antwortete Michael. Er gab die

beiden Kunststoffteile an Peyton weiter, die sie ihm aus den Händen nahm, ohne daß sich die Klebstellen lösten (dabei berührten sich ihre Finger wieder, und wieder spürte Claire einen heftigen Stich dieser absurden Eifersucht, gegen die sie nichts tun konnte), und stand auf. »Ich muß nachher für ein oder zwei Stunden ins Labor«, sagte er. »Nur ein paar Kleinig-keiten erledigen, damit ich meinen Urlaub in Ruhe genießen kann. Und ich dachte mir, daß du dich freuen würdest, Gesell-schaft zu haben.«

Natürlich freute sich Claire, daß Marlene kam. Sie freute sich immer, sie zu sehen – und doch hätte Michael im Moment kaum etwas Schlimmeres sagen können. Claire drehte sich schnell herum, trug die Kaffeetasse in die Küche zurück und ging dann zur Haustür, um Marlene zu begrüßen.

Sie hatte die Heckklappe des Kombis geöffnet. Claire sah, daß der Kofferraum des Wagens voller Grünpflanzen war.

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Trotz allem mußte sie für einen Moment lächeln. Marlene hatte ihr gesagt, daß sie eine Kleinigkeit zur Einweihung ihres Gewächshauses besorgen würde. Und wie es nun einmal ihre Art war, übertrieb sie auch dabei hoffnungslos.

Marlene hatte das Geräusch der Haustür gehört und eilte ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Hallo, Claire«, sagte sie. Sie lächelte, und ihre Stimme klang so aufgedreht und fröhlich wie immer, aber beides wirkte ein bißchen aufgesetzt. Sie konnte ihre wahren Gefühle nicht ganz verhehlen, als sie Claire umarmte und ihr einen freundschaftlichen Kuß auf die Wange gab.

»Wie geht es dir?« fragte sie. »Michael hat mir alles erzählt. Es tut mir so furchtbar leid.«

Claire löste sich mit sanfter Gewalt aus ihrer Umarmung. »Es ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich … werde damit fertig.«

Marlene blinzelte. Sie spürte Claires Ablehnung, aber vermut-lich schob sie es auf ihre Nervosität, denn nach einem Augen-blick lächelte sie wieder, drehte sich zum Wagen und gestikulierte heftig mit beiden Händen. »Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht«, sagte sie. »Hilfst du mir beim Ausladen?«

Die Tür hinter Claire wurde wieder geöffnet, und Peyton trat ins Freie. Sie trug Joe auf den Armen. »Kann ich helfen?«

Marlenes Gesicht hellte sich auf, als sie Joe sah. Mit weit ausgreifenden Schritten eilte sie auf Peyton zu und nahm ihr den Jungen ab. »Hallo, kleiner Mann«, sagte sie. »Du wirst auch jedes Mal hübscher, wenn ich dich sehe.«

Peyton runzelte die Stirn. Sie sah ein bißchen verärgert aus, fand Claire. Aber Marlenes Verhalten war nichts Außerge-wöhnliches, sie war eine unübertroffene Meisterin darin, Menschen, die mit ihrer extrovertierten Art noch nicht vertraut waren, zu verärgern. Sie ließ sich von Peytons offenkundiger Mißbilligung nicht stören, sondern konzentrierte sich ganz auf Joe, der aufmerksam zu ihr aufsah und nicht ganz schlüssig zu

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sein schien, was er von diesem fremden Gesicht zu halten hatte.

Schließlich gab sich Peyton einen sichtbaren Ruck und wandte sich mit einem leicht gezwungen wirkenden Lächeln an Claire. »Kann ich helfen?«

Claire deutete wortlos auf die offenstehende Ladeklappe des Volvo, und Peyton nickte ebenso wortlos und ging auf den Wagen zu. Claire folgte ihr.

Als sie sich dem Wagen näherte und sah, was Marlene alles mitgebracht hatte, bekam sie fast ein schlechtes Gewissen. Marlene verstand von Pflanzen ungefähr so viel wie sie vom Maklergeschäft – nämlich nichts –, aber sie hatte sich ganz offensichtlich beraten lassen und alles gekauft, was gut und teuer war. Der Kombi brach unter der Last der Blumentöpfe und Pflanzencontainer schier zusammen.

»Wenn du das öfter tust, werde ich anbauen müssen, ehe das Gewächshaus überhaupt fertig ist«, sagte sie scherzhaft.

»Das ist der Sinn der Sache«, antwortete Marlene. »Ich habe da noch eine entzückende kleine Gärtnerei im Angebot, weißt du? Ich sitze seit Jahren darauf und warte auf einen Dumm-kopf, dem ich sie für einen Wucherpreis aufschwatzen kann.« Sie lachte, deutete mit einer Kopfbewegung auf Joe und fuhr im gleichen, scherzhaften Ton fort: »Jetzt mußt du mir aber endlich dein Geheimnis verraten – was mischst du ihm in die Flasche, damit er so schnell wächst? Er ist doppelt so groß wie das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe.«

»Wozu habe ich einen Mann, der in der Genforschung arbei-tet?« gab Claire augenzwinkernd zurück.

Marlene blinzelte. Claire sah ihr an, daß sie den Scherz zuerst nicht begriff, und das war überhaupt nicht ihre Art. Marlene war heute anders als sonst. Sie wirkte … befangen.

Joe begann sich unwillig zu bewegen. Marlene versuchte, ihn zu beruhigen, erreichte aber das genaue Gegenteil – Joe begann zuerst zu weinen, einige Augenblicke später aus Leibeskräften

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zu schreien. »Er wächst nicht nur erstaunlich schnell, er hat auch kräftige

Lungen«, sagte Marlene mit einem gequälten Lächeln. Claire stellte den Blumentopf, den sie gerade aus dem Wagen

genommen hatte, wieder zurück und nahm Marlene den Jungen aus den Armen. Für einen Moment hielt Joe mit Weinen inne – aber tatsächlich nur für einen Moment, denn er sah Claire nur eine Sekunde lang verwirrt an und schrie dann noch lauter.

»Einen Moment noch«, sagte Peyton. Sie balancierte mit einem Blumentopf auf den Armen an ihnen vorbei, der fast so groß war wie sie selbst. »Ich bringe nur die Sachen ins Haus. Dann nehme ich ihn.«

»Das ist doch alles viel zu schwer für Sie«, sagte Claire impulsiv. »Lassen Sie das. Das kann doch Solo–«

Sie sprach nicht weiter, sondern biß sich auf die Unterlippe. Peyton sah sie eine Sekunde lang erschrocken an und ging dann rasch weiter, und Claire sah aus den Augenwinkeln, wie sich auch Marlenes Gesicht für einen Moment verdüsterte. Betretenes Schweigen machte sich zwischen ihnen breit.

»Michael kann das erledigen«, sagte sie leise. Marlene kam näher und legte ihr in einer tröstenden Geste die

Hand auf die Schulter. »Es muß schrecklich gewesen sein«, sagte sie mitfühlend.

»Das war es.« Claire hielt nichts davon, die Heldin zu spielen. Sie drehte den Oberkörper zur Seite, so daß Marlenes Hand wie zufällig von ihrer Schulter glitt, aber Marlene nahm es ihr nicht übel. Ihr Gesichtsausdruck wurde nur noch mitfühlender.

»Ich … habe so etwas noch nicht erlebt«, sagte sie, »und deshalb würde es wahrscheinlich albern klingen, wenn ich behaupte, daß ich mir vorstellen kann, wie du dich jetzt fühlst.« Sie klang ein wenig unbeholfen, und Claire machte keine Anstalten, ihr zu helfen. »Aber wenn ich irgend etwas für dich tun kann, dann sag es. Ganz egal, was es ist, und ganz egal, wann. Wozu ist eine beste Freundin schließlich da?«

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Claire hätte ihr die eine oder andere Antwort geben können, die Marlene ganz gewiß nicht gefallen hätte – vor allem, was die Dinge anging, für die eine beste Freundin eigentlich nicht da war. Aber Joe begann in diesem Augenblick auf ihren Armen stärker zu zappeln und hielt sie so davon ab, etwas zu sagen, was ihr vermutlich im gleichen Augenblick schon leid getan hätte.

Peyton kam zurück. Sie warf die Heckklappe des Wagens zu, und Marlene sagte: »Auf dem Beifahrersitz liegt meine Handtasche. Sind Sie so freundlich, sie mitzubringen?«

Peyton war nahe daran gewesen, Marlene zu sagen, was sie mit ihrer Handtasche tun konnte – nachdem sie sie selbst geholt hatte. Natürlich wäre das äußerst dumm gewesen, und natürlich hatte sie es nicht getan. Ihre Rache war in eine Phase getreten, in der es wichtiger denn je war, vorsichtig zu sein; mit wach-sendem Erfolg wuchs auch die Gefahr, einen Fehler zu begehen. Und anders als diese Närrin Claire ließ sich Peyton nicht von Marlenes Lächeln und ihren freundlichen Worten täuschen. Marlene Craven war gefährlich. Es wurde Zeit, etwas gegen sie zu unternehmen.

Sie ging zum Wagen zurück, zog den Zündschlüssel ab und griff in der gleichen Bewegung nach Marlenes Handtasche, die offen auf dem Beifahrersitz stand. Etwas Kleines, Goldenes blitzte darin. Marlenes Feuerzeug.

Peyton warf einen raschen Blick zum Haus. Claire und ihre Freundin verschwanden gerade unter der Tür. Sie sahen nicht zum Wagen zurück.

Eine vage Idee begann hinter Peytons Stirn Gestalt anzuneh-men, und obwohl sie noch nicht einmal klar ausformuliert war, setzte sie sie auf der Stelle in die Tat um: mit einem raschen Griff nahm sie das Feuerzeug aus der Handtasche und steckte es ein, ehe sie wieder zum Haus zurückging.

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Michael kam ihnen entgegen, als sie das Haus betraten. Wie immer huschte ein erfreutes Lächeln über sein Gesicht, als er Marlene sah, und sie begrüßten sich auch auf die gleiche Weise, auf die sie sich immer begrüßt hatten, solange Claire sie beide kannte: mit einer kurzen, aber herzlichen Umarmung und einem Kuß auf die Wange. Und doch – irgend etwas war anders. War da nicht irgend etwas in Marlenes Blick, das bisher nicht dagewesen war? Und war Michaels Umarmung und sein Kuß tatsächlich nur so freundschaftlich, wie sie immer geglaubt hatte?

Claire erschrak über ihre eigenen Gedanken. Sie sagte sich, daß sie dabei war, sich in etwas hineinzusteigern. Sie sagte sich, daß alles ganz harmlos war, nicht mehr, als es immer gewesen war.

Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber es schien nicht sehr überzeugend auszufallen, denn Michael blickte sie verwirrt an und sah dann irgendwie … schuldbewußt? aus.

»Was ist mit dir?« fragte Michael. »Fühlst du dich nicht wohl?«

Angesichts des gestrigen Tages erschien Claire diese Frage wie der pure Hohn – aber dann spürte sie selbst, daß sie kreideweiß im Gesicht geworden war. Und auch Joe mußte ihre Unruhe irgendwie fühlen, denn er begann plötzlich so heftig zu strampeln, daß sie Mühe hatte, ihn überhaupt noch zu halten.

»Nicht besonders«, sagte sie. »Es war wohl … es war wohl alles ein bißchen viel.«

Peyton kam herein. Wortlos gab sie Marlene ihre Tasche und streckte dann ebenso wortlos die Hände nach Joe aus; in einer so selbstverständlichen, unbewußten Bewegung, daß Marlene verwirrt die Brauen zusammenzog und selbst Michael für einen Moment stutzte.

Claire war so verblüfft, daß sie ganz automatisch zuließ, daß Peyton ihr den Jungen aus den Armen nahm und beruhigend an die Brust drückte. Ihre Verblüffung wandelte sich in Bestür-

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zung, als Joe fast augenblicklich aufhörte zu weinen. »Was –?« begann Marlene. »Ich glaube, er spürte Ihre Unruhe«, sagte Peyton, an Claire

gewandt. »Er war schon den ganzen Morgen so nervös.« Sie sah Claire an und wartete sichtlich auf eine Antwort. Als sie keine bekam, fügte sie mit einem nervös wirkenden Lächeln hinzu: »Vielleicht lege ich ihn noch ein wenig hin. Es ist zwar jetzt eigentlich nicht seine Schlafenszeit, aber ich glaube, wir sind heute alle ein bißchen durcheinander.«

»Tun Sie das, Peyton«, sagte Michael rasch. »Und vielleicht kochen Sie uns danach noch einen Kaffee? Ich habe gerade die letzte Tasse getrunken.«

»Das mache ich«, sagte Claire. Ohne eine Antwort abzuwar-ten, ging sie an Marlene vorbei in die Küche. Sie drehte sich nicht herum, aber sie konnte die Blicke der drei anderen fühlen wie die Berührung unsichtbarer Hände. Und es war keine sehr angenehme Berührung.

Während Peyton nach oben ging, um Joe zu Bett zu bringen, bereitete Claire frischen Kaffee zu. Sie arbeitete sehr langsam, und ihre Bewegungen waren von jener bedächtigen Konzentra-tion, die große Mühe selbst bei dieser einfachen Tätigkeit verriet. Sie konnte hören, wie sich Marlene und Michael leise im Wohnzimmer unterhielten, wobei sie manchmal von Emma unterbrochen wurden, die Michaels Hilfe bei ihrem Modell verlangte. Erst jetzt, im nachhinein, fiel ihr ein, daß Emma nicht einmal aufgesehen hatte, als sie zusammen mit Marlene hereingekommen waren. Claire fühlte sich mehr und mehr wie eine Fremde in ihrem eigenen Haus.

Das Gefühl wurde noch stärker, als sie schließlich ins Wohn-zimmer zurückging. Emma hockte auf den Knien vor dem Tisch und konzentrierte sich voll und ganz auf ihre Bastelar-beit, aber Michael und Marlene standen gemeinsam am Fenster und unterhielten sich – nein, das war nicht das richtige Wort: sie flüsterten.

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Claire erstarrte. Es war nicht das, was sie sah. Es war nicht das, was sie hörte. Was sie wie ein Schlag ins Gesicht traf, das war die Vertrautheit, in der die beiden nebeneinander am Fenster standen und hinausblickten. Obwohl sie sich nicht einmal berührten und sich nicht einmal besonders nahe waren, spürte Claire eine Intimität zwischen ihnen, die weit über die zwischen zwei alten Freunden hinausging.

Aus ihrem Verdacht wurde fast Gewißheit, als Michael ihre Schritte hörte und sich herumdrehte – und ganz leicht zusam-menfuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein Aus-druck in seinen Augen, der an den eines verschreckten Kaninchens erinnerte, das nichtsahnend aus seinem Bau hervorgekommen war und sich jäh dem Fuchs gegenübersah. Er verheimlichte ihr etwas.

»Hi, Schatz«, sagte Michael, und das war ein weiterer Beweis für seine Befangenheit, denn das Wort klang so falsch und aufgesetzt, wie es nur ging. »Schon fertig? Das riecht ja köstlich.«

Claire füllte ihm ohne sonderliche Freundlichkeit seine hingehaltene Tasse und machte eine wedelnde Bewegung mit der Kanne in Marlenes Richtung. Sie schüttelte nur den Kopf. Sie sah ebenso verlegen und ertappt aus wie Michael.

Sie fing sich wesentlich rascher als er. Nach einer Sekunde erschien ein Lächeln auf ihren Zügen, das so natürlich und echt wirkte, daß Claire um ein Haar an ihren eigenen Gefühlen zu zweifeln begonnen hätte.

Aber dann tat Marlene etwas, das Claires Zweifel schlagartig zunichte machte. Sie ließ die Handtasche von der Schulter rutschen und öffnete sie mit einer geschickten Bewegung, um ihre Zigaretten herauszunehmen. Mit der freien Hand begann sie in der Tasche zu kramen.

»Wo ist denn mein –?« begann sie, blickte hoch und sah für eine Sekunde regelrecht bestürzt aus, als sie Claires Stirnrun-zeln bemerkte. Mit einem schuldbewußten Lächeln warf sie die

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Zigaretten in die Tasche zurück. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich vergesse immer wieder, daß

das hier ein Nichtraucherhaushalt ist.« »Ein militanter Nichtraucherhaushalt«, verbesserte Michael

sie belustigt. Marlene lachte pflichtschuldig, aber Claire blieb ernst. Ihr

war nicht nach Lachen zumute. Ganz und gar nicht. Marlene vergaß nie, daß sie und Michael nicht rauchten – dieses Thema war Anlaß unzähliger, nicht immer ganz scherzhafter Diskus-sionen zwischen ihnen gewesen. Wenn sie es jetzt doch vergessen hatte, dann war das in Claires Augen ein eindeutiger Beweis für ihre Nervosität.

»Was ist denn das für ein schreckliches Geräusch?« fragte Marlene und legte den Kopf schräg.

Auch Claire lauschte. Im ersten Moment hörte sie nichts, aber dann begriff sie, was Marlene meinte. Aus dem oberen Stock-werk drang ein leises, melodisches Klingen, das Windspiel in Joes Zimmer. Peyton mußte die Tür offengelassen haben.

»Ein Windspiel«, sagte sie. »Ein Geschenk für Joe. Von Peyton.«

»Oh«, sagte Marlene. Ihre eigenen Worte schienen ihr pein-lich zu sein. »Zauberhaft«, fügte sie hinzu – mit einem Blick, der das Gegenteil bedeutete. »Sie … kümmert sich wirklich rührend um Joe.«

»Das tut sie«, bestätigte Claire. Die Worte klangen so kalt, daß Marlene schon wieder die Stirn runzelte und auch Michael sie mit wachsender Verblüffung ansah.

»Willst du es sehen?« fragte sie. »Ich bin sicher, es gefällt dir.«

Sie war sicher, daß es Marlene nicht gefallen würde, aber das war ihr egal. Sie würde mit Marlene sprechen, jetzt und hier, aber nicht vor Emma. Nach allem, was sie hatte durchmachen müssen, mußte sie nicht auch noch das mitbekommen. Sie wartete Marlenes Antwort erst gar nicht ab, sondern drehte sich

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rasch herum und ging die Treppe hinauf. Wie sie vermutet hatte, stand die Tür zu Joes Zimmer weit

auf – was an sich ungewöhnlich war. Aber sie war viel zu aufgeregt, um mehr als einen flüchtigen Gedanken daran zu verschwenden. Sie steuerte auch nicht direkt Joes Zimmer an, sondern die gegenüberliegende Schlafzimmertür – ein passen-der Ort für das, was sie zu besprechen hatten, dachte sie grimmig. Schließlich drehte sich alles irgendwie darum.

Marlene kam ihr jedoch zuvor. Sie ging plötzlich schneller, lief an Claire vorbei und betrat das Kinderzimmer. Claire war nicht unmittelbar hinter ihr, aber sie konnte sehen, wie sich Peyton, die am Fußende von Joes Wiegenbettchen stand und es behutsam schaukelte, mit einem Ruck herumdrehte und Marlene ansah, und auch Marlene blieb mit deutlichen Zeichen der Überraschung stehen.

Als Claire hinter ihr das Zimmer betrat, erging es ihr nicht anders.

Der Raum hatte sich über Nacht verändert. Es war noch immer Joes Kinderzimmer – natürlich – aber

trotzdem … Im allerersten Moment fehlten Claire die Worte, um das zu

beschreiben, was sie empfand. Aus der hellen, aber trotzdem irgendwie schmucklosen Kammer war ein kleines Paradies geworden, das aus einem Einrichtungskatalog für schöneres Wohnen hätte stammen können. Die Wände waren frisch tapeziert und in einem freundlichen, hellen Blau gestrichen, das von aufgemalten kleinen Teddybären, Bällen, Clowns und Hasen durchbrochen war. In Höhe des Türsturzes zog sich eine breite, in etwas tieferem Blau gehaltene Borte rings um das ganze Zimmer, und auf den Regalen und dem Fensterbrett saßen einige neue Stofftiere, die am vergangenen Abend noch nicht dagewesen waren.

»Oh«, sagte Peyton. Ihr Blick wanderte unstet zwischen Claires und Michaels Gesicht hin und her; für einen Moment

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wußte sie sichtlich nicht, was sie sagen sollte. Claire sagte nichts, sondern blickte sie nur fragend an. »Gefällt es dir?« fragte Michael. Er klang nicht überrascht –

und seine nächsten Worte sagten Claire auch, warum. »Das hat Peyton gemacht. Sie hat fast die ganze Nacht daran gearbeitet.«

»Es ist … hübsch«, antwortete Claire stockend. Dann: »Ich hätte mir gewünscht, daß sie mich vorher gefragt hätte.«

»Du wußtest nichts davon?« fragte Marlene. »Es sollte eine Überraschung sein«, sagte Peyton verlegen.

»Ich … ich hatte es schon lange vor, aber bisher bin … bin ich nicht dazu gekommen. Und nachdem Sie gestern so traurig und niedergeschlagen waren, dachte ich …« Sie brach ab, biß sich auf die Unterlippe und trat ein paarmal verlegen von einem Fuß auf den anderen.

»Ich glaube, es war keine gute Idee«, sagte sie schließlich. Womit sie der Wahrheit ziemlich nahe kam. Großer Gott,

warum tat in diesem Haus eigentlich in letzter Zeit jeder Dinge, die einzig und allein ihr zustanden?

In scharfem Ton begann sie: »Sie hätten wirklich vorher –« »Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen«, unterbrach

Peyton sie. »Wissen Sie, es war … es war Solomon, der mir dabei geholfen hat.«

»Solomon?« »An dem Morgen, als er zu spät kam – erinnern Sie sich?« Claire nickte. »Ja.« »Er ist deswegen zu spät gekommen«, fuhr Peyton mit einer

weit ausholenden Geste fort. »Ich hatte ihn gebeten, die Farben und die Tapeten zu besorgen. Er sollte Ihnen nichts davon sagen.«

»Das hat er auch nicht«, bestätigte Claire. »Es sollte eine Überraschung werden«, sagte Michael in

versöhnlichem Tonfall. »Wenn du auf jemanden böse sein willst, dann auf mich. Ich wußte davon. Sie hat es mir gestern abend gesagt.«

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»Ich bin nicht böse«, antwortete Claire automatisch. Sie fragte sich, warum sie das gesagt hatte. »Es ist einfach nur …«

Marlene räusperte sich übertrieben. »Also, ich denke, ich muß jetzt langsam wieder los«, sagte sie. »Ich bin schon viel zu lange hier.« Sie wandte sich an Michael. »Hilfst du mir, das Grünzeug aus dem Wagen zu laden?«

»Sicher«, antwortete Michael. Er war das schlechte Gewissen in Person.

»Marlene?« sagte Claire, als Marlene und Michael sich gemeinsam zur Tür wenden wollten.

Marlene blieb stehen und drehte sich widerwillig zu ihr herum. Auch Michael sah sie an. Er erinnerte immer noch an ein verschrecktes Kaninchen. Jetzt eigentlich noch mehr als zuvor.

»Warum kommst du am Abend nicht mit Marty vorbei?« fragte Claire. »Peyton macht einen hervorragenden Schokola-denauflauf. Ich bin sicher, er wird dir schmecken. Ich weiß doch, wie wild du auf Süßigkeiten bist.«

»Du bist nur neidisch darauf, daß ich essen kann, was ich will, ohne zuzunehmen«, behauptete Marlene lächelnd. »Aber ich komme –«

Michael war wieder einen Schritt ins Zimmer zurück und halb hinter Peyton getreten, und wahrscheinlich dachte er, daß Claire seinen Blick nicht bemerkte. Aber sie bemerkte ihn. Sie spürte ihn, und sie sah vor allem die Reaktion darauf in Marlenes Gesicht. Ebenso gut hätte er sie auch gleich vors Schienbein treten und hoffen können, daß es niemand sah.

»Oh, ich Dummkopf«, sagte Marlene. Sie schlug sich über-trieben theatralisch mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich habe ganz vergessen, daß ich ja heute abend einen Termin habe.«

»Du arbeitest abends nie«, sagte Claire. »Normalerweise nicht«, bestätigte Marlene. Sie gab sich alle

Mühe, Michael nicht anzusehen. Sie tat es auch nicht. Sie sah

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ihn so bewußt nicht an, daß Claire sie am liebsten geohrfeigt hätte. »Aber heute ist eine Ausnahme. Es geht um sehr viel Geld. So viel, daß ich sogar von meinen eisernen Prinzipien abweiche. Ich muß zum Fletcher-Haus. Dieser Riesenkasten unten am Highway. Mit ein bißchen Glück schlage ich sieben oder siebeneinhalb Millionen heraus. Da lohnt es sich schon, eine Ausnahme zu machen, nicht wahr?«

»Sicher«, bestätigte Claire kühl. »Sagtest du nicht, daß du das Fletcher-Haus verkauft hast?«

Marlene starrte sie an. Ihr Blick flackerte. Dann nickte sie und versuchte, sich in ein Lachen zu retten. Es blieb bei einem kläglichen Versuch. »Das hatte ich«, sagte sie. »Aber die Finanzierung ist zusammengebrochen. Jetzt geht alles wieder von vorne los.«

»Wie schade«, sagte Claire. »Ich muß jetzt wirklich los«, sagte Marlene nervös. Sie ging,

ohne sich auch nur verabschiedet zu haben, und Michael folgte ihr.

In Michaels Büro im Labor klingelte das Telefon. Niemand nahm ab. Es war niemand da, der hätte abnehmen können. Das Labor war leer, ebenso wie das ganze Gebäude; die letzten Angestellten waren vor einer Stunde gegangen, und das riesige Bauwerk wurde jetzt nur noch von zwei einsamen Sicherheits-beamten bevölkert, die in ihrem Wachzimmer zwei Etagen tiefer nichts vom Schrillen der Telefonklingel hörten. Auch auf der großen Konsole der Telefonanlage leuchtete kein Lämp-chen auf – der Anruf kam nicht über die offizielle Sammel-nummer, sondern über eine der Privatleitungen, deren Nummer nur sehr wenige Menschen überhaupt kannten. Einer davon war Claire. Es klingelte sehr lange.

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»Das riecht phantastisch«, sagte Claire, als sie in die Küche kam. Die Worte klangen ein wenig flach; sie war nicht ganz bei der Sache. Nachdem sie Emma zu Bett gebracht hatte, war sie hinauf ins Schlafzimmer gegangen, um zu telefonieren. Sie hatte es klingeln lassen, bis die Verbindung automatisch unterbrochen wurde, aber Michael hatte nicht abgenommen. Sie war nicht einmal sehr überrascht gewesen.

Trotzdem hatte sie das Kompliment nicht aus reiner Freund-lichkeit ausgesprochen. Davon abgesehen, daß sie nicht in der Stimmung für Freundlichkeiten war, war der verlockende Duft der Schokolade bis hinauf ins Schlafzimmer gedrungen. Er war es, der sie nach unten gelockt hatte. Sonst wäre sie vielleicht einfach auf dem Bett liegengeblieben und hätte getan, womit sie den Großteil dieses Tages verbracht hatte: die Decke angestarrt und versucht, Ordnung in das Chaos hinter ihrer Stirn zu bringen.

Peyton wandte sich vom Herd ab und lächelte dankbar. Sie trug eine Schürze, die einmal weiß gewesen sein mußte, jetzt aber über und über mit Schokoladenflecken bekleckert war.

»Sie werden sehen, es schmeckt so gut, wie es riecht«, ver-sprach sie. »Vielleicht sogar noch besser. Ich verstehe nicht viel vom Kochen, aber meine Schokoladensouffles genießen einen guten Ruf.« Etwas Verlegenes mischte sich in ihr Lächeln. »Irgendwo habe ich einmal gelesen, daß Schokolade ein beliebter Ersatz für Sex sein soll.«

»So?« Claire trat langsam näher, nahm sich mit dem Zeige-finger eine Kostprobe des Auflaufs und nickte anerkennend, nachdem sie probiert hatte. »Also, ich liebe Schokolade, aber das glaube ich nun doch wieder nicht«, sagte sie. »Es sei denn, man ißt zuviel davon – dann muß man sich wahrscheinlich früher oder später notgedrungen damit zufriedengeben.«

Peyton lachte. Es war ein heller, ungemein sympathischer Ton, der etwas in Claire zum Klingen zu bringen schien. Er reichte lange nicht aus, ihre Niedergeschlagenheit zu vertrei-

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ben, aber in einer Welt, die nur noch grau war und aus Zweifel und nagendem Mißtrauen zu bestehen schien, kam ihr jedes Zeichen von Fröhlichkeit wie ein tröstendes Licht in tief-schwarzer Nacht vor.

»In Michael und Ihnen brennt das Feuer der Leidenschaft sicher noch heiß«, sagte Peyton plötzlich.

Claire war ein wenig überrascht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die mit ihren Freundinnen ständig über Sex sprachen. Mit Fremden schon gar nicht. Aber an Peytons Frage war nichts Anzügliches gewesen. Vielleicht wollte sie einfach nur freundlich sein.

»Wir … haben große Freude aneinander«, sagte sie, wobei sie versuchte, nicht verlegen zu klingen. Schließlich war sie keine Primanerin mehr, die rote Ohren bekam, wenn sie über ihre Abenteuer auf dem Rücksitz eines geliehenen Kombiwagens erzählte. Vielleicht nur, damit Peyton nicht allzu deutlich merkte, wie befangen sie dieses Thema machte, fuhr sie fort: »Als wir damals hier einzogen, da haben …« – Sie lächelte und zuckte die Achseln – »… nun ja, wir haben alle Zimmer eingeweiht … sozusagen.«

»Ja, wirklich?« Die Vorstellung schien Peyton zu amüsieren. »In letzter Zeit war es vielleicht ein wenig schwieriger«, fuhr

sie fort. Peyton sah stirnrunzelnd von ihrer Arbeit auf. »Wissen Sie, es … es ändert sich vieles, wenn Sie ein Baby bekommen. Sie sind zu schwer, Sie sind immer müde, Sie fühlen sich unattraktiv …«

»Was für ein Unsinn«, antwortete Peyton, während sie sich wieder der Auflaufform zuwandte. »Sie sind schön, Claire – hat Ihnen das noch niemand gesagt?«

Claire war so überrascht, daß sie gar nicht antwortete. »Ich bin sicher, daß Sie für Michael kein bißchen weniger

anziehend sind als am ersten Tag. Man sagt, daß Frauen erst dann ihre wahre Schönheit entwickeln, wenn sie schwanger sind. Außerdem kommt ein Mann niemals wirklich von seiner

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ersten Liebe los.« Claire spürte einen tiefen, heißen Stich in der Brust. »Das war

ich nicht«, sagte sie leise. »Ich meine, ich war nicht seine erste Frau.« Sie lachte gekünstelt. »Er hat ziemlich früh angefangen. Zu früh für mich. Er war gerade sechzehn – in dem Alter habe ich noch mit Puppen gespielt, ehrlich gesagt.«

»So?« sagte Peyton. »Sie kommen nie drauf, wer Michael entjungfert hat.« Peyton schwieg mehrere Sekunden lang. Dann sagte sie:

»Marlene?« Claire starrte sie an. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie schwieg. »Stimmt das?« fragte Peyton. »Woher … wissen Sie das?« fragte Claire. Peyton zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur geraten«,

sagte sie. »Aber es stimmt, nicht?« »Ja«, flüsterte Claire. »Es stimmt.« Spürte man es so deut-

lich? Peyton drehte sich wieder zum Herd, öffnete die Klappe und

schob die Auflaufform hinein. »In zehn Minuten ist alles fertig«, sagte sie. »Ich hoffe, Michael kommt pünktlich. Er schmeckt am besten, wenn er heiß ist.« Sie schloß mit einem Knall die Ofenklappe. »Was macht er eigentlich so lange im Büro?« fragte sie. »Ich dachte, er hat Urlaub.«

»Das dachte ich auch«, antwortete Claire. Sie dachte an das Telefon, das geklingelt hatte, bis das Amt die Verbindung unterbrach, und etwas Dunkles stieg in ihrem Inneren hoch. Es kostete sie alle Kraft, es zurückzudrängen, und es gelang ihr nicht vollständig. Nicht einmal annähernd.

»Ich glaube, ein bißchen ist er wohl auch mit seinem Beruf verheiratet«, sagte Peyton. »Alle Männer sind das, irgendwie.«

»Ja«, murmelte Claire. »Das wird es wohl sein.« Sie zwang sich zu einem übertriebenen Lachen. »Wissen Sie was, Peyton?

Wenn er nicht kommt, dann essen wir beide zur Strafe den ganzen Auflauf allein –«

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»– bekommen furchtbares Bauchweh, und er muß uns morgen pflegen«, fügte Peyton lachend hinzu.

»– und außerdem werde ich dick und fett, und das hat er dann davon«, schloß Claire den Satz ab. »Genau.«

Marlene zündete sich ihre dritte Zigarette an, während der Kellner den ebensovielten Cognac servierte, und blies eine graue Rauchwolke in Michaels Richtung. Ganz automatisch wedelte er sie davon und verzog das Gesicht – und dann griff er mit einem entschuldigenden Schuljungen-Grinsen nach Marlenes Zigarettenpackung und schnippte sich eines der weißen Stäbchen heraus. Marlene sagte nichts dazu, aber sie lächelte.

»Jetzt hast du mich in der Hand«, sagte er. »Mit dem Wissen um dieses finstere Geheimnis kannst du mich bis an mein Lebensende erpressen.«

»Das werde ich tun«, versprach Marlene. »Keine Sorge.« Michael sah sich suchend auf dem Tisch um. »Hast du Feu-

er?« In Marlenes Hand erschien eine Packung Streichhölzer, was

Michael zu einem fragenden Blick veranlaßte. »Das Feuerzeug ist weg«, beantwortete Marlene sein Stirn-

runzeln. »Ich muß es irgendwo verloren haben.« Sie seufzte. »Marty wird durchdrehen. Es war ein Tiffany.«

Michael hatte nichts anderes erwartet. Aber sein Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Er wußte, daß Marlene den Verlust verkraften konnte. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, hielt den Rauch genießerisch lange in den Lungen und blies ihn durch die Nase wieder aus.

Nachdem er sich von seinem Hustenanfall erholt hatte, wand-te sie sich wieder den engbekritzelten Blättern zu, die den Tisch vor ihnen bedeckten. Die Vorbereitungen für Claires Überraschungsparty ließen sich gut an, aber wie üblich hatte

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sie ihre eigene Begeisterung über- und die anfallende Arbeit unterschätzt. Und die Zeit begann allmählich zu drängen.

»Claire hat noch nichts gemerkt?« fragte Marlene. Michael zögerte eine Sekunde, aber dann schüttelte er den

Kopf. »Heute morgen war ich nicht sicher, aber ich glaube … nein. Jedenfalls hat sie nichts gesagt. Ich glaube, sie hat völlig vergessen, daß sie in drei Tagen Geburtstag hat.«

»Nach allem, was passiert ist, wäre das kein Wunder«, sagte Marlene. »Ich wünschte, ich könnte irgend etwas für sie tun. Das Ganze muß ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ausgerechnet Solomon. Er war so ziemlich der letzte Mensch auf der Welt, von dem ich so etwas erwartet hätte.«

»Niemand hat das erwartet«, sagte Michael. »Und niemand ist schuld.« Seine Worte klangen so sehr nach einer Verteidi-gung, daß Marlene ihn überrascht ansah.

»Claire denkt, daß ich ihr insgeheim die Schuld gebe«, sagte er. »Das ist natürlich kompletter Unsinn, aber sie ist im Moment nicht in der Verfassung, klar zu denken. Vielleicht heitert die Party sie ja wenigstens ein bißchen auf. Es war eine phantastische Idee von Peyton.«

»Stimmt«, sagte Marlene. Sie sagte es auf eine sehr sonderba-re Weise.

»Du kannst sie nicht leiden, wie?« fragte er. »Peyton?« Marlene nahm einen Zug aus ihrer Zigarette und

schüttelte den Kopf. »Nein – das heißt, nein, es geht nicht darum, daß ich sie nicht leiden kann. Ich habe nur das Gefühl, daß mit ihr irgend etwas nicht stimmt, das ist alles.«

»Mit Peyton?« Michael lachte. »Peyton ist unbezahlbar. Ohne sie wären wir verloren. Außerdem … sie ist der netteste Mensch, den ich kenne – nach Claire und dir, versteht sich.«

»Versteht sich«, sagte Marlene lächelnd. Sie wurde sofort wieder ernst. »Nein, es ist … irgendwie habe ich das Gefühl, daß sie nicht die Wahrheit sagt.«

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»Worüber?« »Über nichts Bestimmtes«, gestand Marlene achselzuckend.

»Ich weiß nicht … Vielleicht ist es nur Einbildung. Oder weibliche Intuition.«

»Was sowieso dasselbe ist«, sagte Michael feixend. Marlenes Gesicht verdüsterte sich. »Hat man dir schon einmal

gesagt, daß du ein unverbesserlicher Macho bist?« fragte sie. »Sicher.« Michael nickte. »Du selbst, vor zehn Jahren. Deshalb hast du ja auch Marty

geheiratet und nicht mich.« Er brach die scherzhafte Diskussi-on mit einer Handbewegung ab und deutete auf die Liste. »Laß uns weitermachen. Großer Gott, ich wußte gar nicht, daß wir so viele Leute kennen.«

»Sei froh, daß du keine Überraschungsparty für mich organi-sieren mußt«, sagte Marlene.

»Ich würde mich weigern«, behauptete Michael. »Also – was ist mit den Balins? Ich weiß, du kannst sie nicht leiden, aber sie haben uns immer eingeladen.«

Marlene nickte und hakte zwei weitere Namen auf der Liste vor sich ab.

Claire saß im Bett und las in einem Buch, als Michael nach Hause kam. Zumindest sah es so aus, als lese sie – in Wahrheit hatte sie eine halbe Stunde oder länger auf die gleiche Seite gestarrt, ohne daß die Buchstaben auch nur den geringsten Sinn ergeben hätten. Peyton und sie hatten natürlich nicht den gesamten Auflauf aufgegessen, aber sie hatten noch lange zusammengesessen und über dies und das geredet – über alle, nur nicht über Emma und Solomon, und auch nicht über Michael und Marlene. Aber Claire hatte an nichts anderes gedacht.

