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I. MEDIENBEGRIFF Definitionen ergeben sich nicht aus der Sache an sich, sondern aus dem Blickwinkel, aus dem man sich einer Sache, einem Gegenstandsbereich nähert. 3 zentrale Blickwinkel und deren Medienbegriffe: 1. (sozio)formativer Medienbegriff [also einer der den Gesellschafts- gestaltenden Aspekt fokussiert: Marshall McLuhan („The medium is the message“>> Die (gestaltende) Form/Wirkung des Mediums ist relevant, nicht der Inhalt) 2. funktionaler (Medienbegriff): Medien speichern, übertragen und/oder verarbeiten Informationen 3. pädagogischer (Medienbegriff): Medien als Interaktionsinstrumente für die Kommunikation zwischen Menschen in unterschiedlichen pädagogischen „settings“ (Klasse, Gruppe, Partnerarbeit, Einzelvortrag, ...) ad 1: (sozio)formativer Medienbegriff McLuhan - The medium is the message Der Medientheoretiker McLuhan ist mit seiner These "The medium is the message" populär geworden. Für ihn liegt das Wesentliche des Mediums in seiner Form und nicht in dem vom Medium über-mittelten Inhalt. Nicht die aus dem Inhalt zu entschlüsselnde Botschaft ist für eine Medientheorie relevant, sondern die aus dem Medium heraus entstehende Wirkung. Der Inhalt eines Mediums ist wiederum ein zeitlich hervorgehendes Medium. McLuhan betrachtet Veränderungen von Medientechnologien als wesentliche Ursache für soziale Veränderungen und räumt Medien somit eine enorme Macht gegenüber dem Menschen ein. Für ihn sind Medientechnologien Ausweitungen des menschlichen Körpers, die das menschliche Handeln optimieren bzw. ersetzen (vgl. „fern-sehen“, „fern-sprechen“, „fern-schreiben“, „Auto-mobil“,...) McLuhans Grundannahmen basieren auf einem sehr weit gefassten Medienbegriff. Seiner Definition zu folge beinhaltet fast jeder Gegenstand

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I. MEDIENBEGRIFF

Definitionen ergeben sich nicht aus der Sache an sich, sondern aus dem Blickwinkel,

aus dem man sich einer Sache, einem Gegenstandsbereich nähert.

3 zentrale Blickwinkel und deren Medienbegriffe:

1. (sozio)formativer Medienbegriff [also einer der den Gesellschafts-

gestaltenden Aspekt fokussiert: Marshall McLuhan („The medium is the

message“>> Die (gestaltende) Form/Wirkung des Mediums ist relevant, nicht

der Inhalt)

2. funktionaler (Medienbegriff): Medien speichern, übertragen und/oder

verarbeiten Informationen

3. pädagogischer (Medienbegriff): Medien als Interaktionsinstrumente für die

Kommunikation zwischen Menschen in unterschiedlichen pädagogischen

„settings“ (Klasse, Gruppe, Partnerarbeit, Einzelvortrag, ...)

ad 1: (sozio)formativer Medienbegriff

McLuhan - The medium is the message

• Der Medientheoretiker McLuhan ist mit seiner These "The medium is the

message" populär geworden. Für ihn liegt das Wesentliche des Mediums in seiner Form und nicht in dem vom Medium über-mittelten Inhalt. Nicht die

aus dem Inhalt zu entschlüsselnde Botschaft ist für eine Medientheorie

relevant, sondern die aus dem Medium heraus entstehende Wirkung. Der

Inhalt eines Mediums ist wiederum ein zeitlich hervorgehendes Medium.

McLuhan betrachtet Veränderungen von Medientechnologien als wesentliche

Ursache für soziale Veränderungen und räumt Medien somit eine enorme

Macht gegenüber dem Menschen ein. Für ihn sind Medientechnologien

Ausweitungen des menschlichen Körpers, die das menschliche Handeln

optimieren bzw. ersetzen (vgl. „fern-sehen“, „fern-sprechen“, „fern-schreiben“,

„Auto-mobil“,...)

• McLuhans Grundannahmen basieren auf einem sehr weit gefassten

Medienbegriff. Seiner Definition zu folge beinhaltet fast jeder Gegenstand

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mediale Eigenschaften: „Denn die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder

Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es

der Situation des Menschen bringt.“ (McLuhan 1964, 22). Demnach ist das

Buch ebenso ein Medium wie die Eisenbahn:

o Die Erfindung des Buchdrucks und die hieraus resultierende

massenhafte Produktion von Büchern führte zu einem enormen

Bildungsschub in allen gesellschaftlichen Schichten - die lateinische

Sprache wurde in Westeuropa durch National-sprachen abgelöst. Auch

sei die stereotype Aneinanderreihung von gedruckten Buchstaben das

Embryonalstadium des Fliess-bandes und der Massenproduktion

gewesen. Der Buchdruck implizierte ein streng lineares Denken:

Buchstabe an Buchstabe, Zeile für Zeile. In der Typographie sah

McLuhan die erste Mechanisierung eines Handwerks.

Für McLuhan ist die Botschaft des Buchs also nicht, was es dem Leser inhaltlich

vermittelt, sondern welche Auswirkungen es auf Individuum und Gesellschaft hat.

Insofern verwendet er den Begriff „Botschaft“ gleichbedeutend mit „Wirkung“.

• Die Eisenbahn hat für McLuhan die Eigenschaften eines Mediums, da durch

diese Technologie Transportzeiten verringert wurden,

Handelserweiterungen geschaffen wurden und sie somit wesentlich zum

Zusammenwachsen der Handelsländer und den daraus resultierenden

Veränderungen im menschlichen Zusammenleben beigetragen hat.

Weitere Thesen McLuhans:

• Die Wirkung eines Mediums liegt in der Art, wie es sinnlich wahrgenommen

wird, daher ist Medientheorie auch Wahrnehmungstheorie.

• Unterscheidung in "heiße Medien", die lediglich einen Sinn erweitern und

detailarme "kalte Medien", die aktive Ergänzung und Vervollständigung vom

Rezipienten fordern .

• Unterteilung der Menschheitsgeschichte in „orale Stammeskultur“, „literale

Manuskriptkultur“, „Gutenberg-Galaxis“ und „elektronisches Zeitalter“

(„Marconi-Galaxis“).

• Das Wahrnehmen der Welt sollte unter möglichst maximaler Beteiligung aller

Sinne geschehen.

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• Das „Ende des Buchzeitalters“ – so der deutsche Untertitel seiner „Gutenberg

Galaxis“ – hat McLuhan in Wirklichkeit nie propagiert. Er war vielmehr der

Auffassung, dass sich in der Regel neue Medien zu alten hinzugesellen, sie

jedoch nur selten Verdrängen: „Das Radio hat ganz spezifische

Eigenschaften, die ihm auch das Fernsehen nicht nehmen kann, denn: Das

Medium ist die Botschaft.“

ad 2: funktionale Medienbegriff:

Die folgende Kurzdefinition bringt den zentralen Aspekt dieses funktionalen

Medienbegriffes auf den Punkt: „Medien sind Kommunikationsmittel der Menschen.“

Kommunikation setzt eine vermittelnde Instanz, ein „Medium“ voraus, mit dem

Bedeutungsinhalte ausgedrückt, transportiert und gespeichert werden können.

Diese Hilfsmittel können auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein:

• Zeichensysteme: z.B. Sprache

• technische Übertragungsmittel: z.B. Luft, Glasfaserkabel, Satellit

• technisch-organisatorische Systeme: z.B. Telefon, Briefpost, Fernsehen

• Institutionen: z.B. Rundfunkanstalten, Verlage, Mediensysteme

Prominente Definition von Ulrich Saxer (1998):

„Medien sind komplexe institutionalisierte Systeme um organisierte

Kommunikationskanäle von spezifischem Leistungsvermögen.“

Differenzierungen des Medienbegriffs (Pross 1972)

Primäre Medien:

• Medien des menschlichen Elementarkontakts, also leibgebundene

Ausdrucksmöglichkeiten (z.B. Sprache, Mimik, Gestik).

Sekundäre Medien:

• Medien, die auf der Produktionsseite ein Gerät erfordern, nicht aber beim

Empfänger (z.B. Flugblatt, Plakat, Buch, Zeitung).

Tertiäre Medien:

• Medien, die sowohl auf der Sender- als auch auf der Empfängerseite ein

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technisches Gerät erfordern, nicht aber beim Empfänger (z.B. Telefon, Hörfunk,

Fernsehen, Film).

Neuerdings, nicht von Pross, „quartäre Medien“:

• Medien, die auf der Technik der Digitalisierung beruhen und die Nutzung eines

Computers mit Online-Verbindung voraussetzen (z.B. Online-Zeitungen, Websites,

Diskussionsforen, Newsgroups, Chats).

ad 3: pädagogischer Medienbegriff:

Dieser umfasst 4 Medienarten: die Personen-Medien, die Sozial-Aktions-Medien, die

Material-Medien und die Technischen Medien.

Als Personen-Medien werden jene körpereignen Zeichensysteme (Kommunikations-

aspekte) bezeichnet, die unmittelbar mit der einzelnen Person verbunden sind:

Sprache (verbal), Intonation (paraverbal), Gestik, Mimik, Körperhaltung, äußere

Erscheinungsform (nonverbal).

Soziale-Aktions-Medien oder Ausdrucksmedien sind alle Programm-, Handlungs-

oder Interaktionsmedien („Räume“), die verschiedene Personen in ein mediales

Kommunikationsgeflecht hineinziehen: Theater, Live-Musik, Rollenspiel, Tanz, Kunst-

Performance, Rituale, ...

Materialmedien sind z.B. Farben, gestaltbare Materialien wie Papier, Holz, Ton ...,

Design-Produkte, statische Kunstwerke ...

Technische Medien benötigen technisches Gerät zur Herstellung (z.B. Buch, Plakat,

Zeitung ...), teils auch zur Übertragung (Telephon, Rundfunk, ...) und teils auch zur

Rezeption (Radio, TV, Internet ...).

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Exkurs – geschichtlicher Überblick über die Medientechniken und ihr Veränderungspotenzial

Medien vermitteln jedoch nicht neutral; sie beeinflussen die Inhalte und ihre

symbolischen Repräsentationen, sie bestimmen die Kommunikationssituation mit

und prägen Kommunikationskultur.>> Friedrich A. Kittler (Medienanalytiker in Kassel,

Bochum und Berlin): Der Mensch ist das Produkt der Medien und nicht umgekehrt!

a) Medientechnik (um 1800)

> bis 1800: größtenteils orale Kultur; Hauptspeichermedien waren Verse!

> um 1800 Explosion der Buchauflagen

> Alphabetisierung, die bereits durch Gutenberg langsam eingesetzt hatte,

erreichte langsam Großteile der Bevölkerung > Heinrich Stephani veröffentlichte

seine „Fibel für Mütter“ (1802), denen nun die Aufgabe zugedacht war, den Kindern

durch die „Lautierschrift“ das Lesen beizubringen.

> die Schriftsprache wird sowohl in Dichtung, auf Universitäten und im Staat

(Verwaltung) immer entscheidender >> zentrale Medientechnik: Literatur -

Hauptmedium: Buch - Schriftsprache

b) Medientechnik (um 1900)

> durch technische Datenspeicherung (Grammophon, Film) ist das Buch nicht mehr

länger das einzige Speichermedium

> für die Textproduktion stellt die Erfindung der Schreibmaschine einen Meilenstein

dar, der Frauen einen Zugang zur Textproduktion ermöglicht.

c) Medientechnik (20. Jhdt.)

> Der Hauptschöpfer von neuen Medientechnologien ist der Krieg:

- im 1.WK mussten drahtlose Funkverbindungen entwickelt werden,

um den Kontakt zu den neuen Waffengattungen U-Boot und

Flugzeug aufrechtzuerhalten > daraus entstand das Radio.

- im 2. WK wurde die Stereophonie (= die elektro-akustische

Schallübertragung über 2 oder mehrere Kanäle) zum Abhören von

Feinden entwickelt > daraus entwickelte sich moderne

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Schallplattentechnik und „räumliches Hören“ bei

Breitwandfilmen oder im Homekino usw.; auch das Tonband wurde

im 2. WK entwickelt, zunächst für die Kriegsberichterstattung, dann

jedoch zunehmend als Spionagemittel.

- Auch Computer haben sich aus Kriegstechniken entwickelt

(Chiffrier-/Dechiffriermaschinen)

- Das Internet ging aus dem Ende der 1960er Jahre entstandenen

ARPANET hervor, einem Projekt der Advanced Research Project

Agency (ARPA) des US- Verteidigungsministeriums. Es wurde

benutzt, um Universitäten und Forschungseinrichtungen zu

vernetzen um die knappen Rechenkapazitäten sinnvoll zu nutzen,

erst in den USA, später dann auch weltweit.

Ein weiteres Ziel des Projektes - vor dem Hintergrund des Kalten Krieges -

bestand in der Schaffung eines verteilten Kommunikationssystems, um im

Falle eines Atomkrieges eine störungsfreie Kommunikation zu ermöglichen .

> 3 Phasen der Medienentwicklung:

1. Phase: seit dem amerikani. Bürgerkrieg (1861-1865):

Speichertechniken

2. Phase: seit 1. WK: Übertragungstechniken

3. Phase: seit 2. WK: Technik der Berechenbarkeit

Die Macht liegt auch weiterhin bei denen, die den Schlüssel zum Aufschreibesystem

haben. Freies Handeln ist soweit möglich, wie es das Programm, sprich: der

Hersteller erlaubt! (>> vgl. „Matrix“)

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II. MEDIENETHIK II. 1. Exkurs: ETHIK Zunächst einmal ist - in Absetzung von alltagssprachlichen Gewohnheiten - zwischen

Ethik und Moral zu unterscheiden. 'Moral bezeichnet einen Bereich des

menschlichen Lebens, der von Kunst, Wissenschaft, Recht oder Religion

verschieden ist; Moral ist die Gesamtheit der moralischen Urteile, Normen, Ideale,

Tugenden, Institutionen.' Ethik ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem

Bereich der Moral.

Die allgemeine Ethik - die im Folgenden einfach als Ethik bezeichnet wird - stellt

Kriterien für gutes und schlechtes Handeln und die Bewertung seiner Motive und

Folgen auf. Sie ist die Grundlagendisziplin der Angewandten Ethik, die sich als

Individualethik, Sozialethik und in den Bereichsethiken mit den normativen

Problemen ihres spezifischen Lebensbereiches befasst.

Das Ziel der Ethik ist die Erarbeitung von allgemeingültigen Normen und Werten. Sie

ist abzugrenzen von einer deskriptiven Ethik, die keine moralischen Urteile fällt,

sondern die tatsächliche, innerhalb einer Gesellschaft gelebte Moral mit empirischen

Mitteln zu beschreiben versucht.

Die Metaethik, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eigenständige Disziplin

entwickelte, reflektiert die allgemeinen logischen, semantischen und pragmatischen

Strukturen moralischen und ethischen Sprechens und stellt insofern die Grundlage

für die deskriptive und normative Ethik dar.

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II.2. Mensch - Medien - Moral: Eine Verhältnisbestimmung ... und gibt es eigentlich noch einen verbindlichen Rahmen?

Die Gesellschaft, in der wir heute leben, wird immer weniger von der Produktion

materieller Güter bestimmt, immer mehr aber vom Austausch von Informationen und

Wissen sowie von der kommunikativen Vernetzung. Vor allem in den Bereichen

Politik, Wirtschaft, Technik und Bildung entwickeln sich Kompetenzzentren der

kommunikativen Vernetzung von Daten, Informationen und Wissen. Sie bildet sich im

System wechselseitiger Relationalität, in der technologisch rationalisierte Prozesse

der Kommunikation die gesellschaftliche Entwicklung, das wirtschaftliches

Wachstum, den ökonomischen Auf- und Abschwung, die Machtverteilung und nicht

zuletzt soziale Bewegungen bestimmt. (Münch, Richard, Dialektik der

Kommunikationswissenschaft, Frankfurt/M. 1995, 12) In den letzten Jahrzehnten ist

die Welt der gesellschaftlichen Kommunikation durch das Potenzial der Medien

erheblich vielfältiger, vieldeutiger, komplexer und nicht zuletzt verletzlicher und

zerbrechlicher geworden.

Während die Medien immer mehr zum aktuellen Menschsein gehören, scheint es mit

der Moral umgekehrt zu sein. Sie ist in mancher Hinsicht auf dem Rückzug. Wir sind

uns nicht mehr sicher, wo welche Normen gelten, wo moralische Überzeugungen

überhaupt noch relevant sind. Wir fragen uns heute: Wie lassen sich der

demokratische Minimalkonsens und die breit akzeptierte Alltagsmoral auf den

Bereich der Medienkommunikation anwenden? Nach welchen Kriterien lässt sich

bestimmen, ob Medienangebote noch angängig oder moralisch bedenklich sind (z.B.

im Blick auf Pornographie)?

Man spricht heute von einem gestiegenen 'Ethik-Bedarf’: Man wünscht sich eine

unbestechliche, überparteiliche Instanz, die darüber befindet, was in Bereichen, in

denen ständig neue Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten entstehen, als

moralisch geboten, verboten oder erlaubt gelten darf. Früher erwartete man solche

Kriterien von den Religionen, heute von der Ethik. Wie geht die Ethik dabei vor? Ist

sie mit diesen hohen Erwartungen nicht überfordert? Diese Fragen stellen sich

verstärkt für die Medienethik - eine erst im Aufbau befindliche Bereichsethik.

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II.3. Geschichtl. Überblick über die Medienethik Die Geschichte der M. verzahnt sich mit der Geschichte der Medienentwicklung, der

Sozialgeschichte und der politschen Geschichte. Diese Verzahnung ist zu großen

Teilen reaktiv - M. reagiert auf Entwicklungen - und nur partiell innovativ. Anfänge m.

Überlegungen finden sich mindestens seit der Erfindung des Buchdrucks im 15.

Jahrhundert. Bezieht man die Auseinandersetzung um Übergänge von der oralen

Kultur mündlicher Erzähl- und Reflexionstraditionen zur Schriftkultur mit ein, lassen

sie sich bis in die Antike zurückverfolgen: So wertet etwa Platon die Verschriftlichung

äußerst kritisch, sieht durch schriftliche Aufzeichnungen - die ersten „Medien“ - die

Gefahr des Schwindens von aktuell gewusstem Wissen sowie eines Verlust der

Authentizität und Genauigkeit vermittelter Gehalte mit dem Effekt sozialgefährlicher

Halbbildung und Fehlverstehens bei den Massen etc. (Phaedr. 275e; vgl. Slezák

1985). M. im modernen, auf Massenmedien bezogenen Sinn ergibt sich jedoch erst

im 19. und 20. Jahrhundert. Bedingungsumfeld sind die neuzeitlich-moderne Wende

zum Subjekt, die im Gefolge der Aufklärung geschehende konkrete und zunehmend

allgemeine Einforderung der Subjektautonomie in Gestalt politischer Mitsprache-

rechte, die allmähliche Verbesserung des Lebensstandards durch die Industri-

alisierung sowie die Durchsetzung der Alphabetisierung und der allgemeinen

Schulpflicht in Europa und den USA um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Mit der

Wende zum Subjekt erscheint der Mensch unabhängig von allen seinen individuellen

empirischen Bedingtheiten und Schichtzugehörigkeiten und so zur potentiell

gefährlichen Instanz der Weltkonstruktion und Weltbewältigung.

Mediengeschichtliche Marksteine sind dabei die Erfindung mechanischer

Drucktechniken im 19. Jahrhundert, der Wechsel der Tageszeitung vom Abbonne-

mentvertrieb zum Straßenverkauf in den USA um 1895, die Heraufkunft der

Massenliteratur (Kolportageroman, „Groschenheft“, „Dime Library“) nach der Mitte

des 19. Jahrhunderts und die Entstehung des Films um 1895. Im 20. Jahrhundert

sind zu nennen der Rundfunk (um 1900), das Fernsehen (um 1935), Video (wirksam

ab den 80er Jahren) und die neuen Informationstechnologien (Computer, CD-Rom,

WWW etc.; ab den 90er Jahren). M. wird in diesem Prozess zunächst weitgehend

implizit im Rahmen pädagogischer, kunsttheoretischer, juristischer oder

gesellschaftstheoretischer Diskurse betrieben.

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Seit dem Ausgang der 70er Jahre und befördert durch einige sensationelle mediale

Entgleisungen (Gladbecker Geiseldrama, Benneton-Werbekampagne), die

Einführung des Privatfernsehens in den 80er sowie die Expansion der

Computerkommunikation in den 90er Jahren entsteht gleichwohl neben diesen

impliziten m. Diskursen eine explizite M., die innerhalb der Philosophie,

Kommunikationswissenschaft, Theologie und von Medienschaffenden selbst

betrieben wird (H. Boventer, M. Haller, Th. Hausmanninger, G.W. Hunold, M. Rühl,

St. Ruß-Mohl, U. Saxer u.a.). Sie siedelt sich zu großen Teilen jenseits

rückwärtsgewandter, kontramoderner Sehnsüchte, aber auch jenseits des

allgemeinen Pessimismus´ der Kritischen Theorie an. Darüber hinaus weisen die m.