»Guten Abend, Schatz«, sagte Michael, als er hereinkam. Claire senkte flüchtig ihr Buch, murmelte »Guten Abend« und

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starrte dann wieder auf die Seite, deren Inhalt noch immer aus Hieroglyphen zu bestehen schien.

Michael stutzte, sah sie eine Sekunde lang mit sonderbarem Ausdruck an und begann dann, sich auszuziehen. »Hattest du einen schönen Abend?« fragte er.

»Ja«, antwortete Claire knapp. Michael hielt inne. »Was ist los?« fragte er. »Bist du wütend

auf mich, weil es so spät geworden ist? Ich habe dir gesagt, daß ich noch ein paar Dinge erledigen muß.«

»Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte Claire. »Aber niemand hat abgehoben.«

»Ich war in einem Raum ohne Telefon«, antwortete er – so schnell, daß Claire fast sicher war, er hatte die Frage erwartet und sich diese Antwort schon lange zurecht gelegt.

Plötzlich lachte er. »Komm, hör auf«, sagte er. »Du mußt dir wirklich keine Sorgen machen. Ich weiß, es ist später gewor-den, als ich gedacht habe, und ich hätte anrufen sollen … aber so habe ich wenigstens für die nächsten Tage meine Ruhe, ohne daß andauernd das Telefon klingelt, weil sie irgendeine wichtige Frage haben.« Er beugte sich über sie und versuchte sie zu küssen, aber Claire schob ihn mit einer fast erschrocke-nen Bewegung von sich.

»Du hast geraucht«, sagte sie. Michael versteifte sich. Wieder erschien dieser ertappte

Ausdruck auf seinem Gesicht, aber als er diesmal verschwand, machte er etwas wie herausforderndem Zorn Platz.

»Das habe ich nicht«, sagte er, eine Spur schärfer als ange-messen.

»Lüg nicht«, sagte Claire. »Ich kann es riechen.« »Einer der Techniker im Labor raucht.« »Du hast doch allen im Labor das Rauchen verboten«, sagte

Claire. Michael stand mit einem Ruck auf. »Was soll das?« fragte er.

»Ist das ein Verhör?«

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»Was ist los mit dir?« fragte Claire. »Was soll sein?« gab Michael trotzig zurück. Seine Augen

blitzten. Claire wußte, wenn sie jetzt auch nur noch ein einziges Wort sagte, würden sie in Streit geraten.

Und vielleicht war das gut so. Claire gehörte gewiß nicht zu den Frauen, die alles be- und zerreden mußten, bis nichts mehr da war, über das sich zu sprechen lohnte, aber es gab Dinge, die einfach ausgesprochen werden mußten, und ein so bizarrer Verdacht wie der, der seit einigen Tagen in ihr wühlte, gehörte eindeutig dazu. Wahrscheinlich hätte sie es getan, aber in diesem Moment drehte sich Michael mit einem Ruck herum und löschte das Licht.

»Michael –«, begann Claire. »Es war ein langer Tag«, unterbrach er sie. »Ich möchte jetzt

schlafen.« Er zog sich im Dunkeln weiter aus, und zum ersten Mal, seit

sie verheiratet waren, schliefen sie ein, ohne sich eine ›Gute Nacht‹ gewünscht zu haben.

Ein Geräusch weckte Michael. Er hatte lange gebraucht, um überhaupt einzuschlafen, und es war kein sehr tiefer Schlaf gewesen, so daß er die normale, kurze Phase der Benommen-heit übersprang und übergangslos wach wurde. Unten im Haus hatte etwas gepoltert. Etwas war umgefallen.

Michaels erster Blick galt Claire. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und schlief tief und offenbar sehr fest. Die Bettdecke war von ihrer Schulter gerutscht, und da sie prinzipiell bei offenem Fenster schliefen und die Nächte jetzt schon spürbar kühler zu werden begannen, zog er die Decke behutsam wieder hoch. Claire wachte nicht auf, bewegte sich aber unwillig im Schlaf und tastete blind mit der Hand nach der Decke, um sich fester darin einzukuscheln. Michael lächelte. Er sah Claire gern beim Schlafen zu. Claire war ohnehin zart, aber wenn sie

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schlief, wirkte sie noch verletzlicher; selbst jetzt, nach diesem Abend, der gewiß nicht gut aufgehört hatte – eigentlich war es der schlimmste Abend, den sie jemals zusammen gehabt hatten, auch wenn es andere, viel lautstärkere Auseinanderset-zungen gegeben haben mochte –, verspürte er plötzlich wieder das Bedürfnis, sie in die Arme zu nehmen und schützend an sich zu drücken.

Das Poltern im Erdgeschoß wiederholte sich, nicht so laut diesmal, dafür aber länger. Michael runzelte die Stirn, setzte sich weiter auf und schwang nach einer weiteren Sekunde des Zögerns behutsam die Beine vom Bett. Behutsam, um Claire nicht zu wecken, stand er auf, ging zur Tür und lauschte einen Moment. Absolute Stille. Trotzdem trat er nach einem weiteren Zögern auf den Korridor und bewegte sich auf Zehenspitzen zur Treppe. Die verrücktesten Gedanken schossen ihm durch den Kopf – Emma könnte im Schlaf aus dem Bett gefallen sein, oder er könnte einem Einbrecher begegnen.

Er bewegte sich sehr vorsichtig und lautlos weiter, hielt auf halber Treppe noch einmal inne und lauschte. Und tatsächlich hörte er etwas: er konnte die Geräusche nicht identifizieren, aber da war irgend etwas. Michael ging weiter, erreichte das Ende der Treppe – und stockte.

Es war kein Einbrecher. Die Küche war von einem blassen gelben Schimmer erfüllt, der aus der offenstehenden Kühl-schranktür fiel, vor der Peyton stand und mit irgend etwas hantierte. Sie trug nur ein dünnes, beinahe transparentes Nachthemd, das vom blassen Gegenlicht aus dem Kühlschrank zu einem Nichts degradiert wurde, so daß sich die Konturen ihres schlanken, beinahe noch mädchenhaften Körpers wie ein schwarzer Scherenschnitt darunter abzeichneten.

Trotz aller Vorsicht mußte er wohl doch irgendein Geräusch gemacht haben, und Peyton drehte plötzlich den Kopf, sah ihn an und lächelte, ohne das mindeste Anzeichen von Überra-schung oder Verlegenheit.

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»Ich … ich habe ein Geräusch gehört«, sagte Michael und räusperte sich verlegen.

»Ich habe etwas fallenlassen«, antwortete Peyton. »Habe ich Sie geweckt?«

»Nein, sicher nicht«, erwiderte Michael beinahe hastig. »Ich … habe noch nicht geschlafen.«

Peyton sagte nichts, sah aber auf die Uhr neben der Küchen-tür, und als Michaels Blick dem folgte, stellte er fest, daß es bereits nach drei war, was seine Behauptung einigermaßen lächerlich erscheinen ließ.

»Gute Nacht dann«, sagte er. Er wollte sich herumdrehen und wieder nach oben gehen,

aber Peyton rief ihn zurück. »Soll ich Ihnen etwas zu essen machen?« fragte sie.

»Wie bitte?« Michaels Verwirrung wuchs noch mehr. Er verstand die Frage im ersten Moment nicht einmal wirklich. Da war etwas in Peytons Augen, das nicht da sein sollte, und etwas in ihm, das darauf reagierte und noch viel weniger da sein durfte. »Nein, danke«, sagte er. »Ich möchte nichts.«

Peyton machte einen Schritt auf ihn zu. Sie hatte die Kühl-schranktür offen gelassen, und mit dem Licht drang ein eisiger Hauch in die Küche, der Michael frösteln ließ. Zumindest redete er sich ein, daß es die Kälte aus dem Kühlschrank war, die er spürte.

»Sind Sie sicher?« fragte Peyton. »Ich kann etwas warm machen. Es ist keine Mühe.«

Michael machte einen Schritt rückwärts und stieß mit dem Fuß gegen die unterste Stufe. »Nein, vielen Dank«, sagte er noch einmal. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich –«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern drehte sich plötz-lich herum und lief die Treppe hinauf, so schnell er gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen.

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Nicht einmal jetzt war Claire sicher, daß es wirklich eine gute Idee gewesen war. Sie hatten Emma das Picknick seit Monaten versprochen, und die Ereignisse der letzten Tage und vor allem das strahlende Wetter an diesem Spätsommertag verlangten geradezu nach einem Ausflug.

Claire hatte nicht widersprochen; zumal Michael den Vor-schlag in Emmas Gegenwart gemacht hatte, aber sie fühlte sich im Grunde nicht in der Stimmung dazu. Sie war mit Kopf-schmerzen, der Erinnerung an den letzten Abend und einer spürbaren Atemnot aufgewacht, und nichts von alledem hatte sich gebessert, seit sie alle fünf in den Wagen gestiegen und losgefahren waren. Michael hatte kein Wort über den gestrigen Abend verloren. Er hatte sich auch nichts anmerken lassen. Wenn sein Verhalten überhaupt anders war als sonst, war er höchstens noch fröhlicher, noch ausgelassener und spielte noch intensiver mit Emma.

Sie hatten auf einer Wiese zwanzig Meilen außerhalb der Stadt angehalten. Peyton und sie hatten Decken, den Picknick-korb und die Plastikteller aus dem Wagen geholt. Jetzt war Claire allein mit Joe. Er schlief in seiner Tragetasche neben ihr, und sie hütete sich, ihn zu wecken.

Vom anderen Ende der Wiese drang Emmas helles Kinderla-chen an ihr Ohr. Sie sah auf und beobachtete, wie Emma, Michael und Peyton ausgelassen auf dem Gras herumtollten und mit einem Ball spielten. Sie hätte sich gerne daran betei-ligt, aber sie konnte es nicht. Ihre Atemnot war nicht schlimm, aber größere körperliche Anstrengungen würde sie nicht bewältigen.

Michael schoß einen Ball in Emmas Richtung. Sie trat da-nach, verfehlte ihn aber, so daß er im hohen Gras verschwand, und Claire beobachtete mit einem deutlichen Anflug von Neid, wie Peyton ihm leichtfüßig nachsetzte.

»Das Essen ist fertig!« rief sie. »In einer Minute, Mom!« rief Emma zurück, ohne sie auch

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nur anzusehen. Claire preßte die Lippen aufeinander. Sie erschrak, als sie ihre

eigene Reaktion bemerkte. Sie war ganz dicht daran gewesen, Emma anzuschreien und ihr zu befehlen, gefälligst zu kommen und zu gehorchen.

Ihr Atem ging schneller. Ein leiser Schmerz machte sich in ihrer Brust bemerkbar, und Claires Hand glitt ganz automatisch zu ihrer Tasche, in der sie den Inhalator trug.

Als hätte er die Bewegung gespürt, drehte sich Michael in diesem Moment zu ihr herum und sah sie fragend und auch ein bißchen besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht es gut«, antwortete Claire. Sie zog die Hand mit einem übertriebenen Ruck zurück. Michael sah sie noch eine weitere Sekunde lang durchdringend an, dann zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder Emma und Peyton zu.

»Okay, Leute!« sagte er. »Fertig?« Peyton und Emma stellten sich ihm gegenüber auf und beug-

ten sich in perfekter Football-Haltung vor. »Achtung – los!« rief Michael. Peyton warf den Ball in die Luft. Michael und Emma sprangen danach, verfehlten ihn aber beide. Peyton ergriff ihn geschickt, drehte sich in dergleichen Bewegung herum und rannte leichtfüßig davon, gefolgt von Emma und Michael, die ein lautes Indianergebrüll anstimmten. Peyton lief im Zickzack, wechselte den Ball geschickt ein paarmal von der rechten in die linke Hand und sah über die Schulter zu ihren Verfolgern zurück. Vielleicht hätte sie es besser nicht getan, denn dadurch verlor sie genau den Sekundenbruchteil Vor-sprung, den sie noch gehabt hatte. Michael und Emma holten sie beinahe im gleichen Augenblick ein, und die drei stürzten aneinandergeklammert und laut lachend ins Gras herab.

»Das Essen ist fertig«, rief Claire noch einmal. Sie war nicht einmal sicher, ob sie laut genug gerufen hatte. Und es dauerte auch tatsächlich eine Weile, bis Emma,

Michael und Peyton endlich aufstanden und langsamer, als

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nötig gewesen wäre, zu ihr kamen. Claire hatte die Sandwiches verteilt und goß nun Getränke ein

– heißen Kaffee aus einer Thermoskanne für Michael, Peyton und sich, und Orangensaft für Emma. Alles kam ihr falsch vor, die Situation auf den Kopf gestellt: nicht zum ersten Mal, aber intensiv wie niemals bisher, hatte sie das Gefühl, daß sie die Fremde war, der Eindringling, der nicht dazugehörte und nur geduldet war. Sie sprach nichts von alledem aus, aber ihre gedrückte Stimmung schlug sich auf die der anderen nieder. Emmas Lachen verklang nach einer Weile, und auch Michael wirkte nicht mehr ganz so fröhlich und ausgelassen wie bisher. Sie aßen schweigend zu Ende. Nachdem sie fertig waren, sprang Emma auf, griff sich den Ball und warf einen auffor-dernden Blick zu Peyton, den diese lachend und mit einem Nicken beantwortete. Aber Michael machte eine rasche Geste, sich wieder zu setzen, und Emma gehorchte, wenn auch zögernd und mit deutlichen Anzeichen von Widerwillen.

»Warte noch einen Moment, Emma«, sagte Michael. »Wir müssen mit dir reden.«

Claire sah ihn überrascht an, und Michael warf ihr einen schnellen, entschuldigenden Blick zu, ehe er an seine Tochter gewandt fortfuhr: »Ich habe heute morgen mit den Leuten von der Better-Way-Voice telefoniert.«

»Better-Day«, verbesserte ihn Emma. Michael lachte. »Better-Day. Selbstverständlich. Auf jeden

Fall haben sie angerufen. Es geht um Solomon.« Claire wurde hellhörig. »Solomon?« Michael drehte sich wieder zu ihr herum. »Sie haben angeru-

fen, als ihr schon im Wagen wart. Ich … habe ganz vergessen, es dir zu sagen.«

Claire sagte nichts dazu. Sie war nicht einmal sehr überrascht. Es tat einfach nur weh.

»Sie möchten, daß Solomon wieder arbeitet«, fuhr Michael fort, nun wieder an Emma gewandt. »Und deine Mam und ich

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möchten, daß du es uns sofort sagst, wenn du ihn in der Nähe der Schule oder des Hauses siehst.«

Emma blinzelte irritiert. Ein Schatten huschte über ihr Ge-sicht, und Claire konnte sehen, wie sie sich am ganzen Leib versteifte. Automatisch streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus, aber Emma wich ein winziges Stück vor ihr zurück, und Claire führte die Bewegung nicht zu Ende.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Liebling«, sagte sie. »Angst?« Emma sah sie vollkommen verständnislos an,

»Aber ich habe doch keine Angst vor Solomon«, sagte sie. In Claires Hals saß plötzlich ein harter, bitterer Kloß. Sie

konnte nicht weitersprechen. Schweigend sah sie zu, wie Emma aufstand und mit dem Ball in den Händen auf die Wiese hinauslief.

Peyton folgte ihr.

Michael rang so tief und hörbar mühevoll nach Luft, daß es sich fast wie einer von Claires asthmatischen Atemzügen anhörte.

Und er glaubte in diesem Moment auch zu wissen, wie Claire sich manchmal fühlen mußte. Er war vollkommen außer Atem. Sein Mund war so trocken, daß es fast weh tat, und hinter seiner Stirn war ein leises Schwindelgefühl, das stärker wurde, wenn er den Fehler beging, den Kopf zu schnell zu bewegen.

Er hatte längst aufgehört, die Luftballons zu zählen, die Peyton und er aufgeblasen hatten. Überall lagen bunte Ballons, manche klein, manche groß, manche in der Form von Tieren, manche herkömmlich rund oder auch langgestreckt; unter der Decke spannten sich bunte Girlanden, und der Boden glitzerte von Konfetti.

Peyton hatte ein kleines Wunder geschafft. Sie hatte nicht nur alle Speisen und Getränke vorbereitet, die Einladungen verschickt, Dutzende von Telefonaten geführt und die beiden

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Partydienste koordiniert, die sich um das leibliche Wohl der Gäste – selbst nachdem sie die Liste erbarmungslos zusam-mengestrichen hatten, waren es noch immer über dreißig – kümmerten, sie hatte all das auch noch geschafft, ohne daß Claire irgend etwas davon gemerkt hätte.

»So«, sagte Marlene hinter ihm. »Jetzt kann der Ehrengast des Tages kommen. Schließlich soll sich die ganze Mühe ja auch gelohnt haben.« Sie sagte es mit einem tiefen Seufzen und in einer Tonlage, als wäre sie allein es gewesen, die die ganze Arbeit getan hatte.

»Wann erwartest du sie?« »Um halb fünf«, antwortete Michael. »Emma hat verspro-

chen, sie so lange aufzuhalten – aber auch nicht länger.« Er wandte sich an Peyton. »Mrs. Peterson weiß Bescheid?«

»Sie sitzt mit dem Telefon in der Hand am Fenster«, bestätig-te Peyton. »Sie ruft an, sobald Claires Wagen in Sicht kommt.« Ganz offensichtlich hatte sie großes Vergnügen an der kleinen Verschwörung, die zu Claires Überraschungsparty gehörte: nachdem die letzten Gäste eingetroffen waren, hatte Michael die Vordertür abgeschlossen, damit Claire das Haus auf jeden Fall durch die Küche betreten mußte. Mrs. Peterson, die in einem Haus am anderen Ende der Straße wohnte, würde sie auf jeden Fall rechtzeitig warnen, so daß im Haus Totenstille herrschte und die Überraschung auch wirklich komplett war.

»Noch zehn Minuten«, sagte Marlene, nachdem sie ebenfalls auf die Uhr gesehen hatte. »Ich denke, ich gehe noch einmal in den Garten und fröne meiner Sucht.« Sie zog ihre Zigaretten und ein billiges Einwegfeuerzeug aus der Handtasche und wandte sich zur Tür.

»Das würde ich nicht tun«, sagte Peyton. »Wenn sie früher als erwartet kommt und Sie sieht, verderben Sie uns die Überraschung.«

Marlene funkelte sie ärgerlich an, aber sie schien wohl auch einzusehen, daß Peyton recht hatte, denn sie stopfte ihre

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Rauchutensilien mit zornigen Bewegungen in die Handtasche zurück und verzichtete darauf, das Haus zu verlassen. Sie wandte sich an Michael.

»Sind alle Gäste da?« »Bis auf die Stantons«, antwortete Peyton, noch bevor Mi-

chael etwas sagen konnte. »Ich habe vorhin angerufen. Sie haben wohl ein paar Probleme, einen Babysitter zu bekommen. Aber sie hoffen, daß sie später am Abend noch vorbeikommen können.« Sie lehnte sich in einer freundschaftlich-vertrauten Bewegung an Michaels Schulter. »Aber das macht nichts. Schließlich wollen wir ja nicht um acht Uhr Schluß machen, oder?«

»Kaum«, antwortete Michael. Marlene musterte die beiden abwechselnd. »Perfekt«, sagte

sie. »Schade, daß du schon vergeben bist, Michael. Ihr zwei wärt wirklich das ideale Paar.«

»Fast so ideal wie du und ich«, bestätigte Michael spöttisch. »Aber daraus ist ja auch nichts geworden.«

»Ja, leider.« Marlene seufzte. »Oh, Peyton – tun Sie mir einen Gefallen?«

Peyton schwieg. Sie zog die linke Augenbraue hoch. »Im Gäste-WC ist beinahe kein Papier mehr«, sagte Marlene.

»Wären Sie so freundlich, es nachzufüllen?« »Ich bin nicht Ihr –«, begann Peyton, brach dann mitten im

Wort ab und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Ja?« fragte Marlene. Ihr Lächeln war ungefähr so echt wie

das Reptiliengrinsen einer Kobra. »Nichts«, sagte Peyton. »Entschuldigen Sie. Natürlich tue ich

es gern.« »Danke«, sagte Marlene. »Sie sind wirklich ein Schatz,

Peyton.« Peyton schwieg. Aber sie tat es auf eine Art und Weise, die

fast mehr ausdrückte als alles, was sie hätte sagen können. Für ein paar Sekunden lieferten sich ihre Blicke ein stummes Duell.

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Es war Peyton, die schließlich aufgab und ging, um zu tun, was Marlene von ihr verlangt hatte, aber Michael hatte das Gefühl, daß sie den Kampf ganz bewußt aufgegeben hatte; nicht verloren.

Verwirrt fragte er: »Was ist los mit euch beiden?« »Was soll los sein?« Marlene zuckte die Achseln. »Oh, natürlich, es ist nichts«, sagte Michael spöttisch. »Ich

bilde mir sicher nur ein, daß man es zischen hören kann, wenn ihr beide aneinander vorübergeht.«

»Deine Angestellte ist nicht besonders freundlich«, sagte Marlene.

»Sie ist unser Kindermädchen, nicht unsere Haushaltshilfe«, antwortete Michael. »Sie hat zwar die meiste Arbeit hier geleistet, aber sie muß das nicht tun, weißt du?«

Marlene sagte nichts mehr, und auch Michael verzichtete darauf, das Thema zu vertiefen. So sehr er Marlene mochte, so groß waren immer seine Schwierigkeiten gewesen, mit ihrer überheblichen und manchmal verletzenden Art zurechtzukom-men. Für Marlene waren Menschen wie Peyton – und erst recht ihre eigenen Angestellten – tatsächlich so etwas wie Menschen zweiter Klasse.

»Du hast nicht das Gefühl, ein wenig voreingenommen zu sein?« fragte er.

»Und du hast nicht das Gefühl, ein wenig blauäugig zu sein?« gab Marlene zurück.

»Wie meinst du das?« Marlene maß ihn mit einem langen, durchdringenden Blick.

»Du merkst wirklich nicht, was hier abläuft, wie?« »Du kannst Peyton nicht leiden«, sagte Michael seufzend.

»Ich weiß, du glaubst immer noch, daß sie uns etwas verheim-licht, aber –«

»Bist du so naiv, oder willst du es nicht begreifen?« unter-brach ihn Marlene.

»Was?«

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»›Peyton ist ein echter Schatz. Sie ist unersetzlich. Ich wüßte nicht, was wir ohne sie täten!‹« Marlene schürzte verächtlich die Lippen. »Das waren deine eigenen Worte.«

»Sicher. Aber ich –« »Du hast es nicht so gemeint, wie es klingt, ich weiß«, sagte

Marlene. »Aber hast du schon einmal daran gedacht, daß sie es vielleicht so meint?«

»Was?« murmelte Michael. Marlene winkte ab. »Laß es gut sein. Ich wollte dir nicht die

Laune verderben. Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Nicht heute. Entschuldige.« Sie gab ihm keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen, sondern ging zu Marty und begann sofort ein intensives Gespräch mit ihm, als hätte sie auf der Stelle vergessen, was sie gerade gesagt hatte.

Claire sah ein wenig ungeduldig auf die Uhr, während sie die Tür des Gewächshauses aufhielt und darauf wartete, daß Emma herauskam, ohne die in nasses Papier eingeschlagene Orchi-deenpflanze zu zerbrechen, die sie auf den Armen trug. Sie war annähernd so groß wie Emma selbst, und Claire war ganz und gar nicht überzeugt, daß die Pflanze den Wagen unbeschädigt erreichte. Aber sie beherrschte ihre Ungeduld.

Sie gingen zum Wagen. Emma wankte unter der Last der Orchidee, aber Claire widerstand der Versuchung, ihr zu helfen. Was Emma jetzt brauchte, waren Erfolge; niemand, der ihr alles abnahm.

»Puh!« Emma wischte sich mit übertriebener Gestik gar nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn, nachdem sie die Orchidee unbeschadet im Kofferraum des Kombis abgeladen hatte. »Das war ganz schön schwer.«

»Ohne dich hätte ich es nicht geschafft«, bestätigte Claire. »Aber es hat sich gelohnt. Das wird eine richtige Zierde für unser Gewächshaus.« Sie blinzelte ihrer Tochter zu. »Aber

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jetzt sollten wir uns ein bißchen beeilen. Orchideen sind sehr empfindlich. Sie muß so schnell wie möglich wieder in die Erde.«

Emma lief um den Wagen herum, stieg ein und fragte: »Wie spät ist es?«

»Zwanzig nach vier«, antwortete Claire, ohne auf die Uhr zu sehen. »Wieso?«

»Ich bin müde«, antwortete Emma. »Außerdem habe ich mich für halb fünf mit Tommy verabredet. Schaffen wir das?«

»Mit ein bißchen Glück.« Claire ließ den Wagen an. »Und wenn ich zu schnell fahre.«

»Wir müssen noch bei der Reinigung anhalten«, sagte Emma. »Peyton hat mich extra daran erinnert.«

Peyton. Schon wieder Peyton. Claires Lächeln fiel ein wenig gezwungen aus, während sie den Blick ihrer Tochter im Rückspiegel suchte. »Dann versäumst du deine Verabredung mit Tommy aber auf jeden Fall.«

»Und?« Emma kicherte. »Tante Marlene sagt, man kann gar nicht früh genug damit anfangen, die Männer warten zu lassen.«

Diesmal war Claires Lächeln echt. »Ja, so etwas in dieser Art habe ich erwartet von Tante Marlene«, sagte sie. Sie bog auf die Stadtautobahn ein, fuhr jedoch nicht direkt nach Hause, sondern verließ den Highway zwei Ausfahrten früher, um bei der Wäscherei anzuhalten.

Claire fuhr unwillkürlich etwas langsamer, als sie in die Straße einbog, in der Mr. Chungs Wäscherei lag. Der kleine, grauhaarige Chinese mit seiner winzigen Wäscherei entsprach so sehr dem Klischee dessen, was man sich unter einem chinesischen Wäschereibesitzer vorstellte, daß es schon beinahe wieder originell war. Er betrieb sein Geschäft mit chinesischer Geduld und Gründlichkeit und war dabei so zuverlässig (und nebenbei preiswert), daß Claire ihm auch nach dem Umzug treu geblieben war.

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»Warte hier, Liebling«, sagte sie, während sie den Wagen vor dem winzigen Laden zum Stehen brachte und nach der Papier-tüte auf dem Rücksitz griff. Emma sah sie nur verständnislos an – wohin sollte sie wohl gehen, während ihre Mutter in der Wäscherei war?

Claire betrat den Laden. Drinnen war es dunkel, und es roch feucht und sehr sauber. Über der Tür bimmelte ein kleines Glöckchen. Einen Augenblick später erschien Mr. Chung hinter der Theke. Trotz des schwachen Lichtes erkannte er Claire auf Anhieb.

»Ah, Mrs. Bartel«, sagte er. »Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen.«

Wahrscheinlich sagte er das zu jeder seiner Kundinnen, dachte Claire. Aber selbst wenn, die Worte hörten sich zumin-dest überzeugend an. Vielleicht war das der eigentliche Grund, warum Claire ihre Wäsche noch immer hierherbrachte, statt in die Schnellreinigung. Wäscheautomaten begrüßten einen nicht mit einem Lächeln und einer freundlichen Lüge, sondern mit dem metallenen Grinsen des Münzeinwurfschlitzes.

Claire setzte die Papiertüte auf der zerschrammten Theke ab, und Mr. Chung schüttete sie aus und begann den Inhalt zu sortieren. »Lassen Sie sehen, was wir da haben«, sagte er. »Das wären vier Hosen, zwei … nein: drei Hemden … was ist mit dieser Jacke?« Er hielt Michaels Jackett hoch und sah Claire mit einem Ausdruck leiser Verwunderung an. »Sie ist voll-kommen sauber.«

»Sie riecht aber sehr stark nach Rauch«, antwortete Claire. Chung roch an dem Jackett und nickte. »Ja, ich … merke es.

Seit wann raucht Ihr Mann denn wieder?« »Das tut er nicht«, antwortete Claire automatisch. »Sicher nicht.« Chung lächelte auf eine Weise, die Claire

plötzlich gar nicht mehr so gefiel wie noch vor ein paar Sekunden. »Den Geruch bekommen wir weg, keine Sorge. Wahrscheinlich müssen wir die Jacke dafür nicht einmal –

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nanu? Was haben wir denn da?« Er hatte angefangen, die Taschen des Jacketts zu durchsu-

chen. Jetzt runzelte er die Stirn, zog die Hand wieder aus der Tasche und streckte sie über die Theke.

Auf seiner Handfläche lag ein schweres, goldenes Feuerzeug. Claire hatte das Gefühl, daß ihr Herzschlag stockte. Eine

eisige Hand griff nach ihrer Kehle und schnürte ihr die Luft ab. Ein angedeutetes Lächeln erschien auf Mr. Chungs faltigen,

asiatischen Zügen. »Mrs. Bartel, ich glaube, Ihr Mann hat ein kleines Geheimnis vor Ihnen«, sagte er.

Claire hörte es nicht einmal. Das Feuerzeug. Es war nicht irgendein Feuerzeug. Sie kannte

es. Es war ein goldenes Tiffany. Der Gegenwert eines guten Gebrauchtwagens. Vielleicht nicht das Nonplusultra des guten Geschmacks, aber entsetzlich teuer, wie alles, was Marlene besaß.

»Mrs. Bartel?« fragte Chung. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Claire fuhr herum und stürmte aus dem Laden, und Sekunden später raste ihr Wagen mit kreischenden Reifen los.

Das Telefon klingelte. Peyton nahm ab und meldete sich mit Michaels Familiennamen. Sie hörte einen Moment lang wortlos zu, dann hängte sie ebenso wortlos ein und drehte sich zu Michael herum. »Sie kommt.«

Michael räusperte sich und hob die Stimme, um den Lärm der beinahe drei Dutzend Gäste zu übertönen. »Bitte Ruhe jetzt. Claire kommt!«

Tatsächlich kehrte fast augenblicklich Ruhe ein. Jeder wußte, wie wichtig es war, still zu sein. Wenn Claire schon draußen hörte, daß das Haus voller Besuch war, war die Überraschung dahin.

Michael ging zum Fenster und sah hinaus. Claires Wagen bog

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in diesem Moment in die Straße ein. Sie fuhr sehr schnell. Fast ein bißchen zu schnell, fand Michael.

»Also los«, befahl Peyton hinter ihm. »Alles auf die Plätze. Und keinen Muckser mehr. Michael?«

Michael ließ die Gardine zurückfallen, durchquerte mit raschen Schritten das Wohnzimmer und zog die Küchentür hinter sich zu. Auch der allerletzte Laut verstummte. Es wurde nicht vollkommen still; wenn man ganz genau hinhörte, dann spürte man, daß auf der anderen Seite der Tür irgend etwas war, aber nicht, was. Michael ging zum Fenster, sah hinaus – und stutzte. Er war nicht ganz sicher, aber für einen ganz kurzen Moment hatte er eine Gestalt zu sehen geglaubt, die auf der anderen Straßenseite stand und das Haus beobachtete. Eine sehr große, sehr breitschultrige Gestalt mit dunkler Haut.

Dann kam Claires Wagen in Sicht, und Michael vergaß den Schatten sofort wieder. Claire fuhr noch immer zu schnell. Sie fuhr nicht nur zu schnell – sie raste. Der Kombi näherte sich dem Grundstück, als hätte sie vor, ein Loch durch das ganze Haus zu bohren, bog mit kreischenden Reifen in die Zufahrt ein und kam buchstäblich Zentimeter vor der Küchentür zum Stehen. Michael erschrak ein wenig. Normalerweise war Claire eine sehr umsichtige Fahrerin. Ein derart rücksichtsloser Umgang mit dem Wagen gehörte so gar nicht zu ihrer Art – und erst recht nicht, wenn Emma bei ihr war.

Michael ging zur Tür. Plötzlich hatte er ein sehr ungutes Gefühl. Irgend etwas sagte ihm, daß dieser Geburtstag viel-leicht mit einer anderen Überraschung enden würde als der geplanten.

Er beobachtete, wie Claire ausstieg und um den Wagen herumeilte, um die hintere Tür zu öffnen; die Kindersicherung verhinderte, daß Emma die Tür von innen öffnen konnte. Sie ging sehr schnell, nein, sie stampfte. Michael wußte nicht, was vorgefallen sein mochte, aber Claire brodelte vor Zorn, das war nicht zu übersehen.

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Michael öffnete die Tür. »Hallo, Liebling«, sagte er. »Was –« »Bitte geh schon nach oben, Emma«, sagte Claire. Sie igno-

rierte Michael einfach, ging an ihm vorbei und wiederholte ihre Worte, als Emma ihm folgte. »Bitte geh in dein Zimmer, Emma. Dein Vater und ich haben etwas miteinander zu besprechen.«

»Aber Mom, ich –« »Jetzt«, unterbrach Claire sie in scharfem Ton. »Bitte, Em-

ma.« Emma sah sehr hilflos aus. Sie blickte zu Michael hoch, und

er gab ihr mit einem entsprechenden Blick zu verstehen, daß alles in Ordnung war und sie ihrer Mutter gehorchen sollte. Emma ging. Michael achtete darauf, zwischen ihr und der Tür zu stehen, damit Claire nicht im letzten Moment doch noch merkte, was auf der anderen Seite vorging.

Seine Vorsicht war unbegründet. Claire sah nicht einmal in seine Richtung. Sie stand an der Spüle und starrte die Wand an.

Jeder Zentimeter an ihr wirkte verkrampft. Michael sah erst jetzt den Inhalator, den sie in der linken Hand trug.

»Claire, was … was soll das?« fragte er. »Was ist los?« Claire tat einen einzelnen, rasselnden Atemzug, drehte sich

herum und streckte die Hand aus. Es war nicht der Inhalator, den sie darin trug. Was Michael für gelben Kunststoff gehalten hatte, erwies sich bei genauerem Hinsehen als massives Gold.

»Wie konntest du mir das antun?« flüsterte Claire. Ihre Stimme war heiser, und ihre Augen schimmerten feucht.

»Was … was meinst du?« fragte Michael verwirrt. Er verstand nichts mehr. Wie um alles in der Welt kam Claire zu Marlenes Feuerzeug?

»Das weißt du verdammt genau, du Mistkerl«, antwortete Claire. Sie sprach ein wenig lauter; nicht sehr, aber doch laut genug, daß zumindest die Tonlage ihrer Worte im angrenzen-den Raum zu hören sein mußte; vor allem, wenn dort drüben dreißig Ohrenpaare lauschend gespitzt waren.

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»Claire, bitte!« »Lüg mich nicht an!« Sie schrie jetzt wirklich. Michael trat auf sie zu und streckte die Hand aus, aber sie

wich mit einem schnellen Schritt vor ihm zurück. »Claire, bitte beruhige dich!« sagte er. »Wir sind nicht –« »Beruhigen?« keuchte Claire. »Verdammt, du sagst mir, ich

soll mich beruhigen? Warum, zum Teufel, sollte ich das tun?« »Claire, du verstehst nicht –«, begann Michael, der Verzweif-

lung nahe. Claire schrie jetzt wirklich. Drüben im Wohnzim-mer mußte jedes Wort deutlich zu verstehen sein.

»Du irrst dich, du Mistkerl!« unterbrach ihn Claire aufge-bracht. »Ich verstehe sehr wohl, daß du mit Marlene Craven vögelst!«

Michael starrte sie an. »Was?« fragte er verständnislos. »Lüg mich nicht auch noch an!« schrie Claire. »Meine beste

Freundin! Wie konntest du mir das antun!« »Claire, es sind Leute nebenan!« sagte Michael. Claire blinzelte. »Leute? Wovon … wovon redest du?« »Von unseren Freunden, und den meisten Nachbarn«, sagte

Michael. »Sie sind nebenan.« »Neben … an?« murmelte Claire. Michael konnte zusehen,

wie alles Blut aus ihrem Gesicht wich. »Was … was soll das heißen, nebenan?«

Michael deutete mit dem Kopf zur Tür hinter sich. Für einen Moment wußte er nicht, was schlimmer war, die Ungeheuer-lichkeit dieses absurden Vorwurfes oder die Gewißheit, daß Claire laut genug gesprochen hatte, um drüben im Wohnzim-mer deutlich verstanden zu werden.

»Wir haben … eine Überraschungsparty für dich organisiert«, sagte er lahm. »Sie sind alle da.«

Claire ging mit kleinen, erzwungen wirkenden Schritten an ihm vorbei. Sie war blaß, nicht nur einfach bleich, sondern schneeweiß, und wenn Michael jemals in ein Gesicht geblickt hatte, auf dessen Ausdruck die Bezeichnung Entsetzen zutraf,

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dann war es ihres in diesem Moment. Langsam öffnete sie die Tür, und in der halben Sekunde

bevor sie es tat, klammerte sich Michael noch einmal an die völlig widersinnige Hoffnung, daß sie dort draußen nicht gehört hatten, was Claire sagte. Aber diese Hoffnung hielt nur genau so lange an, wie Claire brauchte, um die Tür ganz zu öffnen.

Ein betretenes Schweigen schlug ihnen entgegen. Michael blickte in überraschte, verwirrte und peinlich berührte Gesich-ter, sah Hände, die ihre Gläser so fest umklammerten, als wollten sie sie zerbrechen, Augen, die plötzlich nicht zu wissen schienen, wohin mit ihrem Blick. Der Chor, den sie zu Claires Begrüßung einstudiert hatten, blieb aus. Es dauerte vielleicht drei Sekunden, aber Michael kamen sie vor wie Stunden, und für Claire waren es sicherlich die längsten Sekunden ihres Lebens.

Das Schweigen erreichte eine Intensität, die fast wie ein körperlicher Schmerz war, ehe Marty schließlich ein gekünstel-tes Räuspern und ein fast hilflos klingendes »Überraschung!« hören ließ. Es war ein beinahe rührender Versuch, etwas zu retten, was nicht mehr zu retten war. Niemand sonst sagte etwas, auch Claire nicht.

Aber eine Sekunde später fiel die Haustür ins Schloß. Marle-ne war gegangen.

Der gleiche Tag, aber später. Michael und Claire hatten sich ins Schlafzimmer zurückgezogen; nicht, um zu schlafen, dafür war es zu früh, und dafür waren sie beide zu aufgeregt. Vielleicht nicht einmal, um zu streiten, obwohl ihnen beiden klar war, daß es wahrscheinlich darauf hinauslaufen würde. Die Tür stand offen, aber nicht der mindeste Laut drang in den Raum. Im Haus herrschte eine fast unheimliche Stille.