Diskurse eine stärkere Verklammerung mit der Medienpraxis auf.

II.4. Inhaltl. Annäherung

II.4.1. ethische Verortung: Medienethik ist eine (umfassende) Bereichsethik, welche prinzipienorientierte Argumentation mit empirischen Aussagen verbindet

Die Medienethik ist eine «Bereichsethik» - wie die Umweltethik, die Medizinethik und

die Wirtschaftsethik. Aber in gewisser Weise sind Medien ein ubiquitärer Bereich,

eine Bedingung unserer Weltwahrnehmung: Was wir von der Welt wissen, wissen wir

durch die Medien. Was hier erlaubt ist und was nicht, ergibt sich für eine reflektierte

Medienethik nicht aus den Geschmacksurteilen einer tonangebenden Gruppe (z.B.

des Bildungsbürgertums), sondern ist im Blick auf die Grundrechte Betroffener, z.B.

von Minderheiten zu bestimmen.

Medienethik ist somit eine Form angewandter Ethik. Angewandte Ethiken werden

immer dann notwendig, wenn sich aufgrund wissenschaftlich-technischer

Entwicklungen neue Handlungsmöglichkeiten und mit ihnen Bewertungsprobleme

ergeben, für welche die allgemeine Moral (oder die bisherige Berufsmoral) keine

ausreichend trennscharfen Kriterien bereithält. Die Wahl- und

Orientierungsprobleme, vor welchen die Massenmedien und Informationsnetze die

Gesellschaft sowie den Einzelnen stellen, erfordern eine bereichsspezifische

ethische Reflexion.

Dieser Forderung nach einer expliziten Medienethik stimmen wenigstens diejenigen

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zu, die im ständig wachsenden Informations- und Unterhaltungsangebot nicht nur

Chancen für die Demokratie und die Entwicklung des Einzelnen sehen, sondern

auch Gefahren. Worin die Chancen und Gefahren für bestimmte

Bevölkerungsgruppen konkret bestehen, das zu bestimmen ist Aufgabe der Empirie.

Die Rolle der Ethik ist es, mit dem Verweis auf die Grundbedingungen des Humanen

(z. B. auf das Schutzbedürfnis von Heranwachsenden) darauf zu insistieren, dass

diese Chancen auch wirklich genutzt und Gefahren minimiert werden. Medienethik ist

also, wie die anderen angewandten Ethiken auch, sowohl empirie- wie

prinzipiengeleitet .

II.4.2. Ethische Begründung/ medienethisches Modell

Im Blick auf die ethische Begründung und Reflexion der Medienethik ist

wiederum festzuhalten, dass Medienethik philosophisch betrachtet keine Sonderethik

eigenen Rechts ist, sondern eine auf einen besonderen Gegenstands- und

Handlungsbereich angewandte Ethik, und damit Teil der praktischen Philosophie.

Allerdings muss die Medienethik (im Unterschied zur reinen Individualethik) immer

schon mit Systemstrukturen rechnen. Massenkommunikation als durch technische

Medien mehrstufig vermittelte und meist einseitige Kommunikation erfordert (ähnlich

wie die Technikethik) ein systemisches Ethikverständnis, das individuelle Handlungs-

verantwortung mit den systembedingten Folgeproblemen vermittelt.

Das philosophische Reflexionsgeschäft der Medienethik lässt sich dabei folgender-

maßen umreißen: Erstens geht es darum, verschiedene Ansätze und Begründungs-

strategien der Ethik für die Medienethik fruchtbar zu machen. Für die Medienethik

sind m.E. Ansätze aus der kommunikativen Ethik besonders interessant, da diese

Ethikbegründung und ethisches Entscheidungsverfahren aus den Strukturen der

Kommunikation selbst herleiten. So kann aus der Diskursethik nicht nur eine

allgemeine Begründung für die Medienethik gewonnen werden, sondern es lassen

sich aus ihr in Anknüpfung an die universalen Prinzipien Wahrheit, Wahrhaftigkeit

und Gerechtigkeit auch konkrete, normativ gehaltvolle Prinzipien für die Medienethik

ableiten. Der Geltungsanspruch der Medienethik beruht damit also auf einer

geltungskritischen Reflexion und einer situationsbezogenen Applikation universeller

Normen. In diesem Zusammenhang gehört es auch zum Reflexionsgeschäft der

Medienethik, ihre gesellschaftlichen Wirkungen und ihre eigenen Unterscheidungen

zu thematisieren sowie die Grenzen dieser Unterscheidungen zu bestimmen. Die

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philosophische Begründung von medienethischen Grundsätzen kann so den gerade

der Medienethik oft anhaftenden Verdacht der bloßen Zufälligkeit und Willkür

überwinden.

(Mit welcher ethischen Theorie Begriffe wie 'gut' oder 'richtig' bestimmt werden, hängt

eher davon ab, in welcher philosophischen Tradition man steht und wie man das

Moralprinzip am einleuchtendsten begründen zu können glaubt.) Die medien-

ethischen Konzepte fallen unterschiedlich aus, je nachdem, welches

Ethikverständnis zugrunde gelegt und welche ´sachspezifischen´ Voraussetzungen

gemacht werden. Im deutschsprachigen Raum sind hierzu folgende 2 Modelle

vorherrschend:

1. ein rechtskonservatives, kontramodernes Konzept, das sich aus der Anti-

Trivialliteratur- sowie der Kinoreformbewegung herausentwickelt hat. Ausgearbeitet

wird zunächst ein Set in erster Linie inhaltsbezogener medienkritischer Vorwürfe:

Durch die Mediengehalte werde a) eine allgemeine moralische Primitivierung

eingeleitet, die sich insbesondere als b) Sexualisierung und c) Kriminalisierung

konkretisiere. Die Kinoreformer ergänzen dies durch den Vorwurf einer partiell

hieraus entspringenden, partiell durch Sozialkritik verursachten d) gesellschaftlichen

Destabilisierung; die Filmerziehung setzt an die Stelle dieses Vorwurfs den eines

sozialgefährlichen Werteverfalls, während Glogauer u.a. von einer „Zerstörung der

sozial-moralischen Grundlagen der Gesellschaft“ sprechen.

Schlüssig gemacht werden diese Vorwürfe durch a) eine negative Anthropologie, die

den Menschen als destruktiven Hedonisten („urzeitlicher Schlächter“, „Triebwesen“)

und Moralität als lediglich kulturell-zivilisatorische Domestizierungsleistung dieser

naturalen Basis zeichnet. Daneben erscheint b) insbesondere die „ungebildete

Masse“ der „unteren Schichten“ als mangels zivilisatorischer Domestikation gefährdet

und zudem als Brutstätte amoralischer Subkulturen. Schließlich wird d) den

Mediengehalten qua Quantität eine Überschwemmungs- und Umerziehungswirkung

unterstellt. Da in diesem Verständnis Ethik nur als (kognitive) Zähmung der Natur

und Errichtung von Barrieren gegen die naturalen Strebungen erscheint, richtet sich

die m. Normierung dann in erster Linie auf die Schaffung rechtsbewehrter

Beschränkungen der inhaltlichen Medienproduktion.

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2. Neben diesem Konzeptstrang zeigt sich ein im weiteren Sinn linksemanzipatives, modernitätsdialektisches bzw. postmodernes Konzept. In Deutschland

grundgelegt wird es durch die Kritische Theorie, die ihre Modernitätskritik als Kritik

der instrumentellen Vernunft entwirft: Die Menschheit hat demnach ihre Hoffnung von

Beginn an auf eine Überwindung der Natur durch deren vernünftig-instrumentelle

Verzweckung gesetzt, - jedoch frühzeitig bereits die instrumentelle Perspektive

zusätzlich auf sich selbst und die Gesellschaftsorganisation gewendet. Medien

werden in diesem Kontext Stützen des instrumentellen Systems, die der Profit-

maximierung und Herrschaftsverschleierung einerseits, der Stillstellung möglicher

Protest- und Revolutionsenergien andererseits dienen und den gegebenen Zu-

sammenhang als den besten aller möglichen darstellen. Entsprechend kann auch

Medienethik lediglich als Medienkritik vorgebracht werden, die durch Entlarvung des

„unwahren Ganzen“, der „schlechten Totalität“ (Adorno) eine Ahnung des Besseren

aufscheinen lässt. Die medienethische Zielnorm ist ein mündiger Umgang mit den

Medien und deren Nutzung zur gesellschaftskritischen Bewusstseinsarbeit (H.

Giffhorn u.a.).

3. Die explizite M. der Gegenwart nimmt partiell Theoreme dieser beiden großen

Stränge auf, bietet im ganzen jedoch ein eigenständiges und relativ plurales Bild. Die

Medienethik ist eine erst im Aufbau befindliche Bereichsethik, für welche es im

deutschen Sprachraum zwar eine wachsende Zahl von Aufsätzen und Dissertationen

gibt, ein systematischer Entwurf jedoch noch aussteht.

II.4.2.1. Die diskursive Verantwortungsethik

Das Modell einer diskursiven Verantwortungsethik (vgl. Löwisch 2000, Funiok

2000) stellt m.E. einen idealen Ansatz für die Medienethik dar. Verantwortung als

Prinzip von Ethik muss zu einer Verantwortungshaltung führen, d.h. zu einer

inneren moralischen Verfassung des Menschen, als Person verantwortlich handeln

zu sollen, nach bestem Wissen und Gewissen.

Eine diskursive Verantwortungsethik für den Bereich der Medien wäre in diesem

Sinne als eine Bereichsethik zu konzipieren, die zwei Anforderungen erfüllen müsste.

• Begründung auf dem Fundament kommunikationswissenschaftlicher

Forschung, verbunden mit einer Ausweitung der ethischen Fragenperspektive

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auf alle Einflussfaktoren, die im Prozess der sozialen Kommunikation

zusammenwirken.

• Überwindung eines rein individualethischen Ansatzes; Frage nach den

strukturellen Bedingungen, denen der Einzelne im Medienhandeln ausgesetzt

ist. Damit ist eine Ausweitung des Begriffs der sozialen Verantwortung

verbunden, der auch die aufgaben- und funktionsbezogene Verantwortung

sozialer Gruppen, z.B. von Medienunternehmen, berufsbezogener

Organisationen oder Medieninstitutionen (Anbieter) umfasst.

Die Analyse von Systembedingungen und Strukturfragen darf aber

andererseits nicht dazu führen, dass die innerhalb des Mediensystems tätigen

Personen sich von der Verantwortung für das eigene professionelle Handeln

weitgehend freigestellt fühlen und auf der anderen Seite dem Rezipienten eine

idealisierte Mündigkeit und Autonomie unterstellt wird, der er nicht gewachsen

ist, insbesondere als Kind oder Jugendlicher.

Verantwortung als ethische Schlüsselkategorie

In unserem Jahrhundert war es der Soziologe Max Weber, der in seinem Vortrag 'Politik

als Beruf' als sozialethische Verpflichtung formulierte, 'dass man für die

(voraussagbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat'. Weber stellte dabei die

'Verantwortung' des (idealen) Politikers in Gegensatz zur 'Gesinnungsethik' eines

Menschen, der in schwärmerischer Weise auf eine weltenthobene Gestalt des Guten

fixiert ist. Rationale Politik rechnet demgegenüber mit der Komplexität der Wirklichkeit

und ist auf ihre Verbesserung im Rahmen des menschlich und finanziell Möglichen

ausgerichtet

Die Frage nach der Verantwortung lässt sich als Folge von sechs Teilfragen

formulieren:

1. Wer trägt Verantwortung? (Handlungsträger);

2. Was ist zu verantworten? (Handlung);

3. Wofür trägt er Verantwortung? (Folgen);

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4. Wem gegenüber trägt er Verantwortung? (Betroffene);

5. Wovor muss er sich verantworten? (Instanz, z. B. Gewissen, Öffentlichkeit);

6. Weswegen muss man sich verantworten? (Werte, Normen, Kriterien).

Im Medienbereich ist die Frage nach der Verantwortung der Handlungsträger stark

umstritten: Wer ist im arbeitsteiligen Prozess der Erstellung und Verbreitung von

Medienangeboten verantwortlich zu machen? Sind es die einzelnen Produzenten, sind

es die Institutionen oder die Strukturen des Mediensystems? Die Benennung von

'Verantwortlichen im Sinne des Presserechts' innerhalb einer Redaktion bzw. eines

Impressums, die Forderung nach einem Impressum auch für ins Netz gestellte Inhalte,

zeigen die teils bekannten, teils neuen Schwierigkeiten. Auch bezüglich der

Handlungsfolgen verflüchtigt sich Verantwortlichkeit nur dann nicht, wenn man von einer

'korporativen Verantwortung' ausgeht. Mit den Überlegungen Debatins lassen sich die

Probleme an folgendem Beispiel verdeutlichen:

1. Schwierigkeit: Identifizierung der Handlungs- und Verantwortungsträger

Die Unternehmensleitung legt die Unternehmensstrategie fest, z. B. einen bestimmten

Marktanteil durch neue attraktive Serien zu halten oder auszubauen. Ein

Abteilungsleiter entscheidet sich deshalb für eine bestimmte zuschauerträchtige

Machart (z. B. des Reality-TV), und der einzelne Reporter soll die entsprechenden

Beiträge liefern. So kann es passieren, dass einem Journalisten zugemutet wird,

entgegen seiner Überzeugung reißerische Berichte abzuliefern oder einen bestimmten

Stil von Recherche zu praktizieren. Oder sein Beitrag wird anschließend in einen

Kontext gestellt, den er nicht persönlich mitverantwortet hat.

Die Entscheidungen über die Mittel liegen bei anderen als bei denen, die die Ziele

festgelegt haben. Wiederum wird deutlich, dass die Verantwortung des Senders für ein

Produkt sich nicht nur summativ aus der Einzelverantwortung der Rollenträger ergibt,

sondern ein spezifisch 'korporatives Handeln' darstellt, welches auch korporativ

verantwortet werden muss.

2. Schwierigkeit: Unbeabsichtigte Folgen bei geteilter Verantwortung

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Durch die Verteilung von Verantwortung kann es dazu kommen, dass alle Beteiligten für

sich gesehen moralisch einwandfrei handeln und es dennoch - durch unreflektierte und

nicht von allen mitgetragene Mittelentscheidungen

- zu problematischen Folgen kommt. Nehmen wir noch einmal das Beispiel:

Die Entscheidung der Unternehmensleitung mag durch den Wunsch motiviert sein,

Arbeitsplätze und Mitarbeiterverträge zu erhalten - ein moralisch einwandfreies Motiv.

Auf der Ebene der Redaktion wird das Ziel, eine attraktive Serie zu machen, umgesetzt

in die Aufforderung an die zuarbeitenden Journalisten, es bei den Recherchemethoden

nicht so genau zu nehmen mit der Privatsphäre ('invasive Recherche'). Damit kommt

ein moralisch problematisches Endergebnis heraus.

Es wäre fatal, dafür nur den Redakteur verantwortlich zu machen oder gar den

Journalisten, der diese Recherchemethode persönlich gar nicht für gut hält. Geteilte

Verantwortung ist nicht halbierte Verantwortung, sondern muss im Krisenfall von allen

Beteiligten getragen werden. Und nicht nur die Verantwortung für das Endprodukt

übernehmen. Wo dies konsequent geschieht, sind interne Klärungsprozesse in Gang zu

setzen, um solche nicht gewollten Effekte zukünftig zu vermeiden. Auch nach außen hin

muss das Unternehmen 'Sühne' leisten - indem sich Repräsentanten der Unter-

nehmensleitung öffentlich entschuldigen oder indem sie den Geschädigten materielle

oder immaterielle Entschädigung anbieten.

Bei aller Freiwilligkeit solcher Aktionen ist es für das Funktionieren der individuellen wie

der korporativen Verantwortung im Medienbereich wichtig,

die Verantwortungsinstanzen zu sehen. Da ist sicher einmal das persönliche

('berufliche') Gewissen, aber auch die ethische Sensibilität der Unternehmung - und

schließlich eine hinreichend informierte und kritische Öffentlichkeit. Nur wenn die

Öffentlichkeit die Beachtung moralischer Standards einfordert, haben die Urteile der

Selbstkontrollinstanzen genügend (moralische, auf die Reputation bezogene)

Sanktionskraft.

Die sozialethische Perspektive hat (neben einer individualethischen, die sich z.B. in

einem Pressekodex mit seinen Verantwortungsappellen findet) diesen

organisatorischen Kontext im Blick, favorisiert also die 'korporative' Verantwortung und

betont, dass die Bedingungen und der Entscheidungsspielraum der Einzelakteure

entscheidend vom strukturellen und organisatorischen Kontext bestimmt sind. Für sie ist

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'Journalismus' nicht die Addition von journalistisch tätigen Personen, sondern ein

komplex strukturiertes und mit anderen gesellschaftlichen Systemen auf vielfältige

sensibel sein, damit sich die Akteure in ihm moralisch verhalten können.

Gestufte Verantwortung im Medienhandeln

Der Appell, im Prozess der Erstellung, Verteilung und Nutzung von Medienangeboten

Verantwortung zu übernehmen, wendet sich an alle, die - in einem gestuften Sinne -

Verantwortung tragen. Welche Personen (gruppen) handeln hier und sind für

'Medienhandeln' verantwortlich zu machen? Bernhard Debatin [24] nennt als erste

Gruppe die Medien-schaffenden (Journalisten, Redakteure, Autoren, Korrespondenten,

Agenturen usw.); sie haben als Einzelne die professionsspezifischen Werte und

Qualitätskriterien (wie Sorgfalt, Wahrheit, Richtigkeit, Fairness) verinnerlicht. Ihre

verantwortungsethische Innensteuerung muss durch korporative Selbstverpflichtung

ergänzt werden und ist auch auf die Unterstützung durch eine kritische Medien-

öffentlichkeit und durch Selbstkontrollinstanzen angewiesen.

Die zweite Gruppe sind die (öffentlich-rechtlichen und privaten) Besitzer und Betreiber

von Massenmedien; ihre zentrale Verantwortung besteht darin, 'durch entsprechende

korporative Selbstverpflichtungen die organisationellen Rahmenbedingungen für

moralisches Handeln der Medienschaffenden bereitzustellen'.

Auch die Mediennutzer sind an ihre soziale Mitverantwortung - als mündige Bürgerinnen

und Bürger - zu erinnern.; es kann als Teil einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit die

Entwicklung der Medien kritisch beobachten - in dem Maße, wie diese Fähigkeit durch

ethisch orientierte Medienpädagogik und einen unabhängigen Medienjournalismus

angeregt werden.

Außerdem gibt es die Gremien und Verfahren der gesetzlichen Kontrolle und

Gestaltung: das Bundesverfassungsgericht, die Parlamente, aber auch die Rundfunk-

räte und die Landesmedienanstalten. In Zeiten eines schnellen technischen und

ökonomischen Wandels des Medienbereichs sind die staatlichen Kontroll- und

Gestaltungsmöglichkeiten geringer. Damit ist eine der aktuellen Herausforderungen an

die Medienethik angesprochen.

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II.4.3. Ethik als 'innere Steuerungsressource', ihre Bedeutung vor und neben dem Recht

Als weiteres Element der wissenschaftlichen Standortbestimmung ist das Verhältnis von Ethik und Recht zu sehen. Im Unterschied zum Recht kommt die medien-

ethische Argumentation nur bei solchen Personen oder Institutionen an, die sich

selbst zu einem verantwortlichen Handeln verpflichtet fühlen (wobei eine wachsame

Öffentlichkeit hier auch etwas Druck machen kann). Die Selbstbindung ist das für die

Ethik Typische; Ethik ist eine 'innere Steuerungsressource'. Das Recht stellt mit

seinem Zwangscharakter demgegenüber eine äußere Steuerungsmöglichkeit dar. Es

wäre um die Moral im Medienbereich sicher noch schlechter bestellt, wenn es die

Sanktionsmöglichkeit des Rechts nicht gäbe und alles der Freiwilligkeit überlassen

bliebe. Es braucht beide Steuerungen, soll ein gesellschaftlich so bedeutsamer

Sektor wie der Medienbereich nicht aus dem Ruder laufen.

Das Medienrecht und die ihm folgende Rechtsprechung können aber nur bereits

erkannte Gefährdungen regeln, sind also eher retrospektiv orientiert. Matthias

Karmasin macht in seinem Artikel „Medien, in: Handbuch der Wirtschaftsethik“ auf

einige Schwierigkeiten aufmerksam, mit welchen Recht und Rechtsprechung

kämpfen und die zumindest teilweise durch medienethische Initiativen (z. B.