»Wenigstens … wenigstens war es keine vollständige Kata-

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strophe«, sagte Claire. Sie sprach stockend, leise; ihre Worte und ihr Atmen wurden von einem dünnen, hörbaren Pfeifen begleitet. Das Luftholen tat ihr weh, aber das war nicht der einzige Schmerz, den sie verspürte.

»Nein, das war es nicht«, antwortete Michael. Er stand neben dem Bett, komplett angezogen und hoch aufgerichtet, und starrte die Dunkelheit hinter dem Fenster an. »Das Haus hätte abbrennen können. Oder du hättest ein Fleischmesser nehmen und auf Marlene losgehen können.« Er sah sie nicht an, während er sprach. Seine Stimme klang wie die eines Fremden.

»Was soll ich denn noch tun, außer immer wieder sagen, es tut mir leid?« fragte sie. Michael schwieg. Ihr Flehen prallte einfach von ihm ab. »Es tut mir wirklich leid, daß ich euch die Party ver–«

»Die Party interessiert mich einen Dreck!« unterbrach sie Michael. »Verdammt, Claire – was ist los mit dir? Wo ist die Claire geblieben, die ich geheiratet und geliebt habe?«

Endlich drehte er sich doch herum und sah sie an, aber sie wünschte sich fast, er hätte es nicht getan. In seinen Augen war … etwas Schreckliches, das ihr angst machte. Sie spürte genau, daß er noch mehr sagen wollte, noch schlimmere Dinge, die ihr vielleicht noch viel mehr weh tun würden. Aber dann be-herrschte er sich, drängte den Zorn in sich mühsam zurück und sagte nur: »Hast du schon mit Marlene gesprochen?«

Claire schüttelte den Kopf. Sie hatte es gewollt. Sie hatte ein dutzendmal den Telefonhörer abgenommen und die Nummer gewählt, aber jedesmal wieder eingehängt, noch ehe das Freizeichen ertönen konnte. »Ich kann es nicht«, sagte sie. »Ich … ich glaube, ich kann ihr nie wieder in die Augen sehen.« Und plötzlich brachen die Tränen aus ihr heraus, auf die sie so lange gewartet hatte. Sie kämpfte nicht dagegen an. Aber es war ein Weinen, das nicht erleichterte. »Michael, ich kann so nicht weiterleben.«

»Ich auch nicht«, antwortete er. »Ich kann so auch nicht

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weiterleben, Claire.« Er sah wieder weg. »Und ich glaube, ich will es auch nicht.«

Er wandte sich vom Fenster ab, ging zum Schrank und nahm eine Decke und ein Kopfkissen heraus.

»Was … was hast du vor?« stammelte Claire. Im ersten Moment glaubte sie fast, er würde nicht einmal

antworten. Dann, sehr leise, sehr traurig, sagte er: »Ich … brauche ein wenig Zeit. Ich muß nachdenken, Claire. Über vieles.«

»Bitte, Michael!« flehte Claire. »Bleib hier. Bitte, geh nicht weg!«

Michael sah sie an, lächelte traurig und sehr bitter und ging. Er verließ das Zimmer sehr schnell, damit sie die Tränen

nicht sah, die nun auch in seinen Augen schimmerten.

Peyton saß in dem gelben Schaukelstuhl in Joes Zimmer und gab ihrem Sohn die Brust. Sie hatte das Licht gelöscht, aber die Tür nur angelehnt, so daß sie jedes Wort verstanden hatte, das drüben im Schlafzimmer gesprochen wurde. Als Michael an der Tür vorüberging, konnte sie seinen Schatten erkennen. Trotzdem dachte sie nicht eine Sekunde lang daran, daß er oder gar Claire hereinkommen und sehen könnten, was sie tat. Diese Gefahr bestand nicht. Joe war ihr Kind, und das hier war sein Zimmer, in dem niemand außer ihr etwas verloren hatte.

Für eine Weile blieb es still draußen. Dann konnte sie hören, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde und Claires nackte Füße sich den Gang hinunter und zur Treppe bewegten.

Während Joe zufrieden weiter an ihrer Brust saugte und die Milch seiner Mutter trank, streckte Peyton die Hand nach dem Babywalkman aus, der neben ihr auf der Fensterbank stand …

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»Michael, bitte, komm zurück«, sagte Claire. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Stimme war trotzdem fast erstickt, ein heiseres Krächzen, das selbst sie kaum verstand.

»Bitte, laß uns wie vernünftige Menschen miteinander re-den«, sagte sie. »Es ist noch nicht zu spät.«

Michael hatte sich auf der Couch ausgestreckt und starrte die Decke an. Endlose Sekunden vergingen, bis er überhaupt auf ihre Worte reagierte.

»Zu spät wozu?« fragte er. Er setzte sich auf und sah sie im Dunkeln an. Claire widerstand der Versuchung, zu ihm zu gehen und sich an seine Brust zu werfen. Sie mußte jetzt tun, was sie schon längst hätte tun sollen: reden.

»Laß uns ein paar Tage wegfahren«, sagte sie. »Irgendwohin. Ganz gleich, wohin. Nur weg. Ich möchte einfach nur ein paar Tage mit dir allein sein. Glaubst du, daß … daß das geht?«

»Ich kann meinen Urlaub noch ein paar Tage verlängern«, sagte Michael. »Das ist kein Problem. Aber wozu soll das gut sein?«

Die Frage allein tat weh. Trotzdem antwortete Claire: »Ich weiß es nicht.« Das war nicht wahr. Sie wußte es. Irgendwo, tief in ihr drinnen, ihrem bewußten Zugriff noch entzogen, waren alle Antworten auf alle Fragen, selbst auf die, die sie sich noch gar nicht gestellt hatte, war etwas, das die wahren Zusammenhänge, die Ursache für alles Unglück, das in der letzten Zeit über sie hereingebrochen war, ganz genau kannte. »Ich möchte es einfach.«

»Vielleicht ist das sogar das beste«, murmelte Michael. Er zuckte mit den Schultern. »Warum eigentlich nicht? Meinst du – nur wir beide, oder auch Peyton und die Kinder?«

»Ich meine, wir beide und die Kinder«, antwortete Claire. »Nicht Peyton. Nur die Familie, Michael. Nur die Familie.«

»Aber Peyton gehört doch beinahe dazu«, sagte Michael. »Ich dachte immer, du bist froh, daß wir Peyton haben.«

»Das bin ich auch«, antwortete Claire. Sie sprach sehr

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schnell, sehr hastig, und es war eindeutig nicht die Wahrheit. Sie konnte es nicht begründen, es war fast absurd – aber in diesem Moment war es, als wäre es nur Peyton allein, die die Schuld an allem trug. Natürlich wußte Claire, was für ein Unsinn das war, aber das Gefühl war einfach zu stark – und zu verlockend –, um es zu ignorieren. In diesem Punkt irrte sich Michael. Sie war eine Fremde, und es war immer leichter, einem Fremden die Schuld zu geben.

»Hast du auf einmal etwas gegen sie?« fragte Michael. Claire zögerte. Plötzlich war sie sich ihrer eigenen Gefühle

nicht mehr sicher. Wenn sie sich irrte – oder Michael ihr nicht glaubte –, dann würde sie auch das letzte bißchen Vertrauen zerstören, das noch zwischen ihnen war, wenn sie jetzt weiter-sprach. Aber sie konnte auch nicht mehr aufhören. Es war, als hätten ihre Worte etwas in ihr in Bewegung gesetzt, das die ganze Zeit über dagewesen war und das nun einfach heraus-drängte, ob sie es wollte oder nicht.

»Nein«, sagte sie. »Es ist nur …« »Ja?« Irrte sie sich, oder klang seine Stimme plötzlich lauernd? Sie

sollte nicht weiter sprechen. Sie sollte verdammt noch mal die Klappe halten. Aber sie sprach weiter.

»Ich habe nichts gegen sie, Michael. Aber es ist … mir … mir passiert andauernd irgend etwas, seit sie im Haus ist.«

»Willst du damit sagen, daß es Peytons Schuld ist?« »Nein. Ja. Ich … ich weiß es einfach nicht. Ich habe das

Gefühl, ich bin nicht mehr ich selbst, seit sie hier ist.« »Aber Claire!« sagte Michael. »Bitte überlege, was du da

redest! Peyton hat uns sehr geholfen, als wir Hilfe am drin-gendsten nötig hatten.«

»Das weiß ich«, antwortete Claire. Michael hatte recht, tausendmal recht. Aber das Gefühl wurde immer intensiver. Sie mußte einfach weiterreden. »Vielleicht war es ein Fehler, jemanden zu engagieren, der bei uns im Haus lebt.«

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»Peyton ist … in einer ziemlich schwierigen Zeit zu uns gekommen«, sagte Michael vorsichtig. »Du hattest ein schlimmes Erlebnis, dann die Geburt … und jetzt die Sache mit Solomon. Mach sie nicht für etwas verantwortlich, was nicht ihre Schuld ist, Claire.«

»Aber es war ihre Schuld«. Plötzlich wußte Claire das. Sie wußte noch nicht, wieso, aber sie wußte, daß es so war. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie. Alles in ihr sträubte sich dagegen, die Wort auszusprechen, aber sie wußte auch, daß es sinnlos war, jetzt weiter mit Michael darüber zu reden. Wahr-scheinlich hielt er sie ohnehin schon für hysterisch. »Vielleicht bin ich einfach nur … übernervös. Laß uns ein paar Tage wegfahren und … und noch einmal in Ruhe über alles nach-denken. Bitte.«

Michael seufzte. Er antwortete nicht sofort. Er antwortete auch nicht nach ein paar Sekunden. Es dauerte lange, bis er überhaupt reagierte.

Aber schließlich nickte er. »Also gut. Wir fahren ein paar Tage aufs Land. Nur die Familie.«

Peyton hatte jedes Wort gehört. Weder Michael noch Claire hatten überhaupt gemerkt, daß der Baby-Walkman auf einem Tischchen neben der Stereoanlage stand, eingeschaltet, aber so herumgedreht, daß das kleine grüne LED-Auge zur Wand deutete und nicht sichtbar war.

Peyton hörte, wie Michael und Claire gemeinsam das Wohn-zimmer verließen. Mit einer raschen Bewegung schaltete sie das Gerät aus, stand auf und legte Joe ins Bett. Er war noch nicht ganz satt, aber er schien zu spüren, wie wichtig es war, still zu sein, denn er sah Peyton nur aus seinen klaren Augen an und gab keinen Laut von sich.

Schritte kamen die Treppe herauf. Peyton deckte den Jungen zu, hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und trat rückwärts

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von der Wiege zurück. Sie konnte hören, wie Michael ins Schlafzimmer ging, und von dort aus ins Bad, und eine Sekunde später näherten sich Claires Schritte dem Kinderzim-mer.

Peyton blieb ganz ruhig. Sie wußte, daß Claire nun herein-kommen würde, aber sie empfand keine Angst; nicht einmal Beunruhigung. Rasch und lautlos wich sie an die Wand neben der Tür zurück und preßte sich dagegen. Claire kam näher, zögerte einen kurzen Moment vor der Tür – und schob sie dann ein kleines Stück weit auf. Gelber Lichtschein fiel vom Flur herein. Peytons Herz schlug langsam und hart, aber sehr gleichmäßig. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, aber nicht, um zuzuschlagen – die Vorstellung, daß Claire ganz herein-kommen und sie entdecken würde, lag einfach nicht im Bereich des Möglichen. Es konnte nicht sein, denn Peyton wußte, daß es nichts mehr gab, was sie noch aufhalten konnte. Das Schicksal stand auf ihrer Seite.

Tatsächlich betrat Claire das Zimmer nicht ganz. Joe lag wach in seiner Wiege, aber er gab keinen Laut von sich, und sie mußte glauben, daß er schlief. Claire gehörte nicht zu den Müttern, die ihre Kinder aus dem Schlaf rissen, nur um sie zu drücken oder ihnen einen Kuß zu geben. Außerdem hatte Peyton schließlich dafür gesorgt, daß der Anblick eines schlafenden Joe in letzter Zeit zu etwas Kostbarem für Claire geworden war. Und nach einigen Augenblicken drehte sich Claire auch tatsächlich herum, zog die Tür hinter sich ins Schloß und ging ins Schlafzimmer hinüber.

In der Dunkelheit des Kinderzimmers lächelte Peyton still in sich hinein. Brauchte sie noch mehr Beweise, daß das, was sie tat, richtig war? Sie hatte nicht daran gezweifelt, aber selbst wenn sie es getan hätte – spätestens jetzt wäre sie sicher gewesen. Es gab nichts mehr, was sie noch aufhalten konnte. Sie würde es nicht zulassen.

Sie blieb noch gute zehn Minuten in Joes Zimmer, dann

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schlich sie hinaus, die Treppe hinunter und in ihr Apartment im Keller.

Der Radiowecker meldete sich pünktlich um vier. Peyton schaltete ihn aus, kaum daß die ersten drei Takte von Gary Moores Version von Johnny-Boy erklungen waren, denn sie hatte nicht wirklich geschlafen.

Sie stand auf, verließ das Zimmer und ging über die rückwär-tige Treppe in den Garten, wo sie einige Sekunden mit ange-haltenem Atem und lauschend stehenblieb. Die Nacht war sehr ruhig; so ruhig, daß sie die Stille für einen Moment zu hören glaubte.

Peyton sah auf die Armbanduhr. Es war noch immer vier; die Stunde der Nacht, in der die Dunkelheit am tiefsten und die Stille am umfassendsten war. Die Stunde der Nacht, die sich für ihr Vorhaben am besten eignete – denn Peyton plante nichts anderes als einen Mord.

Sie empfand es nicht so. In Peytons Bewußtsein war weder Platz für ein Zögern noch für irgendwelche anderen Bedenken.

Sie empfand keinerlei Gewissensbisse, aber auch keine Zufriedenheit; selbst ihre Rache schien plötzlich bedeutungslos geworden zu sein. Claire war zu einer Gefahr geworden, ob bewußt oder unbewußt, spielte keine Rolle, und sie würde nicht zulassen, daß irgend etwas ihre Pläne gefährdete. Was jetzt zu tun war, hatte nichts mehr mit Rache oder Haß oder irgendei-nem anderen Gefühl zu tun. Claire hatte sich ihr in den Weg gestellt, und was sich ihr in den Weg stellte, mußte eliminiert werden. Und sie wußte auch, wie. Sie hatte nicht einmal darüber nachdenken müssen. Die Idee hatte fertig in irgendei-ner der zahllosen Schubladen ihres Gehirns gelegen, einer von hundert Plänen für hundert verschiedene Situationen, die sie vorhergesehen und auf die sie sich vorbereitet hatte.

Lautlos und sehr schnell ging sie zu Claires Gewächshaus und

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trat durch die mittlerweile verglaste Tür ein. Ein intensiver, warmer Geruch nach Erde, Feuchtigkeit und Pflanzen schlug ihr entgegen, und im ersten Moment schien sich die Dunkelheit um sie herum zu verdichten, so daß sie beinahe blind war. Nur durch das Dach fiel ein grauer, nebeliger Schein herein – kein wirkliches Licht, nur ein Schimmer, der aus der Erinnerung an ihre Umgebung ein verschwommenes Erkennen machte.

Peyton schloß vorsichtig die Tür, wandte sich nach links und ertastete die Kurbel der Dachmechanik, noch bevor sie den verschwommenen Schatten vor sich identifizierte. Langsam begann sie die beiden Flügel hochzudrehen. Es war sehr schwer. Das Rasseln der Kette und das Quietschen der Schar-niere, die schon vor dreißig Jahren zu rosten begonnen hatten, kamen ihr überlaut vor; ein eiserner Schrei, der in weitem Umkreis zu hören sein mußte. Für einen Moment war sie felsenfest davon überzeugt, daß der Lärm selbst drüben im Haus gehört werden mußte, so daß Claire und Michael heraus-kommen würden, um nach seiner Ursache zu sehen. Zugleich war ihr aber auch klar, daß das gar nicht geschehen konnte – was sie tat, war einfach notwendig, damit sich der vorherbe-stimmte Verlauf des Schicksals erfüllte.

Sie haßte Claire nicht mehr. Der Haß hatte wie eine glühende Flamme in ihr gebrannt, aber jetzt war Peyton klar, daß auch er nur ein Werkzeug gewesen war; das Feuer, das sie am Leben erhalten und ihr die Kraft gegeben hatte, mit Victors Tod und dem Zusammenbruch ihrer Existenz fertig zu werden und sich auf die Suche nach ihrem verlorenen Kind zu machen.

Sie glaubte nicht einmal mehr, daß Claire wirklich die Schuld am Tod ihres Mannes trug. Victor war niemals das gewesen, wofür ihn alle Welt hielt. Er hatte den liebenden Ehemann gespielt, den erfolgreichen Arzt und cleveren Geschäftsmann, aber der wahre Victor Mott war nichts von alledem – er war ein Ungeheuer, eine perverse Bestie, der sie mehr als einmal den Tod gewünscht hatte.

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Die Kurbel machte eine letzte, mühsame Umdrehung und blockierte. Peyton legte den Sicherungshebel um, trat einen Schritt zurück und sah nach oben. Die beiden Fensterflügel waren so weit geöffnet, wie es ging.

Sie war in Schweiß gebadet. Es hatte sie all ihre Kraft geko-stet, die Fenster hochzudrehen, und das lag nicht nur an der schwergängigen Mechanik, sondern auch am Gewicht der eisernen Dachkonstruktion und des Glases. Ihre Hände zitterten vor Anstrengung.

Peyton gestattete sich einige Sekunden, um wieder zu Kräften zu kommen, dann wandte sie sich um und ließ ihren Blick suchend durch das Labyrinth schwarzer und grauer Schatten streifen, in das die Nacht das Innere des Gewächshauses verwandelte.

Es dauerte eine geraume Weile, bis sie den Klappspaten fand, und sie sah ihn auch nicht wirklich. Dazu war es zu dunkel. Aber sie selbst hatte ihn so unter einen der Blumentische geschoben, daß er praktisch verschwunden war.

Peyton klappte den Spaten auseinander, stellte ihn schräg unter die Kurbel und verkantete ihn mit einigen leichten Fußtritten so, daß das T-förmige Griffstück das Zahnrad blockierte, selbst wenn sie den Sicherungsbügel herausnahm. Dann drehte sie sich um und öffnete vorsichtig die Tür.

Ihre Schätzung war richtig gewesen. Die Klinke befand sich genau auf der Höhe des Spatengriffes. Peyton mußte das Werkzeug ein wenig zur Seite schieben und um einige Zenti-meter drehen, aber als sie fertig war, war aus dem Army-Spaten, den Claire irgendwann einmal auf dem Flohmarkt erstanden hatte, eine tödliche Falle geworden. Jeder, der die Tür öffnete und eintrat, würde den Spaten damit zur Seite stoßen.

Peyton überzeugte sich pedantisch davon, daß ihre Falle auch wirklich funktionierte. Sie probierte es dreimal aus, und dreimal kippte der Spaten gehorsam um, als ihn die Türklinke

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traf. Es gehörte nicht einmal so viel Kraft dazu, wie sie geglaubt hatte.

Nachdem sie das Werkzeug zum vierten Mal aufgestellt hatte, griff sie nach der Kurbel und löste den Sicherungsbügel. Das Zahnrad begann sich unter dem Gewicht der beiden Dachflügel zu bewegen, nur ein winziges Stückchen weit, ehe der Spaten-griff die Bewegung stoppte; aber schon die wenigen Zentime-ter, die die Fenster über ihr nach unten sackten, lösten eine vibrierende Erschütterung aus, die das gesamte Glashaus zum Erzittern brachte. Peyton hörte ein leises, aber irgendwie drohend wirkendes Knirschen und Klirren, die böse Version der Stimme ihres Windspiels, das über Joes Bett hing, und bedankte sich in Gedanken bei Claire, daß sie für das Dach echtes Glas genommen hatte, nicht irgendeinen Kunststoff.

Peyton trat einen Schritt zurück und begutachtete ihr Werk mit einem letzten prüfenden Blick. Das Gewicht der Fenster-flügel, das nun auf den Spatengriff drückte, würde es schwerer machen, das Werkzeug beiseite zu stoßen, aber das machte nichts. Die Tür ließ sich gerade noch weit genug öffnen, um sich mühsam hindurchzuquetschen, und natürlich würde Claire das nicht tun – wieso auch? –, sondern annehmen, daß sie aus irgendeinem Grund klemmte, und mit größerer Kraft nachhel-fen. Perfekt. Aber sie empfand nicht einmal Stolz auf ihr Werk – schließlich war alles, was sie bisher getan hatte, perfekt gewesen.

Peyton schlüpfte aus dem Gewächshaus, zog die Tür sorgsam hinter sich ins Schloß und ging so rasch und lautlos in ihr Zimmer zurück, wie sie gekommen war. Sie schlief beinahe sofort ein, nachdem sie sich auf das Bett gelegt hatte, und sie schlief sehr tief, sehr ruhig und vollkommen traumlos.

»… wenn Sie darüber hinaus noch Fragen haben oder ich und meine Angestellten Ihnen in irgendeiner anderen Weise

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behilflich sein können, zögern Sie nicht, uns jederzeit anzuru-fen – blah, blah, blah, blah.«

Marlene legte das Mikrofon aus der Hand, schaltete das Diktiergerät aus und musterte den kleinen Apparat einen Herzschlag lang mit kritischen Blicken, ehe sie die Kassette herausnahm und auf den Stapel mit Notizen warf, den sie für ihre Sekretärin vorbereitet hatte. Sie war nicht sehr zufrieden. Der letzte Satz gefiel ihr genauso wenig wie der gesamte Brief, zu dem er gehörte, und der wiederum gefiel ihr noch weniger als die fünf Briefe, die sie zuvor auf Band gesprochen hatte. Sie widerstand der Versuchung, das Band in den Papierkorb zu werfen und von vorne zu beginnen.

Marlene war nicht bei der Sache. Es war ihr an diesem Tag nicht gelungen, die normale Marlene Craven mit all ihren privaten Gedanken und Sorgen einfach abzustreifen, als sie das Büro betrat, und sich mit hundertfünfzig Prozent ihrer Kraft der Arbeit zu widmen; ein Trick, den sie perfekt beherrschte und dem sie einen Großteil ihres geschäftlichen Erfolges verdankte.

Nicht zum ersten Mal an diesem Vormittag blickte Marlene das Telefon an und fragte sich, warum zum Teufel sie nicht einfach abhob und Claires Nummer wählte, um die Sache ein für allemal aus der Welt schaffen, und nicht zum ersten Mal zog sie die Hand wieder zurück, noch ehe sie sie wirklich gehoben hatte.

Sie konnte es nicht. Sie hatte geglaubt, daß es nichts gab, was sie wirklich erschüttern konnte, aber das stimmte nicht. Sie hatte ebenso geglaubt, mit jeder peinlichen Situation und jeder Überraschung fertig zu werden, aber das stimmte auch nicht.

Marlenes Gesicht beschattete sich, als sie an Claires Überra-schungsparty zurückdachte. Es war nicht einmal so sehr die Peinlichkeit von Claires Auftritt allein, die sie so aus der Fassung brachte. Natürlich hatten alle Partygäste jedes Wort von Claire gehört – schließlich hatte sie laut genug geschrien, um noch zwei Häuser weiter verstanden zu werden –, und

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obwohl alle sich Mühe gegeben hatten, so zu tun, als wäre gar nichts passiert, waren Marlene die verstohlenen Blicke nicht entgangen, die sich plötzlich auf sie konzentrierten. Aber das hatte sie tatsächlich kaum berührt; sie wäre kaum innerhalb von zehn Jahren von der kleinen Angestellten zu einer der erfolgreichsten Immobilienmaklerinnen Vermonts aufgestie-gen, hätte sie sich von spöttischen Blicken und Gerede beein-drucken lassen. Schlimm waren zwei andere Dinge gewesen: Das Entsetzen in Martys Augen, als er Claires hysterische Stimme auf der anderen Seite der Tür hörte (nicht, daß er auch nur den Bruchteil einer Sekunde lang diesen Unsinn geglaubt hätte. Marty und sie waren sich ihrer gegenseitig so sicher, wie es zwei Menschen nur sein konnten, und darüber hinaus wußte er auch, daß sie in den letzten Monaten so beschäftigt gewesen war, daß sie einfach keine Zeit für ein Verhältnis gehabt hätte, weder mit Michael noch mit irgendeinem anderen) – es war die Ungeheuerlichkeit dieses Verdachts, die ihn erschüttert hatte: Claire und sie waren Freundinnen, aber sie waren auch weit mehr als das. Es hatte eine Zeit gegeben – vor Marty, vor Claire –, in der Marlene und Michael ineinander verliebt gewesen waren, aber das war vorbei. Eine jener kostbaren Erinnerungen, denen weder der bittere Beigeschmack der Enttäuschung noch Wehmut anhafteten. Sie hatten eine wunderbare Zeit gehabt, aber irgendwann war sie vorbei gewesen, ganz undramatisch, etwas, das begann, seine Zeit hatte und zu Ende ging und vielleicht gerade deshalb einfach gut war. Deshalb hatte sie Claire auch niemals als Konkurren-tin gesehen. Ganz im Gegenteil, ein Teil der Liebe für Michael, die sie tief in sich immer noch empfand und die auch niemals ganz erlöschen würde, hatte sich auf Claire übertragen, und Claire, die die Aufrichtigkeit dieses Gefühls spürte, hatte diese Zuneigung erwidert. Und gerade darum war das, was Claire gesagt hatte, so schlimm. Es war viel mehr als ein absurder Verdacht. Es war … Nein – es gelang Marlene nicht einmal

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jetzt, ihre Empfindungen in Worte zu kleiden. Es war … einfach absurd. Auf eine schreckliche, böse Art. Aber das war nicht alles. Sie war davongestürmt, noch ehe Michael und Claire aus der Küche gekommen waren, innerlich brodelnd vor Zorn und Schmerz, aber erst später, als sie im Wagen saß und mit fast siebzig Meilen durch die Stadt nach Hause raste, war ihr klar geworden, daß dieser Zorn nicht Claire galt. Sie hatte es geglaubt, aber das stimmte nicht. Claires Worte hatten sie nicht einmal wirklich verletzt. Ihr Zorn galt etwas anderem. Etwas, von dem sie nicht wußte, was es war, das aber zweifel-los existierte. Etwas (jemand?), das/der wahre Schuld trug. Claire hatte sich verändert. Ihr aberwitziger Ausbruch war nur der fast konsequente Endpunkt einer Entwicklung, die Marlene keineswegs verborgen geblieben war. Die Claire, die Michael auf der anderen Seite der Tür angeschrien hatte, war längst nicht mehr die Claire, die Marlene kannte. Sie war gereizt, nervös, launisch und ungeduldig, und keines dieser Attribute hätte noch vor wenigen Wochen auf die Frau zugetroffen, die Marlene liebte wie eine Schwester. Sie hatte sich verändert, auf eine schlimme, sehr schlimme Art, und diese Veränderung war vielleicht nicht einmal abgeschlossen.

Als Marlene dies klargeworden war, wäre sie um ein Haar umgedreht und zurückgefahren, um Claire zur Rede zu stellen, ganz egal, was dann geschah. Sie hatte es schließlich doch nicht getan, aber sie hatte es den ganzen Abend und die halbe Nacht über, die sie wachgelegen hatte, zutiefst bedauert.

»Ein zaghaftes Klopfen drang in ihre Gedanken. Marlene setzte sich in ihrem Sessel auf, straffte die Schultern und stieß ein energisches »Herein« aus, dem man nichts von ihren wahren Gefühlen anhörte. Ihr Assistent betrat den Raum und näherte sich zögernd dem Schreibtisch. Marlene unterdrückte ein Seufzen, als sie den verschreckten Ausdruck in seinen Augen gewahrte. Der Mann war seit drei Monaten bei ihr, und sie glaubte kaum, daß er in weiteren drei Monaten noch hier

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sein würde. Sie hatte sich eine Menge von ihm versprochen: seine Zeugnisse waren phantastisch, und sein Fachwissen hatte selbst sie verblüfft. Aber er hatte kein Rückgrat. Er war jetzt noch so schüchtern wie am ersten Tag, und am Telefon war er eine glatte Katastrophe.

»Ja?« fragte sie. Der junge Mann fuhr erschrocken zusammen und sah sie auf

eine Art an, als hätte sie von ihm verlangt, einen Handstand auf dem Fenstersims draußen zu machen. Mit einer unsicheren Geste reichte er ihr einen umfangreichen Stapel von Papieren und Kunststoffheftern über den Tisch. »Die … die Unterlagen, die Sie haben wollten, Mrs. Craven«, sagte er. »Das sind alle Grundstücke der in Frage kommenden Preisklasse im Magno-lia-Viertel.«

»Danke«, sagte Marlene. Sie legte die Unterlagen vor sich auf den Tisch, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. »Ich rufe Sie, sobald ich so weit bin.«

Der junge Mann verschwand; gesenkten Blickes und lautlos, wie er gekommen war, aber ungleich schneller. Marlene blickte ihm kopfschüttelnd nach, seufzte tief und überlegte ein letztes Mal, ob sie Claire anrufen oder sich um diesen Magnolia-Auftrag kümmern sollte. Schließlich entschied sie sich für den Auftrag. Ihr stand der Sinn weniger denn je nach Arbeit, aber der Kunde, in dessen Auftrag sie nach einem Haus in dem Nobelviertel suchte, war nicht besonders geduldig.

Ohne besonderen Enthusiasmus begann Marlene die Exposes durchzublättern, die ihr Assistent gebracht hatte. Die Auswahl war nicht besonders groß, und die meisten kannte sie schon: Rosen, Pentel, Hastings … Häuser in dieser Preisklasse wuchsen nicht auf den Bäumen. Wirklich neu war nur ein einziges Objekt: eine supermoderne Scheußlichkeit aus Sichtbeton und Glas, für die Marlene persönlich nicht einmal eine Million gezahlt hätte; geschweige denn vier, wie der Kurztext auf der Rückseite des Fotos verkündete. Er sagte

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Marlene auch, daß außer ihr noch drei weitere Makler versuch-ten, den Kasten loszuwerden. Und er sagte ihr noch etwas, aber diese Botschaft verstand sie im ersten Moment nicht. Es war irgend etwas mit dem Namen des Verkäufers. Sie hatte ihn schon einmal gehört, aber sie wußte nicht, wo. Mott. Dr. Victor Mott …

Richtig, dachte sie spöttisch. Dr. Mott, der Fummeldoktor. Selbst wenn es nicht zufällig Claire gewesen wäre, die diesem Sittenstrolch das Handwerk gelegt hatte, wäre ihr der Name geläufig gewesen. Schließlich hatten die Zeitungen lange und ausgiebig über ihn geschrieben.

Marlene drehte das Bild wieder herum und betrachtete es kopfschüttelnd. Von Dr. Motts moralischen Qualitäten einmal abgesehen, hätte sie ihm einen besseren Geschmack zugetraut. Das Haus war absolut scheußlich. Sie glaubte nicht, daß sie es zu dem geforderten Preis loswerden würde.

Sie legte das Bild wieder zur Seite – und stutzte. Mit er-schrockenem Ausdruck nahm sie das Bild wieder zur Hand. Sie kniff die Augen zusammen, um mehr Einzelheiten zu erken-nen.

Marlene zog eine Schublade auf, nahm eine Lupe heraus und blickte konzentriert hindurch.

Sie saß fast eine Minute da und starrte das Bild an. Ihre Finger zitterten, als sie einen Filzschreiber nahm und einen dicken schwarzen Kringel um den Eingang der Mott-Villa malte. Der winzige, weiße Reck darin war mit bloßem Auge kaum zu erkennen – dafür aber unter der Lupe um so besser.

Es war ein Windspiel; eine moderne Skulptur aus weißem Glas.

Und Marlene kannte es. Sie hatte es erst vor wenigen Tagen gesehen.

Es war das Windspiel, das über Joes Bettchen hing. Peytons Windspiel. Irgend etwas hinter Marlenes Stirn machte deutlich Klick. Es

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war, als ordneten sich Teile eines Puzzles ganz plötzlich zu einem Bild, so deutlich und schnell, daß sie nicht den Bruchteil einer Sekunde daran zweifelte, sich aber dafür eine geraume Weile völlig fassungslos fragte, wieso sie nicht schon längst von selbst darauf gekommen war. Alles war plötzlich so klar, so eindeutig.

Marlene sprang hinter ihrem Schreibtisch hervor und riß im Vorübergehen ihre Jacke vom Kleiderständer.

»Ich muß zur Bücherei«, rief sie ihrem Assistenten im Vor-überlaufen zu. »Streichen Sie alle Termine. Ich weiß nicht, ob ich heute noch einmal zurückkomme.«

»Aber Mrs. Craven!« Der Assistent wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Panik flackerte in seinen Augen. »Die Rauchs kommen in einer Stunde. Was soll ich ihnen sagen?«

Marlene trat in den Aufzug und drückte den Knopf für die Tiefgarage. »Lassen Sie sich etwas einfallen. Wozu haben Sie schließlich in Harvard studiert?«

»Gut, Mrs. Henry, Sie bekommen die Entschuldigung dann noch schriftlich. Und vielen Dank noch einmal für Ihr Entge-genkommen.« Claire hängte ein und ging in die Küche zurück. Peyton, die an der Spüle stand und das Frühstücksgeschirr abwusch, sah auf und lächelte sie an. Claire erwiderte ihr Lächeln automatisch, aber sie spürte selbst, daß es wenig überzeugend ausfiel. Sie hatte noch nicht mit Peyton gespro-chen, und sie würde es auch nicht tun; nicht bevor sie zurück waren. Aber sie hatte das Gefühl, daß Peyton zumindest ahnte, daß etwas nicht in Ordnung war.

»Was hat Emmas Lehrerin gesagt?« »Sie ist einverstanden«, antwortete Claire. »Emma ist gut

genug in der Schule. Sie kann es sich durchaus leisten, zwei Tage zu versäumen. Normalerweise tun sie es nicht gern, aber in diesem Fall macht Mrs. Henry eine Ausnahme.«

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»Ich freue mich«, sagte Peyton. »Der Urlaub wird Ihnen bestimmt guttun. Sie werden sehen, anschließend fühlen Sie sich wie neugeboren. Es war auch alles ein bißchen viel in letzter Zeit. Die Geburt, die Sache mit Solomon, das Gewächs-haus – und dann diese schreckliche Geschichte während Ihrer Schwangerschaft, von der Sie mir erzählt haben … Ich glaube, Sie haben sich einfach zu viel zugemutet.«

»Möglich«, antwortete Claire knapp. Sie wandte sich um und sah suchend in die Runde. »Haben Sie meine Wagenschlüssel gesehen?«

»Auf der Anrichte, draußen im Flur«, antwortete Peyton automatisch. »Wollen Sie weg? Ich dachte, Sie wollten in Ihrem Gewächshaus arbeiten.«

»Deshalb will ich ja weg«, antwortete Claire. »Ich muß noch einige Stecklinge aus dem Botanischen Garten holen. Sie müssen eingepflanzt werden, bevor wir wegfahren. Und es sind noch ein paar Kleinigkeiten für Michael zu erledigen.«

»Wann geht es los?« »Morgen früh«, sagte Claire. »Ich wäre gerne gleich heute

losgefahren, aber Michael hatte noch so viel im Labor zu erledigen, daß er wahrscheinlich erst am Abend zurück-kommt.«

»Sagte er nicht, daß er Urlaub hat?« »Das hat er auch«, seufzte Claire. »Aber Sie wissen ja, wie er ist – er hat Angst, daß der ganze

Laden zusammenbricht, wenn er für ein paar Tage nicht erreichbar ist … Männer!«

Peyton lachte pflichtschuldig. »Wissen Sie schon, wohin es geht?«

»Nein. Ich denke, wir fahren einfach los und lassen uns überraschen.«

»Das werden meistens die schönsten Reisen«, sagte Peyton. »Victor und ich sind oft …« Sie stockte. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und für einen winzigen Moment erschien

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etwas in ihren Augen, das Claire erschreckte. Aber sie hatte sich fast sofort wieder in der Gewalt. »Wissen Sie was? Während Sie Ihre Besorgungen erledigen, kann ich ja schon einmal Ihre Sachen packen. Vielleicht kommt Michael ja doch früher nach Hause, und Sie können heute schon losfahren.«

»Peyton«, begann Claire, »ich muß Ihnen –« »Da wäre noch etwas«, unterbrach Peyton. »Ich … ich hoffe,

Sie sind mir nicht böse, aber …« »Ja?« »Ich würde lieber hierbleiben«, sagte Peyton. »Das heißt, nur,

wenn Sie mich nicht brauchen. Aber ich glaube, es wäre das beste, wenn Michael und Sie jetzt ein paar Tage ganz für sich allein hätten. Sie können Emma und Joe hierlassen, wenn Sie wollen. Das ist kein Problem.«

Der Gedanke war verlockend. Wären die Umstände auch nur ein bißchen anders gewesen, hätte Claire wahrscheinlich keine Sekunde gezögert, Peytons Angebot anzunehmen. So aber schüttelte sie nach ein paar Sekunden den Kopf.

»Das ist furchtbar nett von Ihnen, Peyton«, sagte sie, »aber ich denke –«

»Überlegen Sie es sich einfach«, sagte Peyton. »Sprechen Sie mit Michael darüber.«

Claire zögerte. Peytons Vorschlag hatte sie vollkommen aus dem Konzept

gebracht. »Wir … reden später darüber, okay? Wenn ich zurück bin.«

»Lassen Sie sich Zeit«, antwortete Peyton lächelnd. Sie sah Claire nach, bis sie das Haus verlassen hatte, und sie

lächelte auch noch, während Claire zur Garage ging, in den Wagen stieg und abfuhr.

Dann erlosch ihr Lächeln, als wäre es abgeschaltet. Sie wartete; zwanzig Sekunden, dreißig, eine Minute. Erst als sie wirklich sicher war, daß Claire nicht an der nächsten Ampel gewendet hatte und zurückkam, verließ sie die Küche und

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begann ihren Rundgang durch das Haus. Sie arbeitete schnell, aber sehr sorgfältig. Claire hatte ihr –

für den Fall der Fälle – schon vor einer ganzen Weile gezeigt, wo überall im Haus sie die Inhalatoren mit ihrem Asthma-Mittel deponiert hatte, so daß Peyton nicht einmal suchen mußte. Es waren drei: einer in ihrer Nachttischschublade im Schlafzimmer, einer im Bad und ein dritter in der Küche.