Selbstverpflichtungen) aufgefangen werden könnten:

- Es gibt einen großen time-lag zwischen ökonomisch-technischer Entwicklung und

der Rechtsprechung; viele Richter sind zu wenig über die Eigenart neuer Medien und

medialer Infrastrukturen informiert.

- Sowohl die klassischen Massenmedien wie die neuen Online-Medien sind heute

international agierende Medien: Ansätze zu internationalem Recht gibt es auf

europäischer Ebene, für manche Bereiche (z. B. e-commerce) auch unter Feder-

führung der USA; aber eine durchgängige öffentliche Kontrolle erweist sich als

unmöglich.

- Manche Kommunikationen, z. B. die in Intranets oder Chatrooms, spielen sich in

definierten Gruppen ab, können also ihrer Natur nach nicht staatlich kontrolliert

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werden. Wohl aber bilden sich auch dort moralische Standards aus. (dazu etwas

später)

Medienethik kann im Unterschied zum Recht eine prospektive Orientierung

bereitstellen, indem sie für sich erst etablierende Programmformen (z. B. Reality

Soaps wie 'Big Brother') die Formulierung von Richtlinien - im Sinne einer alle

Anbieter bindenden Selbstverpflichtung - vorschlägt.

II.4.4. Welches sind die grundlegenden Prinzipien einer Medienethik?

Da es im Bereich der Medien um soziale Kommunikation geht, stehen (nach

Schockenhoff) im Zentrum der Bemühungen einer diskursiven Verantwortungsethik

die Fragen nach

• der Achtung vor der Wahrheit im Medienhandeln

• der Achtung vor den Kommunikationspartnern.

• Aus dem letzten Prinzip ergibt sich die Notwendigkeit, bei normativen

Einzelaussagen der Medienethik alle am Medienprozess beteiligten Akteure

im Blick zu haben. Es muss daher ethische Gebote für die

Medienproduzenten, für Journalisten, für den Gesetzgeber, für

Medienanbieter, Verleger und schließlich für die Mediennutzer, das Publikum

geben.

Ein gültiger Ausgangspunkt: Achtung und Respekt vor der Würde jedes Menschen

Die Menschenrechte bilden auch das Fundament der demokratischen

Medienordnung: Meinungsäußerung- und Pressefreiheit; sie sind zwar nur als

formale Freiheiten institutionalisiert und bedürfen der inhaltlichen Füllung durch

mündige Staatsbürger «Dennoch sollte der Wert, den solche Grundeinstellungen für

die Medienethik haben, nicht unterschätzt werden. Sie dienen im medienethischen

Diskurs als ein normativer Rahmen, der nicht ohne weiteres in Frage gestellt werden

darf.» (Kaminsky 2000, 50)

II.4.5. Medienpädagogische Ethik

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine medienpädagogische Ethik?

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Ihre Aufgabe besteht dann darin, bei den Heranwachsenden den Aufbau der

Verantwortungshaltung im Umgang mit Medien zu fördern und dafür geeignete

Rahmenbedingungen zu schaffen. Das bedeutet letztlich, die Medienpädagogen /

Wissenschaftler als Einzelpersonen und die Medieninstitutionen müssen selbst eine

solche Verantwortungshaltung gegenüber den Medien und den Heranwachsenden in

einer mediengeprägten Alltagswelt ausbilden!

Die zentrale Frage lautet:

Wie kann und soll das Prinzip einer diskursiven Verantwortungsethik in der

Medienpädagogik praktisch werden und in allen medienpädagogischen

Berufsfeldern und Tätigkeitsbereichen als Handlungsorientierung dienen?

Medienpädagogik soll bei ihrer Teilhabe an den medialen Kommunikationsprozessen

in der Öffentlichkeit und gestützt auf einzelwissenschaftliche Erkenntnisse

(Forschungen, Theoriebildung, evaluierte Programme):

• medienpolitisch verantwortlich handeln, d.h. darauf achten, dass der

Kinder- und Jugendmedienschutz als eine wichtige Möglichkeitsbedingungen

für den Aufbau einer Verantwortungshaltung bei Heranwachsenden gesichert

ist;

• medienkritisch verantwortlich handeln, d.h., darauf achten ob und dafür

Sorge tragen, dass die Medienproduzenten und Anbieter dort, wo sie Kinder-

und Jugendliche als Zielgruppen im Blick haben, nicht nur deren Interessen,

Bedürfnisse, Wünsche und Fähigkeiten angemessen berücksichtigen, sondern

die Inhalte, Angebotsformen und Kommunikationsprozesse als

Möglichkeitsbedingungen für den Aufbau einer Verantwortungshaltung bei den

Heranwachsenden erkennen und berücksichtigen;

• medienerzieherisch verantwortlich handeln, d.h. den Erziehungspersonen

Eltern, Erzieherinnen, LehrerInnen in den verschiedensten pädagogischen

Feldern medienpädagogische Kompetenz vermitteln, ihnen Konzepte geben

und sie unterstützen in ihrem Bemühen, dass die Heranwachsenden

Medienkompetenz und eine Verantwortungshaltung im Umgang mit den

unterschiedlichsten Medien aufbauen können.

• medienpädagogisch verantwortlich handeln, d.h. die für eine

angemessene Vermittlung von Medienkompetenz bei den Heranwachsenden

erforderlichen Kenntnisse gewinnen, sichern und einsetzen, aufgrund welcher

Prozesse und unter welchen Bedingungen im Entwicklungsprozess eine mit

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der Medienkompetenz verbundene Verantwortungshaltung gegenüber den

Medien und im Umgang mit den Medien aufgebaut werden kann und welche

besondere Rolle dabei die Medien selbst spielen.

II.5. Exkurs 2: Virtuelle Identität – virtuelle Moral. Ethische Aspekte heteronomer und autonomer Moral internetbasierter Kommunikation (Rudolf Kammerl, Passau)

Die ethische Reflexion der expliziten und impliziten Handlungsnormen im Bereich der

medienvermittelten Kommunikation und Information beinhaltet auch die Aufgabe, zu

untersuchen, inwiefern Strukturen von Kommunikation moralisches Handeln begünstigen oder erschweren. Im Anschluss an internetethische Fragestellungen

werden im Folgenden Formen heteronomer und autonomer Moral internetbasierter

Kommunikation einer genaueren Betrachtung zugeführt.

1. Anonymität im virtuellen Raum begünstigt unmoralisches Verhalten

Im Bereich der medialen Freizeitgestaltung erfreut sich die internetbasierten

Kommunikation mittels Chat, Mail und News großer Beliebtheit. Der Austausch über

unterschiedlichste Themen mit völlig unbekannten Internetnutzern, sowie das

gegenseitige Kennenlernen stellt für viele einen besonderen Reiz dar. Internetnutzer

berichten jedoch auch über eine Vielzahl von Verstößen gegen einfache moralische

Prinzipien zwischenmenschlicher Kommunikation Diese reichen von kleineren oder

größeren Unhöflichkeiten - die eher als Frage der Etikette abgetan werden könnten -

über Lügen, Beleidigungen, gezielten Irreführungen bis hin zu harten verbalen

Attacken (z. B. im Sinne von sexuellem Missbrauch) und informatischen Attacken

(z.B. flooding = eine Überflutung durch Netzwerkpakete, mailbombs etc.). Diese

Verhaltensweisen werden vor allem durch die Möglichkeiten, als Internetnutzer seine

Anonymität zu wahren, und - damit einhergehend - durch das weitgehende Fehlen

von nachhaltigen Sanktionsmöglichkeiten begünstigt.

2. Heteronome (Fremdbestimmte) und autonome (selbstbestimmte) Moral in der netzbasierten Kommunikation

Für immer mehr Jugendliche wird die Kommunikation im Internet Bestandteil der

medialen Sozialisation. In ihrer moralische Entwicklung befinden sie sich im

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Übergang von heteronomen zu autonomen Moralvorstellungen. Ausgehend von den

Untersuchungen zur moralischen Entwicklung im Anschluss an Piaget und Kohlberg

gilt es zu untersuchen, welche Formen heteronomer und autonomer Moral und

welche der jeweils hierfür günstigen Strukturbedingungen (wie z. B. Chancen zu

Teilnahme an kooperativen Entscheidungsprozessen, stabile emotionale

Zuwendung, soziale Anerkennung vs. Geringschätzung, Indifferenz oder

Unberechenbarkeit in der Wertschätzung, eingeschränkte

Kommunikationsmöglichkeiten, überzogene Restriktion, sowie unklare oder

inadäquate Verantwortungszuschreibungen) in den Konstellationen internetbasierter

Kommunikation vorzufinden sind.

Das Internet mit seinen unterschiedlichen Diensten ist hierbei differenziert zu

betrachten. Chatten (plaudern, schwätzen) ist eine synchrone Kommunikationsform.

Die Gesprächspartner schreiben sich mehr oder weniger zeitgleich Texte, die in

nahezu Echtzeit auf dem Bildschirm des Gegenüber zu sehen sind. Der Schreibstil

ähnelt dem der mündlichen Konversation sehr. Soweit bei dieser Form netzbasierter

Kommunikation Konversationsregeln explizit ausgewiesen werden (z.B. in FAQs,

Netiquette, Chatiquette), sind sie meist fest vorgegeben und kaum verhandelbar. Ihre

Einhaltung wird nicht selten überzogen restriktiv von einzelnen Gruppenmitgliedern

und/ oder dem Moderator überwacht. Normverstöße können u.a. zum Ausschluss

aus dem Kommunikationskontext führen. Die Kommunikationsmöglichkeiten sind

sehr eingeschränkt, Meta-Kommunikation findet kaum statt und wird häufig von den

Teilnehmern als lästig empfunden. Anonymität, Distanz und die eingeschränkte

nonverbale Kommunikation lassen die Internetnutzer lange über die tatsächliche

gegenseitige Wertschätzung im Unklaren. Freizeitchats weisen tendenziell eine hohe Häufigkeit von moralisch problematischen Verhalten auf. Im Hinblick auf

die Moralentwicklung von Jugendlichen muss der - insbesondere unmoderierte -

Chatroom tendenziell als problematischer Raum medialer Sozialisation beschrieben

werden.

Natürlich muss auch auf die andere Seite hingewiesen werden: Im Chat können sich

auch ganz gelungene Sozialbeziehungen entwickeln. Starke subjektive Relevanz der

Kommunikation mit anderen Internetnutzern ist Vorraussetzung dafür, dass sich

stabile Beziehungen herausbilden können, in denen Wertschätzung und

Anerkennung erfahrbar wird. Virtuelle Kontakte können soziale Gratifikationen bieten

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und neue Gestaltungsräume eröffnen. Empathie und Bindung im Einzel- oder

Gruppenkontakt führen zu prosozialen Orientierungen aus denen auch soziale

Beziehung ausserhalb des Netzes entstehen können.