Peyton entleerte sie alle drei. Als sie fertig war, erfüllte der dünne Aerosol-Nebel das ganze

Haus, und der stechende Geruch des Medikaments war so intensiv, daß man es wahrscheinlich sogar draußen riechen konnte. Aber er würde schnell verfliegen.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Marlenes Augen brannten. Sie starrte jetzt seit einer halben Stunde konzentriert auf den Leuchtschirm, und die ungewohnte Tätigkeit hatte sich als anstrengender und weitaus mühevoller erwiesen, als sie erwartet hatte. Marlene sah sich einem wahren Wust von Daten gegenüber. Sie hatte längst aufgehört zu zählen, wie viele Mikrofilm-Karten sie in das Lesegerät geschoben hatte, wie viele Artikel sie gelesen und wie viele Fotos sie betrachtet hatte.

Im Verlauf der letzten halben Stunde war Marlene zu dem Schluß gekommen, daß das menschliche Gehirn wohl in erster Linie eine Vergeßmaschine war und erst in zweiter Hinsicht ein Erinnerungsapparat. Sie hatte den Fall Mott damals sehr aufmerksam verfolgt, nicht nur wegen Claires Rolle darin, sondern weil es der größte Skandal der letzten Jahre gewesen war.

Trotzdem war es erstaunlich, wie viele Details sie bereits vergessen hatte, obwohl noch nicht einmal viel mehr als ein halbes Jahr verstrichen war. Plötzlich sah sie vieles in einem anderen Licht. Sehr vieles.

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Marlene war mittlerweile sicher, daß Peyton Flanders (Peyton Flanders? Ha. Ha. Ha.) niemand anderes als Mrs. Victor Mott war. Was ihr noch fehlte, war ein eindeutiger Beweis.

Sie nahm den Mikrofilm aus dem Apparat, wählte eine weitere Karte aus dem Stapel und legte ihn ein. Das Negativ-Abbild der Zeitungsseite huschte über den Schirm und kam zur Ruhe. Ein weiterer Bericht über Dr. Mott. Bilder von Dr. Mott – Dr. Mott auf einer Konferenz, Dr. Mott auf einer Cocktailparty. Dr. Mott im Kreise seiner Kollegen – aber kein einziges Bild von Mrs. Mott. Es war zum Verrücktwerden!

Aber Marlene gab nicht auf. Im Grunde hätte sie das Foto nicht einmal mehr gebraucht – sie erinnerte sich jetzt, wo sie Mrs. Flanders getroffen hatte; es war vor zwei Jahren gewesen, auf einer jener öden Cocktailpartys, zu denen niemand gerne ging und bei denen das beliebteste Gesprächsthema darin bestand, über andere Gäste herzuziehen. Auch Dr. Mott und seine Frau waren dagewesen. Irgend jemand hatte über den Modedoktor gesprochen, und Marlene hatte ihm einen flüchti-gen Blick zugeworfen. Marlene erinnerte sich jetzt genauer – er hatte sie alles andere als flüchtig betrachtet; nicht besonders lange, aber auf eine Art und Weise, die ihr nicht behagte. Sie hatte seine Nähe für den Rest des Abends gemieden – aber die Frau an seiner Seite war zweifelsfrei Peyton gewesen.

Die nächste Seite. Bilder, Berichte und noch mehr Bilder – darunter auch eines von Claire. Marlene seufzte. Notfalls würde sie auch ohne Foto zu Claire fahren. Nach dem Eklat von gestern wäre es ihr zwar wesentlich lieber gewesen, mit einem Beweis in den Händen zu ihr zu kommen, aber Claire würde ihr trotzdem glauben. Alles ergab plötzlich einen Sinn.

Marlene verspürte ein eisiges Frösteln, als ihr die Ungeheuer-lichkeit dessen zu Bewußtsein kam, was Peyton zu tun im Begriff war. Es war eine Geschichte, die aus einem schlechten Film hätte stammen können: eine Frau rächte ihren toten Mann, indem sie die Familie der ›Mörderin‹ systematisch von innen

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zerstörte. Es war unfaßbar – und es war wahr. Und das schlimmste war: sie hatte es beinahe schon geschafft.

Aber sie würde es verhindern, dachte Marlene grimmig. Peytons Plan mochte perfekt sein, aber sie hatte die Rechnung ohne sie gemacht.

Das Bild auf dem Schirm kam mit einem Ruck zur Ruhe, und Marlenes Augen wurden schmal. Neben dem Artikel, der von Motts Beerdigung berichtete, war ein Foto des offenen Grabes, das von den Trauergästen im Halbkreis umstanden wurde. Und in der ersten Reihe stand –

Peyton. Sie trug eine Sonnenbrille und einen schwarzen Gazeschleier

vor dem Gesicht, aber sie war trotzdem ganz eindeutig zu erkennen. Ihre Frisur war anders, und der Schmerz auf ihren Zügen war selbst auf dem Negativbild deutlich zu erkennen; er wirkte beinahe deutlicher, als hätte die Umkehrung von hell und dunkel erst ihr wahres Gesicht zutage gefördert. Die Frau auf dem Bild war eindeutig Peyton, aber sie war auch ein Racheengel, ein schwarzer Dämon, in dessen Antlitz eine mörderische Entschlossenheit zu lesen war.

Und noch etwas war anders. Peyton war ganz eindeutig schwanger. »Mein Gott!« flüsterte Marlene. »Wie um alles in der Welt

konnte ich das vergessen?« Dabei hatte Claire es ihr sogar gesagt. Peyton war schwanger gewesen. Sie hatte ihr Kind verloren, und man mußte nicht viel von Psychologie verstehen, um zu begreifen, was in dieser Frau vor sich gegangen sein mußte.

Und ganz plötzlich begriff Marlene, daß Claire in Lebensge-fahr schwebte. Und vielleicht nicht nur sie.

Marlene riß den Film aus dem Apparat und sprang so schnell auf, daß ihr einige der anderen Bibliotheksbesucher mißbilli-gende Blicke zuwarfen, aber sie ignorierte sie ebenso wie den Kartenstapel neben dem Lesegerät. Mit weit ausgreifenden

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Schritten durchquerte sie den Raum und eilte zu der niedrigen Theke, hinter der zwei Bibliotheksangestellte saßen. Eine der beiden älteren Frauen stand auf, trat Marlene entgegen und setzte dazu an, ihr leise zu erklären, daß dies kein Ort war, an dem man rannte.

Marlene kam ihr zuvor, indem sie den Film ungeduldig vor ihr auf den Tisch warf. »Ich brauche eine Kopie davon«, sagte sie. »Gleich. Geht das?«

Ihr Gegenüber blickte sie verwirrt an. Etwas in Marlenes Stimme schien ihr zu sagen, daß Marlene ein Nein nicht akzeptieren würde. »Sicher«, sagte sie, »aber –«

»Dann tun Sie es«, schnitt ihr Marlene das Wort ab. »Bitte. Ich habe es sehr eilig.«

Die Dunkelhaarige reichte die Karte an ihre Kollegin weiter, die sie schweigend entgegennahm und an ein Kopiergerät trat.

Während sie darauf wartete, daß die Zeitungsseite belichtet und ausgeworfen wurde, maß sie abwechselnd Marlene und den Tisch, an dem sie gesessen hatte.

»Sie müssen die anderen Filme noch zurückbringen«, erinner-te sie.

»Dazu habe ich leider keine Zeit«, erwiderte Marlene. »Ich habe es wirklich eilig, wissen Sie?«

»Aber –« Marlene öffnete ihre Handtasche, nahm einen Zwanzigdollar-

schein heraus und legte ihn auf die Theke. »Das wird für die Fotokopie ausreichen – und für Ihre Mühe«, sagte sie. »Ich würde es ja selbst wegräumen, wenn ich die Zeit dazu hätte.«

Die Frau schwieg einen Moment verwirrt. Man sah ihr an, daß die Banknote sie nicht beeindruckte, aber sie schien auch zu spüren, daß Marlene einen triftigen Grund für ihre Eile hatte. Sie sagte nichts mehr, sondern strich den Zwanziger schweigend ein, öffnete eine Kasse unter ihrer Theke und zählte neunzehn einzelne Dollarnoten vor Marlene hin.

»Ihr Wechselgeld«, sagte sie kühl. »Ich werde die Karten

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selbst wegräumen – ausnahmsweise. Eigentlich ist das nicht meine Aufgabe.«

»Ich weiß«, antwortete Marlene. »Und ich bin Ihnen auch unendlich dankbar. Wie lange dauert denn das noch?«

Sie wartete voller Ungeduld, daß die Kopie fertig war, riß sie der Bibliothekarin regelrecht aus der Hand und stürmte aus dem Raum. Draußen in der großen, marmorgefliesten Vorhalle steuerte sie das Telefon an, aber es war wie immer, wenn man ein Telefon wirklich braucht. Zwei der drei Apparate waren defekt, für den dritten brauchte man eine Karte.

Marlene fluchte laut und wenig damenhaft, fuhr auf dem Absatz herum und lief zu ihrem Wagen. Sie riß die Tür auf, warf sich auf den Fahrersitz und legte die zusammengefaltete Fotokopie mit Peytons Konterfei ins Handschuhfach. Sie startete den Motor und gab so heftig Gas, daß die Räder des schweren Volvo durchdrehten. Hinter ihr erscholl ein zorniges Hupen, als Marlene sich rücksichtslos in den fließenden Verkehr hineindrängelte, aber sie ignorierte es ebenso wie den Radfahrer, den sie um ein Haar überfahren hätte.

»Verdammtes Miststück!« schimpfte sie. »Verdammtes, verlogenes Miststück!«

Marlene war nicht nur wütend. Sie hatte Angst um Claire, und das Wissen um die Heimtücke ihrer Gegnerin bestärkte sie in dieser Furcht. Peyton würde nicht einfach aufgeben und sich schmollend zurückziehen, wenn ihr klar wurde, daß ihr kleines Theaterstück aufgeflogen war. Marlene war klar, daß die wirkliche Auseinandersetzung mit Mrs. Flanders noch bevor-stand.

Der Volvo raste auf kreischenden Reifen um die Kurve und schlängelte sich in einem Stil durch den Verkehr, der einen New Yorker Taxifahrer vor Neid hätte erblassen lassen. Marlene hupte, nahm die rechte Hand vom Lenkrad und klemmte sich den Hörer des Autotelefons zwischen Kinn und Schulter. Während sich die Tachometernadel langsam der

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Siebzigmeilenmarke näherte, wählte sie Claires Nummer. Das Freizeichen ertönte; einmal, zweimal, dreimal … Marlene wollte schon auflegen, als abgehoben wurde. Peyton meldete sich.

»Hallo?« »Geben Sie mir Claire«, verlangte Marlene. Sie gab sich

keine sonderliche Mühe, sich ihren Unmut nicht anmerken zu lassen.

»Darf ich fragen, wer da spricht?« fragte Peyton. »Marlene Craven«, erwiderte Marlene scharf. »Soll ich es

buchstabieren?« Sie hupte, um einen anderen Wagen aus dem Weg zu scheuchen, und gab noch mehr Gas.

»Das ist nicht nötig«, antwortete Peyton mit einer Ruhe, die Marlene fast zur Weißglut trieb. »Aber Claire ist nicht hier.«

»Natürlich nicht«, sagte Marlene höhnisch. »Wäre ich an Ihrer Stelle, wäre sie das auch nicht, Schätzchen.« Sie wußte, daß sie einen Fehler beging. Ob Claire nun tatsächlich nicht da war oder doch, es war ziemlich dumm, Peyton zu warnen.

Peyton blieb bewundernswert ruhig. »Ich sage ihr, daß Sie angerufen haben. Kann ich irgend etwas ausrichten?«

»Kaum«, antwortete Marlene. Sie hängte ein, ohne sich auch nur zu verabschieden, und wählte Michaels Nummer im Labor. Diesmal dauerte es noch länger, bis abgehoben wurde, und es war nicht Michael, der sich meldete, sondern Adam.

»Hier ist Marlene«, sagte Marlene. Adam und sie kannten sich flüchtig. »Kann ich Michael sprechen? Es ist wichtig.«

»Theoretisch ja«, antwortete Adam. »Und praktisch?« Sie konnte Adams Achselzucken beinahe hören. »Praktisch

ist er irgendwo im Haus, und ich habe keine Ahnung, wo. Ich suche ihn selbst seit einer Stunde.«

Marlene seufzte. »Na gut. Dann richten Sie ihm bitte aus, daß er mich anrufen soll; so schnell wie möglich. Entweder unter der Nummer meines Wagens oder bei sich zu Hause. Es ist

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sehr wichtig.« Sie hängte ein, nahm den Hörer nach kurzem Zögern ein drittes Mal und tippte die Nummer des Botanischen Gartens in die Tastatur.

Nach allem, was geschehen war, erschienen Claire die warmen, feuchten Hallen des Botanischen Gartens wie der einzige Ort auf der Welt, an dem sie sich noch halbwegs geborgen fühlte. Der grüne, glasbedachte Miniatur-Dschungel war gleichsam zu einer Festung geworden, in deren durchsichtigen Mauern sich noch ein Rest jenes geordneten Lebens erhalten hatte, das ihr draußen Stück für Stück entglitten war. Die Ruhe, der schwere, feuchte Geruch, das grünschattierte Licht, dies alles war, wie es immer gewesen war, beständig, unverändert; Felsen in einer Brandung, die von einem Taifun aufgepeitscht wurde. Sie fühlte sich hier plötzlich weit mehr zu Hause als in ihrem wirklichen Zuhause.

Stan – einer ihrer Freunde aus der ehrenamtlichen Arbeits-gruppe – hatte das Paket mit den jungen Pflanzen, das sie bestellt hatte, bereits fertig gehabt, als sie kam, so daß sie gleich wieder hätte gehen können. Aber sie blieb noch. Wenn schon auf Dauer keinen Schutz, so fand sie hier doch die Kraft, die sie brauchte, um den Rest des Tages draußen durchzuste-hen.

»Kann ich noch irgend etwas für dich tun, Claire?« fragte Stan. Stan war dabeigewesen, gestern abend, aber seltsamer-weise war ihr der Gedanke nicht im mindesten peinlich. Vielleicht, weil er irgendwie Teil dieser Welt hier war; einer Welt, die Unangenehmes einfach nicht zuließ.

»Nein«, antwortete Claire. »Aber es war nett gemeint, danke. Ich muß jetzt los. Emma kommt bald aus der Schule, und ich habe vorher noch ein paar Besorgungen zu erledigen.« Sie nahm ihr Paket auf und wandte sich zur Tür, und etwas in Stans Jackentasche begann leise, aber sehr energisch, zu

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summen. Claire blickte ihn fragend an. »Die Wunder der Technik«, erklärte Stan mit einem schiefen

Grinsen und zog ein winziges, tragbares Telefon aus der Tasche. Während er es aufklappte und sich meldete, drehte sich Claire herum und balancierte mit ihrer Last weiter. Aber sie hatte kaum zwei Schritte getan, als Stan mit der freien Hand zu gestikulieren begann. Sie blieb stehen.

»Einen Moment«, sagte Stan. »Ich sehe nach, ob sie noch da ist.« Er deckte das Mikrofon mit der Hand ab und sah Claire fragend an. »Marlene Craven«, sagte er. »Sie sagt, es ist wichtig.«

Claire war für einen Moment vollkommen hilflos, Ihre Ge-danken drehten sich wild im Kreis. Sie war zu Tode er-schrocken; nicht weil Marlene anrief – sie selbst hatte sich fest vorgenommen, Marlene anzurufen und die Geschichte irgend-wie ins reine zu bringen –, sondern weil sie hier anrief. Dieser Ort war ihre letzte Zuflucht. Das Chaos, in das sich ihr Leben verwandelt hatte, hatte kein Recht, hier einzubrechen.

»Nein«, sagte sie erschrocken. »Ich … ich kann jetzt …« Stan nickte verständnisvoll, als sie nicht weitersprach. Er hob

den Apparat wieder ans Ohr. »Mrs. Craven? Es tut mir leid, aber sie ist nicht mehr da. Vielleicht versuchen Sie es später bei ihr zu Hause.«

»Danke«, sagte Claire, nachdem Stan die Verbindung unter-brochen und den Apparat wieder eingesteckt hatte. »Ich hätte jetzt nicht die Kraft gehabt, mit ihr zu reden.«

»Es gibt Dinge, die sollte man nicht am Telefon besprechen«, sagte Stan.

Aber man sollte darüber sprechen, fügte Claire in Gedanken hinzu. Und sie würde es tun. Sie verabschiedete sich von Stan und ging, aber sie erledigte keine der Besorgungen mehr, die sie sich vorgenommen hatte, sondern fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause, um Marlene anzurufen.

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Joe war außergewöhnlich unruhig an diesem Tag. Er hatte getrunken, aber anders als sonst hatte er nicht sofort die Augen geschlossen und weitergeschlafen, als Peyton ihn anschließend gewickelt und wieder in sein Bettchen gelegt hatte. Vielleicht spürte er die innere Unruhe, die seine Mutter quälte – und Peyton war unruhig. Die Gelassenheit, mit der sie Marlenes Fragen beantwortet hatte, war nicht echt. Innerlich zitterte Peyton vor Nervosität.

Marlene wußte etwas. Peyton wußte nicht, was und wieviel, aber die wenigen Worte, die sie mit ihr gewechselt hatte, hatten sie davon überzeugt, daß sie nicht nur anrief, um mit Claire über den häßlichen Zwischenfall von gestern zu reden. Sie hatte die Feindseligkeit (und den Triumph?) in Marlenes Stimme sehr deutlich gehört. Etwas stimmte nicht.

Peyton lief nicht Gefahr, in Panik zu geraten. Sie hatte nicht einmal Angst – aber sie machte sich selbst schwere Vorwürfe, Marlene unterschätzt zu haben. Sie hatte gewußt, daß diese Frau gefährlich war, aber geglaubt, sie zumindest für eine Weile ausgeschaltet zu haben. Das genaue Gegenteil war der Fall. Anscheinend hatte sie Marlene erst richtig herausgefor-dert.

Sie nahm Joe aus seiner Wiege und verließ das Zimmer. Als sie die Treppe hinunterging, hörte sie draußen einen Wagen vorfahren. War Claire schon zurück? Peyton sah auf die Uhr und stellte mit einem Gefühl sachter Überraschung fest, daß beinahe zwei Stunden vergangen waren, seit Claire losgefahren war. Sie hatte es nicht einmal gemerkt.

Es war nicht Claire. Als Peyton die Tür öffnete, sah sie sich Marlene Craven gegenüber. Allerdings nur eine Sekunde, dann schob Marlene sie ziemlich rüde zur Seite und stürmte an ihr vorbei ins Haus. Peyton war so verblüfft, daß sie nicht einmal den Versuch unternahm, sie aufzuhalten.

»Claire?« rief Marlene. »Claire, bist du da?« »Marlene!« sagte Peyton verwirrt. »Was ist denn los?«

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Marlene drehte sich mit einem Ruck herum und funkelte sie an. Ihre Augen verschossen glühende Blitze in Peytons Richtung. Sie weiß es, dachte Peyton. Noch bevor Marlene antwortete, wußte sie, daß Marlene Bescheid wußte. Seltsam – sie erschrak nicht einmal.

»Das wissen Sie verdammt genau, Schätzchen«, sagte Marle-ne eisig. Sie zitterte am ganzen Leib. »Wo ist Claire?«

»Sie ist nicht da«, antwortete Peyton. »Das habe ich Ihnen doch gesagt.«

»O ja, natürlich ist sie nicht da«, antwortete Marlene höh-nisch. Ihr Gesicht hatte einen hektischen, roten Farbton angenommen. Sie gab sich alle Mühe, ihre Beherrschung nicht gänzlich zu verlieren, aber es sah nicht so aus, als würde ihr das noch lange gelingen. Ein paar Sekunden lang erwog Peyton ganz ruhig ihre Chancen, Marlene zu überwältigen. Sie standen nicht besonders gut. Marlene war ein paar Jahre älter als sie, aber zwanzig Pfund schwerer, und im Moment schien sie nur aus Zorn und Wut zusammengesetzt zu sein. Außerdem trug Peyton Joe auf den Armen.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« »In Ordnung?« Marlenes nachgezogene Augenbrauen rutsch-

ten so weit an ihrer Stirn empor, daß sie unter dem Haaransatz verschwanden. »Nein, nichts ist in Ordnung mit mir. Um ehrlich zu sein, ich brauchte eigentlich einen Arzt. Einen guten Arzt. Kennen Sie zufällig einen, Mrs. Mott?«

Peyton war nicht überrascht – aber aus irgendeinem Grund wie gelahmt. Sie hätte sich nicht einmal verteidigen können, wenn sie es gewollt hätte. Sie sah Marlene einfach nur an.

»Wo ist sie?« fragte Marlene noch einmal. Als Peyton nicht sofort antwortete, begann sie im Haus umherzueilen, wobei sie immer wieder Claires Namen rief.

Peyton überwand endlich ihre Erstarrung und eilte ihr nach. »Ich sagte Ihnen doch, sie ist nicht da.«

Marlene durchquerte das Wohnzimmer, rief erneut nach

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Claire und eilte in die Küche. Peyton ging ihr nach. Plötzlich war sie doch nervös. Ihr Blick irrte durch das Fenster und blieb an der Metall-Glas-Konstruktion des Gewächshauses hängen.

In Marlenes Augen blitzte es triumphierend. »Ah, sie ist also nicht da«, sagte sie hämisch. »Ich verstehe. Sicher wollten Sie Claire nicht stören, weil sie gerade meditiert, wie?«

»Sie ist nicht dort«, sagte Peyton. Marlene lachte hart, drehte sich auf dem Absatz herum und eilte zur Haustür.

»Bitte, Marlene, gehen Sie dort nicht hinein«, sagte Peyton. Sie sagte es nicht sehr laut, aber Marlene hätte wohl auch

nicht darauf reagiert, hätte sie die Worte verstanden. Sie war bereits aus dem Haus und auf halbem Wege zum Gewächs-haus.

Peytons Blick folgte ihr ein kleines Stück und suchte dann die offenstehenden Flügel des Dachfensters. Ein dünnes, böses Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie sah reglos zu, wie Marlene das Gewächshaus erreichte und mit einer zornigen Bewegung die Tür aufriß.

Eine halbe Sekunde später stürzten die beiden Fensterflügel nach unten.

Es war nicht einmal sehr laut; ein Geräusch wie das Zuschla-gen einer Autotür, einen halben Block entfernt, und ein ganz leises, aber lang anhaltendes Klirren. Kein Schrei. Keine Bewegung hinter dem milchigen Fiberglas. Nichts.

Peyton lauschte. Nichts geschah. Eine halbe Minute verging, eine ganze, dann löste sie sich endlich von ihrem Platz, verließ die Küche und ging auf das Gewächshaus zu. Sie hörte nicht den mindesten Laut. Die Tür war hinter Marlene zugefallen, so daß sie auch nichts sehen konnte. Sie hatte keine Angst. Sie verspürte keine Aufregung – eigentlich fühlte sie gar nichts; allenfalls eine Art von schaler Leere, die man spürt, wenn man eine besonders schwierige und kräftezehrende, aber nicht besonders erfreuliche Arbeit erledigt hat. Sie empfand weder Befriedigung noch irgendwelche Skrupel. Sie hatte getan, was

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getan werden mußte, und das war alles. Als sie das Gewächshaus betrat, begriff sie, daß ihre Arbeit

noch nicht völlig zu Ende war. Marlene Craven lag inmitten einer schimmernden Lache aus

Glassplittern, verbogenem Metall und Blut. Sie war auf die Seite gefallen, und die Haltung, in der ihr rechtes Bein unter dem Körper herausragte, verriet, daß es gebrochen war. Marlene mußte ziemliche Schmerzen haben.

Die Glasscheibe mußte sie genau getroffen haben. Ihr Gesicht und ihre Hände waren dutzendfach zerschnitten, und eine besonders tiefe, häßliche Wunde spaltete ihr Gesicht von der linken Augenbraue bis zum rechten Mundwinkel. Ihre Augen waren weit geöffnet und starrten Peyton an. Sie blutete heftig. Wenn sie keine Hilfe bekam, würde sie vielleicht verbluten.

Allerdings gedachte Peyton nicht, so lange zu warten. Vorsichtig – um sich nicht an einem der überall herumliegen-

den Glassplitter zu verletzen oder sich mit Marlenes Blut zu besudeln – ließ sie sich neben Marlene in die Hocke sinken und streckte ihre Hand aus. Marlenes Blick folgte der Bewegung. Sie gab keinen Laut von sich. In ihrem Blick spiegelten sich Schmerz, Furcht und ein noch immer nicht vollständiges, erschrockenes Begreifen; dann ein fast verzweifeltes Flehen um Hilfe.

Aber Peyton war nicht gekommen, um ihr zu helfen. Sie griff nach einer besonders langen, gezackten Scherbe mit einer rasiermesserscharfen Kante, beugte sich weit über Marlene und durchtrennte mit der Präzision eines Chirurgen ihre Hals-schlagader. Sie stand auf und ging zum Haus zurück, noch während Marlene hinter ihr verblutete.

Peyton lauschte in sich hinein, aber da war noch immer nichts. Sie sagte sich, daß da irgend etwas sein sollte, aber sie emp-fand rein gar nichts. Sie hatte gerade einen Menschen getötet –

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aber es war kein Mord gewesen. Marlene hatte sich als Gefahr für ihre Pläne erwiesen, und diese Gefahr hatte eliminiert werden müssen. Peyton begriff plötzlich, daß ihre sorgsam aufgestellte Falle gar nicht Claire gegolten hatte. Peyton hatte das geglaubt, aber das Schicksal, weise, wie es nun einmal war, hatte es besser gewußt. Es würde sie auch weiter beschützen, ganz gleich, was geschah.

Peyton lächelte zuversichtlich, als sie ihren Sohn in den Kinderwagen legte. Nur einen Augenblick später verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg zum nahen Park.

Solomon hatte das rote Fahrrad in einem Gebüsch am unteren Ende der Straße versteckt; sicher genug, um von einem zufällig Vorbeifahrenden nicht entdeckt zu werden, aber doch so nahe, daß er es im Notfall schnell erreichen und davonfahren konnte. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und war hierher-gekommen, obwohl man es ihm streng verboten hatte.

Trotzdem war er gestern hierhergekommen, um mit Claire zu reden. Er mußte es einfach tun, ganz gleich, was ihm danach passierte.

Solomon hatte nicht begriffen, was man ihm vorwarf und warum Claire und Michael so zornig auf ihn waren. Sie hatten furchtbare Dinge gesagt, die er nicht verstanden hatte, die ihn aber zutiefst erschreckten – aber das Schlimmste war der Ausdruck in Claires Augen gewesen, an jenem Tag in der Garage, an dem sie seinen Anhänger aufgemacht und Emmas Slip zwischen all seinem Werkzeug gefunden hatte. Dieser Blick hatte ihm weh getan. Er war hier, um mit Claire darüber zu reden – und über die böse Frau. Er spürte, daß Claire in Gefahr war. Er mußte sie warnen, und es war ihm egal, was danach mit ihm passierte.

Deshalb war Solomon gestern gekommen. Aber gestern war das Haus voller Menschen gewesen: Claire feierte ihren

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Geburtstag. Solomon wußte das, denn er hatte Emma nach Claires und Michaels Geburtstagen gefragt, um eine kleine Überraschung für sie vorzubereiten und nicht mit leeren Händen dazustehen.

Also war er heute wiedergekommen, aber das Pech war ihm treu geblieben. Solomon hatte Claire davonfahren sehen, danach waren nur noch Joe und die böse Frau im Haus, und Solomon hatte es nicht gewagt, sich zu zeigen. Wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, mit Claire zu sprechen, dann nur, wenn die böse Frau nicht dabei war. Also wartete Solomon.

Später dann hatte er beobachtet, wie Marlene gekommen und zuerst ins Haus und danach ins Gewächshaus gegangen war. Solomon mochte Marlene, aber er war nicht sicher, ob Marlene ihn mochte. Sie gehörte nicht zu den bösen Menschen. Außer-dem folgte ihr Peyton nach kurzer Zeit, so daß er es sowieso nicht gewagt hätte, sich zu zeigen. Also verbarg er sich und wartete, daß Marlene wieder aus dem Gewächshaus heraus-kam.

Aber sie kam nicht mehr heraus.

Claire hatte Mühe gehabt, sich auf den Verkehr zu konzentrie-ren. Sie war aufgewühlt und nervös wie selten zuvor. Der Orkan, der ihr Leben durcheinandergejagt hatte, war noch nicht vorbei. Sie hatte ihn für einen ganz kurzen Moment ignorieren können, aber Marlenes Anruf hatte ihr klargemacht, daß sie nicht davonlaufen konnte.

Sie hatte Angst vor dem Gespräch mit Marlene. Aber zu-gleich wußte sie auch, daß es nur schlimmer werden konnte, wenn sie es weiter hinauszögerte. Sie war nicht sicher, daß Marlene ihr vergeben konnte – was sie getan hatte, war unverzeihlich. Aber sie mußte es zumindest versuchen. Sie würde Marlene anrufen, ein Treffen mit ihr ausmachen und

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hinfahren, ganz egal, was geschah, und sie – Der Anblick traf sie so überraschend, daß sie abrupt auf die Bremse trat und den Wagen mit kreischenden Reifen zum Stehen brachte. Marlenes Volvo stand in der Auffahrt.

Claires Herz begann zu hämmern. Ihre Hände wurden feucht vor Aufregung, und das Atmen fiel ihr schon wieder schwer. Für eine Sekunde drohte ihre Angst übermächtigt zu werden; sie war nahe daran, umzudrehen und wieder wegzufahren. Sie fühlte sich krank vor Angst und Scham.

Hinter ihr erscholl ein langgezogenes Hupen. Claire sah in den Rückspiegel und erblickte einen Wagen, dessen Fahrer ärgerlich mit beiden Händen gestikulierte; offensichtlich hatte sie so heftig gebremst, daß er um ein Haar aufgefahren wäre.

Sie blinkte rechts, wartete, bis der Wagen hinter ihr ausge-schert und an ihr vorbeigefahren war, und fuhr erst dann weiter; langsam, sehr langsam. Ihr Blick irrte zwischen Marlenes Volvo und der Haustür hin und her.

Die Haustür blieb geschlossen, während Claire langsam auf das Grundstück fuhr. Wenn Marlene ihre Ankunft überhaupt bemerkte, so zog sie es vor, ihr nicht entgegenzukommen. Wahrscheinlich sprach sie mit Peyton. Oder mit Michael?

Claires Blick suchte die Garage. Das Tor stand offen. Micha-els Wagen war nicht da. Er war noch nicht zurück. Zugleich verspürte sie einen tiefen, schmerzhaften Stich und ein neues, noch heftigeres Gefühl von Scham. Was zum Teufel war mit ihr los? Sie wußte, wie grundlos ihre Eifersucht gewesen war. Wieso konnte sie sie nicht einmal jetzt abschütteln?

Sie hielt neben Marlenes Wagen an, zögerte noch eine Se-kunde und stieg schließlich aus. Jeder Schritt mit dem sie sich dem Haus näherte, kostete sie mehr Kraft.

Der Gedanke, daß sie die Haustür öffnen und sich Marlene gegenübersehen könnte, erfüllte sie fast mit Panik.

Marlene erwartete sie nicht hinter der Haustür. Die Diele war leer, und die Stille, die ihr entgegenschlug,

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verriet ihr, daß das auch auf den Rest des Hauses zutraf, noch ehe sie Marlenes Namen rief und vergeblich auf eine Antwort wartete.

Sie durchquerte das Wohnzimmer und die Küche und trat schließlich durch die rückwärtige Tür wieder ins Freie. Niemand hatte auf ihre Rufe geantwortet – Peyton war also auch nicht da. Vermutlich hatte sie Joe genommen und war mit ihm in den Park gegangen, wie jeden Tag, wenn es das Wetter zuließ. Wo aber war Marlene? Claire konnte sich nicht vorstel-len, daß sie Peyton begleitet hatte.

Claire blickte zum Gewächshaus, überlegte. Die Tür war nur angelehnt, aber die Vorstellung, daß Marlene dort sein sollte, erschien Claire beinahe ebenso abwegig wie der Gedanke, sie solle Peyton in den Park begleitet haben. Marlene verabscheute Blumen.

Trotzdem ging Claire langsam auf das Gewächshaus zu, öffnete die Tür und wäre um ein Haar über Marlenes Leiche gestolpert.

Sie konnte noch nicht sehr lange tot sein. Das Erdreich hatte noch keine Zeit gehabt, die gewaltige Blutlache aufzusaugen, in der Marlenes Kopf und Schultern lagen, und für einen winzigen Moment klammerte sich Claire noch an die aberwit-zige Hoffnung, daß der Ausdruck in Marlenes weit aufgerisse-nen, starren Augen Leben war, nicht der entsetzliche Schmerz, der sie in ihren letzten Sekunden begleitet hatte.

Claire sollte diesen Anblick nie wieder im Leben vergessen. Marlene lag wie eine zerbrochene Gliederpuppe inmitten eines zerbrochenen Puzzles aus Glas und Metall. Ihr Gesicht war gespalten, Hände und Schultern zerschnitten, und ein scharf-kantiger Splitter hatte sich wie das Skalpell eines Chirurgen in ihren Hals gebohrt und die Schlagader zerrissen.

Sie stand da und starrte auf Marlene herab, eine einzelne, endlose Sekunde lang, in der sich das Bild von Marlenes zerstörtem Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis einbrann-

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te, und erst dann erfolgte ihre Reaktion; verspätet, aber dafür mit doppelter Wucht.

Claire schrie auf, ein einzelner, gellender Schrei, der den Rest Luft verbrauchte, der noch in ihren Lungen war. Sie prallte zurück und stieß gegen den Türrahmen, so heftig, daß das gesamte Gewächshaus erzitterte und sich ein Glassplitter aus dem verbogenen Rahmen über ihr löste, der klirrend auf dem Boden zerbrach.

Claire taumelte zurück, prallte ein zweites Mal gegen die Tür und fand irgendwie den Weg ins Freie. Sie wollte schreien, aber anstelle von Luft war plötzlich brennende Säure in ihrer Kehle. Ein grausamer, immer schlimmer werdender Schmerz explodierte in ihrer Brust und sandte feurige Pfeile in jeden Winkel ihres Körpers.

Mit purer Willenskraft gelang es Claire, den Anfall noch einmal zurückzudrängen und auf das Haus zuzustolpern. Himmel und Erde drehten sich um sie. Marlene war tot, tot, tot. Sie lag dort hinten, erstickt an ihrem eigenen Blut, erschlagen von einem defekten Fenster, das ebenso gut sie hätte treffen können, und es war ihre Schuld, ganz allein.

Claire taumelte in die Küche, stolperte, fand im letzten Mo-ment irgendwo Halt und riß den Hörer des Wandtelefons von der Gabel. Er rutschte ihr aus der Hand und pendelte am Ende der Schnur hin und her. Sie brauchte drei Versuche, um ihn wieder in die Hand zu bekommen, und ihre Finger zitterten so stark, daß es ihr kaum gelang, die Nummer des Notrufs einzutippen. Das Freizeichen ertönte nur ein einziges Mal, dann meldete sich eine warme Frauenstimme.

»Notruf 911. Hallo?« Der Schmerz schlug warnungslos zu, und er war tausendfach

schlimmer als alles, was Claire jemals erlebt hatte, schlimmer als alles, was sie sich bisher hatte vorstellen können. Es war, als blähe sich ein mit Nägeln gespickter Ball in ihrer Kehle auf.

Claire ließ den Hörer fallen, torkelte zurück und schlug beide

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Hände gegen den Hals. Sie wollte atmen, rang mit verzweifelt aufgerissenem Mund nach Luft, aber es ging nicht. Etwas verstopfte ihre Lungen.

»Hallo?« drang die Stimme aus dem Telefonhörer. »Sie haben 911 gewählt. Was ist geschehen?«

Ihr Inhalator! Sie brauchte ihren Inhalator, oder sie würde ersticken.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, fuhr die Stimme aus dem Telefon fort. Sie klang sehr ruhig, sehr sachlich, eine Stimme, die darauf trainiert war, Vertrauen zu erwecken und Panik zu besänftigen. Claire hörte sie kaum noch. »Wir schicken jemanden zu Ihnen.«

Claire riß die Schublade auf, in der ihr Medikament lag. Die Bewegung war zu kräftig. Die Schublade fiel heraus und verteilte ihren Inhalt über den Boden.

Claire fiel mit einem erstickten Keuchen auf die Knie und griff nach dem Inhalator, aber auch diese Bewegung war zu schnell – ihre Fingerspitzen stießen gegen das gelbe Plastik-röhrchen und ließen es davonrollen. Verzweifelt kroch Claire hinterher, bekam es irgendwie zu fassen und preßte das Wegwerf-Mundstück gegen das Gesicht.

Nichts. Sie drückte den Sprayknopf so fest, daß zwei ihrer Fingernä-

gel abbrachen und zu bluten begannen, aber der rettende Aerosol-Nebel kam nicht. Das Röhrchen war leer. Sie spürte gerade noch den charakteristischen Geschmack des Medika-mentes, aber mehr auch nicht.

Aber irgendwie bekamen ihre Lungen doch noch Luft, und die schiere Todesangst gab ihr die Kraft, wieder aufzustehen und auf die Treppe zuzutaumeln. Im Schlafzimmer. Sie hatte einen Reserve-Inhalator im Schlafzimmer. Wenn sie es bis dorthin schaffte, hatte sie eine Chance.

Claire stürzte zweimal, kämpfte sich wieder hoch und erreich-te irgendwie das Schlafzimmer, riß die Nachttischschublade

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auf und suchte mit bebenden Fingern nach dem Inhalator. Nichts. Er war so leer wie der unten in der Küche. Der scharfe Geschmack brachte nicht einmal mehr die Erinnerung an die Hilfe, die sie sich erhoffte.

Etwas Dunkles, Endgültiges schlich sich in Claires Gedanken. Sie konnte nicht mehr denken. Sie würde sterben. Sie erstickte bei vollem Bewußtsein.