3. Virtuelle Identität - virtuelle Moral?

Die Informationen über die Identität der Internetnutzer sind sehr reduziert, können

weitgehend vom Kommunikator modifiziert werden und werden vom Adressaten

häufig verzerrt wahrgenommen. Für die Frage nach der individuellen Orientierung an

etwaigen moralischen Maximen ist die Bedeutung des Handelns im Internet für das

Selbstkonzept entscheidend. Für das Selbstkonzept der Internetnutzer kann

netzbasierte Kommunikation sowohl funktional im Sinne experimenteller

Identitätsarbeit sein, aber auch Realitätsflucht, Spiel oder authentische

Selbstdarstellung sein. Die Phänomen «virtuelle Identität» kann - im Rahmen

postmoderner Identitätskonzepte (Multiple Identität, Patchworkidentität) - als mehr

oder weniger entkoppelte Teilidentität interpretiert werden oder - im Rahmen

moderner Identitätskonzepte - als Kommunikationsfeld einer Gesamtidentität. Bei

geringer Identitätsrelevanz netzbasierter Kommunikation ist mit Abbruch der

Kommunikation, mit Wechseln der Virtuellen Identität und höherer Bereitschaft zu

Normverstößen zu rechnen. Eine Orientierung an bereichsübergreifenden

individuellen moralischen Überzeugungen ist insbesondere dann zu erwarten, wenn

es sich bei der internetbasierten Kommunikation um eine authentische und stabile

handelt, mit hoher Identitätsrelevanz für alle Beteiligten. Bindung zwischen den

Internetnutzern und die Wahrnehmung des Internet als moralisch bedeutsames

Handlungsfeld sind hier ebenfalls als begünstigende Faktoren zu nennen.

4. Wie können medienethische Maßstäbe für die internetbasierte Freizeitkommunikation Geltung erlangen?

Medienethik betreibt ethische Reflexion der Handlungsnormen im Bereich der

medienvermittelten Kommunikation und Information und versucht moralische Urteile

und geforderte Verhaltensweisen rational zu begründen und auf verallgemeinerbare

moralische Prinzipien zurückzuführen. Medienethik geht also über eine neutrale

Beschreibung vorfindbarer Moral und Handlungsregeln hinaus und formuliert eigene

normative Bewertungsmassstäbe für den Medienalltag.

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Bei der Freizeitgestaltung internetbasierte Kommunikation mit zunächst unbekannten

Netzteilnehmern überwiegen emotionale Orientierungen. Spielerische Aspekte,

irrationale Zuschreibungen und Stereotypisierung, sowie daraus resultierende

emotionale Überreaktionen (Flames) prägen die Verlauf virtueller Kontakte und die

Entwicklung daraus entstehende Beziehungen sehr. Statt rationale begründbarer

moralischer Prinzipien bestimmen emotionale Befindlichkeiten die Moral des

individuellen Handelns.

Die Kommunikationskultur des Internet kann nicht als eine einheitliche beschrieben

werden. In dem weltweiten Medium Internet sind sehr heterogene Subkulturen mit

kontextspezifischen Konventionen aufzufinden. Es ist anzunehmen, dass sich

medienethische Maximen bei den Internetnutzern als Bestandteil

handlungsanleitender Individualethiken nur dann etablieren können, soweit es

innerhalb und außerhalb des Mediums gelingt, mittels diskursiver Verfahren hierfür

Verbindlichkeit einzufordern. Es ist zu erwarten, dass dies nur im Kontext einer

allgemeinen moralischen Bildung gelingen kann.

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III. MEDIEPÄDAGOGIK Der Begriff „Medienpädagogik" ist relativ jung, sein Gegenstandsbereich so alt wie

die sogenannten Massenmedien. Er taucht als Fachterminus erstmals zu Beginn der

1960er Jahre im erziehungswissenschaftlichen Sprachgebrauch auf.

Ansätze und Richtungen

Auch wenn Medienpädagogik noch keine allzu lange Tradition hat, sind die

Versuche, sich aus pädagogischer Sicht in Theorie und Praxis mit Medien

auseinander zu setzen, nicht viel jünger als die Medien selbst bzw. sind natürlich an

diese gekoppelt. Nach ihrem Aufkommen zogen sie meist sehr schnell erzieherische

und bildungspolitische Maßnahmen nach sich, einmal weil man ihren vermeintlichen

Gefahren zu begegnen versuchte, zum anderen weil man ihre unterrichtsunter-

stützenden Möglichkeiten nutzen wollte. Jedoch bewegten sich diese pädagogisch

bemühten Beschäftigungen mit den Medien lange Zeit im vorwissenschaftlichen

Raum und wurden zunächst weder systematisch noch kontinuierlich betrieben.

Eine intensivere Zuwendung von Erziehern zu den Medien lässt sich seit Beginn des

20. Jahrhunderts feststellen, als der Film anfing, sich zu einem Massenmedium zu

entwickeln, in dem die meisten Pädagogen eine Quelle der Jugendgefährdung

erkannten, der „erziehlich entgegenzuwirken ist". (Dannmeyer 1907) Der Film blieb

bis zu seiner Ablösung durch das Fernsehen das mediale Hauptproblem besorgter

Eltern und Lehrer, und so war das, was heute als Medienpädagogik bezeichnet wird,

bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts eigentlich Filmerziehung. Als eigen-

ständiger wissenschaftlicher Forschungs- und Lehrbereich hat sich die Medien-

pädagogik erst in den letzten vier Jahrzehnten an Hochschulen etabliert. Sie findet

sich heute als universitäre Disziplin keineswegs nur in erziehungswissenschaftlichen

Verankerungen wieder, teilweise ist sie auch publizistik- und kommunikations-

wissenschaftlichen, soziologischen, psychologischen oder kunst- und kulturwissen-

schaftlichen Abteilungen angegliedert, was nicht zuletzt auf ihren interdisziplinären

Charakter hinweist.

Medienpädagogik verstand sich in ihren Anfängen mit dem Aufkommen des Films

zunächst ausschließlich als ein Präventivinstanz, die Kinder, Jugendliche und auch

Erwachsene vor den Gefahren dieser neuen bewegten Bilder bewahren wollte. Mit

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der wachsenden Popularität der Medien, besonders mit der Verbreitung des

Fernsehens, wurde die Erfolglosigkeit einer solchen Bewahrpädagogik deutlich, und

es setzte ein Umdenken innerhalb der Medienpädagogik ein. Statt Bewahrung vor

den Medien hieß es nun: Hinführung zu ihrer kritischen Nutzung. Gleichzeitig ent-

deckte man die Möglichkeit, Medien verstärkt in den Dienst von Unterricht und Aus-

bildung zu stellen. Medienpädagogik reduzierte sich teilweise auf Bildungs-

technologie. Diese Sichtweise geriet in den 1970er Jahren ins heftige Kreuzfeuer der

Kritischen Erziehungswissenschaft, deren Einfluss sich auch auf die Medienpä-

dagogik bemerkbar machte: Es kam zu einer Wende im medienpädagogischen

Denken und Handeln; Wende hier zu verstehen als emanzipatorische Bestrebung

und nicht als Rückbesinnung auf überholte Traditionen. Nicht mehr die technischen

und didaktischen Möglichkeiten der Medien standen im Mittelpunkt, sondern ihre

gesellschaftliche Relevanz und ihr konkreter Nutzen für den Einzelnen. Damit machte

sich die sogenannte emanzipatorische bzw. handlungs- und teilnehmerorientierte

Medienpädagogik auf den Weg, deren Hauptanliegen es war, Kommunikations-

strukturen zu demokratisieren. Diese Medienpädagogik verfolgte verstärkt das Ziel,

Medien auch zur Veränderung von Handeln und Verhalten einzusetzen und die

Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung durch aktiven eigenen Umgang mit Medien

zu fördern. (Aktive Medienarbeit) Ein solches Verständnis von Medienpädagogik

hat sich mit den beginnenden 1980er Jahren weitgehend durchgesetzt und in

jüngerer Zeit eine Neuakzentuierung durch den Standortwechsel medienpäda-

gogischer Fragestellung erfahren, die sich nicht mehr primär von den Medien her

bestimmt, sondern vom Nutzer, der mit Medien handelnd seinen individuellen

Lebensalltag arrangiert. Dieser pädagogische Ansatz der reflexiv-praktischen

Medienaneignung (Schorb 1995) stellt den Menschen als Subjekt der Medien-

entwicklung, und zwar als Rezipient und Kommunikator in den Mittelpunkt.

Die Geschichte der Medienpädagogik zeigt insgesamt, dass sie eine Geschichte der

pädagogischen Reaktionen auf die jeweils „neuen Medien" und die durch sie

hervorgerufenen gesellschaftlichen Irritationen ist. Medienpädagogische Konzepte

entstehen meist als zeitbedingte Antwortversuche auf die individuellen und

gesellschaftlichen Fragen, die durch Medien verursacht werden; sie sind immer in

engem Zusammenhang mit den jeweiligen politischen, ökonomischen und

medientechnologischen Entwicklungen zu sehen. Der Ruf nach Medienpädagogik

ertönt eigentlich immer in Umbruchsituationen besonders laut, in denen gängige

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Orientierungs- und Handlungsmuster aufgrund wachsender Verhaltensunsicherheit

gegenüber „Medienfortschritten" brüchig werden und dadurch das subjektive wie

objektive Bedürfnis nach Medienpädagogik steigt. Dies erweist sich derzeit in

geradezu typischer Form im Zusammenhang mit der Ausbreitung der digitalen

Medien- und Netztechnologien wieder einmal aufs Neue.

So sind auch das Aufkommen des Begriffs und die Entstehung der Disziplin in den

sechziger Jahren in doppelter Weise Indizien für die enge Bindung der Medien-

pädagogik an die gesellschaftliche Entwicklung. Einmal ist Medienpädagogik - wie

Erziehung überhaupt - in ihrer Entfaltung weitgehend abhängig vom Stellenwert, den

ihr die gesellschaftsbestimmenden Kräfte zuweisen; zum anderen ist sie als eine

Disziplin, die an die technische Entwicklung gebunden ist, in besonderem Maße mit

politischen und ökonomischen Konjunkturen verflochten. Vor dem Hintergrund der

heutigen Medienrealität mit ihren tiefgreifenden Einwirkungen auf Staat, Gesellschaft

und deren Subsysteme hat die Medienpädagogik derzeit denn auch in dem Sinne

Hochkonjunktur, dass ihr von den Protagonisten aus Politik und Wirtschaft ein

erheblicher Bedeutungszuwachs zugesprochen wird. So bezeichnete z. B. 1998 der

damalige deutsche Bundespräsident Herzog die Vermittlung von Medienkompetenz

als bestimmenden Faktor für Lebenskompetenz in der heutigen Gesellschaft übe-

haupt.

Allerdings bleibt solcher Zuspruch bisher weitgehend ideell und wird nicht annähernd

materiell genug, um damit in ausreichendem Umfang Medienpädagogik betreiben zu

können. Wenn aufgrund der fortschreitenden Usurpation fast aller Lebensbereiche

durch die expandierende Multimediawelt von Politikern immer häufiger landesweit

arbeitende medienpädagogische Strukturen als gesellschaftspolitische Aufgabe

ersten Ranges gefordert werden, bleibt dies bisher folgenlose Willenserklärung. In

der wachsenden Diskrepanz zwischen zugewiesenen Pflichten und zugewiesenen

Mitteln wird ein ständig steigendes ambivalentes Verhalten der Kultur- und

Bildungspolitik gegenüber medienpädagogischen Belangen manifest. Wie immer

auch die Förderung in Zukunft aussehen wird, die unbestreitbare Aufgabener-

weiterung der Medienpädagogik ist ein Faktum, das nach einer weit stärkeren Pro-

fessionalisierung auf ihren verschiedenen Handlungsfeldern verlangt.

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Wenn derzeit von einem Umbruch der Medienpädagogik gesprochen werden kann,

dann nicht als rigorosem Bruch mit früheren medienpädagogischen Richtungen und

Ansätzen, sondern als deren Überprüfung und vorwärtsführende Revision unter

veränderten technologischen und kommunikationspolitischen Ausgangs-

bedingungen. Trotz Umbruch sind auch heute noch oder in Folge der Diskussion um

Video- und Fernsehgewalt wieder bewahrpädagogische Tendenzen virulent, ebenso

wie es in bewahrpädagogischen Blütezeiten bereits Versuche alternativer Medienarbeit gab. Zum anderen ist festzustellen, dass auch die bildungstech-

nologisch-funktionale Medienpädagogik in Folge der steigenden Akzeptanz digitaler

Medien als Lehr- und Lernmittel etwa im Rahmen von E-Learning heute wieder

stärkere Bedeutung erlangt.

Medienpädagogische Ansätze bestehen also nebeneinander, entwickeln sich in

gegenseitiger Kritik. Welche Position Medienpädagogik bezieht, welche Aufgaben sie

sich zu welchen Zwecken stellt, hängt entscheidend von ihrer theoretischen Fixierung

und ihrer Bindung an gesellschaftliche Vorgaben ab. Je nachdem, ob sie sich mehr

der humanistischen gesellschaftlichen Fortentwicklung, eher der Konservierung

überkommener historisch bedingter Normen oder dem an ökonomischer Rationalität

orientierten technischen Fortschritt verpflichtet, wird sie zu unterschiedlichen Ziel-

kategorien und Handlungsmodellen kommen. Eine einzig gültige Medienpädagogik

gab es zu keiner Zeit, wohl aber dominierende Richtungen; zum anderen besteht oft

eine Diskrepanz zwischen dem, was an medienpädagogischen Zielkategorien und

Handlungsmodellen formuliert wird, und dem, was in der Praxis tatsächlich betrieben

wird bzw. realisierbar ist.

Zielkategorien der Medienpädagogik

So ist auch die heutige Situation der Medienpädagogik als Theorie und Praxis nicht

losgelöst zu sehen von ihren unterschiedlichen, geschichtlich gewachsenen

Zielkategorien, die sich für uns in folgenden Begriffen repräsentieren: Bewahren – Informieren - Sensibilisieren - Aktivieren - Emanzipieren - Funktionalisieren. Bei

dieser Zielkategorisierung, die gewiss nur eine von mehreren möglichen ist, steht der

Mediennutzer im Vordergrund. Die Ziele definieren sich danach, wie medienpäda-

gogische Ansätze ihn sehen, letztendlich danach, was Medienpädagogik beim

Nutzer, bzw. mit und für ihn erreichen will. Dabei stehen die verschiedenen Zielka-

tegorien nicht exklusiv für einzelne medienpädagogische Ansätze, sondern diese

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vereinen in der Regel mehrere dieser Ziele, unterscheiden sich aber durch deren

unterschiedliche Gewichtung.

• Bewahren: (welche Gefahren bergen Medien?) Medien waren und sind immer dann von besonderem pädagogischen Interesse, wenn man die Jugend durch sie bedroht glaubt. Die Bedrohung durch Videogewalt, Brutalität und Sex in Fernsehprogrammen, Computer-spielen und auf Internetseiten steht auch heute wieder im Mittelpunkt der Gewaltwirkungsdiskussion, denn die über Kinder und Jugendliche herein-schwappenden Wogen medial vermittelten Horrors lassen Erzieher und Politiker wieder einmal erstarren und nach Dämmen zum Aufhalten der Flut rufen. Die Forderung nach Verstärkung des gesetzlichen Jugendmedien-schutzes und die Hoffnung auf die Präventivkraft der Medienpädagogik sind in solchen Situationen gängige Reaktionsmuster, wie es wieder einmal die vielen vorschnellen und simplifizierenden Schlussfolgerungen über die Medienbe-dingtheit des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium belegt haben, mit denen vor allem Politiker rasch zur Hand waren. So werden der Schutz der Heranwachsenden vor schädlichen Medieneinflüssen (Jugendmedienschutz) und das Zurückdrängen medialer Freizeitaktivitäten keineswegs nur vom Eifer beflissener Erzieher bestimmt, sondern beides wird ihnen gerade von den-jenigen abverlangt, die politisch für die als Liberalisierung verkaufte Kom-merzialisierung des Medienmarktes und damit auch für den Anstieg der Mediengewalt verantwortlich sind. Der Pädagoge als Hirte, der die Schafe hüten und vor den reißenden Wölfen des Bildschirms bewahren soll, erscheint auch derzeit wieder als Wunschbild so vieler Medien- und Bildungspolitiker. Medienpädagogik als bloße Prävention wird zwar heute von der großen Mehrzahl der Medienpädagogen abgelehnt, kennzeichnet aber noch immer einen Teil pädagogischer Praxis, der von der „Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen durch Medien" ausgeht. Die beiden Hauptprobleme dieser Art von Pädagogik sind das Operieren an Symptomen und die von realer Gewalt isolierte Betrachtung medialer Gewalt, denn Auswirkungen medialer Gewalt lassen sich pädagogisch nur sinnvoll erfassen und aufarbeiten, wenn man sie mit Formen und Ursachen der im Alltag real erlebten Gewalt in Bezug setzt. Außerdem bewahrheitet sich in diesem Zusammenhang u.a. auch die triviale Erfahrung aus der Erziehungspraxis, dass Kinder und Jugendliche mit einer Pädagogik der Gebote und Verbote bestenfalls nicht angesprochen werden, schlechtestenfalls aber durch striktes Verbot das Schädigende erst für attraktiv halten.

• Informieren: (wie funktionieren Medien?) Die Vermittlung von Kenntnissen über Medien ist Grundlage jeder medien-pädagogischen Arbeit und findet sich als Zielvorgabe eigentlich in der Prä-ambel einer jeden Medienpädagogik. Die Unterschiede liegen bei den einzelnen medienpädagogischen Ansätzen vor allem darin, ob und wie mit diesem Medienwissen weitergearbeitet wird. Wissen kann kognitive Ablagerung bleiben, es kann aber auch weiterführende Prozesse initiieren. Informiertheit kann sich selbst genügen, aber auch als Voraussetzung für kritische Rezeption, Medienanalyse und Medienhandeln genutzt werden, denn nur wer über Medien aufgeklärt ist, kann sie verstehen, hinterfragen und zum eigenen Nutzen handhaben. Mit der Zielkategorie Informieren wird im Rahmen von Medienkunde bzw.

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Medienerziehung auf vielen Bildungsfeldern Wissen über Organisation, Struktur, politische Bedeutung, Arbeits- und Wirkungsweisen der Medien verbreitet. Allerdings wird schulische Medienkunde/-erziehung im Rahmen der Fächer Politische Bildung und Sozialkunde meist als reine Institutionenkunde betrieben, die in der Regel nicht funktionstüchtig werden kann, weil die vermittelten Kenntnisse Faktenwissen bleiben und nicht auf Handlung ausgerichtet sind.

• Sensibilisieren: (wie manipulativ sind Medien?) Mit der Zielkategorie der Sensibilisierung treten medienpädagogische Kon-zepte an, die den Mediennutzer durch Information und Aufklärung gegen mögliche Mediengefahren immunisieren wollen, indem sie im Rahmen rezeptiver Medienarbeit die Manipulationsmechanismen und die gesell-schaftliche Bedingtheit der Medien durchschaubar machen. Wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Rezipienten durch eigene Analyse der Medien lernen, die in den Inhalten verborgenen Interessen der Kommunikatoren zu entschlüsseln. Medien sollen als Herrschafts- und Machtinstrumente heraus- und infragegestellt werden. Diese reflexive, medien- und gesellschaftskritische Pädagogik versucht den Warencharakter medialer Kommunikate und ihre Abhängigkeit von den Produzenten-interessen, letztlich den Zusammenhang zwischen „Medien und gesellschaft-lichem Bewusstsein" zu entschleiern. Ziel dieser Medienpädagogik ist der kritische Rezipient, der die ökonomischen und politischen Implikationen der Massenkommunikation kennt und mit ihnen umzugehen weiß, ohne sich von ihnen manipulieren zu lassen.