Claire kroch auf Händen und Knien ins Bad, zog sich am Waschbecken in die Höhe und riß den Medizinschrank auf. Flaschen und Medikamentenröhrchen aus Kunststoff fielen heraus und stürzten zu Boden, während sie blind über die Ablage tastete und nach dem Inhalator suchte, dem dritten und letzten, den sie im Haus hatte, alles, was noch zwischen ihr und dem sicheren Ersticken war.

Er war leer. Das Entsetzen war so groß, daß Claire im ersten Moment

nicht einmal begriff, was geschah. Sie sank mit einem furcht-baren Keuchen auf die Knie. Auch ihr letztes bißchen Atem versiegte. Eine unsichtbare Hand drückte ihr die Kehle zu, und der Schmerz in ihrer Brust hatte die Grenzen des Vorstellbaren überschritten. Das war nicht irgendein Anfall – es war der Anfall, die große, vielleicht endgültige Attacke, auf die sie seit Jahren wartete, und sie wußte plötzlich, daß sie sterben würde. Selbst mit dem Medikament hätte sie keine Garantie gehabt, es zu überstehen.

Vielleicht war es diese Erkenntnis, die Claire letztendlich das Leben rettete. Als sie begriff, daß sie dem Tod so nahe war wie niemals zuvor, erlosch fast all ihre Angst, und plötzlich konnte sie wieder klar denken – und erinnerte sich an den Inhalator in ihrer Handtasche. Sie hatte die Tasche im Wagen gelassen. Nur ein paar Schritte. Aber sie war nicht sicher, daß sie sie noch schaffen würde.

Mit letzter Kraft taumelte sie aus dem Bad und die Treppe hinunter. Sie bekam nun endgültig keine Luft mehr. Ihre Kehle

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war verkrampft. Der Weg bis zum Wagen, in dem sich die Tasche mit dem rettenden Medikament befand, betrug nicht einmal zwanzig Meter, aber Claire kamen sie vor wie Lichtjah-re. Es war ein verzweifelter Wettlauf mit der Zeit.

Claire verlor ihn. Zwanzig Sekunden nachdem sie das Haus verlassen hatte, und noch nicht einmal auf halbem Wege zum Wagen, verlor sie das Bewußtsein.

Solomon hatte Angst. Er hatte sich weiter versteckt gehalten, während Claire gekommen war, und für einen Moment war er ganz kurz davor gewesen, einfach hinüberzugehen und sie anzusprechen. Claire war böse auf ihn, das wußte er, sehr böse, aber er glaubte, sie gut genug zu kennen, um wenigstens die Hoffnung zu haben, daß sie ihm zuhörte. Außerdem war die Gelegenheit günstig – die böse Frau war weggegangen, und vielleicht, wenn Claire ihm zuhörte und ihm auch nur eine Sekunde lang glaubte, würde er sie davon überzeugen können, daß er nichts von all den schrecklichen Dingen getan hatte, die man ihm vorwarf. Es war die schwerste Entscheidung, die Solomon jemals in seinem Leben getroffen hatte, aber schließ-lich überwand er seine Angst und trat auf die Straße hinaus, im gleichen Moment, in dem Claire ihren Wagen neben dem Marlenes abstellte und ausstieg. Die Furcht verlangsamte seine Schritte, und seine Kehle war wie zugeschnürt, so daß er nicht rufen konnte. Hätte Claire sich in diesem Moment auch nur umgedreht, dann hätte sie ihn gesehen, und vielleicht wäre alles ganz anders gekommen.

Aber sie schien es sehr eilig zu haben. Ohne zu zögern, ging sie zum Haus, verharrte vor der Tür noch eine Sekunde und trat ein.

Solomon blieb stehen. Sein Herz schlug schneller. Er hatte solche Angst, daß er kleine, wimmernde Töne ausstieß, ohne überhaupt zu merken. Ins Haus zu gehen war für ihn unvor-

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stellbar. Dort drinnen wäre er noch hilfloser gewesen als hier. Solomon stand reglos mitten auf der Straße, unfähig, weiter- oder auch zurückzugehen.

Eine Minute später kam Claire wieder aus dem Haus, aber sie sah ihn immer noch nicht, denn sie verließ es durch den rückwärtigen Eingang und ging schnell zum Gewächshaus, und damit war für Solomon die Entscheidung klar – im Gewächs-haus war noch immer Marlene, und Solomon hatte ganz bestimmt nicht die Kraft, beiden gegenüberzutreten. Er ging wieder zurück, aber er war kaum wieder in seinem Versteck, als Claire auch schon wieder aus dem Gewächshaus heraus-kam. Sie stolperte mehr, als sie ging, und auch wenn Solomon ihr Gesicht nicht erkennen konnte, so begriff er doch sofort, daß etwas nicht stimmte. Irgend etwas mußte passiert sein, etwas Schlimmes, denn sie war sehr, sehr aufgeregt. Jetzt war bestimmt nicht der richtige Moment, um mit ihr zu sprechen.

Trotzdem blieb Solomon noch eine Weile, wo er war, und seine Geduld wurde belohnt. Nach kurzer Zeit wurde die Haustür aufgerissen, und Claire stürmte ins Freie. Diesmal wußte Solomon, daß etwas nicht in Ordnung war. Claire taumelte. Sie stolperte aus dem Haus, wankte von rechts nach links und wieder zurück und fiel schließlich auf die Knie, eine Sekunde später stürzte sie auf die Seite und rührte sich nicht mehr.

Solomon erschrak zutiefst. Claire mußte sich weh getan haben, denn sie machte keinen Versuch, wieder aufzustehen, ja, sie bewegte sich überhaupt nicht mehr.

Es dauerte einen Augenblick, bis Solomon seinen Schrecken überwunden hatte, aber dann stürzte er los, um Claire zu helfen. Er kam auch diesmal nicht bis auf die andere Straßen-seite, denn er hatte kaum die Mitte der Fahrbahn erreicht, da hörte er eine Sirene aufheulen und blieb stehen. Das Geräusch kam rasch näher, und Solomons Gedanken begannen sich zu überschlagen. Er hatte Angst um Claire, und er mußte ihr

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helfen, aber er hatte auch Angst, daß sie kamen und ihn neben ihr fanden, und wenn sie sich wirklich schlimm weh getan hatte, vielleicht so schlimm, daß sie nicht reden konnte, dann würden sie bestimmt denken, daß er ihr etwas getan hatte.

Das Sirenengeräusch kam näher. Sehr schnell. Solomon machte einen weiteren Schritt über die Straße, blieb

wieder stehen – und drehte sich schließlich herum, um mit weit ausgreifenden Schritten zu seinem Fahrrad zurückzurennen.

Der Krankenwagen war mit heulender Sirene an ihr vorüberge-rast, kaum eine Minute später gefolgt von einem Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht. Es kostete Peyton große Überwin-dung, nicht loszurennen, sondern ihren gemächlichen Schlen-dergang beizubehalten.

Ein dünnes, zufriedenes Lächeln kräuselte Peytons Lippen, als der Streifenwagen vor ihr abbog und das Heulen der Sirene einen Augenblick später erlosch; ebenso wie es der Kranken-wagen getan hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte nun doch, und als sie die Kreuzung erreichte und sah, daß die beiden Wagen auf das Bartel-Grundstück gefahren waren, begann sie zu laufen, so schnell es der Kinderwagen und die hochhackigen Schuhe zuließen.

Der Anblick überstieg Peytons kühnste Erwartungen. Der Streifenwagen stand quer in der Einfahrt, während die Ambu-lanz direkt neben Marlenes und Claires Wagen angehalten hatte. Die hinteren Türen standen offen, und zwei Gestalten in signalroten Jacken bemühten sich um eine dritte, die reglos zwischen ihnen auf dem Boden lag: Claire. Peyton triumphierte innerlich. Claire mußte nach Hause gekommen sein und Marlene gefunden haben. Was danach geschehen war, war nicht sonderlich schwer zu erraten.

Peyton rannte noch schneller. Einer der beiden Polizeibeam-ten hob die Hand und verwehrte ihr den Weg. »Gehen Sie

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weiter, Madam«, sagte er. »Hier gibt es nichts zu sehen.« »Ich wohne hier«, antwortete Peyton. »Was ist passiert?« Der Polizeibeamte trat zur Seite, und Peyton ging rasch

weiter. Einer der beiden Sanitäter sah auf, als sie näher kam. »Kennen Sie die Frau?«

»Das ist Claire Bartel. Sie wohnt hier. Was ist passiert?« Der Mann zuckte die Achseln. »Wir wissen es noch nicht. Sie

scheint keine Luft zu bekommen. Wissen Sie, ob sie an irgendwelchen Krank–«

»Asthma«, sagte Peyton. Sie brauchte ihren Schrecken nicht zu spielen. Was sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte, war wilder Triumph, aber das konnten die Männer natürlich nicht wissen. »Mein Gott, sie hat einen Asthmaanfall! Sie erstickt!«

Der Mann wandte sich wortlos um und ging zu seinem Wa-gen, um irgend etwas zu holen, während sich sein Kollege weiter um Claire bemühte. Peyton sah sich unterdessen wieder mit einem der beiden Cops konfrontiert. Aus den Augenwin-keln beobachtete sie, wie sein Kollege um das Haus herum und auf das Gewächshaus zuging.

»Können Sie uns ein paar Fragen beantworten, Ma’am?« »Sicher«, antwortete Peyton. »Aber was ist denn nur pas-

siert?« »Wir wissen es nicht genau«, antwortete der Polizist. Er

deutete auf Claire. »Sie hat 911 angerufen, aber sie war nicht mehr in der Lage, irgend etwas zu sagen. Wenn Sie mir vielleicht ihre Personalien –«

»Pete?« rief der zweite Polizist vom Gewächshaus her. »Kommst du bitte mal?«

Peyton und der Cop sahen gleichzeitig auf. Der Polizist stand unter der Tür des Gewächshauses. Er sah sehr ernst aus – und ein wenig bleich –, offensichtlich, dachte Peyton, gab es Dinge, die selbst einen so hartgesottenen Cop noch erschütterten. Sie folgte dem Polizisten, und sie ignorierte auch die abwehrende Geste seines Kollegen, als sie sich hinter ihm in das Gewächs-

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haus schob. »Mein Gott«, murmelte der Cop. »Kennen Sie sie?« fragte sein Kollege. Peyton ließ bewußt eine Sekunde verstreichen, ehe sie ihren

Blick von Marlenes starren Augen löste und aufsah. »Marlene Craven«, sagte sie. »Sie ist … sie war Claires beste Freundin. Großer Gott, was … was ist denn hier bloß passiert?«

»Es sieht nach einem ziemlich üblen Unfall aus«, antwortete der Polizist. »Aber das werden unsere Kollegen von der Kripo klären.«

»Kriminalpolizei?« Peyton erschrak. »Das ist ganz normal, wenn jemand ums Leben kommt und

die Ursache nicht ganz eindeutig ist«, sagte der Cop beruhi-gend. »Sie brauchen sich nicht aufzuregen. Routine, mehr nicht. Sie werden ein paar Fragen stellen und dann wieder gehen. Wenn Sie mich fragen, ist die Sache ziemlich klar.«

»Sie sagen, Mrs. Bartel leidet unter Asthma?« Peyton nickte und verließ das Gewächshaus. »Sehr stark«,

antwortete sie. »Sie hatte immer Angst vor einem großen Anfall.«

»Und genau den hat dieser Anblick wahrscheinlich ausge-löst«, sagte der Polizist. Er seufzte. »Wenn Sie sagen, daß sie gute Freundinnen waren … Es muß ein ziemlicher Schock für sie gewesen sein.«

Peyton drehte sich herum und sah zu, wie die beiden Sanitäter Claire auf eine Trage hoben, und der Polizist legte ihr mitfüh-lend die Hand auf die Schulter.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Sie ist in guten Händen. Ich bin fast sicher, daß sie durchkommt.«

Peyton war nicht so sehr davon überzeugt wie der Mann. Gottlob nicht.

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Schatten umgaben sie, die in einem Ozean aus Nebel schwam-men. Sie trieb selbst im Zentrum dieses Ozeans, eingehüllt in einen Kokon aus Schwärze, der in die Erinnerung an einen vergangenen, aber nicht vergessenen Schmerz eingewoben war. »Sie kommt zu sich.«

Die Stimme gehörte niemandem, den sie kannte. Bewegung. Die Schatten näherten sich, aber Claire konnte sie nicht mehr erkennen, denn ihre Lider schienen plötzlich Zentner zu wiegen; ihre Augen fielen zu, und es kostete sie große Mühe, nicht wieder einzuschlafen.

Jemand setzte sich neben sie. Sie wußte, daß es Michael war, obwohl er nichts sagte und sie die Augen noch immer nicht öffnete. Er saß eine ganze Weile einfach da, sagte nichts und berührte sie auch nicht, aber seine Nähe tat gut, sie war der einzige Trost, den sie noch hatte, denn mit dem Erwachen waren die Erinnerungen gekommen, und mit ihnen kehrte das Entsetzen zurück, der gleiche, lahmende Schrecken, der sie in diesen Abgrund aus Pein und Todesangst geschleudert hatte. Für einen Moment wartete sie darauf, daß der Schmerz zurückkam, und mit ihm die Atemnot, aber das geschah nicht.

Sie öffnete die Augen. Michael saß auf einem unbequemen Krankenhaus-Hocker neben ihr, und er sah sehr ernst, sehr traurig und sehr erschrocken aus. Sein Gesicht wirkte eingefal-len und grau.

»Marlene …«, murmelte sie. Michael streckte die Hand nach der ihren aus, drückte sie und

versuchte, sein Gesicht zu einem Lächeln zu zwingen. Vergeb-lich. »Sag jetzt nichts«, sagte er.

»Sie ist tot?« Sie hatte das Fragezeichen nicht mitgesprochen, aber Michael

hörte es trotzdem. Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich, in dem kein Blut mehr war. Er sagte nichts, sondern sah zu dem zweiten Mann im Zimmer auf, einem dunkelhaarigen jungen Mann mit Hornbrille und weißem Kittel; offensichtlich

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der Arzt. Erst danach wurde ihr wirklich bewußt, daß sie im Krankenhaus lag.

»Kann ich einen Moment mit meiner Frau allein sprechen?« »Selbstverständlich. Aber bitte nicht zu lange – und regen Sie

sie nicht auf, wenn es geht.« Er ging. Claire sah ihm nach und sah, daß draußen auf dem

Gang ein uniformierter Polizeibeamter stand. Zu Furcht und Schmerz gesellte sich ein noch schwacher, aber sehr unange-nehmer Schrecken.

»Wieso ist die Polizei hier?« fragte sie. »Das ist reine Routine«, antwortete Michael. Er versuchte

vergeblich, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu verlei-hen. »Sie wollen dir ein paar Fragen stellen. Aber das ist ganz normal, wenn es einen Toten gegeben hat und sie weniger als zweitausend Augenzeugen haben.« Er lachte, aber irgendwie machte dieses Lachen alles noch schlimmer. Er wurde auch sofort wieder ernst.

»Sie ist tot«, sagte sie noch einmal. Die Worte schienen zu etwas Körperlichem, Greifbarem zu werden, das wie unsicht-barer Rauch in der Luft hing und die Atmosphäre vergiftete. »Es ist meine Schuld, Michael.«

»Das ist es nicht«, antwortete Michael scharf. Es klang fast zornig. Etwas ruhiger fuhr er fort: »Es war ein Unfall, Claire. Ein schrecklicher Unfall, aber mehr auch nicht.«

»Es ist meine Schuld«, beharrte Claire. »Ich hätte … mit ihr reden sollen. Ich hätte mich nicht verleugnen lassen dürfen. Wenn ich mit ihr gesprochen hätte, dann … dann wäre sie jetzt vielleicht noch am Leben.«

Michael blickte sie verständnislos an. Er konnte nicht wissen, wovon sie sprach. »Ich weiß, was du durchmachst«, sagte er. »Aber Marlene wird nicht mehr lebendig, wenn du dir Vorwür-fe machst. Es war ein Unfall.«

»Es –« »Um ein Haar wärst du gestorben, Claire«, fiel ihr Michael

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ins Wort. »Ich scherze nicht. Es war verdammt knapp. Wenn der Krankenwagen auch nur eine Minute später gekommen wäre, wärst du erstickt.«

Claire wußte, daß er die Wahrheit sagte. Sie war dem Tode nahe gewesen, wahrscheinlich sogar näher, als Michael und selbst die Ärzte ahnen mochten.

»Ich will jetzt nicht über mich reden«, sagte sie leise. Michael akzeptierte das. Für eine Weile versanken sie in ein

peinigendes, brütendes Schweigen. Michael hielt weiter ihre Hand, aber seine Haut fühlte sich kalt an, und plötzlich spürte sie, daß er es war, der Hilfe und Trost brauchte, und nicht sie. Claire verstand das sehr gut, und für einen Moment tat Michael ihr unendlich leid. Marlene war mehr als eine Freundin für ihn gewesen. Mit ihr war auch ein Stück von ihm gestorben.

»Wie … wie hat Marty es aufgenommen?« fragte sie stok-kend.

»Gar nicht gut«, antwortete Michael. »Er war sehr ruhig. Sehr gefaßt. Für meinen Geschmack zu ruhig. Er hat sie sehr geliebt.«

»Wo ist er jetzt?« »Zu Hause«, antwortete Michael. »Ich war vorhin bei ihm,

um … es ihm zu sagen. Wie gesagt: er hat es sehr gefaßt aufgenommen, aber …«

»Du solltest zu ihm gehen«, sagte Claire. »Vielleicht ist es besser, wenn er heute abend nicht allein ist.«

»Es ist besser, wenn du heute abend nicht allein bist«, wider-sprach Michael. Er löste seine Finger aus ihrer Hand und rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her. »Du scheinst noch nicht richtig begriffen zu haben, was passiert ist, Claire.«

»Marlene ist gestorben«, antwortete Claire bitter. »Was gibt es daran zu begreifen?«

Michael deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von wenigen Millimetern an. »So viel«, sagte er. »So viel, Claire, und ihr wärt jetzt beide tot.« Er machte eine fast zornige

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Geste mit der anderen Hand. »Was glaubst du, warum du hier bist? Wenn Peyton nicht gewesen wäre, könnten Marty und ich jetzt zusammen einen Grabstein aussuchen!«

»Peyton?« »Sie hat den Sanitätern von deinem Asthma erzählt«, antwor-

tete Michael. »Hätte sie es nicht getan, wärst du vielleicht gestorben. Claire, es ging um Sekunden!«

»Wenn Peyton –« »Ich will jetzt nicht über Peyton reden«, unterbrach Michael

sie. »Es geht um dich. Was ist los mit dir, Claire? Willst du dich mit Gewalt umbringen?«

»Ich verstehe nicht, wovon du redest«, sagte Claire. »Du verstehst mich ganz gut«, antwortete Michael. Er beugte

sich vor. »Du bringst dich um, Claire. Heute ist es dir schon beinahe gelungen, und wenn du so weiter machst, dann wird es dir das nächste Mal ganz bestimmt gelingen. Du überschätzt deine Kräfte, Claire.«

»Weil ich erschrocken bin, als ich Marlene sah?« fragte Claire. »Entschuldige bitte, aber es war kein sehr schöner Anblick.«

»Ich hätte niemals zulassen dürfen, daß du dieses verdammte Gewächshaus baust«, sagte Michael. »Du richtest dich zugrun-de, Claire. Du arbeitest für zwei. Wenn es möglich wäre, würdest du sechsundzwanzig Stunden am Tag arbeiten, und das mindestens achtmal pro Woche. Du bist dem allen nicht gewachsen, Claire!«

»Ich verstehe«, sagte Claire bitter. »Du meinst, weil ich keine vollwertige Frau bin.«

»Du bist krank, Claire«, antwortete Michael, sehr ruhig und sehr ernst. »Selbstmitleid steht dir nicht. Und es paßt nicht zu dir. Du bist krank. Es ist nicht deine Schuld, es ist nicht meine Schuld, aber es ist nun einmal so, und du solltest verdammt noch mal endlich damit beginnen, es zu akzeptieren! Es ist nichts Schlimmes daran, krank zu sein.«

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»Glaubst du wirklich, daß jetzt der richtige Moment ist, darüber zu reden?« fragte Claire. Sie wünschte sich fast, nicht aufgewacht zu sein. Der Zorn, den sie in Michaels Stimme hörte, war nichts anderes als Sorge, aber diese Erkenntnis machte es nicht besser.

»Nein«, antwortete Michael. »Es ist der falsche Moment. Er ist so falsch, wie er nur sein kann. Wir hätten dieses Gespräch schon vor langer Zeit führen sollen. Ich weiß nicht, was es ist, Claire – Stolz oder Trotz. Aber es wird dich umbringen, wenn du so weiter machst. Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Dein Zustand ist ernster, als du wahrhaben willst.«

»Und was soll ich tun?« fragte Claire. »Mir einen Rollstuhl kaufen?«

»Dein Leben endlich so akzeptieren, wie es ist«, antwortete Michael. Er stand auf. »Bitte, Liebling, ich … ich meine es doch nicht böse. Ich habe nur Angst um dich. Ich will dich nicht auch noch verlieren, versteh das doch. Ich würde das nicht ertragen.«

Claire schwieg. Tief in sich spürte sie, daß Michael recht hatte – und zugleich auch nicht. Etwas stimmte nicht. Nicht mit Michaels Worten, nicht mit dem Unfall, aber mit ihrem ganzen Leben. Es war aus dem Gleichgewicht geraten, am Anfang vielleicht nur unmerklich, aber aus dem allmählichen Abrut-schen war längst eine donnernde Lawine geworden, die sie mit sich in einen bodenlosen Schlund riß und sie zerschmettern würde.

»Ich werde jetzt gehen«, sagte Michael. »Du brauchst Ruhe, und ich … ich will noch einmal zu Marty fahren. Ich komme morgen früh wieder.«

Er küßte sie zum Abschied auf die Stirn und ging. Als er das Zimmer verließ, sah Claire, daß der Polizist noch immer draußen stand. Er machte eine Bewegung, wie um einzutreten, aber Michael schüttelte entschieden den Kopf und zog die Tür hinter sich zu.

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Peyton und die Kinder warteten in der Lobby auf ihn. Michael ging unwillkürlich langsamer, nachdem er aus dem Aufzug getreten und sie entdeckt hatte. Der Anblick berührte ihn auf eine sonderbare, schwer in Worte zu kleidende Art: Peyton saß auf einer der unbequemen Kunststoff-Bänke in der Nähe des Eingangs und hatte Joe auf den Armen. Er schlief. Auch Emma, die den Kopf an Peytons Schulter gelegt und die Beine unter den Körper gezogen hatte, schien zu schlafen, obwohl es noch gar nicht so spät war. Aber es war dunkel geworden, der Tag hatte für sie alle viel Aufregung gebracht, und Michael wurde erst jetzt klar, daß er länger als zwei Stunden oben bei Claire gewesen war, denn es hatte gedauert, ehe sie aus ihrem komaähnlichen Zustand erwacht war. Nach all dem Schmerz, all dem Schrecken und dem unangenehmen Ende ihres Gesprä-ches hatte der Anblick der beiden friedlich schlafenden Kinder und Peytons etwas ungemein Beruhigendes, und Michael ging instinktiv langsamer, um ihn noch für einige weitere Sekunden mehr zu bewahren.

Michael fühlte sich miserabel, und das nicht nur wegen Marlenes Tod oder seiner Angst um Claire. Sie hatte recht gehabt – der Moment war nicht der richtige gewesen, um dieses Gespräch zu führen. Aber es gab keinen richtigen Moment für eine solche Unterhaltung, und während Michael an Claires Bett gesessen und darauf gewartet hatte, daß sie aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte, war er fast wahnsinnig vor Angst geworden, daß dieser Moment nie mehr kommen würde.

Peyton sah auf, als sie seine Schritte hörte, und in ihren Augen erschien eine bange Frage, die Michael mit einem Nicken und dem Versuch eines zuversichtlichen Lächelns beantwortete. Ehe er es auch laut tun konnte, öffnete Emma die Augen und sprang mit einem Satz von der Bank herunter, um ihm entgegenzueilen.

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»Was ist mit Mami?« fragte sie aufgeregt. »Wie geht es ihr? Kann ich zu ihr?«

»Heute nicht mehr, Schatz«, antwortete Michael. Er ließ sich vor Emma in die Hocke sinken, schloß sie für einen Moment in die Arme und schob sie dann wieder ein kleines Stück von sich fort, um ihr ins Gesicht sehen zu können, ließ sie aber nicht los.

»Es geht ihr gut«, sagte er. »Wirklich, ihr ist nichts passiert. Du brauchst keine Angst zu haben. Sie muß nur ein paar Tage hierbleiben, damit die Ärzte sie gründlich untersuchen kön-nen.«

»Aber warum kann ich denn dann nicht zu ihr?« fragte Emma enttäuscht.

»Weil sie sehr müde ist und jetzt wahrscheinlich schon schläft«, antwortete Michael. »Morgen früh nehme ich dich mit, das verspreche ich dir. Aber jetzt mußt du ein tapferes Mädchen sein und mit Peyton nach Hause fahren. Okay?«

Emma nickte. Sie antwortete nicht, und Michael sah ihr an, daß sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhielt. Aber der Appell an ihre Tapferkeit hatte gewirkt – Emma blickte ihn noch eine Sekunde lang erschrocken an, dann ging sie zur Bank zurück.

Michael nahm die Wagenschlüssel aus der Tasche und reichte sie Peyton. »Bringen Sie die Kinder nach Hause, Peyton«, bat er. »Ich nehme mir ein Taxi und fahre noch einmal zu Marty.«

Peyton nahm die Schlüssel und steckte sie ein; sehr vorsich-tig, um Joe nicht zu wecken, der noch immer friedlich in ihren Armen schlief und nichts von all der Aufregung mitbekam. Für eine Sekunde spürte Michael eine absurde Eifersucht auf seine kindliche Unwissenheit.

»Fühlen Sie sich in der Lage, zu fahren?« fragte Peyton. »Ich kann Marty jetzt nicht allein lassen«, erwiderte Michael.

»Ich glaube, er hat … noch gar nicht richtig begriffen, was überhaupt passiert ist. Vielleicht ist es besser, daß ich bei ihm bin, wenn er es begreift.« Aber das war nur die halbe Wahrheit.

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Die andere Hälfte war, daß er jetzt einfach jemanden brauchte, um zu reden. Er wußte, er würde wahnsinnig werden, wenn er jetzt nach Hause fuhr und den Ort sah, an dem Marlene gestorben war.

»Es tut mir so leid«, sagte Peyton leise. »Marty kann sehr froh sein, einen Freund wie Sie zu haben, Michael. Kann ich … kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Bringen Sie die Kinder zu Bett.« Michael schüttelte mit einem dankbaren Lächeln den Kopf. »Und warten Sie nicht auf mich. Es kann sehr spät werden.«

Sie verließen gemeinsam die Klinik, aber während sich Peyton nach links dem Parkplatz zuwandte, ging Michael zu einem der wartenden Taxis und stieg ein.

Keiner von ihnen bemerkte Solomon, der im strömenden Regen auf der anderen Straßenseite stand, die Fassade des Krankenhauses anstarrte und betete.

Es war sehr spät geworden. Als Michael aus dem Taxi stieg und auf die Uhr sah, erschrak er: in weniger als einer Stunde würde es hell werden. Er bemerkte erst jetzt, daß der Horizont im Osten bereits einen blassen, grauen Schimmer hatte, so daß der Himmel aussah wie eine Kuppel aus schwarzlackiertem Stahl. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Luft roch nach Nässe, und es war sehr kalt. Die Müdigkeit ließ ihn zusätzlich frösteln, und er sehnte sich danach, sich hinzulegen und die Augen zu schließen.

Trotzdem ging er nicht sofort zum Haus, sondern blieb stehen und sah dem Taxi nach, bis es in der Nacht verschwunden war.

Er fühlte sich … leer. Michael hätte in diesem Moment nicht mehr sagen können, worüber Marty und er in dieser Nacht geredet hatten. Nicht über Marlene oder Claire – sie hatten dieses Thema fast panisch vermieden. Sie hatten über alles geredet, nur nicht über das, was heute geschehen war. Viel-

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leicht war dies Martys Art, mit dem Schock fertig zu werden – die Augen einfach vor der Wahrheit zu verschließen und sich wenigstens noch für eine einzige, kostbare Nacht einzureden, daß all das Schreckliche gar nicht geschehen war. Der Zusam-menbruch, auf den Michael gewartet hatte, war nicht gekom-men, und im nachhinein war er sehr froh darüber, denn er war ganz und gar nicht mehr sicher, daß er Marty tatsächlich hätte helfen können.

Er wandte sich um und ging langsam die Auffahrt hinauf. Marlenes Volvo stand noch immer dort, wo sie ihn abgestellt

hatte, und statt zum Haus ging Michael auf das Gewächshaus zu, fast ohne es zu merken. Seine Schritte lenkten ihn ganz von selbst dorthin.

Unter seinen Schuhen knirschte zerbrochenes Glas, als er eintrat. Michael tastete nach dem Lichtschalter, kippte ihn nach unten und schloß für eine Sekunde geblendet die Augen, als unter dem zerbrochenen Dach eine Anzahl weißvioletter Pflanzenleuchten aufflammten. Das an sich milde Licht kam ihm unangemessen grell und störend vor, als es den barmherzi-gen Schleier aus Dunkelheit zerriß.

Durch das zerbrochene Glasdach krochen Kälte und Feuch-tigkeit herein, und der warme Treibhausgeruch war dem von Nebel und kalter Nässe gewichen. Auf dem Boden lagen einige weiße große und Tausende winzige Glasscherben, und Marle-nes Blut war zu einem häßlichen, dunkelbraunen Fleck getrocknet.

Michaels Blick suchte das zerborstene Dach und wanderte dann an der Kette herunter bis zu dem altersschwachen Zahnrad, das die Katastrophe ausgelöst hatte. Ein Gefühl von Bitterkeit und Zorn begann sich in ihm breitzumachen. Wie lange hatte dieses verdammte … Ding seinen Dienst getan? Zwanzig Jahre? Fünfzig? Wie viele tausend Menschen waren unter ihm entlanggegangen, ohne daß etwas passiert war? Und dann, in einer einzigen Sekunde, hatte es sich in eine Todesfal-

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le verwandelt, so präzise und mörderisch wie eine Guillotine. Der Kriminalbeamte, mit dem er gesprochen hatte, hatte ihm

erklärt, was seiner Meinung nach geschehen sein mußte. Der Sicherungsbügel, der das Zahnrad und somit das zentnerschwe-re Fenster blockierte, hatte versagt; ein simpler, technischer Fehler, oder ein simples Versehen, das man – zumindest juristisch – niemandem anlasten konnte; und so weit es Michael und auch Marty anging, auch nicht moralisch. Offen-bar war er nicht völlig eingerastet gewesen, so daß er das Dach zwar offen hielt, aber schon die geringste Erschütterung ausgereicht hatte, ihn herausspringen zu lassen.

Er hörte Schritte, drehte sich herum und erkannte, daß es Peyton war. Sie trug eine gelbe Öljacke, deren Kragen sie schützend hochgeschlagen hatte. Das Haar hing ihr naß und in schweren Strähnen in die Stirn. »Ich habe doch gesagt, Sie sollen nicht auf mich warten«, sagte Michael. Aber er sagte es sehr leise, und die Wahrheit war, daß er sehr froh war, sie zu sehen. Er wollte jetzt nicht allein sein.

Peyton antwortete nicht, sondern trat schweigend zu ihm herein. Sie sah ihn nur an. Ihre Augen waren voller Trauer und Mitleid. Einige Sekunden lang sah sie ihn einfach nur an, dann wandte sie fast erschrocken den Blick ab und starrte auf den dunkelbraunen Fleck auf dem Boden herab.

»Schrecklich«, flüsterte sie. »Ich … ich sehe immer noch ihr Gesicht vor mir«, sagte

Michael. »Ich kann es einfach nicht begreifen. Ich … ich glaube einfach nicht, daß sie tot sein soll.«

»Es ist schlimm, einen Menschen zu verlieren, der einem so viel bedeutete«, sagte Peyton mit jenem ehrlichen Mitgefühl, das nur ein Mensch aufbringen kann, der aus eigener Erfahrung weiß, wovon er spricht.

»Es tut weh«, sagte Michael. »Und es … es macht zornig. Weil es so ungerecht ist. Läßt irgend etwas davon jemals nach?«

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»Der Schmerz, ja«, antwortete Peyton. »Der Zorn … ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich es fast, aber dann wieder ist er schlimmer denn je.« Sie starrte noch eine Sekunde zu Boden, dann gab sie sich einen sichtbaren Ruck, wandte sich zu ihm um und zog ein zusammengefaltetes Handtuch unter der Jacke hervor.

»Sie sind ja völlig durchnäßt«, sagte sie. »Hier, nehmen Sie.« Michaels Finger waren so steif vor klammer Kälte, daß er

beim ersten Versuch danebengriff und das Handtuch fallenge-lassen hätte, hätte Peyton nicht rasch zugegriffen. Ihre Finger berührten sich; nur einen winzigen Moment länger, als wirklich notwendig gewesen wäre, und für die gleiche, unendlich kurze Zeitspanne berührten sich auch ihre Blicke, und Michael las etwas in Peytons Augen, das ihn erschauern ließ. Es war nicht neu. Es war die ganze Zeit dagewesen, und er hatte es die ganze Zeit über gespürt und sich nur nicht gestattet, es bewußt zu erkennen.

»Peyton –«, begann er, aber Peyton schüttelte rasch den Kopf, legte den Zeigefinger auf seine Lippen, und begann mit der anderen Hand sein Gesicht abzutrocknen.

»Sie sind ja völlig durchnäßt«, sagte sie noch einmal. »Sie –« Michael ergriff ihr Handgelenk und hielt es fest. »Peyton«,

sagte er sehr ernst. »Ich möchte, daß Sie eines wissen. Es kann für mich immer nur eine Frau geben. Haben Sie das verstan-den?«

Er hatte sehr langsam gesprochen, sehr ernst und mit sehr großem Nachdruck. Aber seine Stimme zitterte auch ganz leicht. Sein Herz klopfte, und Peyton mußte den rasenden Takt seines Pulsschlages spüren, denn er hielt noch immer ihre Hand.

»Natürlich«, antwortete Peyton. »Das weiß ich, Michael. Und es ist auch gut so. Es darf in Ihrem Leben nur eine Frau geben. Nur eine einzige Frau.«

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Zwei Tage später wurde Claire aus dem Krankenhaus entlas-sen. Das heißt, sie entließ sich selbst, denn der behandelnde Arzt hätte sie gern noch einige Tage länger dabehalten, um auch ganz sicher zu gehen, daß sie keinen überraschenden Rückfall erlitt. Aber Claire ließ ihm keine Wahl, und so stimmte er schließlich widerwillig zu, sie auf eigene Verant-wortung gehen zu lassen. Sie konnte das Gefühl nicht begrün-den, aber es wurde mit jeder Minute, die verging, deutlicher: Sie durfte nicht hierbleiben. Irgend etwas Böses, Schreckliches geschah, während sie hilflos in diesem Bett lag.

Eine Zeitlang erwog sie ganz ernsthaft den Gedanken, mögli-cherweise paranoid zu sein. Auch das war etwas, das sie zumindest in Betracht ziehen mußte – aber es gab einfach zu viel, was dagegensprach. Marlenes Tod, zum Beispiel.

Obwohl Michael versprochen hatte, sich zu beeilen, wurde es später Nachmittag, bis Emma und er kamen, um sie abzuholen. Er entschuldigte sich wortreich und erklärte, Marty bei den Vorbereitungen der Beisetzung geholfen zu haben, was Claire akzeptierte.

Eine Krankenschwester bugsierte ihren Rollstuhl in den Lift, der sie in die Tiefgarage brachte. Es fiel Claire schwer, ruhig sitzen zu bleiben. Sie hatte diese alberne Vorschrift der Versicherung, nach der Patienten prinzipiell nicht auf ihren eigenen Beinen aus der Klinik herausmarschieren durften, niemals so recht verstanden – und jetzt und in ihrem speziellen Fall empfand sie es geradezu als erniedrigend, wie eine Invalide behandelt zu werden.

Ihr Abschied von der Schwester, die sich in den vergangenen drei Tagen rührend um sie gekümmert hatte, fiel so kühl aus, daß Michael ihr einen verwunderten Blick zuwarf, sich aber wohlweislich jeden Kommentars enthielt. Selbst Emma, die bereits auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, runzelte überrascht die Stirn; und so kurz dieses Stirnrunzeln war, es

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versetzte Claire einen tiefen Stich. Sie mußte wieder an das denken, was Michael zu ihr gesagt hatte, an dem Abend, bevor Marlene starb: Wo ist die Claire geblieben, die ich geheiratet habe? Sie war weiter von ihr entfernt denn je. Und sie war nicht sicher, daß sie sie je wirklich wiederfinden würde.

»Wie fühlst du dich?« fragte Michael, als er den Wagen aus dem Parkhaus heraus und auf die Straße lenkte.

»Gut«, antwortete sie automatisch. Dann erinnerte sie sich, daß er diese Frage bereits dreimal gestellt hatte, seit er an diesem Tag gekommen war; mindestens zweimal zu oft für eine rhetorische Frage – und für eine ernstgemeinte war es ein sonderbarer Zeitpunkt. »Warum?«

Michael zuckte mit den Schultern. Er sah sie nicht an, son-dern konzentrierte sich ganz auf die Straße, obwohl kaum Verkehr herrschte. »Nur so«, sagte er, was ganz eindeutig eine Lüge war. »Du bist blaß. Und ein bißchen nervös.«

»Zeig mir jemanden, der nach drei Tagen Krankenhaus nicht blaß und ziemlich nervös ist«, antwortete Claire. Sie seufzte übertrieben. »Großer Gott – weißt du, daß sie einen um halb sechs wecken, um die Betten zu machen?«

»Du kannst dich ausruhen, sobald wir zu Hause sind«, sagte Michael. »Brauchst du noch irgendwelche Medikamente aus der Apotheke?«

Claire klopfte mit der flachen Hand auf die Tasche, die auf ihrem Schoß lag. »Sie haben mir alles mitgegeben, was ich brauche. Den Rest kann ich morgen besorgen. Nach der …«

Sie stockte. Michael fuhr unmerklich zusammen, und auch sein Gesicht verdüsterte sich für eine Sekunde; für die gleiche Zeit spannten sich seine Hände so fest um das Lenkrad, daß der Wagen darauf reagierte und ein wenig aus der Spur geriet.

Sie spürte, wie Emma sich auf dem Rücksitz zu bewegen begann, und sagte automatisch: »Schnall dich bitte an, Emma.«

Sie bekam keine Antwort, aber nach ein paar Augenblicken ertönte ein leises, metallenes Schnappen, das das Einrasten des

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Sicherheitsgurtes verriet. Trotzdem bewegte sich Emma weiter. »Ist alles in Ordnung, Schatz?« fragte Claire. Als Emma nicht

antwortete, drehte sich Claire umständlich in ihrem Sitz herum, um zu ihrer Tochter zu sehen.

Emma hatte sich angeschnallt, ganz wie sie es ihr befohlen hatte, aber sie versuchte trotzdem, weiter aus dem Rückfenster zu sehen, wozu sie sich fast den Hals verdrehte. Claire folgte ihrem Blick – und fuhr so heftig zusammen, daß Michael alarmiert zu ihr herübersah.

»Was ist?« Claire antwortete nicht gleich. Sie sah noch einmal und

genauer hin. Die Straße hinter ihnen war leer. Aber für einen Moment, vielleicht eine halbe Sekunde, bevor sie um die letzte Biegung gefahren waren, hatte sie sich eingebildet, eine breitschultrige Gestalt in einem gefleckten Army-Parka zu sehen, die tief über dem Lenker eines roten Fahrrades gebeugt hinter ihnen herradelte.

»Nichts«, sagte sie. Michael blickte sie zweifelnd an. Wären die Dinge in den

letzten Tagen auch nur ein bißchen anders gewesen, dann hätte sie Michael von ihrer Beobachtung erzählt, ihn vielleicht sogar gebeten, anzuhalten und zurückzufahren; und sei es nur, um sich selbst davon zu überzeugen, daß sie Solomon nicht gesehen hatte. Aber in diesem Moment wußte sie nicht einmal, wovor sie mehr Angst hatte: davor, daß Michael ihr einfach nicht glauben würde, oder davor, daß er ihr glaubte und Solomon tatsächlich nicht da war; ein weiteres Indiz für das Schreckliche, das mit der alten Claire geschehen war. An die dritte Möglichkeit, nämlich die, daß Solomon ihnen tatsächlich vom Krankenhaus aus auf seinem Fahrrad gefolgt sein könnte, gestattete sie sich im Moment nicht einmal zu denken. Sie hatte nicht die Kraft, jetzt noch einen weiteren Konflikt durchzuste-hen.

So schüttelte sie den Kopf und sagte noch einmal und mit –

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wie sie hoffte – mehr Überzeugung: »Es war nichts. Ich bin wohl doch nervöser, als ich wahrhaben will.«

Michael lächelte, aber es wirkte nicht echt. Er sagte nichts mehr, und da auch Claire keine Versuch machte, von sich aus ein Gespräch in Ganz zu bringen, schwiegen sie, bis sie zu Hause waren.

Auch dieses Schweigen war neu. Bisher hatte Claire die vertraute Stille, die sich oft und manchmal für lange Zeit zwischen ihnen ausbreitete, zumeist genossen, denn es war stets eine sehr angenehme Art der Stille gewesen; kein Schweigen, das darauf beruhte, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten, sondern auf dem genauen Gegenteil – eine vertraute Stille, in der Worte nicht mehr nötig gewesen waren. Dieses Schweigen war anders. Unangenehm. Bedrückend. Ein Schweigen, hinter dem die Worte, die sie nicht aussprachen, lauerten wie Raubtiere, die sie anspringen und blutige Wunden reißen würden.

Und noch etwas geschah, was Claire erschreckte, auch wenn sie es zuerst nicht einmal bewußt registrierte: je näher sie ihrem Haus kamen, desto nervöser wurde Claire, und desto unwohler fühlte sie sich. Es dauerte lange, bis sie bereit war, sich den Grund dieses Unbehagens einzugestehen: Sie hatte Angst davor, nach Hause zu kommen. Während der letzten beiden Tage hatte sie an praktisch nichts anderes gedacht als daran, aus der Klinik herauszukommen. Von allen schlimmen Erkenntnissen, mit denen sie in den letzten Wochen konfron-tiert worden war, war dies vielleicht die schrecklichste: Sie konnte das Haus, dem sie sich näherten, nicht mehr mit dem Begriff Zuhause assoziieren. Vielmehr hatte sie das Gefühl, als Fremde zu kommen, ein Eindringling in ihrem eigenen Heim.

Natürlich war es absurd – aber sie hatte das Gefühl, daß Michael ihre Gedanken las, denn der Wagen wurde immer langsamer, je weiter sie sich dem Haus näherten; das letzte Stück legten sie beinahe im Schrittempo zurück. Als sie die

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Auffahrt hinaufrollten, suchte Claires Blick automatisch die Stelle, an der Marlenes Volvo gestanden hatte, und diesmal erriet Michael tatsächlich ihre Gedanken.

»Marty hat ihn gestern abholen lassen. Ich glaube, er will ihn verkaufen.«

Er lachte, leise und unecht, so daß es ebenso gut ein Schluch-zen hätte sein können. »Er hat diesen schwedischen Panzer niemals leiden können.«

Claire hörte ihm gar nicht richtig zu. Sie starrte die Stelle an, an der der Wagen gestanden hatte, und für einen winzigen Moment glaubte sie ihn tatsächlich zu sehen; ebenso wie Marlene.

Sie verscheuchte das Bild. Marlene kam nicht zurück, wenn sie sich selbst verrückt machte.

Michael hielt an, und Claire öffnete die Tür, stieg aber noch nicht aus. »Ist … Peyton da?«

Michael nickte. Er sagte nichts, sondern stieg schweigend aus, öffnete die hintere Tür und wartete, bis Emma aus dem Wagen geklettert war.

»Geh schon ins Haus, Schatz«, sagte er. »Mami und ich kommen gleich nach.«

Geduldig wartete er, bis Emma außer Hörweite war, dann kam er um den Wagen herum und sah Claire auf eine Art an, die sie fast krank machte. »Bevor wir hineingehen, solltest du eines wissen, Claire«, sagte er. »Peyton hat dir praktisch das Leben gerettet. Wäre sie nicht im richtigen Moment dagewe-sen, dann wärest du jetzt vielleicht tot.«

Er konnte es nicht wissen – aber es hätte in diesem Moment kaum etwas Schlimmeres gegeben, was er ihr hätte sagen können. Claire verstand seine Beweggründe sehr gut – er wollte schlicht und einfach verhindern, daß sie etwas sagte oder tat, was sie später bedauerte, und trotzdem trafen sie seine Worte wie eine Ohrfeige. Sie starrte ihn an und fühlte, wie ein heißes Brennen in ihre Augen schoß. Rasch, bevor Michael

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ihre Tränen sehen konnte, nahm sie ihre Tasche auf und ging zum Haus.

Die Furcht, die sie den ganzen Weg über begleitet hatte, wurde zur Gewißheit, als sie eintrat: das Haus war sehr still, sehr aufgeräumt und sehr behaglich, aber es war nicht mehr ihr Zuhause.

Claire blieb am Fuß der Treppe stehen und sah sich mit einer Mischung aus Irritation und wachsender Beunruhigung um. Etwas stimmte hier nicht – und es war ganz und gar nicht nur ein Gefühl. Die Veränderung war sichtbar, auch wenn es nur Winzigkeiten waren. Hier war ein Blumengesteck anders arrangiert, da ein Bild umgehängt; auf dem Tisch lag ein Deckchen, das sie nicht kannte, die Bücher und CDs im Regal waren nach einem anderen System geordnet. Es waren keine dramatischen Veränderungen, aber der Gesamteindruck stimmte nicht mehr. In den drei Tagen, die sie weggewesen war, hatte das Haus einen anderen Charakter bekommen.

Michael trat neben sie und streckte die Hand nach der Tasche aus. »Ich bringe dein Gepäck nach oben«, sagte er.

Claire riß die Tasche mit einer fast zornigen Bewegung zurück. »Ich bin kein Invalide!« sagte sie scharf.

Michael blinzelte, vollkommen überrascht von diesem Aus-bruch, dessen Heftigkeit selbst Claire verblüffte.

»Entschuldige«, sagte er verdattert. »Ich wollte nur –« »Ich weiß, was du wolltest«, fiel ihm Claire ins Wort. »Dan-

ke. Es ist nicht nötig.« In Michaels Verblüffung mischte sich etwas anderes. Er

runzelte die Stirn, aber er sagte nichts. Peyton kam in diesem Moment aus der Küche.

Ihr Anblick versetzte Claire einen neuen Stich. Sie trug ein einfaches, fast schmuckloses Kleid und eine weiße Schürze, und ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und obwohl sie viel weniger attraktiv als sonst aussah, verspürte Claire bei ihrem Anblick zum ersten Mal echte Eifersucht;

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Peyton war nicht einfach nur in die Kleidung, sondern auch in die Rolle der Hausfrau geschlüpft.

»Claire!« sagte sie. Ihre Augen leuchteten auf. »Ich freue mich! Wie schön, daß Sie wieder zu Hause sind!«

»Ja«, antwortete Claire. »Es tut gut, nach Hause zu kommen.« Ihre Stimme – und viel mehr noch ihr Blick – waren so kalt, daß Peyton mitten im Schritt stehenblieb und sie erschrocken ansah. Eine Sekunde lang suchte sie sichtbar nach Worten, dann wechselte sie abrupt sowohl das Thema als auch die Tonlage und fuhr, an Michael gewandt, fort: »Die Schule hat angerufen, Michael. Der Elternabend ist am nächsten Donners-tag. Ich habe den Termin in Ihrem Kalender notiert.«

Etwas blitzte weiß und rot an ihrem Handgelenk auf, und als Claire noch einmal hinsah, erkannte sie das Armband, das Peyton damals in ihrem Schlafzimmer so bewundert hatte.

Peyton folgte ihrem Blick und hob mit einem leicht verlege-nen Lächeln den Arm. »Sie haben gesagt, ich dürfte es mir einmal ausleihen«, sagte sie. »Ist das in Ordnung?«

»Sicher«, antwortete Claire kühl. »Nehmen Sie sich nur, was Sie brauchen.«

Peytons Lippen wurden schmal. Für einen Moment glaubte Claire, in ihren Augen etwas zu erkennen, das an Haß grenzte – aber der Moment ging zu schnell vorüber, als daß sie sicher sein konnte, und Peyton hatte sich nahezu sofort wieder in der Gewalt. Sie räusperte sich verlegen.

»Ich … muß nach dem Essen sehen«, sagte sie. »Nicht, daß es nachher noch anbrennt.«

Sie ging rasch in die Küche zurück, und Claire stieg die Treppe hinauf. Im Schlafzimmer warf sie ihre Tasche aufs Bett, dann betrat sie Joes Zimmer. Ihn hatte sie in den vergan-genen drei Tagen am meisten vermißt.

Das Windspiel über Joes Wiege verriet ihr Eintreten mit einem leisen, melodischen Klingen, und Claire stockte unwill-kürlich im Schritt. Erst nach einer Sekunde ging sie weiter,

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wobei sie nahezu auf Zehenspitzen schlich, um ihn nicht zu wecken, falls er schlief.

Joe schlief tatsächlich. Ein zufriedener, glücklicher Ausdruck lag auf seinen Zügen, und als Claire dastand und auf ihn herabsah, überkam sie ein solches Gefühl plötzlicher Zärtlich-keit, daß sie unwillkürlich die Hände ausstreckte, um ihn hochzunehmen und an sich zu drücken.

»Bitte nicht.« Claire fuhr zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag

bekommen. Mit einer abrupten Bewegung drehte sie sich um und sah Michael an, der so leise hinter ihr ins Zimmer getreten war, daß sie es nicht einmal gehört hatte.

»Er hatte eine sehr unruhige Nacht«, sagte Michael. »Peyton ist froh, daß er eingeschlafen ist.«

Etwas in Claire schien sich zu winden wie ein getretener Wurm, und sie verspürte eine Mischung aus unerträglichem Schmerz und Zorn, die es ihr fast unmöglich machte, sich noch zu beherrschen. Für die Dauer eines Herzschlages war sie nahe daran, sich herumzudrehen und Joe aus dem Schlaf zu reißen, nur um ihm zu zeigen, daß er ihr Kind war. Aber sie wußte, daß Michael das nicht verstehen würde, und er konnte es auch nicht, denn es wäre falsch; und dumm dazu.

Und so gab sie auch diesen letzten Kampf auf, noch bevor sie ihn wirklich begonnen hatte, und ging schweigend an Michael vorbei ins Schlafzimmer hinüber.

Michael folgte ihr nicht.

Lange nach Dunkelwerden wachte sie wieder auf. Sie erinnerte sich nicht, eingeschlafen zu sein, aber hinter den nur halb geschlossenen Jalousien herrschte jetzt schwärzeste Nacht, die höchstens noch von der Finsternis in ihren Gedanken übertrof-fen wurde, und sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund und fühlte sich vollkommen verspannt und steif, denn sie war

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in der unbequemen Haltung eingeschlafen, in der sie sich auf das Bett geworfen hatte.

Außerdem hatte sie Schmerzen beim Atmen. Die Erkenntnis verwirrte Claire im ersten Moment. Die Ärzte

hatten sie mit Medikamenten vollgepumpt, so daß es eigentlich unmöglich war, daß sie auch nur die Spur eines Schmerzes fühlte. Sie hatten sie sogar eindringlich gewarnt: die Chemika-lien in ihrem Kreislauf gaukelten ihr eine Unverwundbarkeit vor, die sie ganz und gar nicht besaß.

Aber Medikamente hin oder her – sie hatte Schmerzen. Jeder Atemzug tat ihr weh, und irgendwo in ihrem Hals schien sich ein rostiges Ventil zu befinden, das sie bei jedem Luftholen mühsam auf- und wieder zudrehen mußte. Es war die Atemnot gewesen, die sie aufgeweckt hatte, nicht etwa der Umstand, daß sie ausgeschlafen hätte.

Sie hatte verloren. Endgültig. Nicht nur ihre Freundin. Nicht nur Michael und Emma – und

wahrscheinlich auch schon Joe –, sondern alles. Ihr Leben war zu einem Scherbenhaufen geworden, und es gab auf der ganzen Welt nicht genug Leim, um ihn wieder zu kitten. Sie konnte nicht einmal genau sagen, wann es angefangen hatte, oder wie. Die ersten Risse mußten haarfein gewesen sein, so fein, daß sie sie nicht einmal bemerkt hatte, und wahrscheinlich waren sie schon vor langer Zeit entstanden, lange vor dem Unfall, lange vor jener schrecklichen Party, lange vor Peyton.

Es war aber, als stolperten ihre Gedanken über etwas, als sie an diesem Punkt angelangt war. Claire wußte nicht, was, aber irgend etwas unterbrach den sich immer schneller drehenden Strudel aus Selbstmitleid und Verbitterung, an dem sie selbst nach Kräften drehte, und plötzlich begriff sie, wie dumm und schädlich diese Gedanken waren. Destruktives Denken führte zu keinem Ergebnis.

Sie stand auf. Zu schnell, denn ihr wurde schwindelig; eine Wirkung der Medikamente. Einige Sekunden lang blieb sie mit

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geschlossenen Augen stehen und wartete, daß das Drehen hinter ihrer Stirn aufhörte, dann tastete sie sich im Dunkeln zur Tür und öffnete sie. Von unten drangen Geräusche an ihr Ohr: sie hörte Michael und Peyton reden. Der Fernseher lief. Emma kicherte.

Langsam ging sie zur Treppe und hinunter. Sie konnte Mi-chael, Emma und Peyton sehen, ohne daß sie sie bemerkten, und es war ein Anblick, der den Schmerz in ihrem Inneren neu aufflammen ließ. Michael und Peyton saßen nebeneinander auf der Couch und redeten und lachten miteinander. Emma hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden und tat irgend etwas, was sie nicht erkennen konnte, aber es schien ihr großen Spaß zu machen, denn sie kicherte unentwegt. Peyton, die einen Cognacschwenker in der linken Hand trug, warf ihr dann und wann einen zärtlichen Blick zu. Der Fernseher lief, aber niemand sah hin. Wenn es irgendeinen Begriff gab, um das zu beschreiben, was Claire sah, dann war es der einer glücklichen Familie.

Und es war nicht mehr ihre Familie. Sie ging weiter, und entweder das Geräusch ihrer Schritte

oder ihre bloße Anwesenheit störte den Familienfrieden. Das Gespräch zwischen Michael und Peyton verstummte. Emmas Kichern brach ab wie abgeschnitten.

Hatte sie geglaubt, der Anblick des trauten Familienglücks wäre das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte? Wenn ja, so hatte sie sich geirrt – was sie jetzt sah, war schlimmer. Emma starrte sie aus großen Augen an. Ihre Fröhlichkeit war wie weggeblasen. Michael war aufgestanden und eilte ihr entgegen, und auch auf seinem Gesicht hatte Betroffenheit die heitere Entspannung abgelöst. Peyton sah sie einfach nur an. Sie rührte sich nicht. Das Lächeln auf ihren Zügen war einge-froren, aber in ihren Augen war etwas, das Claire für Triumph hielt, obwohl sie sich eigentlich keinen Grund dafür denken konnte; ein böser, wilder Triumph, nicht einfach nur der

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Triumph eines Siegers, sondern der eines Zerstörers, der sein Opfer am Boden liegen sieht und sich an seinen Qualen weidet.

Und ganz plötzlich haßte sie Peyton. Sie hatte kein Recht dazu, aber für eine Sekunde tat sie es mit solcher Inbrunst, daß sie sich nur noch mit letzter Kraft beherrschen konnte, nicht aufzuschreien und ihr dieses verdammte Glas aus der Hand zu schlagen, und für die gleiche Zeitspanne war sie ganz kurz davor, von Michael zu verlangen, daß sie ging. Ihr Leben war zerstört. Peyton besaß nun alles, was für sie jemals von Wert gewesen war, und auch wenn es nicht ihre Schuld war, sie haßte sie dafür. Sie wollte, daß sie ging. Daß sie aufstand und aus diesem Haus und ihrem Leben verschwand, und diesmal würde sie Michael nicht darum bitten, sondern es fordern.

Natürlich tat sie es nicht. Sie schwieg und blickte Peyton weiter stumm und voller Haß

an. In Peytons Gesicht regte sich noch immer nichts, aber der Triumph in ihren Augen loderte neu und heller auf, als hätte sie ihre Gedanken gelesen und erkannt, daß in dieser einen Sekunde die letzte Schlacht zwischen ihnen geschlagen – und entschieden – wurde.

»Claire?« Michael berührte sie am Arm, und erst in diesem Moment

wurde Claire klar, daß er sie bereits das zweite oder dritte Mal hintereinander angesprochen hatte. »Alles in Ordnung mit dir?«

Sie streifte seine Hand ab. »Ja, sicher. Was soll nicht in Ordnung sein?«

Michael versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. »Wir wollten gerade ein wenig fernsehen«, sagte er mit einem unbehaglichen Räuspern. »Warum leistest du uns nicht Gesellschaft?«

»Es gibt Abenteuer in der Tierwelt«, sagte Emma. Die Serie gehörte zu ihren Lieblingssendungen, und früher (früher? Zum Teufel, das war vor einer Woche gewesen!) hatten sie diese

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Sendung immer gern gemeinsam gesehen. Aber heute stand ihr der Sinn ganz bestimmt nicht nach Fernsehen.

»Setz dich ein wenig zu uns«, sagte Michael. Peyton pflichte-te ihm mit einem Nicken bei und rutschte ein Stück auf der Couch zur Seite, um ihr Platz zu machen. Sie hielt es nicht einmal für nötig, aufzustehen.

Claire machte auch nur einen einzigen Schritt und blieb dann wieder stehen. »Ich glaube, ich … ich lege mich wieder hin«, sagte sie zögernd. Mehr denn je kam sie sich wie ein Eindring-ling vor.

Claire dachte diesen Gedanken ohne Bitterkeit oder Zorn. In dem Moment, in dem sie begriffen hatte, daß der Kampf verloren war, waren auch Verbitterung und Schmerz von ihr abgefallen. Anstelle des brodelnden Vulkans aus Gefühlen war in ihr nur noch eine große, saugende Leere, der eine entsetzli-che Verlockung innewohnte. So ähnlich, dachte sie, mußte es sein, zu sterben. Eigentlich war es gar nicht so schlimm.

»Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?« fragte Peyton. Claire schüttelte den Kopf, und Michael sagte: »Sie macht

hervorragenden Kaffee. Er schmeckt fast so gut wie deiner.« »Ich hatte eine gute Lehrerin«, fügte Peyton lächelnd hinzu.

Sie stand auf. »Es macht mir wirklich nichts aus.« »Ich werde mich wieder hinlegen«, beharrte Claire. Und sie

war tatsächlich mit einem Mal wieder so müde, daß es ihr fast schwer fiel, sich auf den Beinen zu halten. »Ich hätte gar nicht erst herunterkommen sollen. Außerdem ist morgen ein schwe-rer Tag.«

Michaels Gesicht verdüsterte sich. »Die Beerdigung ist um zehn«, sagte er. »Aber ich würde gerne ein bißchen früher hinfahren. Ich möchte noch einmal mit Marty reden.« Und ich hätte es gerne, wenn du das auch tust, fügte sein Blick hinzu.

Sie hatte Marty nicht gesehen, seit der Unfall passiert war, und sie hatte entsetzliche Angst davor, ihm in die Augen zu schauen.

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Sie sagte nichts, sondern lächelte nur müde und drehte sich herum. Bevor sie das Wohnzimmer verließ, sah sie noch einmal über die Schulter zu Peyton zurück. Peyton lächelte. Sie trug noch immer Claires Armband.

Die Beerdigung war ein Alptraum. Claire hatte es sich schlimm vorgestellt, aber auch diesmal war ihre Phantasie wieder hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben. Auf eine gewisse Art war die Beerdigung schlimmer als das Entsetzen, das sie beim Anblick von Marlenes Leichnam empfunden hatte. Was sie beim Anblick des offenen Grabes verspürte, das war eine Pein anderer Qualität; ein Feuer, das heiß brannte und Wunden hinterließ, die nie wieder völlig verheilen würden.

Claire erinnerte sich nicht wirklich an Einzelheiten, als es vorbei war. Der langsame Marsch zur Kapelle, die Worte des Geistlichen und der Zug zu dem offenen Grab verschmolzen in ihrer Erinnerung zu einer einzigen, langen Passage aus dump-fer Bedrückung und Schmerz, in der nur eine einzige Szene wirklich Substanz gehabt hatte: Sie hatte neben Michael an Marlenes offenem Grab gestanden und den schlichten Sarg angeblickt, der zwei Meter unter ihr in der Erde ruhte, und für einen Moment hatte sie eine solche Verzweiflung überkom-men, daß sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Marlenes Tod erschien ihr so willkürlich, daß sie zum ersten Mal im Leben ernsthaft an ihrem Glauben zu zweifeln begann.

Claire und Michael gehörten mit zu den letzten, die den Friedhof verließen und zum Parkplatz gingen, um sich der Wagenkolonne anzuschließen, die Marty nach Hause folgte.

Claire ging immer langsamer und blieb ganz stehen, kurz bevor sie das Friedhofsgelände verließen. Einige der anderen Gäste – die meisten kannte sie nicht einmal, aber ihre Blicke verrieten Claire, daß sie sehr wohl sie zu kennen schienen – gingen an ihnen vorüber, und auch Michael machte noch zwei,

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drei weitere Schritte, ehe er bemerkte, daß Claire stehengeblie-ben war, und zu ihr zurückkam.

»Alles in Ordnung?« fragte er. Er hob die Hand, um sie zu berühren, führte die Bewegung dann aber aus irgendeinem Grund nicht zu Ende. Er war sehr tapfer gewesen, aber nun sah Claire Tränen in seinen Augen schimmern. Er hatte Marlene immer noch geliebt, aber sie begriff, daß er dies auf eine Weise getan hatte, die ihr keinen Grund zur Eifersucht gab.

»Nein«, sagte sie ehrlich. Dies war nicht der Moment für fromme Lügen. Nichts war in Ordnung, und es würde nie wieder alles in Ordnung sein, nach diesem Tag. »Bitte fahr schon vor«, sagte sie. »Ich … ich komme nach. Ich möchte noch einmal zum Grab gehen.«

Michael zögerte. Sie waren mit zwei Wagen gekommen, für den Fall, daß Michael länger bei Marty bleiben würde, aber sie sah ihm an, daß er es für keine besonders gute Idee hielt, sie jetzt allein zu lassen.

»Fühlst du dich in der Lage, zu fahren?« fragte er. »Sicher«, antwortete Claire mit einem gezwungenen Lächeln.

»Ich möchte nur …« Sie schwieg einen Moment, in dem sie an Michael vorbei ins Leere starrte. »Ich möchte noch einen Moment mit ihr allein sein«, sagte sie. »Verstehst du?«

Michael nickte, aber Claire glaubte nicht, daß er verstand, was sie meinte. Die Wahrheit war, daß sie Angst hatte, zwi-schen all diesen fremden Menschen zu sitzen, die sich bemüh-ten, möglichst traurig auszusehen. Die Wahrheit war, daß sie Angst davor hatte, Marty ins Gesicht zu sehen, weil sie sich die Schuld an Marlenes Tod gab. Er hatte ihr gesagt, daß er ihr nichts vorwarf, und sie wußte, daß er es so meinte. Er hatte ihr gesagt, daß sie keine Schuld traf, und sie wußte, daß das die Wahrheit war. Michael hatte ihr gesagt, daß sie keine Schuld traf. Sie selbst sagte sich ununterbrochen, daß sie keine Schuld traf, und der logische Teil ihres Denkens bestätigte das – es war ein Unfall gewesen, ein schrecklicher, nicht vorhersehba-

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rer und ebenso wenig zu verhindernder Unfall; technisches Versagen und das Pech, im falschen Moment am falschen Ort zu sein. Die Polizeibeamten, die sie am zweiten Tag in der Klinik befragt hatten, hatten ihr gesagt, daß sie keine Schuld traf, und diese Männer wurden dafür bezahlt, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren.

Aber all das änderte nichts daran, daß sie sich die Schuld an Marlenes Tod gab.

Sie hätte es verhindern können. Es hätte sie keine Mühe gekostet. Nicht einmal ein Wort.

Eine simple Bewegung hätte ausgereicht – sie hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um das Funktelefon zu nehmen, das Stan ihr hinhielt, und Marlene wäre jetzt vielleicht noch am Leben. Sie hätte einfach nur ihren verdammten Stolz überwin-den müssen. Sie wußte bis jetzt nicht, warum Marlene angeru-fen hatte, und sie würde es vermutlich auch nie erfahren. Aber nach dem Gespräch wäre Marlene nicht zu ihr nach Hause gekommen und in die Todesfalle gerannt.

»Also gut«, sagte Michael widerstrebend. »Aber bitte, sei vorsichtig, okay?«

»Natürlich«, versprach Claire. »Entschuldige mich bei Marty. Ich komme so schnell wie möglich nach.«

Er küßte sie flüchtig auf die Wange, wandte sich um und ging. Claire blieb stehen und blickte ihm nach, und auch Michael sah ein paarmal über die Schulter zu ihr zurück, bis er zwischen den Wagen auf dem Parkplatz verschwunden war.

Claire fühlte sich mit einem Mal sehr allein.

Sie hatte mehr als eine halbe Stunde an Marlenes offenem Grab verbracht, und sie fuhr danach nicht zu Marty, sondern zurück in die Stadt. Sie hatte Michael angerufen und einen fadenschei-nigen Vorwand gefunden, später zu kommen – den er ihr nicht geglaubt hatte, das hörte sie seiner Stimme am Telefon an.

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Aber er war taktvoll genug, keine weiteren Fragen zu stellen, sondern gemahnte sie nur noch einmal zur Vorsicht.

Claire war sehr froh, daß er nicht darauf beharrte, den wahren Grund für ihre neuerliche Verspätung zu erfahren.

Sie mußte einfach herausfinden, warum Marlene sie an diesem Tag angerufen hatte. Claire hätte nicht sagen können, warum sie von diesem Gedanken so besessen war, aber sie spürte, daß sie den Verstand verlieren würde, wenn sie keine Antwort auf diese Frage fand. Vielleicht war es einfach die verzweifelte Hoffnung, daß Marlene ihr vergeben hatte; daß sie angerufen hatte, um ihr zu sagen, daß sie sie verstand und ihr Benehmen verzieh; eine Hoffnung, aus purer Verzweiflung geboren – aber die Vorstellung, daß Marlenes letzter Gedanke an sie voller Zorn und Haß gewesen sein sollte, war Claire unerträglich.

Sie parkte den Wagen in der Tiefgarage unter dem Geschäfts-haus, in dem Marlenes Büros lagen, und fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage.

Marty hatte entschieden, daß die Geschäfte so normal wie möglich weiterlaufen sollten, solange noch nicht feststand, was mit der Agentur geschah. Claire glaubte nicht, daß Marty das Maklerbüro weiter betreiben würde. Es war Marlene gewesen, die die Firma gegründet und zu dem gemacht hatte, was sie heute war. Marty verstand nichts von diesem Geschäft, und er hatte auch nie Ambitionen gehabt, etwas darüber zu lernen; Claire war sicher, daß er es in naher Zukunft verkaufen und tun würde, wovon er im Scherz – aber eben nicht nur im Scherz – schon seit Jahren sprach: sich ins Privatleben zurückziehen.

Das junge Mädchen am Empfang sah mit einem berufsmäßi-gen Lächeln auf, als Claire eintrat. Aber ihr Lächeln entgleiste, als sie Claire erkannte, und aus dem ohnehin nur geheuchelten Interesse in ihrem Blick wurden Bestürzung und Unsicherheit.

Claire enthob sie der Peinlichkeit, sich irgendeine Beileidsbe-kundung einfallen zu lassen, indem sie wortlos an ihr vorüber-

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ging und Marlenes Büro ansteuerte. Sie war nicht zum ersten Mal hier; die meisten Angestellten kannten sie und wußten, daß Marlene und sie befreundet gewesen waren.

Ohne anzuklopfen, trat sie ein und sah sich Marlenes Assi-stenten gegenüber, der hinter einem kostbaren Mahagoni-Schreibtisch saß und telefonierte, als sie die Tür öffnete. Sein Gespräch schien jedoch in diesem Moment beendet zu sein, denn er hängte fast sofort ein und stand auf.

»Mrs. Bartell« sagte er mit einer Mischung aus Verwirrung und Schrecken, die in ihrer Unsicherheit fast rührend wirkte – und zu beweisen schien, was Marlene beiläufig über ihre neueste ›Errungenschaft‹ erzählt hatte. Zumindest hatte der Mann ein gutes Gedächtnis: Claire hatte ihn nur ein einziges Mal kurz gesehen, aber er schien sich ohne Mühe an sie zu erinnern.

So hastig, daß er fast über die eigenen Füße gestolpert wäre, kam er hinter seinem Schreibtisch hervorgeeilt und streckte ihr die Hand entgegen.

»Ich möchte Ihnen mein Beileid ausdrücken. Wir sind alle noch ganz fassungslos. Es … tut mir unendlich leid.«

Obwohl seine Worte so unbeholfen waren wie sein gesamter Habitus, klangen sie ehrlich. Offensichtlich waren die Sympa-thien des jungen Mannes für seine Chefin weit größer gewesen als umgekehrt.

Claire löste ihre Hand behutsam aus seiner und deutete auf die geschlossene Verbindungstür zu Marlenes Büro. »Ich möchte gerne …« Sie zögerte, suchte nach den richtigen Worten und gestand sich ein, daß sie sie ebenso wenig fand wie ihr Gegenüber.

»Wäre es möglich, daß ich ihr Büro noch einmal sehe?« fragte sie.

Der Assistent wirkte noch verwirrter als zuvor. Ganz offen-sichtlich verstand er den Sinn dieser Bitte nicht. Aber seine Unbeholfenheit kam Claire jetzt zugute – er hatte nicht den

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Mut, nein zu sagen. »Selbstverständlich«, antwortete er. Er eilte voraus, zog einen

Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür damit auf. »Wir haben nichts verändert. Es ist alles noch genau so wie vor vier Tagen, als …« Er stockte. »Als sie fortgegangen ist«, sagte er schließlich.

Claire trat an ihm vorbei und blieb einen Schritt hinter der Tür stehen.

Es war ein unheimliches, fast angstmachendes Gefühl. Sie war so oft hiergewesen, daß sie diesen Raum bis in die letzte Einzelheit kannte. Aber plötzlich hatte er nichts Vertrautes mehr. Die bewußte Sachlichkeit der Einrichtung kam ihr plötzlich kalt vor, alle Linien so hart und schneidend wie Messer, die Schatten drohend wie schwarze Abgründe, die nur darauf warteten, daß sie hineinstürzte. Sie fragte sich, wieso ihr dieser Raum jemals hatte gefallen können, aber sie wußte die Antwort fast im gleichen Moment, in dem sie sich diese Frage stellte. Es war Marlene gewesen, die diesem Raum Leben gegeben und ihn mit Wärme erfüllt hatte.

Sie ging rasch weiter. Der junge Mann folgte ihr nicht, ging aber auch nicht wieder hinaus, sondern blieb unter der geöffne-ten Tür stehen und sah schweigend zu ihr hinüber.

Claire trat zögernd um den Schreibtisch herum und ließ den Blick über die große, blitzblank polierte Platte schweifen. Sie war fast leer – eine Federschale mit einem Kugelschreiber, ein hypermodernes Telefon, ein kleiner Aktenstapel und ein silberner Bilderrahmen waren alles, was daraufstand.

Claires Blick blieb für einen Moment an diesem Bilderrah-men hängen. Er war zweigeteilt – die linke Hälfte enthielt ein nicht einmal sonderlich gutes Foto von Marty – während die andere sie selbst, Michael und Emma zeigte. Claire verspürte ein heißes Brennen in den Augen. Sie hatte Marlene verspro-chen, ihr ein neues Foto zu besorgen, auf dem die ganze Familie zu sehen war, es aber aus irgendeinem Grund immer

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vergessen – ein weiteres Glied in der schier endlosen Kette versäumter Dinge, die sie nun nie mehr würde tun können. Sie mußte daran denken, wie sehr Marlene Emma geliebt hatte und auch Joe, und daran, daß Joe sie nun niemals kennenlernen würde. Sie –

Mit großer Mühe schüttelte sie den Gedanken ab, sah zur Tür und begegnete dem Blick des jungen Mannes, der sie noch immer unverwandt anstarrte. In seinen Augen lag noch immer diese Mischung aus Neugier und Verwirrung, aber auch ein tiefes, ehrlich empfundenes Mitleid, für das ihm Claire sehr dankbar war.

»Wissen Sie, wohin Mar … Mrs. Craven von hier aus gehen wollte?« fragte sie.

»Nicht genau.« Der junge Mann schüttelte den Kopf und kam näher. »Sie hatte es sehr eilig – und sie war außergewöhnlich aufgeregt. Sie sagte, sie wollte in die Bibliothek gehen, aber ich glaube nicht, daß das alles war. Sie ließ mich alle Termine für diesen Tag absagen.«

»In die Bibliothek?« »Ich habe mich auch gewundert, aber das waren ihre Worte.

Es muß etwas Wichtiges gewesen sein. Wir erwarteten einen wichtigen Kunden. Und Mrs. Craven hat nie ein Geschäft ohne Grund abgesagt.«

Das hätte sie nicht einmal mit einem Grund getan, dachte Claire. Es sei denn, es wäre ein wirklich gewichtiger Grund gewesen. Sie überlegte einen Moment, dann deutete sie auf das Telefon. »Mit diesen Geräten kann man doch die letzten Nummern feststellen, die angerufen wurden, oder?«

»Die letzten zehn, ja.« Der Assistent kam um den Schreib-tisch herum, streckte den Arm aus und berührte eine Taste, und auf dem kleinen LCD-Display des Apparates erschienen nacheinander die Nummern der letzten zehn Anrufe, die Marlene getätigt hatte. Claire sah sehr aufmerksam hin, aber es war keine Nummer dabei, die sie kannte. Auch nicht die des

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Botanischen Gartens. »Die Bank, das Bauamt, einige Kunden …« Der junge Mann

zuckte mit den Schultern. »Hilft Ihnen das weiter?« »Nein«, sagte Claire enttäuscht. »Aber sie hat bei mir angeru-

fen.« »Dann muß sie es von einem anderen Apparat aus getan

haben. Vielleicht aus der Bibliothek – oder vom Wagen aus. Die meisten dieser Gespräche habe ich selbst durchgestellt.«

Claire hatte Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht zu sehr anmerken zu lassen. Ihr Blick irrte fast verzweifelt über den Schreibtisch, suchte nach einer Notiz, irgendeinem Hinweis, den Marlene vielleicht hinterlassen hatte. Der Assistent hatte gesagt, daß sie sehr aufgeregt gewesen war, als sie ging – wozu bei Marlene nicht viel gehört hatte.

»Wissen Sie, was sie getan hat, bevor sie ging?« fragte sie. Der junge Mann deutete achselzuckend auf die Akten. »Ich

sollte ihr diese Unterlagen bringen. Die hat sie sich angesehen. Und dann hatte sie es plötzlich sehr eilig.«

Es waren Geschäftsunterlagen. Claire hatte sie oft genug gesehen, um zu wissen, daß es sich um Marlenes Exposés handelte; Kurzbeschreibungen der sündhaft teuren Objekte, die sie so erfolgreich an den Mann gebracht hatte. Aber was um alles in der Welt hatte das mit ihr zu tun? Sie erinnerte sich an Stans Worte: Sie sagt, es wäre sehr wichtig.

Eigentlich ohne wirkliche Hoffnung, etwas zu finden, nahm Claire den obersten Schnellhefter vom Stapel und warf einen Blick auf das großformatige Schwarzweißfoto, das die erste Seite zierte.

Marlene hatte mit schwarzem Filzstift einen fetten Kringel darauf gemalt.

Claire hob das Foto ans Licht und strengte die Augen an. Sie konnte nicht genau erkennen, was Marlene da markiert hatte, trotzdem hatte der verschwommene weiße Punkt etwas vage Vertrautes, als schlüge in ihrer Erinnerung eine Saite an, deren

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Klang ihr nicht fremd war. Ein wenig beunruhigt blätterte sie und las den Text auf der

Rückseite des Fotos – und ein weißglühender Schmerz bohrte sich so tief und überraschend in ihre Brust, daß sie aufstöhnte.

»Was haben Sie?« fragte der Assistent alarmiert. Claire hörte es nicht einmal. Ihr Blick war wie gebannt auf

die Adresse gerichtet, die in säuberlichen Druckbuchstaben auf dem Blatt prangten. Es war der Name des Mannes, dem das Haus auf der anderen Seite gehörte. Er lautete: Dr. Victor Mott.

Sie brauchte fast eine Stunde, um das Haus zu erreichen. Es lag am anderen Ende der Stadt, und die letzten Meilen war Claire ganz bewußt ein gutes Stück unter der Geschwindigkeitsbe-schränkung geblieben, ebenso, wie sie sich innerlich mit aller Gewalt gezwungen hatte, Ruhe zu bewahren – eine Anstren-gung, die fast über ihre Kräfte gegangen war. Ihre Gedanken drehten sich wild im Kreis. Hinter ihrer Stirn herrschte ein Chaos, in dem es nur einen einzigen, klaren Gedanken gab. Mott. Dr. Victor Mott. Immer und immer wieder dieser Name.

Sie wußte noch immer nicht, was Marlene an diesem Namen so aus der Fassung gebracht hatte – selbstverständlich hatte sie gewußt, wer Dr. Mott war; selbst wenn sie es nicht von Claire gehört hätte, der Name war lange und groß genug in den Schlagzeilen erschienen. Daß sie den Auftrag hatte, sein Haus zu verkaufen, wäre Marlene vielleicht wie eine besonders pikante Ironie des Schicksals vorgekommen – aber das allein wäre noch kein Grund gewesen, so zu reagieren, wie sie es getan hatte.

Doch da war noch mehr. Etwas mit dem Foto – etwas auf dem Foto, das Claire sehr wohl erkannt hatte; nur hatte sie sich bisher einfach nicht gestattet, aus diesem Erkennen auch ein Begreifen zu machen.

Während sie den Wagen auf den Parkplatz vor dem Haus

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lenkte, bedauerte sie innerlich, so überhastet losgefahren zu sein. Hätte sie sich auch nur eine Minute Zeit genommen, um nachzudenken, dann wäre sie vielleicht auf die Idee gekom-men, Marlenes Assistenten nach Einzelheiten dieses Hauses zu fragen – zum Beispiel nach einem Schlüssel.

Jetzt war es zu spät dazu, aber Claire war wild entschlossen, das Geheimnis um dieses Haus auch so zu lüften. Schlimm-stenfalls war sie sogar bereit, einzubrechen, um herauszufin-den, warum Marlene hatte sterben müssen.

Sie stieg aus und blieb einige Sekunden stehen, um sich umzusehen. Der Text auf der Rückseite des Fotos hatte ihr verraten, daß das Haus für die Kleinigkeit von drei Millionen Dollar angeboten wurde. Claire konnte nicht beurteilen, ob dieser Preis angemessen war – sie verstand weder etwas von Immobilien, noch entsprach dieses Haus in Architektur oder Lage ihrem Geschmack –, aber die Gegend gehörte eindeutig zu den teuersten der Stadt. Der Garten, der so kahl und unper-sönlich wirkte, als wäre er auf dem Reißbrett entstanden und hinterher in Kunststoff gegossen worden, hatte die Abmessun-gen eines kleinen Parks, und das nächste Haus war fast eine Viertelmeile entfernt; in einer Gegend, in der ein Quadratmeter Boden mehr kostete, als ein Arbeiter in einem Monat verdiente, eine unvorstellbare Verschwendung.

Das Haus selbst war eine zweigeschossige Scheußlichkeit aus nacktem Beton, ein wenig Kunststoff und sehr viel Glas, das leicht verspiegelt zu sein schien, denn es war nicht möglich, durch die Scheiben ins Innere des Hauses zu blicken. Es lag auf einem offenbar künstlich angeschütteten Hügel, so daß es die umliegenden Grundstücke und die Straße ein kleines Stück überragte.

Langsam näherte sie sich dem Haus. Ihr Blick suchte die Stelle über dem Eingang, die Marlene auf dem Foto markiert hatte, aber wo sie auf dem Bild den weißen Punkt entdeckt hatte, war jetzt nichts mehr. Erst als sie näher kam, entdeckte

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sie einen verzinkten Haken, der in den Beton über der Tür eingedübelt war. Irgend etwas dort hatte gehangen.

»Mrs. Boyaian?« Claire blieb mitten im Schritt stehen und sah sich suchend

um. Ein Stück neben ihrem Wagen stand ein dunkelroter Mercedes, aus dem ein Mann in einem grauen Straßenanzug ausgestiegen war. Claire versuchte sich zu erinnern, ob der Wagen schon dagestanden hatte, als sie gekommen war, aber sie konnte es nicht sagen.

Der Fremde nahm eine schmale, lederne Aktentasche vom Beifahrersitz, klemmte sie sich unter den Arm und schloß die Wagentür ab. Dann eilte er mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zu.

»Schön, daß Sie es doch noch geschafft haben«, sagte er. »Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Ich war schon wieder unterwegs zum Büro, aber dann sah ich Ihren Wagen vor dem Haus halten und bin zurückgekommen.«

Claire war verwirrt. Aber sie griff automatisch zu, als der Fremde ihr die Hand entgegenstreckte. Er war einen Kopf größer als sie und hatte ein breites, übertriebenes Verkäufer-grinsen.

»Ich weiß nicht, ob –« begann Claire. »Silverman«, stellte sich der andere vor. »Bruce Silverman,

von Sy & Co. Sie haben mit meinem Partner gesprochen, Mister Kaine. Er konnte leider nicht selbst kommen – aber ich kann Ihnen das Haus auch zeigen.«

Claire begriff. Ganz offensichtlich verwechselte Silverman sie mit einer Kundin, mit der er hier verabredet gewesen und die nicht erschienen war. Vielleicht, dachte Claire, hatte sie die Flucht ergriffen, als sie das Haus von außen gesehen hatte. Gleichwie – sie begriff plötzlich, daß das Schicksal manchmal doch großzügig war. Sie versuchte nicht, den Irrtum aufzuklä-ren.

Silverman eilte auf die Haustür zu, wobei er mit der freien

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Hand in der Tasche grub und schließlich einen Schlüssel zum Vorschein brachte. »Gehen wir doch hinein und schauen uns um«, sagte er. »Einen groben Überblick hat Ihnen mein Partner ja schon vermittelt, aber Videos und Bilder können immer nur einen Abklatsch der Wirklichkeit liefern. Einen zweidimensio-nalen, sozusagen.«

Sie wußte von Marlene, daß es bei Häusern in dieser Preisla-ge nicht ungewöhnlich war, mehrere Makler mit dem Verkauf zu beauftragen. Sie trat an Silverman vorbei ins Haus. Eine weitläufige, leere Eingangshalle nahm sie auf. Die Wand zur Rechten bestand vollständig aus Glas, so daß es sehr hell war, aber das Licht ließ den Raum noch kälter und abweisender erscheinen. Auf eine sehr viel teurere Weise spiegelte er den gleichen Geist wider wie das Äußere des Mott-Hauses, nur daß statt sterilem Glas und nacktem Boden hier Parkettfußböden und kostbarer Marmor vorherrschten. Diese Halle allein hatte wahrscheinlich mehr gekostet als ihr ganzes Haus, aber Claire hätte um nichts auf der Welt getauscht. Sie hatte die übrigen Räume noch nicht gesehen, aber sie wußte, daß der Rest des Hauses genauso aussehen würde: teuer und erlesen, aber auch kalt und abweisend, so genau das Gegenteil dessen, was sie unter einem Heim verstand.

Ein Haus, das zu Dr. Mott paßte, wie sie ihn kennengelernt hatte.

Silverman bemerkte natürlich ihre aufmerksamen Blicke, aber er schien sie gründlich mißzuverstehen, denn als er weiter-sprach, klang seine Stimme voller Stolz. »Prachtvoll, nicht? Eines der besten Objekte, das ich je angeboten habe – und übrigens auch eines der günstigsten. Die ursprünglichen Besitzer haben es vor drei Jahren erbaut und erst vor einem halben Jahr gründlich renovieren lassen. Es wird weit unter Marktwert angeboten – sie wollen es unbedingt loswerden.«

Claires Herz begann schneller zu klopfen. Das Puzzle war fast komplett. Es fehlte nur noch eine Winzigkeit, ein einzelner

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Stein, und sie hatte das Gefühl, auch dieses letzte Stück bereits in Händen zu halten. Ihr Atem ging ein wenig schwerer, aber sie war einfach zu aufgeregt, um es zu bemerken. Sie machte einen weiteren Schritt an Silverman vorbei und ließ ihren Blick aufmerksam in die Runde schweifen. Dieses Haus war Dr. Mott, aber es war auch mehr. Es war …

»Das Kinderzimmer«, sagte sie. »Zeigen Sie mir das Kinder-zimmer.«

Silverman machte eine Geste nach links und einen halben Schritt, dann blieb er mitten in der Bewegung stehen und sah sie überrascht an. »He, woher wissen Sie, daß es hier ein Kinderzimmer gibt?« fragte er. »Sie haben das Haus doch noch nie zuvor gesehen.«

»Die Bilder«, erinnerte Claire. »Die Fotos, die mir Ihr Partner geschickt hat.«

»Darauf war das Kinderzimmer nicht zu sehen«, antwortete Silverman. »Kennen Sie dieses Haus?«

»Nein«, sagte Claire. Sie mußte all ihre Kraft zusammenneh-men, um wenigstens äußerlich noch ruhig zu erscheinen. Ihre Gedanken überschlugen sich.

»Ich verstehe«, seufzte Silverman. »Sie wissen, wer Dr. Mott war. Sie haben die Geschichte in der Zeitung gelesen, vermute ich.«

Claire war ihm sehr dankbar für diese Ausrede. Sie nickte. »Ja. Aber keine Sorge – ich werde nicht versuchen, den Preis zu drücken. Ich bin nicht abergläubisch.«

Silverman lächelte gequält, dann deutete er zur Treppe und ging voraus. Das Kinderzimmer befand sich im ersten Stock, am Ende eines langen, kahlen Flures mit asymmetrischen Fenstern, in dem ihre Schritte lang nachhallende Echos hervorriefen. Die Szene hatte etwas Unwirkliches. Claires Herz schlug immer schneller, und sie hatte mittlerweile spürbare Atemnot. Aber sie gestattete dem Schmerz nicht, Gewalt über sie zu erlangen. Sie wußte es jetzt. Obwohl sie Dr. Mott kaum

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gekannt hatte, fühlte Claire etwas Vertrautes in diesem Haus. Diese schöne, kalte, glatte, teure Fassade ohne wirklichen Inhalt –

Peyton. Sie wußte es, eine Sekunde bevor Silverman die Kinderzim-

mertür öffnete und mit einer übertrieben theatralischen Geste beiseite trat, um sie vorbeizulassen.

»Ein idealer Ort für ein Kind, nicht wahr?« sagte Silverman stolz.

Claire war nicht einmal erschrocken. Es war auch kein Ent-setzen, und doch wurde sie von einer Mischung von Gefühlen überwältigt, die sie nicht unter Kontrolle bringen konnte.

Wäre sie die Mrs. Boyaian gewesen, die Silverman erwartete, hätte sie ihm sicherlich zugestimmt – es war ein idealer Ort für ein Kind; vielleicht das einzige Zimmer im Haus, das nicht kalt und abweisend wirkte, sondern mit großer Liebe und Sorgfalt eingerichtet war. Die hellblauen Tapeten, die mit großen Bären, Walt-Disney-Tieren und Märchenfiguren verziert waren, und das hereinströmende Sonnenlicht verliehen dem Raum etwas Freundliches, das sonst im ganzen Haus fehlte. Zwei Handspannen unter der Decke zog sich ein breites Zierband entlang, und an den Wänden standen Regale und offene Schränke voller Spielzeug, Plüschtiere und Babyklei-dung in verschwenderischer Fülle.

Claire spürte ein Schwindelgefühl. Für einen Moment drohte sie endgültig die Kontrolle über sich zu verlieren. Ihr Atem stockte, aber da war etwas in ihr, das stärker war als die Krankheit und das dem Anfall nicht gestattete, sie zu überwäl-tigen.

Sie kannte dieses Zimmer. Sie kannte diese Tapeten, sie kannte die Zierborte, sie kannte

die Tiere, die auf den Regalen saßen. Der Raum war etwas größer, er hatte ein Fenster mehr, aber abgesehen davon hätte es Joes Zimmer in ihrem Haus am anderen Ende der Stadt sein

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können. »Unglaublich, nicht?« sagte Silverman, der mit unfehlbarer

Sicherheit ihre Reaktion schon wieder falsch deutete. »Und das Ganze bekommen Sie gewissermaßen als kostenlose Zugabe dazu. Wenn Sie die Geschichte verfolgt haben, dann wissen Sie auch, daß Mrs. Mott damals ihr Kind verlor. Die arme Frau.« Er schüttelte in nicht überzeugend geheucheltem Mitgefühl den Kopf. »Sie hat alles einfach dagelassen. Haben Sie Kinder, Mrs. Boyaian?«

Claire antwortete nicht. Langsam begann sie im Zimmer auf und ab zu gehen, tastete über die Regale, berührte die Plüsch-tiere, deren Zwillingsgeschwister in Joes Zimmer lebten, die Tapeten, mit denen Peyton sie überrascht hatte – und verharrte vor einem sonderbar geformten Gegenstand aus durchsichti-gem Plastik und weichem Kunststoff.

»Was ist denn das für ein seltsames Spielzeug?« wunderte sich Silverman.

Claire ergriff das Spielzeug mit beiden Händen. Sie schloß die Augen. Alles drehte sich um sie. »Das ist kein Spielzeug«, flüsterte sie. »Das ist … eine Milchpumpe.«

»Eine Milchpumpe?« wiederholte Silverman. »Aber wieso denn?«

»Die hat sie benutzt, damit sie stillen kann«, murmelte Claire. Und sie hatte sich gewundert, daß Joe nicht hungrig gewesen war.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Silverman. »Mrs. Mott hat doch gar kein Kind –«

Er sprach nicht weiter, denn es war niemand mehr da, der ihm zugehört hätte. Claire hatte die Milchpumpe fallengelassen und war an ihm vorbeigestürmt, und gleich darauf hörte er sie die Treppe hinunterhetzen, wobei sie immer mehrere Stufen auf einmal nahm.

Verwirrt – und zum ersten Mal mit dem aufkeimenden Ge-fühl, daß hier vielleicht nicht alles so war, wie er bisher

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geglaubt hatte – trat er zum Fenster und blickte hinaus. Er sah gerade noch, wie Claire mit weit ausgreifenden Schrit-

ten aus dem Haus und auf ihren Wagen zurannte.

Der Wagen schleuderte mit kreischenden Reifen um die letzte Straßenbiegung. Claire war eine gute Fahrerin, aber der Kombi war weder für eine solche Geschwindigkeit noch für derart rüde Manöver ausgelegt – sein Heck brach aus, und der Wagen drohte sich querzustellen. Claire brachte ihn mit einem fast brutalen Ruck wieder unter Kontrolle, gab Gas und schoß mit wachsender Geschwindigkeit auf die Einfahrt zu. Wäre ihr in diesem Moment ein anderer Wagen entgegengekommen, so hätte sie ihn mit ziemlicher Sicherheit gerammt.

Sie sah schon von weitem, daß Michaels Wagen in der Gara-ge stand. Claire gab noch mehr Gas, bremste im allerletzten Moment und riß den Wagen in nahezu rechtem Winkel von der Straße herunter und auf das Grundstück. Das rote Fahrrad, das in den Büschen auf der anderen Straßenseite versteckt war, bemerkte sie nicht.

Sie bremste so hart, daß der Kies unter den Reifen des Wa-gens wegspritzte; Zentimeter von Michaels Wagen entfernt brachte sie ihr Auto zum Stehen.

Sie sprang hinaus und rannte auf das Haus zu, ohne die Wagentür zu schließen. Hinter dem Fenster neben der Haustür erschien ein Schatten.

Die Tür wurde geöffnet, als sie die Hand nach dem Knopf ausstrecken wollte. Michael.

»Claire. Wo warst du denn? Wir haben uns schon Sorgen um dich gemacht!«

Claire ignorierte ihn. Sie trat mit einem einzigen, energischen Schritt an ihm vorbei, bleib stehen und sah sich wild um. Emma kam ihr entgegen und stockte ebenso wie ihr Vater überrascht mitten in der Bewegung, als sie sah, was in Claires

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Augen flammte. »Claire, ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Michael. Er

klang alarmiert, aber Claire ignorierte ihn weiter. Sie hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Peyton stand in der Küche. Sie hatte ihr den Rücken zuge-

wandt und machte sich an irgend etwas auf der Anrichte zu schaffen, aber sie schien Claires Nähe zu spüren, denn sie drehte sich herum, als sie näher kam. Auf ihrem Gesicht lag das gleiche falsche, kalte und doch selbst jetzt noch so schreck-lich überzeugende Lächeln, auf das sie alle so lange hereinge-fallen waren.

»Claire! Wie schön, daß Sie wieder da sind. Wo waren Sie denn so lange? Michael und ich haben uns schon Sorgen um Sie gemacht.«

Claire ging weiter auf sie zu. Sie sagte nichts, aber das Lä-cheln auf Peytons Zügen erstarb plötzlich. Sie wirkte unsicher, dann erschrocken.

»Claire?« fragte sie. »Was haben –« Claire schlug warnungslos zu. Ihre Faust traf Peyton mit

solcher Wucht am Mund, daß sie fast einen Meter zurückge-schleudert wurde und rücklings auf den Tisch stürzte. Glas und Porzellan zerbrachen klirrend, als Peyton mit hilflos rudernden Armen über die Platte schlitterte und schließlich schwer zu Boden stürzte.

»Claire!« rief Michael aus. »Mein Gott! Was ist denn jetzt schon wieder –«

»Sie sind gefeuert«, sagte Claire. Sie versuchte ruhig zu bleiben. Ihre Stimme war auch nicht einmal laut, aber sie bebte, und etwas darin oder in ihrem Blick mußte es sein, das Peyton bis ins Innerste erschreckte. Claires Schlag hatte ihr wahrscheinlich ziemlich weh getan, sie aber kaum ernsthaft verletzt, denn sie hatte bereits begonnen, sich wieder in die Höhe zu stemmen. Jetzt aber erstarrte sie plötzlich in der Bewegung.

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»Claire, was … was machst du denn?« murmelte Michael. Claire hörte, wie er näher kam, aber sie drehte sich nicht zu

ihm um. Ihre Augen fixierten Peyton. Peyton erwiderte ihren Blick trotzig – aber diesmal war sie es, die das stumme Duell verlor.

»Mami?« fragte Emma unsicher. »Claire, bitte, was … was geht hier vor?« stammelte Michael. Claire wartete, bis Peyton sich umständlich erhoben hatte,

bevor sie antwortete – aber sie ließ sie auch dann keine Sekunde aus den Augen. »Sie ist Dr. Motts Witwe, Michael«, sagte sie.

»Wer ist sie?« keuchte Michael. Seine Stimme war pures Entsetzen.

»Verschwinden Sie!« sagte Claire. »Verlassen Sie mein Haus. Auf der Stelle!«

»Mami?« sagte Emma noch einmal. Sie wollte neben sie treten, aber Claire schob sie rasch beiseite und stellte sich zwischen Peyton und ihre Tochter. Claire zitterte am ganzen Leib. Sie mußte sich beherrschen, um sich nicht auf Peyton zu stürzen und mit den Fäusten auf sie einzuschlagen, bis sie am Boden lag und sich nicht mehr rührte; so, wie Marlene am Boden gelegen hatte und sich nicht mehr rühren konnte; nie mehr.

»Peyton?« fragte Michael erschüttert. »Ist das … ist das wahr?«

»Das geht nicht gegen dich, Michael«, antwortete Peyton. Sie sprach immer schneller. Panik machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Es ging niemals gegen dich. Bitte … bitte erinnere dich, in welchem Zustand diese Familie war, als ich herkam.«

Sie streckte die Hand in Emmas Richtung aus. Claire hob die Arme, aber es war gar nicht nötig, ihre Tochter zu beschützen. Sie spürte, wie Emma hinter sie zurückwich.

In Peytons Blick war plötzlich etwas Wildes, was Claire warnte. »Erzähl ihr von uns, Michael«, sagte sie. »Du mußt es

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ihr sagen, Michael. Sag ihr, was mit uns ist.« »Aber da ist nichts zu sagen«, antwortete Michael. Claire machte sich nicht einmal die Mühe, ihm ins Gesicht zu

sehen, um sich von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen. Es war nicht nötig. Da war kein Mißtrauen, das sie besänftigen, keine Eifersucht, die sie unterdrücken mußte. Wenn sie jemals mit absoluter Sicherheit gewußt hatte, daß sie ihrem Mann vertrauen konnte, so in diesem Moment. Sie hatte ihm immer trauen können.

»Verschwinden Sie, Peyton!« sagte Michael. »Aber Michael, was sagst du denn da? Du … du hast gesagt,

es könne nur eine Frau für dich geben!« keuchte Peyton. Michael trat neben Claire und legte ihr den Arm um die

Schulter. »Das stimmt«, sagte er. »Aber ich habe meine Frau damit gemeint. Claire. Immer nur Claire. Und jetzt gehen Sie. Bitte.«

Seine Stimme klang fast bedauernd – aber zugleich auch sehr entschlossen. Und wie Michael und Claire nebeneinander standen, mußte auch Peyton erkennen, daß sie zwei Menschen waren, die sich durch nichts trennen ließen. Für die Dauer eines endlosen schweren Herzschlages starrte Peyton Claire noch haßerfüllt und Michael voller Trauer und Verbitterung an, aber dann senkte sie den Blick und nickte kaum wahrnehmbar.

»Also gut«, sagte sie. »Ich hole mein Baby, und dann seid ihr mich los.«

Michael und Claire tauschten einen verwirrten Blick. Peyton verbesserte sich, ehe Claire und Michael antworten

konnten. »Ich … ich meine natürlich, ich hole meine Sachen, und dann –«

Michael ergriff sie am Arm, und sie brach erschrocken ab. »Das werden Sie nicht, Peyton. Ich packe Ihre Sachen zusam-men und lasse sie Ihnen bringen. Sie können mich morgen im Labor anrufen, um mir Ihre Adresse mitzuteilen. Aber Sie werden jetzt gehen. Sofort …«

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Er führte Peyton mit sanfter Gewalt zur Tür, während er sprach. Sie versuchte nicht, sich zu widersetzen, nahm aber im Vorbeigehen ihre Handtasche von der Garderobe. Michael hielt sie noch immer am Arm, während er mit der anderen Hand die Tür öffnete. Er zitterte. Jeder Muskel in seinem Körper war gespannt, und Claire sah, wie schwer es ihm fiel, noch die Beherrschung zu bewahren.

»Peyton?« sagte sie. Peyton blieb stehen. Claire ging auf sie zu und streckte fordernd die Hand aus.

»Die Schlüssel!« »O ja, sicher.« Peyton öffnete ihre Handtasche und nahm die

Haustürschlüssel heraus. Claire nahm sie entgegen, legte sie achtlos auf die Garderobe und streckte die Hand ein zweites Mal aus. »Die Hintertür.«

Peyton händigte ihr auch diesen Schlüssel widerspruchslos aus. »Es tut mir sehr leid, Claire«, sagte sie, leise, stockend. »Sie … Sie waren so nett zu mir.«

»Mami, was … was ist denn nur los?« stammelte Emma. Bevor Claire antworten konnte, sagte Peyton: »Deine Eltern

wollen mich loswerden, Schatz.« Claire sah, wie Michaels Hände zuckten. »Leben Sie wohl,

Peyton«, sagte Claire rasch, ehe Peyton weiterreden und Michael tatsächlich die Beherrschung verlieren konnte. Nicht aus Furcht vor Peyton – Claire wäre in diesem Moment durchaus in der Lage gewesen, Peyton zu töten, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern; und irgendwo, tief, tief drinnen in sich, wollte sie es vielleicht sogar.

Peyton schien zu spüren, was in Michael vorging. Sie sah ihn einen Sekundenbruchteil lang erschrocken an, dann fuhr sie auf der Stelle herum und ging hinaus. Michael warf die Tür hinter ihr ins Schloß, drehte sich um und starrte Claire aus weit aufgerissenen Augen an. Der Zorn in seinem Blick verrauchte allmählich und machte Fassungslosigkeit und Entsetzen Platz.

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»Mami?« fragte Emma erneut. Claire drückte ihre Tochter schützend an sich. »Es ist alles in

Ordnung, Schatz«, sagte sie. »Jetzt ist alles in Ordnung.« Eine Sekunde lang hielt sie Emma noch fest, dann schob sie sie behutsam ein Stück von sich fort und deutete auf ihre Zimmer-tür. »Pack ein paar Spielsachen zusammen, Liebling. Wir ziehen für ein paar Tage in ein Hotel.«

Während Emma gehorsam in ihr Zimmer ging, drehte sich Claire zu Michael herum. Er sah noch immer kein bißchen weniger fassungslos aus. »Ruf die Polizei, Michael. Ich packe in der Zwischenzeit ein paar Sachen. Ich will hier weg. Sofort.«

»Komm, beruhige dich«, sagte Michael. Beruhigen? Sie war nahe daran, schrill aufzulachen. Sie sollte

sich beruhigen? »Michael, diese Frau ist doch zu allem fähig!« sagte sie.

»Wir haben ihre Schlüssel«, erinnerte Michael. »Ihre Schlüssel?« wiederholte sie. »Das meinst du nicht ernst.

Begreifst du immer noch nicht, daß sie vollkommen verrückt ist? Und gefährlich! Hast du vergessen, was sie mit Solomon gemacht hat? Und die Falle draußen im Gewächshaus – die war doch für mich gedacht!«

Wahrscheinlich war es das, was den Ausschlag gab. Michael zögerte nur noch eine Sekunde, dann erwachte er aus seiner scheinbaren Lethargie und war mit einem einzigen Schritt beim Telefon.

»In Ordnung«, sagte er. »Hol die Kinder. Ich rufe die Poli-zei.«

Ein weiterer Beweis, daß das Schicksal auf ihrer Seite stand: Sie hatte schon vor zwei Wochen Nachschlüssel sowohl für die Vorder- als auch für die Hintertür und den Eingang zum Keller anfertigen lassen, ohne so recht zu wissen, warum.

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Alles würde gut werden. Peyton hatte überhaupt keine Angst; sie verspürte auch keine Verzweiflung. Es bestand kein Anlaß dazu, denn sie wußte, daß ihre Pläne nicht in Gefahr waren; nicht wirklich. Eine andere hätte aufgegeben, aber Peyton wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß sie am Ende gewinnen würde; weil das Schicksal gerecht war, und am Ende immer die Guten gewannen. Gott würde es nicht zulassen, daß diese fremde Frau ihr das Kind und ihre Familie streitig machte. Claire mochte im Augenblick triumphieren, aber Peyton wußte nur zu gut, wie flüchtig Triumph sein konnte. Claire irrte sich, wenn sie glaubte, sie geschlagen zu haben – und sie irrte sich auch, wenn sie glaubte, sich ihrer Tochter und ihres Mannes sicher sein zu können. Peyton hatte den Kummer in Emmas Augen gesehen, als sie begriff, daß ihre Eltern nun auch sie wegschicken würden, so wie sie es mit Solomon getan hatten. Und sie hatte auch den Ausdruck in Michaels Augen gesehen, als er sie aufforderte, zu gehen.

Darüber war sie im allerersten Moment entsetzt gewesen – aber nur so lange, wie es dauerte, sie begreifen zu lassen, daß es nicht wirklich Michaels Schuld war; so wenig, wie es wirklich seine Entscheidung war, sie wegzuschicken. Er glaubte nur, daß dieser Gedanke seinem freien Willen ent-sprang. In Wirklichkeit war es Claire, die ihn zwang, all diese schrecklichen Dinge zu tun.

Nein, sie war Michael nicht wirklich böse. Sie würde ihn bestrafen müssen, weil seine Liebe zu ihr anscheinend noch nicht groß genug war, sich den Einflüsterungen der Hexe zu widersetzen, aber die eigentliche Schuld an allem trug natürlich Claire. Ein ganz kleines bißchen vielleicht auch sie selbst, denn Peyton mußte sich eingestehen, daß sie Claire unterschätzt hatte.

Aber diesen Fehler konnte sie korrigieren. Und wenn Claire nicht mehr da war, dessen war sich Peyton vollkommen sicher, würde es ihr ein leichtes sein, Michaels Liebe zurückzuerobern.

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Lautlos und unbemerkt von Claire, Michael oder Emma näherte sie sich der Rückseite des Hauses und benutzte einen ihrer Nachschlüssel, um durch die Kellertür hineinzuschlüpfen.

Michael mußte sich zusammenreißen, um den Mann am anderen Ende der Verbindung nicht anzubrüllen. Sein unbe-kannter Gesprächspartner war zwar bei seiner Weigerung geblieben, aber innerhalb der letzten Minuten doch hörbar freundlicher geworden.

»Es wäre wirklich besser, wenn Sie gleich jemanden her-schicken könnten«, sagte Michael – zum wahrscheinlich zehnten Mal, seit dieses Gespräch begonnen hatte.

Zum ebensovielen Mal ertönte ein Seufzen und eine freundli-che, aber trotzdem sehr entschiedene Stimme. »Wir tun, was wir können, Sir. Aber wir haben leider nicht genug Personal, um jeder Nachfrage sofort nachgehen zu können.«

»Das ist keine Nachfrage«, sagte Michael noch einmal. »Diese Frau hat uns bedroht. Sie ist verrückt. Gefährlich verrückt. Wenn Sie gleich jemanden vorbeischicken, können Sie sie vielleicht noch erwischen.«

»Befinden Sie oder Ihre Familie sich im Moment in einer lebensbedrohlichen Situation?«

»Nein«, gestand Michael. »Aber –« »Dann muß ich Sie leider noch um ein wenig Geduld bitten.

Es wird nicht allzu lange dauern, Sir, darauf können Sie sich verlassen.«

»Also gut«, murrte Michael. »Aber machen Sie so schnell wie möglich. Wir wohnen –«

»Unser Computer hat Ihre Adresse, Sir«, unterbrach ihn der Beamte. Er verabschiedete sich und hängte ein, ohne Michael Gelegenheit zu einem weiteren Widerspruch zu geben. Eine Sekunde lang funkelte er den Telefonhörer noch zornig an, dann hängte er ein und sah sich nach Claire um.

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Während er telefoniert hatte, hatte sie bereits das Allernötig-ste in zwei Reisetaschen gepackt, die neben der Haustür standen. Von ihr selbst war keine Spur zu sehen, aber Michael war sicher, daß sie in wenigen Augenblicken zusammen mit den beiden Kindern auftauchen würde.

Er wollte nach Claire rufen, um ihr mitzuteilen, daß die Polizei unterwegs sei, aber in diesem Moment hörte er leise Musik, und statt nach Claire zu rufen, runzelte er überrascht die Stirn.

Musik? Jetzt? Verwirrt – aber auch ein ganz kleines bißchen alarmiert –

drehte sich Michael einmal um seine Achse und suchte nach der Ursache der an- und abschwellenden Töne. Fernseher und Stereoanlage waren nicht eingeschaltet, und die Musik kam auch nicht aus Emmas Zimmer – er hatte ja selbst gesehen, daß sie zusammen mit Claire nach oben gegangen war, um Joe zu holen.

Die Melodie kam … aus dem Keller. Michael wandte sich zur Kellertür, öffnete sie und schaltete

das Treppenlicht ein. Der blasse Schein reichte kaum aus, die Stufen zu erkennen; alles, was unten am Ende der Treppe lag, war zu einem Durcheinander aus Schatten und vagen Umrissen verschmolzen, in dem sich alles oder nichts verbergen mochte. Michael bedauerte plötzlich heftig, nicht schon längst für eine bessere Beleuchtung gesorgt zu haben.

Er erreichte das Ende der Treppe. Michael war sehr langsam gegangen, zum Teil aus Vorsicht, zum Teil, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an das schwache Licht zu gewöh-nen.

Die Musik war lauter geworden. Sie kam aus Peytons Zimmer. Michael ging mit klopfendem Herzen weiter. Die Tür des

Kellerapartments war nur angelehnt. Dahinter brannte Licht,

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und Michael identifizierte jetzt die dünnen, blechernen Töne eines Radioweckers. Vielleicht hatte Peyton einfach vergessen, ihn auszuschalten.

»Peyton?« sagte Michael. Nichts. Die Musik – irgendeine Operette von Strauß, deren

Name ihm entfallen war – hielt an, aber sonst rührte sich auf der anderen Seite der Tür nichts. Trotzdem warf Michael einen nervösen Blick zur Kellertür hinüber, ehe er weiterging. Sie war verschlossen. Die Kette war von innen vorgelegt.

»Peyton?« fragte er noch einmal. »Sind Sie da?« Er bekam auch jetzt keine Antwort. Zögernd streckte er die

Hand aus, öffnete die Tür einen Spaltbreit, zögerte wieder und trat schließlich ein; sehr langsam, mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven und bereit, jederzeit zu reagieren.

Er machte noch einen halben Schritt, zögerte – und sprang mit einem Satz in den Raum hinein.

Eine Sekunde später kam er sich reichlich albern vor. Das Zimmer war leer. Peytons Radiowecker hatte sich automatisch eingeschaltet, das war alles. Michael lachte leise, nervös und unsicher, ging weiter und streckte die Hand nach dem Radio-wecker aus.

Er begann zu schrillen, gerade, als er ihn ausschalten wollte. Michael prallte erschrocken zurück. Sein Herz machte einen

Sprung in seiner Brust. Michael schlug so hart mit der Faust auf den ›AUS‹-Schalter,

daß das Kunststoffgehäuse des Gerätes knirschte. Er atmete gezwungen tief und ruhig drei-, viermal hinterein-

ander ein und aus und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Seine Stirn war feucht, und seine Finger zitterten. Warum war er nur so nervös? Peyton war nicht im Haus, und sie konnte auch nicht herein.

Aber der Gedanke beruhigte ihn nicht. Jemand, der sich einen so monströsen Plan auszudenken imstande war, ließ sich ganz gewiß nicht von einer verschlossenen Tür aufhalten.

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Michael löschte das Licht und zog die Tür hinter sich zu. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Keller und lief die Treppe hinauf. Als er fast oben angekommen war, erschien Claires Gestalt als scharf umrissener Schatten unter der Tür.

»Ich komme«, sagte Michael. »Ich wollte nur sicher gehen, daß …«

Der Schatten über ihm war nicht Claire. Michael begriff seinen Irrtum, im Bruchteil einer Sekunde, ehe ihn der erste Schlag traf und nahezu von den Füßen schleuderte. Ein grausamer Schmerz explodierte in seiner Schulter, gefolgt von einer Woge kribbelnder Betäubung. Michael wankte, sah den Schatten groß und drohend über sich aufragen und die Arme in die Höhe reißen und versuchte vergeblich, irgend etwas zu seiner Verteidigung zu unternehmen.

Der zweite Schlag traf ihn an der Schläfe. Michael kippte halb bewußtlos zur Seite, brach durch das dünne Treppenge-länder und stürzte zwei Meter tief auf den nackten Beton des Kellerbodens.

»Nein, Schatz, wir können die Puppe nicht mitnehmen«, sagte Claire geduldig. »Es ist ja nur für ein paar Tage. Vielleicht nur für eine Nacht.«

»Aber wieso müssen wir denn weg?« fragte Emma. »Ich will nicht in ein doofes Hotel.«

Claire hätte gelächelt, wäre sie nicht zu erschöpft gewesen – und hätte sie nicht zuviel Angst gehabt. Der Zorn, der wie eine heiße Flamme in ihr gebrannt hatte, war verraucht, und mit der Erschöpfung kehrten auch Furcht und Niedergeschlagenheit zurück. Daß sie nun wußte, daß Marlenes Tod nicht ihre Schuld war, machte es nicht besser – denn Marlene war in eine Falle gelaufen, die ihr gegolten hatte.

Außerdem war ihr bewußt geworden, daß sie Peyton nicht hätte gehen lassen dürfen. Sie hätte die Polizei rufen sollen.

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Claire seufzte. Es war nicht ihre Art, verpaßten Gelegenheiten nachzuweinen. Außerdem hatte Michael die Polizei angerufen.

Mit einer entschlossenen Bewegung klappte sie den Koffer-deckel zu, ließ die Schnappschlösser einrasten und stand auf. »Es ist nur für ein paar Tage«, sagte sie noch einmal. »Sobald die Polizei Peyton verhaftet hat, können wir wieder zurück.«

Ein Schatten huschte über das Gesicht ihrer Tochter, und Claire verhielt mitten in der Bewegung, obwohl im Moment nichts so kostbar war wie Zeit. »Was ist los, Schatz?« fragte sie.

Emma sah unsicher zu ihr hoch. Ihr Blick flackerte. Claire konnte den lautlosen Kampf sehen, der hinter der Stirn ihrer Tochter tobte. »Aber was … was hat Peyton getan?« fragte Emma. »Warum habt ihr sie weggeschickt? Zuerst Solomon und … und jetzt Peyton.«

»Etwas sehr Schlimmes, Schatz«, antwortete Claire. »Dad und ich erklären dir später alles, aber im Moment ist keine Zeit dazu. Weißt du, es ist Peytons Schuld, daß wir Solomon weggeschickt haben. Sie hat uns belegen. Und sie hat auch dich belogen.«

»Peyton lügt nicht«, behauptete Emma impulsiv. »Ich fürchte, das hat sie doch getan«, sagt sie. »Weißt du,

auch Erwachsene lügen manchmal. Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, aber im Moment mußt du uns einfach glauben – nur so lange, bis wir Zeit haben, in Ruhe zu reden. Versprichst du mir das?«

Emma starrte sie an. Eine Sekunde verging, zwei – und schließlich nickte sie. Claire atmete innerlich befreit auf.

Bevor sie noch mehr sagen konnte, drang ein Geräusch in das Zimmer, das sie erschrocken aufsehen ließ. Etwas wie ein Poltern.

Sie trat zur Tür und öffnete sie; nur einen Spaltbreit. »Micha-el?« rief sie. Sie bekam keine Antwort. Nach einigen Sekunden rief sie noch einmal: »Michael?«

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Nichts. Ein Gefühl klammer Kälte begann sich in Claire auszubreiten, und es fiel ihr immer schwerer, ihre Gedanken in vernünftige Bahnen zu lenken. War das Panik? Sie wußte es nicht, aber es kam dem, was sie sich darunter vorstellte, ziemlich nahe.

»Mami?« fragte Emma. »Was –« Claire brachte sie mit einer erschrockenen Geste zum Ver-

stummen. »Hör mir zu, Emma«, flüsterte sie. »du schließt hinter mir ab, hast du das verstanden? Du bleibst hier, ganz egal, was passiert, außer Dad oder ich sagen etwas anderes. Ganz egal, was passiert, du machst niemandem auf – ist das klar?«

Emma nickte. Ihr Gesicht war weiß vor Schrecken. Claire war nicht sicher, daß Emma wirklich verstanden hatte, was sie von ihr verlangte – aber sie hatte im Moment keine andere Wahl, als sich darauf zu verlassen. Sie schlüpfte aus dem Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und registrierte mit einem Gefühl flüchtiger Erleichterung, daß Emma hinter ihr abschloß.

Sie lauschte. Nichts. Sie war sicher, sich das Geräusch nicht eingebildet zu haben, aber im Augenblick herrschte im Haus eine unheimliche Stille. Claire rief noch einmal Michaels Namen, wartete eine Sekunde vergeblich auf eine Antwort und trat schließlich ins Wohnzimmer. Es war leer. Sie rief wieder nach Michael, bekam immer noch keine Antwort und wandte sich schließlich zur Küche.

Auf dem Weg dorthin blieb ihr Blick an der Kellertür hängen. Sie war nur angelehnt, aber Claire war sicher, daß sie vorhin geschlossen gewesen war. Vielleicht war Michael hinunterge-gangen, um sich davon zu überzeugen, daß die Hintertür abgeschlossen war.

Zögernd schob sie die Tür weiter auf, trat auf die oberste Stufe und tastete nach dem Lichtschalter. Das Ergebnis war so enttäuschend wie immer – das blaßgelbe Licht unter ihr schien die Dunkelheit noch zu betonen, statt sie zu vertreiben.

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Aber es reichte immerhin aus, um Claire das zerbrochene Treppengeländer zu zeigen …

»Michael?« rief sie voller Bangen. Sie machte einen Schritt auf die zweite Stufe und blieb wieder stehen. Noch einmal: »Michael?!«

Ein gedämpftes Stöhnen antwortete ihr. Claire lief weiter – und blieb erneut wie angewurzelt stehen, als sie Michael unten auf dem Betonfußboden liegen sah.

»Claire, sie ist im Haus!« stöhnte er. »Lauf weg, Claire. Nimm die Kinder und bring dich in Sicherheit. Sie will nichts von mir. Sie wird mir nichts tun, aber ich kann dir nicht helfen. Ich glaube, mein Bein ist gebrochen.«

Es war die schwerste Entscheidung, die sie in ihrem Leben hatte treffen müssen – unten lag ihr Mann, der verletzt war und Schmerzen hatte, aber irgendwo im Haus war auch diese Wahnsinnige, vor der sie ihre Kinder schützen mußte. Und wahrscheinlich hatte Michael recht – Peyton war nicht hinter ihm her. Sie würde ihm nichts tun.

»Ruf die Polizei, Claire«, sagte Michael gepreßt. »Kümmere dich nicht um mich. Ich halte schon durch.«

»Ich beeile mich«, versprach Claire. Sie lief die Treppe wieder hoch, war mit einem Satz durch die Tür und drehte sich blitzschnell nach rechts, dann nach links, beinahe überzeugt davon, Peyton mit einer Axt oder einer Eisenstange hinter sich zu sehen.

Nichts. Aber Peyton war im Haus. Sie hätte es auch gewußt, wenn sie

Michael nicht gefunden hätte. Sie spürte sie; ihre Anwesenheit verpestete die Atmosphäre im Haus wie ein übler Geruch – wie sie es vom ersten Tag an getan hatte. Ganz plötzlich wurde ihr klar, daß sie sich vom allerersten Moment an in Peytons Nähe unwohl gefühlt hatte; nur hatte sie es sich nicht eingestehen wollen. Ihr Verstand hatte Peyton geglaubt. Ihre Rationalität hatte sich von Peytons Charme und ihrem hochglanzlackierten

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Äußeren täuschen lassen, aber ihr Herz nicht. Sie hatte sich einfach nicht gestattet, auf ihren Instinkt zu hören, aufgeklärt und modern, wie sie war.

Langsam, jeden Nerv bis zum Zerreißen gespannt, bewegte sich Claire nach rechts, spähte die Treppe hinauf und ins Wohnzimmer, dann in den Korridor und zu Emmas Tür – sie war verschlossen, gottlob – und schlich schließlich zur Küche.

Sie ging in die Küche, wobei sie mit einem schnellen Schritt durch die Tür trat und sich dann blitzschnell herumdrehte, für den Fall, daß Peyton im toten Winkel dahinter auf sie lauerte, aber Claire war auch hier allein. Wo zum Teufel steckte sie?

Claire ging zum Telefon, nahm ab und wählte die erste Zahl, aber plötzlich sah sie eine Bewegung am Fenster. Claire fuhr erschrocken herum, sie glaubte, einen gedrungenen Schatten zu erkennen; ein schwarzes Gesicht über einem braungrün gefleckten Army-Parka, der am Fenster vorbeihuschte und verschwand, ehe sie ihn erkennen konnte. Solomon? Aber wieso –?

»Mami?« drang Emmas Stimme an ihr Ohr. »Geh in dein Zimmer, Emma!« rief Claire erschrocken. »Du

sollst die Tür ab –« Sie drehte sich herum – und sah sich Aug’ in Aug’ mit Pey-

ton! Claire spürte die Gefahr im allerletzten Moment. Sie sah den

Schlag nicht wirklich kommen, aber sie reagierte instinktiv. Blitzschnell ließ sie sich nach links fallen, prallte ungeschickt gegen die Wand und fing sich im letzten Moment wieder, im gleichen Augenblick, in dem der Baseballschläger, mit dem Peyton nach ihr geschlagen hatte, mit einem schmetternden Krach auf die Arbeitsplatte niederfuhr und das Geschirr zertrümmerte. Eine halbe Sekunde später, und statt der Porzel-lansplitter wären Stücke von Claires Schädeldecke durch die Küche gespritzt. Peyton hatte so hart zugeschlagen, daß an ihrer Absicht kein Zweifel mehr bestand – sie war hier, um

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Claire zu töten. »Mami?« rief Emma noch einmal. Ihre Stimme war näher –

und sie war voller Panik. Peyton holte zu einem weiteren Schlag aus, aber sie stand

sich selbst im Weg; die Ecke, in die sie Claire getrieben hatte, bot einfach nicht genug Platz zum Ausholen. Claire versetzte ihr einen Stoß, der sie zurückstolpern ließ.

Mit einer verzweifelten Bewegung befreite sich Claire aus der Ecke, fuhr herum und sah sich nach irgend etwas um, was sie als Waffe benutzen konnte. Aus den Augenwinkeln sah sie Emma, die starr vor Schrecken im Flur stand und zusah, wie ihre Mutter um ihr Leben kämpfte.

»Mami?« Ein Wimmern, nicht mehr als ein verzweifeltes Kreischen, das von ihrer Angst erstickt wurde.

»Lauf weg!« schrie Claire. »Hol Joe und lauf weg!« Peyton hieb nach ihr. Der Schlag verfehlte sie um Haaresbrei-

te und traf die Küchentür, die mit solcher Wucht zugeschmet-tert wurde, daß das Holz riß. Claire stolperte zurück, griff blindlings um sich und bekam eine Zuckerdose aus Keramik zu fassen. Sie schleuderte sie, aber Peyton duckte sich und wich dem Wurfgeschoß fast spielerisch aus.

»Gib dir keine Mühe, Claire!« sagte sie. Ein häßliches, irres Lachen verzerrte ihr Gesicht. An ihrem Mund klebte einge-trocknetes Blut, wo sie Claires Faustschlag getroffen hatte. Sie sah aus wie ein Dämon. »Du bist mir im Weg, Liebling«, sagte sie kichernd. »Das hier ist jetzt meine Familie!«

Claire antwortete nicht mehr. Es war völlig sinnlos, mit dieser Wahnsinnigen zu reden. Sie wich einen weiteren Schritt vor Peyton zurück, machte eine Bewegung zur Seite, als Peyton erneut nach ihr schlug, und entging dem tödlichen Werkzeug diesmal so knapp, daß sie den Luftzug spüren konnte. Sie hörte Emma draußen auf dem Korridor wimmern und betete, daß sie endlich weglaufen würde. Peyton würde auch sie töten, wenn sie sich ihr in den Weg stellte.

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Claire nutzte den Schwung ihrer eigenen Bewegung, um sich vollends herumzudrehen und auf die Tür zuzuspringen. Sie mußte es einfach riskieren.

Wäre die Tür offen gewesen, hätte sie es vielleicht sogar geschafft. Sie verlor den Sekundenbruchteil, den ihr Vorsprung betrug, bei dem Versuch, die Tür aufzureißen.

Den Schlag, der ihren Hinterkopf traf und das Bewußtsein aus ihr herausprügelte, spürte sie gar nicht mehr.

Peyton ließ den Baseballschläger fallen und drehte sich herum. Sie war nicht sicher, ob Claire wirklich tot war oder vielleicht nur bewußtlos, aber das spielte im Moment keine Rolle – sie konnte sich später um sie kümmern, falls das überhaupt noch nötig war. Jetzt zählten nur Emma und Joe. Als sie die Küche verließ, hatte sie Claire bereits vergessen.

Emma stand am Fuß der Treppe und blickte sie aus weit aufgerissenen, starren Augen an. Sie stand da wie gelähmt, aber in ihrem Blick erschien etwas, das Peyton warnte, als sie an ihr vorbeisah und ihre Mutter erblickte, die reglos und mit dem Gesicht nach unten auf dem Küchenboden lag.

»Hallo, Liebling«, sagte Peyton. Sie zauberte ein beruhigen-des Lächeln auf ihre Züge und streckte die Hand aus, blieb aber sofort wieder stehen, als Emma einen Schritt zurück machte. »Keine Angst, Schatz. Alles ist in Ordnung.«

»Was … was hast du mit meiner Mami gemacht?« »Hab keine Angst«, sagte Peyton erneut. »Die böse Frau wird

dir nichts mehr tun. Ich nehme dich und Joe mit, und wir werden eine richtige Familie sein. Diese Leute wirst du niemals wiedersehen. Aber wir müssen jetzt gehen. Wo ist Joe?«

Emma wich einen weiteren Schritt zurück und stieß mit dem Fuß gegen die unterste Stufe. Ihr Blick flackerte wie eine Kerze, die im Sturm erlosch. Zitternd deutete sie nach rechts, auf die offenstehende Tür zu ihrem Zimmer.

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»Warte hier«, sagte Peyton. »Geh nicht weg. Mami ist gleich wieder da.« Irgend etwas sagte ihr, daß Emma log. Ohne sie aus dem Auge zu lassen, ging sie an ihr vorbei, stieß die Tür auf und blickte in den dahinterliegenden Raum.

Joe war nicht da. Auf Emmas Bett lag ein Koffer, daneben eine Reisetasche, aus der die Plüschohren eines Teddybären ragten.

»Emma!« sagte Peyton streng. »Wo ist –« Sie sprach nicht weiter. Emma war nicht mehr da. Peyton hörte ihre Schritte die Treppe hinaufpoltern.

Mit einem nur noch halb unterdrückten Fluch fuhr Peyton herum und hetzte ihr nach. Emma mußte wie von Furien gehetzt gerannt sein, denn sie war schon nicht mehr zu sehen, als Peyton die Treppe erreichte. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, stolperte, fiel auf die Knie und fand im letzten Moment wieder Halt. Den scharfen Schmerz, der bis in ihre Hüften hinauf schoß, spürte sie nicht einmal. Sie lief etwas langsamer, nachdem sie sich wieder aufgerafft hatte.

Die Tür zu Joes Zimmer stand offen. Das Licht brannte. »Emma?« rief Peyton. »Emma, wo bist du? Komm her.

Komm zu Mami.« Keine Antwort. Allmählich wurde Peyton wütend. Sicher.

Emma war ein Kind und wußte es nicht besser, und sie hatte zu lange unter Claires verderblichem Einfluß gestanden – aber sie würde sie trotzdem züchtigen müssen. Später. Wenn sie mit ihrem Sohn hier heraus war.

Sie trat in das Kinderzimmer und an die Wiege – und ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut zu einer Grimasse.

Die Wiege war leer. Joe war nicht mehr da. Verdammtes Miststück! Sie würde sie züchtigen. Die Schlafzimmertür fiel hinter ihr ins Schloß. Schritte.

Schnelle, trippelnde Schritte. Peyton fuhr herum und stürzte aus dem Zimmer, aber Emma war bereits wieder verschwun-

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den. Sie war schnell. Peyton sah ein wenig ratlos nach rechts und links. Wenn sie die falsche Richtung wählte, dann war Emma unter Umständen aus dem Haus, ehe sie sie aufhalten konnte.

»Emma!« rief sie, streng, scharf, mit einer anderen, befehlen-den Stimme. »Jetzt reicht es. Du kommst sofort zu deiner Mutter!«

»Du bist nicht meine Mutter!« antwortete Emmas Stimme aus dem Erdgeschoß.

Peyton lächelte, wandte sich nach links und lief mit schnellen Schritten den Flur und die Treppe hinab. Auch hier unten war von Emma nichts zu sehen, aber die Haustür war abgeschlos-sen, und Michael oder Claire waren freundlich genug gewesen, die Kette vorzulegen, die so hoch angebracht war, daß Emma sie nicht erreichen konnte.

Sie rief erneut nach Emma, bekam aber diesmal keine Ant-wort. Aber einen Moment später hörte sie Joes Weinen; dünn und gedämpft durch das Holz der Tür, hinter dem es erscholl, aber deutlich genug. Sie fuhr auf dem Absatz herum, war mit zwei schnellen Schritten bei Emmas Zimmer – und fluchte erneut, während sie ebenso sinnlos wie wütend an der Klinke rüttelte.

Sie rührte sich nicht. Emma hatte abgeschlossen. Peyton begann wütend mit den Fäusten gegen die Tür zu

hämmern. »Emma!« schrie sie. »Mach die Tür auf! Hast du mich verstanden? Du machst sofort die Tür auf!«

Keine Reaktion. Sie hörte noch immer Joes Weinen auf der anderen Seite der Tür, aber Emma gehorchte nicht. Peyton verschwendete einige weitere Sekunden damit, mit den Fäusten gegen die Tür zu schlagen, dann fuhr sie mit einem wütenden Zischen herum, lief ins Wohnzimmer und kam mit einem Feuerhaken aus dem Kaminbesteck zurück.

»Also gut!« rief sie. »Dann eben nicht. Du bist ein sehr, sehr böses Mädchen, Emma. Ich werde dich dafür bestrafen

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müssen.« Sie schwang den Feuerhaken mit aller Kraft. Schon der erste

Schlag ließ das dünne Holz splittern. Der zweite schlug ein faustgroßes Loch in die Füllung, und mit einem dritten, vierten und fünften Hieb erweiterte Peyton die Öffnung so weit, daß sie hindurchgreifen und nach dem Schlüssel auf der anderen Seite tasten konnte. Er war nicht da. Obwohl sie eigentlich halb verrückt vor Angst sein sollte, war Emma offensichtlich vorausschauend genug gewesen, ihn abzuziehen, um auf diese Weise noch ein paar Sekunden mehr zu gewinnen.

Peyton schlug weiter mit dem Feuerhaken zu und hackte die Tür binnen einer Minute in Stücke. Joes Weinen hielt ununter-brochen an. Es klang noch immer gedämpft und irgendwie weiter weg, als es sollte, aber er war dort drinnen.

»Also gut, Emma. Du hast es nicht anders gewollt!« sagte Peyton. Ohne die kleinen Schrammen und Kratzer auch nur zu spüren, die sie sich dabei zuzog, zwängte sie sich durch die gewaltsam geschaffene Öffnung in der Tür und sah sich wild um. Von Emma und Joe war noch immer keine Spur zu sehen – aber sie hörte den Jungen jetzt deutlich. Sein Weinen drang durch die geschlossenen Türen des Kleiderschranks.

Kein besonders originelles Versteck. Peyton schürzte verächt-lich die Lippen. Emma war eben doch ein Kind. Aber sie ließ den Feuerhaken nicht fallen, sondern behielt ihn in der rechten Hand, während sie sich dem Schrank näherte. Kind oder nicht – wenn Emma auch nur halb so verrückt wie ihre Mutter war, würde sie vielleicht anzugreifen versuchen. Und auch ein Kind konnte eine Menge Schaden anrichten, wenn es ein Messer oder eine andere Waffe hatte. Peyton hob den Feuerhaken mit der rechten Hand hoch über den Kopf, streckte die andere nach dem Türgriff aus –

und riß die Tür mit einer überraschenden Bewegung auf. Der Schrank war leer. Sie hörte noch immer Joes Weinen, das mittlerweile schon

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fast hysterisch klang, aber Joe selbst war nicht da – das Geräusch drang aus dem drahtlosen Babyphon, das Emma in einer Ecke des Schranks versteckt hatte!

Peyton schrie vor Wut und Enttäuschung auf, schwang ihren Feuerhaken und zerschmetterte das Gerät. Plastiksplitter und elektronische Bauteile flogen in alle Richtungen davon.

Und Joes Weinen hielt noch immer an.

Claire hob stöhnend den Kopf, und ein einzelner, greller Schmerzpfeil schoß durch ihren Schädel, gefolgt von einem Gefühl drohender Ohnmacht, die sie beinahe zurück in den schwarzen Abgrund gerissen hätte, aus dem sie sich gerade so mühsam emporgekämpft hatte.

Claire war nicht wirklich bewußtlos gewesen. Peytons Schlag hatte sie zu Boden geschleudert; sie hatte weder ihn selbst noch den Aufprall auf den harten Fliesen gespürt, aber auf irgendei-ne Weise war sie doch wach geblieben – zumindest hatte sie auf einer unteren Ebene des Bewußtseins Emmas Stimme gehört und Peytons, später Schritte und Joes Weinen und noch mehr Schritte, aber was sie schließlich geweckt hatte, das war eine Folge harter, splitternder Schläge gewesen, und immer wieder Joes Weinen. Seltsamerweise schien es aus zwei Richtungen zugleich zu kommen.

Sie öffnete die Augen. Im ersten Moment hatte sie Schwie-rigkeiten, zu sehen; ihr rechtes Lid war blutverklebt. Claire tastete nach der Platzwunde über dem Ohr und brach den Versuch sofort wieder ab, als ein neuer, brennender Schmerz durch ihre Schläfe pulsierte, kaum daß ihre Fingerspitzen die aufgeplatzte Haut berührt hatten.

Mühsam stemmte sie sich auf Hände und Knie empor. Alles drehte sich um sie. In ihrem Mund war ein bitterer Geschmack; der ihres eigenen Blutes, und ihr war übel. Außerdem bekam sie kaum noch Luft.

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Trotzdem arbeitete sie sich mit zusammengebissenen Zähnen weiter in die Höhe, fand am Rand der Anrichte Halt und zog sich hoch. Für einen Moment verschwamm die Küche vor ihren Augen. Sie taumelte, klammerte sich verbissen fest und wartete, bis der Schwächeanfall abebbte.

Ihr Blick glitt über das zerbrochene Geschirr, die Wand, das Spülbecken und die Ceranplatte daneben – und fand schließ-lich, wonach sie gesucht hatte: ein breites, silberfarbenes Magnetband, an dem neun Messer hingen, scharf geschliffen und nach Größe sortiert.

Claire schob sich Schritt für Schritt mit zusammengebissenen Zähnen und immer mühsamer nach Luft ringend darauf zu, streckte die Hand aus und löste das größte Messer von seinem Halt, eine beidseitig geschliffene Waffe, fast so lang wie ihr Unterarm und mit einem schweren Griff, der gut in der Hand lag.

Dann drehte sie sich herum und begann mit taumelnden Schritten auf die Tür zuzugehen. Jeder Atemzug war eine Qual.

Und die unsichtbare Klammer um ihre Brust zog sich immer enger zu.

Peyton sprang leichtfüßig die Treppe hinauf. Ihre Bewunde-rung für Emmas Einfallsreichtum war längst blankem Haß gewichen. Der Zorn machte sie rasend, aber nicht blind – im Vorüberlaufen stieß sie die Türen von Bad, Schlaf- und Joes Zimmer auf und warf einen raschen Blick hinein. Joes verräte-risches Weinen kam noch immer von oben, aus dem Raum über der offenstehenden Bodenklappe, aber Peyton wollte sich nicht noch einmal hereinlegen lassen.

Trotzdem verschwendete sie kurz jeweils eine Sekunde, um in den Raum hinter den Türen zu blicken, die sie aufstieß. Nichts. Diesmal war das Weinen, das sie hörte, echt.

Sie erreichte das Ende des Flures, ließ den Feuerhaken fallen

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und griff mit beiden Händen nach der schmalen, sehr steilen Treppe, die automatisch heruntergeglitten war, als Emma die Bodenklappe geöffnet hatte. Sie hörte Emmas Stimme, ein Poltern und Schleifen – und eine weitere Stimme, die sie im ersten Moment nicht richtig einordnen konnte. War noch jemand im Haus? Egal. Peyton kletterte hastig weiter. Ganz gleich, wer dort oben auch sein sollte, nichts und niemand konnte sie jetzt noch aufhalten. Sie war im Recht. Sie stand auf der Seite der Guten in dieser Geschichte, sie war die Gute, und niemand würde sie jetzt noch daran hindern, ihre Familie wieder zusammenzuführen.

Ihre tastenden Hände ergriffen den Rand der Bodenklappe und klammerten sich fest. Mit einem entschlossenen Ruck zog sie sich hindurch und hinauf, bekam ein Knie auf den festen Boden und sprang vollends in die Höhe. Emma schrie entsetzt auf. Peyton sah sie als schattenhafte Bewegung neben sich, fuhr herum –

und hielt verblüfft mitten in der Bewegung inne. Emma stand vor ihr, zitternd, bleich, mit riesigen, weit aufge-

rissenen Augen, die fast schwarz vor Angst waren – aber sie hielt Joe nicht mehr in den Armen!

»Wo –?« begann Peyton, und erst in diesem Moment gewahr-te sie die Bewegung am Fenster.

Hätte sie nur zwei Sekunden länger gebraucht, oder wäre es Emma gelungen, sie auch nur einen winzigen Moment länger abzulenken, dann hätte die Zeit für Solomon vielleicht gereicht, sich rückwärts durch das Dachfenster zu zwängen, das für seine breiten Schultern viel zu schmal schien, und sicheren Halt auf dem Vordach darunter zu finden.

Aber diese Zeit blieb ihm nicht. Er hatte nur eine Hand frei, um sich am Fensterrahmen festzuhalten. Mit der anderen preßte er den heftig strampelnden und mittlerweile aus Leibes-kräften schreienden Joe an sich, und er mußte wohl begreifen, daß er keine Chance hatte, sich Peytons zu erwehren und

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zugleich unbeschadet aus dem Fenster zu klettern. Das Vor-dach war schmal und sehr steil. Ein einziger, kräftiger Stoß hätte gereicht, ihn zusammen mit Joe in die Tiefe stürzen zu lassen.

»Solomon!« zischte Peyton haßerfüllt. Ihre Hände zuckten. Eine halbe Sekunde lang war sie nahe daran, sich einfach auf diesen Schwachsinnigen zu stürzen und ihn hinauszustoßen, ob mit oder ohne Joe. Aber der Moment ging so schnell vorüber, wie er gekommen war, und die Liebe zu ihrem Sohn erwies sich schließlich doch als stärker als der Haß auf den Schwar-zen. Um Solomon konnte sie sich immer noch kümmern, wenn Joe erst einmal in Sicherheit war. Aber dann würde sie es tun. O ja, das würde sie.

»Gib mir den Jungen!« verlangte sie. Solomon kletterte umständlich und äußerst behutsam wieder

auf den Dachboden zurück, aber er machte keine Anstalten, ihr den Jungen zu übergeben, er preßte ihn nur noch fester und nun mit beiden Armen gegen die Brust.

»Du sollst mir meinen Jungen geben, du Idiot!« herrschte Peyton ihn an. Sie trat herausfordernd auf Solomon zu, aber er wich vor ihr zurück, bis er mit dem Schädel gegen die schräge Decke stieß und nicht mehr weiter konnte. Seine Augen waren weit aufgerissen und starr vor Angst. In dem schwarzen Gesicht wirkte das Weiß der Augen noch heller. Sein Mund stand halb offen. Er wimmerte. Ein Speichelfaden lief über seine aufgeworfenen Lippen und tropfte auf seine Brust.

»Nein!« stammelte Solomon. »Sie … Sie bekommen ihn nicht. Joe gehört … Claire!«

Emma klammerte sich plötzlich mit aller Kraft an ihr Bein und versuchte, sie zu Boden zu reißen. Peyton stieß sie von sich, ohne sie auch nur anzusehen. Mit einem zornigen Schritt war sie vollends bei Solomon und versetzte ihm ein, zwei Schläge mit der flachen Hand, unter denen er sich krümmte wie ein getretener Hund. Aus seinem Wimmern wurde ein

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Schluchzen. Ein einziger ernstgemeinter Hieb dieses Giganten hätte zweifellos gereicht, Peyton zu Boden zu schleudern und schwer zu verletzen, aber diese Möglichkeit kam Peyton nicht einmal zu Bewußtsein; ebensowenig wie Solomon. Es gab Menschen, die schlugen, und solche, die geschlagen werden, und bei Solomon und Peyton war die Verteilung der Rollen so klar, daß keiner von ihnen auch nur auf den Gedanken gekom-men wäre, der andere könnte die Seite wechseln. Peyton schlug weiter auf ihn ein, und Salomon wimmerte immer lauter.

»Gib mir meinen Sohn, oder ich schlag’ dir den Schädel ein!« schrie Peyton.

In diesem Moment rief jemand hinter ihr ihren Namen.

Claire umklammerte das Messer so fest, daß es weh tat. Alles verschwamm vor ihren Augen, und im Grunde war es das Messer, das sie hielt, nicht umgekehrt. Sie wußte kaum noch, wie sie den Weg hier herauf geschafft hatte. Sie bekam keine Luft mehr. Der Schmerz in ihrer Brust war unerträglich, er kündete vielleicht den großen, endgültigen Anfall an, auf den sie gewartet hatte. Am Fuße der Treppe wäre sie um ein Haar bereits zusammengebrochen – sie konnte sich nicht erinnern, seither noch einmal geatmet zu haben. Emmas Schrei hatte ihr noch einmal Kraft gegeben, aber auch dieser letzte, allerletzte Vorrat schien nun verbraucht zu sein. Sie wankte. Hätte Peyton vor ihr gestanden, nachdem sie sich auf den Dachboden hinaufgezogen hatte, hätte sie keine Sekunde gezögert, zuzu-stoßen, und sei es nur, um wenigstens das Leben ihrer Kinder zu retten. Sie wußte, daß Peyton Emma töten würde und Solomon ganz bestimmt. Und vielleicht irgendwann auch Joe.

Peyton war herumgefahren, als sie ihren Namen gerufen hatte. Eine Mischung aus Zorn und Überraschung machte sich auf ihren Zügen breit, als sie sie erblickte – aber nicht die Spur von Furcht. Im Gegenteil – ihre Augen glitzerten spöttisch, als

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sie das Messer in Claires Händen betrachtete. »Du lebst ja immer noch«, sagte sie. Ihre Stimme klang

tadelnd, und sie hatte einen schrillen Unterton; den Beiklang des Wahnsinns, den man nicht beschreiben, sondern nur hören kann.

Irgendwoher nahm Claire den Atem, ihr zu antworten. »Pey-ton, das ist meine Familie«, sagte sie. »Ich lasse nicht zu, daß –«

Peytons Angriff kam vollkommen warnungslos. Mit einer Bewegung, die so schnell war, daß Claire sie nicht einmal wirklich sah, sprang sie auf sie zu. Claire hackte mit dem Messer nach ihr, aber Peyton wich dem Stoß geschickt aus, rammte ihr die Schulter in den Leib und griff in der gleichen Bewegung nach ihrem Arm. Ihre Hände umklammerten Claires Handgelenk und verdrehten es mit einem kurzen, harten Ruck. Claire schrie gequält, ließ das Messer fallen und taumelte ins Leere, als Peyton blitzartig zur Seite trat und ihren Arm losließ.

Vorbei. Ihre Kehle war zugeschnürt. Wo ihre Luftröhre sein sollte, war eine massive Stahlplatte, die keine Macht der Welt mehr zur Seite rücken konnte. Sie wollte atmen, aber alles, was sie zustande brachte, war ein fürchterlich rasselnder Laut, der sich nur wie ein Atmen anhörte, aber keine Luft in ihre Lungen pumpte. Langsam sank sie auf die Knie, griff mit beiden Händen nach ihrem Hals und krallte die Fingernägel in die Haut, als wolle sie gewaltsam einen Weg für den Sauerstoff in ihr Fleisch reißen, der ihre Lungen freiwillig nicht mehr erreichte. Sie keuchte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann verstummte auch dieser Laut. Sie fiel auf die Seite. Sie hatte nicht mehr die Kraft, dem Sturz seine grausame Wucht zu nehmen, aber dieser neuerliche Schmerz erreichte ihr Bewußt-sein nicht mehr wirklich, Claire spürte, wie sie zu ersticken begann.

»Nein!« schrie Emma. »Peyton! Tu meiner Mami nichts!« Wieder versuchte sie, sich auf Peyton zu werfen, und wieder

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stieß Peyton sie achtlos beiseite. Diesmal stürzte Emma zu Boden.

Peyton lachte. »Stimmt irgendwas nicht, Claire?« fragte sie hämisch. Sie ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und hob ihr Kinn an, um ihr ins Gesicht zu sehen. Triumph leuchtete in ihren Augen.

»Warum atmest du denn nicht?« fragte sie. »Es ist doch so leicht. Du mußt nur Luft holen: ein- und wieder ausatmen, weißt du? Aber ich glaube, du kannst es nicht, wie? Weil du nämlich nichts wirklich kannst. Du bist gar keine richtige Frau. Das bist du nie gewesen. Und weißt du was? Alle wissen es. Sie haben es immer gewußt. Sogar Michael.« Sie lachte. »Wußtest du, daß er immer an mich gedacht hat, wenn er mit dir geschlafen hat? Und wenn dein Baby Hunger gehabt hat, dann habe ich ihm die Brust gegeben – das kannst du nämlich auch nicht. Du bist so armselig. Immer wenn’s ein bißchen aufregend wird, kannst du nicht mal mehr atmen.«

Sie stand auf. »Aber mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich werde mich um deine Familie kümmern. Du kannst ganz beruhigt sterben. Dein Mann und deine Kinder sind in guten Händen.«

Sie drehte sich herum, trat herausfordernd auf Solomon zu und streckte beide Arme aus. »Los!« befahl sie. »Gib ihn mir!«

»Nein!« erwiderte Solomon. Sein Gesicht war eine Maske purer Furcht, aber er gehorchte trotzdem nicht, sondern drückte Joe nur noch fester an sich.

Peyton schlug ihn. Solomon wimmerte vor Schmerz und Angst, aber er ließ Joe

nicht los. Peyton schlug ihn erneut, härter diesmal, und zwei-, dreimal

hintereinander, und als Solomon noch immer nicht losließ, griff sie nach Joe und versuchte, ihm den Jungen gewaltsam aus den Armen zu reißen. Joe begann aus Leibeskräften zu brüllen.

Und plötzlich begriff Claire, daß Solomon den Jungen nicht

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loslassen würde. Aber Peyton würde nicht auf Joe verzichten. Eher würde sie ihn töten. Ja, Peyton würde ihren Sohn töten,

hier, jetzt, vor ihren Augen. »Neeeeein!« schrie Claire. Der Schrei preßte neue Luft in ihre

Lungen. Sie konnte atmen, leben. Mit einer einzigen, fließen-den Bewegung sprang sie in die Höhe und herum, im gleichen Moment, in dem Peyton sich nach ihr umdrehte.

Vielleicht begriff sie im allerletzten Moment sogar noch, was geschehen war, denn zum ersten Mal erkannte Claire wirkliche Angst auf ihren Zügen.

Peyton hob instinktiv die Arme, um sie abzuwehren, aber Claire überrannte sie einfach. Mit jener absoluten Kraft, die nur Todesangst hervorrufen kann, prallte sie gegen Peyton, klammerte sich an ihre Schultern und trieb sie einfach vor sich her. Peyton versuchte vergeblich, ihr Gleichgewicht zu wahren. Mit wild rudernden Armen stolperte sie vor ihr her, kippte zur Seite und zugleich zurück –

und prallte gegen das Fenster, durch das Solomon hereinge-kommen war.

Die Scheiben zerbrachen. Das dünne Holz splitterte, bog sich unter Peytons Gewicht durch und zerbarst ebenfalls. Eine Glasscheibe zerschnitt Peytons Gesicht, das plötzlich blutüber-strömt war und ebenso gespalten wie das Marlenes, als sie sie im Gewächshaus gefunden hatte, eine zweite Scherbe bohrte sich wie ein Dolch in ihre Schulter, und dann kippte Peyton in einer grotesk langsamen, aber unerbittlichen Bewegung nach draußen. Ihr Schmerzensschrei verstummte, als sie auf dem Vordach aufschlug, immer schneller und schneller weiter-rutschte und wie ein Stein über seine Kante fiel.

Claire sank vor dem Fenster auf die Knie, schloß die Augen und gönnte sich eine einzelne Sekunde lang den Luxus, zu atmen und sonst nichts zu tun. Aber nicht länger. Es war noch nicht vorbei. Nicht, solange sie nicht sicher sein konnte.

Sie stand auf, beugte sich vor und sah nach unten. Ihr Herz

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jagte. Aber es war vorbei. Peyton war tot. Wenn nicht bereits die Glassplitter sie getötet

hatten oder der Sturz aus acht Metern Höhe, so hatte es Solomons Zaun getan. Eine der schmalen Latten, die Solomon sorgsam zu Hunderten einzeln ausgesägt, angespitzt, geschlif-fen und lackiert hatte, hatte sich wie ein Speer durch ihren Körper gebohrt. Die Spitze ragte eine gute Handbreit aus ihrer Brust heraus. Ihre weit aufgerissenen, starren Augen blickten in den Himmel, auf dem allmählich die Nacht herankroch, und mit dem Leben war auch der Wahnsinn daraus gewichen.

Seltsam: Claire verspürte keinen Zorn mehr, keinen Haß. Alles, was sie empfand, war ein leises Gefühl von Mitleid – und eine tiefe, unendlich tiefe Erleichterung.

Es war vorbei. Der Alptraum hatte ein Ende. Sie drehte sich herum, sah erst Solomon, dann Emma und

schließlich ihren Sohn an, der noch immer in Solomons Armen lag, aber aufgehört hatte zu schreien, als spüre selbst er irgendwie, wie unendlich wichtig und kostbar dieser Moment war.

Solomons Augen waren noch immer voller Furcht. »Es … es ist nichts passiert«, sagte er. »Wirklich. Ich … ich habe ihm nichts getan.«

Claire sah ihn verwirrt an. Sie verstand im ersten Moment nicht einmal, was er meinte. »Ich weiß«, sagte sie.

Aber Solomon beruhigte sich nicht. Im Gegenteil – Claire konnte regelrecht sehen, wie seine Angst sich einer wirklichen Panik zu nähern begann. Wild sah er sich um und winkte schließlich Emma herbei.

»Emma, komm her«, sagte er. »Es … es ist alles in Ordnung. Hier. Bitte … bitte nimm ihn?«

Emma trat zögernd näher, blickte erst Solomon, dann ihre Mutter an. Erst als Claire fast unmerklich nickte, streckte sie

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die Arme aus und nahm ihren Bruder entgegen. »Claire, ich …« begann Solomon, aber Claire unterbrach ihn

mit einer Handbewegung. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich danke dir, Solo-

mon.« Ein erstes, schüchternes Lächeln erschien auf Solomons

Zügen. »Wirklich?« fragte er. »Wirklich«, bestätigte Claire. Plötzlich fühlte sie sich müde,

unendlich müde – aber auf eine wohltuende Art, von der sie schon beinahe gar nicht mehr gewußt hatte, daß es sie gab. Irgendwo draußen, sehr weit entfernt, heulte eine Sirene. Das Geräusch kam ganz allmählich näher.

»Laß uns hinunter gehen«, sagte sie, an Emma gewandt. »Wir müssen nach Dad sehen.« Sie machte einen Schritt auf die Treppe zu, blieb wieder stehen und forderte Emma mit einem entsprechenden Blick auf, dasselbe zu tun. Emma gehorchte. Ihre Augen leuchteten auf. Sie schien zu ahnen, was ihre Mutter vorhatte.

»Solomon, kannst du uns helfen?« fragte Claire. Sie deutete auf Emma. »Ich möchte dich bitten, Joe zu nehmen.«

Solomon zögerte, vollkommen hilflos und hin und her geris-sen zwischen unterschiedlichen Gefühlen. »Ich … ich glaube nicht«, sagte er schließlich. »Man hat mir gesagt, daß ich keine Babys anfassen darf.«

Claire lächelte. »Doch, das darfst du«, sagte sie. »Wirklich?« vergewisserte sich Solomon. »Wirklich«, sagte Claire. Solomon zögerte noch einmal. Der Ausdruck auf seinem

Gesicht war fast gequält. Aber dann streckte Emma die Arme aus und hielt ihm Joe hin, und nun griff er nach dem Baby und nahm es behutsam auf die Arme.

Claire betrachtete ihn einige Sekunden lang lächelnd, dann wandte sie sich endgültig um und begann die Treppe hinabzu-steigen. Sie mußte hinunter zu ihrem Mann; sie, und der Rest

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der Familie, die nun doch ein Mitglied dazugewonnen hatte.

ENDE