• Aktivieren - Emanzipieren: (wie können Medien nutzbar gemacht werden?) Mit den handlungsorientierten Ansätzen in den Sozial- und Erziehungs-wissenschaften und neuen medientechnischen Voraussetzungen wie etwa tragbaren Videorecordern, entstand in den 1970er Jahren eine neue medienpädagogische Zielkategorie. Unter vielen Synonymen wie prozess- und handlungsorientierte, kommunikative, politische, interaktive oder kritisch-emanzipatorische Medienpädagogik beabsichtigte sie, ihren eigenen Blickwinkel grundlegend zu verändern. Nicht mehr um den Medienkonsum und den Einfluss der Medien auf die Menschen sollte es primär gehen, sondern umgekehrt auch und vor allem um den Einfluss, den die Konsumenten auf die Medien nehmen können und sollen. Neben der Medienkritik und der notwendigen Auseinandersetzung mit medialen Inhalten werden dabei Möglichkeiten erprobt, das Verhältnis von Produzent und Konsument prinzipiell als umkehrbar zu gestalten. Kurz und als Schlagwort: aus Medienkonsumenten sollten Medienproduzenten werden. Praktisch wirkte sich diese Medienpädagogik zunächst weniger im institutionalisierten Bildungswesen als vielmehr in den offenen Lernräumen aus. Es bildeten sich vielerorts freie Gruppen, die mit sozialem, politischem, z.T. auch primär ästhetischem Anspruch bemüht waren, Medien, insbe-sonders das Medium Video, eigenen, selbstbestimmten Zwecken dienlich zu machen. Das Problem dieser Pädagogik war zunächst, dass sie am Rande des pädagogischen Betriebs existieren musste. Eine Modifikation des Aktivierens stellt die medienpädagogische Fokussierung des Emanzipierens dar: Der Mediennutzer soll über das Verstehen seiner privaten, beruflichen und politischen Umwelt zu ihrer aktiven Mitgestaltung gebracht werden. Voraussetzung für eine solche Mitgestaltung ist die Fähigkeit, eigene Standpunkte und Bedürfnisse in wirksamer Form darzustellen, mithin an

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öffentlicher Kommunikation teilzunehmen, die immer mehr eine Kommunikation durch Medien ist. Emanzipatorische Medienpädagogik bedeutet deshalb vor altem auch praktische Medienarbeit, bei der das eigene reflektierte Medienhandeln Vehikel der Erkenntnisgewinnung und Interessartikulation zugleich ist. Mit emanzipatorischer Zielsetzung will Medienpädagogik durch Vermittlung von Kommunikations- und Handlungskompetenz dazu führen, dass sich der ansonsten passive und stumme Rezipient aus seiner Sprachlosigkeit und aufgedrängten Konsumhaltung befreit.

• Funktionalisieren: (wie `Bildungs´-wirksam sind Medien?) Wenn Medien systematisch und unter Kalkulation ihrer Wirkungen zum Erreichen vorgegebener Ziele eingesetzt werden, die im Bewusstsein oder Verhalten des Rezipienten eine Veränderung im Sinne des Kommunikators erreichen wollen, kann man von einer Funktionalisierung der Mediennutzer sprechen. Diese Zielsetzung ist etwa im Bereich der Werbung oder politischen Propaganda offensichtlich. Aber es gab und gibt auch eine Pädagogik, die in den Fußstapfen des technischen Fortschritts Lernende zu Medienkon-sumenten funktionalisieren möchte. Bereits vor vier Jahrzehnten ereilte uns lange vor der Einführung des Informatikunterrichts die erste Welle computergestützter Unterweisung, die mit durchstrukturierten und bis ins feinste Lernziel ausformulierten Medien-curricula den Unterricht rationalisieren wollte. Diese in den 1960er Jahren so neue Pädagogik scheiterte nicht - wie bisweilen behauptet - an der Technik-feindlichkeit der Pädagogen, sondern an der einseitigen funktionalistisch-technokratischen Ausrichtung ihrer Protagonisten und an ihrem eigenen Absolutheitsanspruch, das Bildungswesen von Grund auf revolutionieren zu wollen. Medienpädagogik wurde hier weitgehend auf Bildungstechnologie reduziert, die in den damals neuen Medien kybernetisch funktionierende Qualifizierungsinstrumente sah. Gerade weil derzeit als Folge einer erneuten Medienfaszination manches bildungspolitische Statement etwa zur infor-mationstechnischen Bildung einen Rückfall in instrumentell didaktisches Denken anzeigt, kann nicht genug betont werden, dass der Funktionalisierung der Medien für die Bildung und damit der Funktionalisierung des Lernenden durch Medien enge Grenzen gesetzt sind. Für den Bildungsbereich kann Medieneinsatz nur dann Fortschritt bringen, wenn er nicht Ergebnis des technisch Machbaren ist, sondern unter dem Primat pädagogischer Erfordernisse geschieht. (Mediendidaktik)

Konsequenzen für eine zeitgemäße Medienpädagogik

Betrachtet man die derzeitige Diskussion über Selbstverständnis, Aufgaben und

Ziele der Medienpädagogik, dann wird deutlich, dass in ihr Aspekte aller oben

charakte-risierten Zielkategorien - wenn auch mit ganz unterschiedlichen

Gewichtungen - virulent sind. Inhaltliche Innovationen und Herausforderungen gehen

in dieser Diskussion vor allem von zwei massiven Veränderungen aus:

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• vom Bedeutungs- und Funktionswandel der Medien und der damit

verbundenen Aufgabenerweiterung der Medienpädagogik hin zu einer

ganzheitlichen Medienbildung;

• von der Konzentration auf Medienalltag und Medienhandeln der Nutzer im

Rahmen einer Kompetenz aufbauenden, reflexiv-praktischen

Medienpädagogik.

Bedeutungswandel der Medien und Aufgabenerweiterung der Medienpädagogik

Medien waren bisher aus pädagogischer Sicht vor allem als Freizeitfaktor und

Unterrichtsmittel interessant. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, die

staatlich gestützte und politisch gewollte Veränderung der Medienlandschaft hat die

Bedeutung der Medien in einer Weise erhöht, die eine solch partielle Perspektive

nicht mehr zulässt. Medien, insbesondere der omnipräsente Computer, das

weltumspannende Internet, die allzeit und überall verfügbare Mobilkommunikation

greifen zentral in alle Lebensbereiche ein, sofern sie diese nicht schon steuern. Auf

dem Arbeitssektor sind Medien integraler Bestandteil von Produktion und Dienst-

leistung, als auch bei der Organisation des Alltags (im privaten als auch im

beruflichen) insgesamt. Im Bereich der Freizeit binden sie die Menschen in

wachsendem Maß nicht allein an den Konsum audiovisueller Medien, sondern sie

werden auch immer mehr zum multimedialen Spielpartner (Computerspiele). Und

auch in das Feld der Pädagogik, in die Bildungsvollzüge dringen Medien ständig

weiter ein: Das virtuelle Klassenzimmer ist längst keine Utopie und E-Learning keine

Randerscheinung mehr.

Jede Form der Information und Kommunikation, die sich nicht des direkten

zwischenmenschlichen Kontakts bedient, kann in einem Netz zusammengefasst,

gesteuert, maschinell verarbeitet und gespeichert werden. Das betrifft persönliche

telefonische Mitteilungen ebenso wie die Übertragung von Computerdaten oder

Fernsehfilmen. Die digitale Vernetzung verschiedener Techniken eröffnet die

Möglichkeit, Informationen zu einer Ware zu machen, zu der potentiell jeder als

'Kunde' zu jeder Zeit und an jedem Ort Zugang hat.

Diese multimedialen Errungenschaften haben gravierende soziale Folgen.

- Sie verändern die Struktur der Arbeit, wenn sie menschliches Wissen durch

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maschinelles ersetzen;

- sie verändern die Struktur von Herrschaft, indem sie das Leben der Bürger,

zumindest von der Möglichkeit her, totaler Transparenz preisgeben;

- sie greifen ein in die Struktur menschlichen Wissens, indem sie sich in weiten

Bereichen die Speicherung und Bearbeitung des Kognitiven aneignen;

- sie strukturieren das Vergnügen, indem sie nahezu jede Form des Amüsements

vom Sportereignis bis zum Cybersex als mediale Darbietung genießbar machen.

Medien beanspruchen und beeinflussen das Handeln, Denken und Erleben des

Menschen heute in seiner ganzen Person. Je mehr die Medien durch Verein-nahmung immer weiterer Lebensbereiche an Bedeutung zunehmen, desto wichtiger wird die pädagogische Auseinandersetzung mit den Einflüssen der Medien auf den Menschen. Medienpädagogik muss ihrerseits darauf mit einem komplexen Denk- und Handlungsansatz antworten, sie muss mehr als bisher die Zusammenhänge zwischen den technologischen, pädagogischen, politischen und ökonomischen Implikationen der Medien sehen und sich interdisziplinärer orientieren. Sie muss das Verhältnis Mensch - Medien mit einer ganzheitlichen Fragestellung angehen und die Erkenntnisse von Wissenschaften stärker einbeziehen, die sich unter anderen, aber für die pädagogische Theoriebildung und Praxis unverzichtbaren Gesichtspunkten mit dem Problembereich Medien auseinandersetzen. Evident sind die Verbindungen

der Medienpädagogik zur Kommunikationswissenschaft), Psychologie, Soziologie,

ergänzt durch Politologie und Ökonomie, sowie in steigendem Maß zur Informatik.

Die fortschreitende Mediatisierung (Unterwerfung) des Alltags mit ihrer zunehmenden

Visualisierung der Information macht die Notwendigkeit einer Kooperation auch mit

der Medizin, speziell etwa mit der Hirnphysiologie deutlich, die der Medienpädagogik

Erkenntnisse über die Verarbeitung elektronischer Monitorbilder und die durch sie

möglicherweise bewirkten Wahrnehmungsveränderungen in den Köpfen der Nutzer

liefern kann. Schließlich - um ein letztes Beispiel zu nennen - muss sich

Medienpädagogik um Ansätze der Bionik als Grenzwissenschaft zwischen Biologie

und Technik kümmern, die versucht, menschliche Kognition und Computerlogik in

Einklang zu bringen bzw. austauschbar zu machen.

Ausgehend von dem beschriebenen Funktions- und Bedeutungswandel der

Medienpädagogik und dem Tatbestand, dass sich unsere Gesellschaft aufgrund der

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Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitaler Kommunikationstechnologie zu

einer Wissensgesellschaft entwickelt, deren wesentliches Merkmal mediatisierte Formen von Kommunikation und Wissensaneignung sind, ist Medienpädagogik

derzeit dabei, die überkommenen Muster von medialer Kommunikation und

Medienhandeln zu überdenken, um zu einem erweiterten Selbstverständnis zu

finden. In diesem Zusammenhang hat sich mit dem Begriff „Medienbildung" seit

Ende der 1990er Jahre ein neuer Terminus seinen Weg in die medienpädagogische

Diskussion gebahnt. Medienbildung wird u.a. als integraler Bestandteil von

Allgemeinbildung, als wichtiger Aspekt der Persönlichkeits- und Menschenbildung,

als Kompetenz für Weltaneignung oder als Habitus und persönlichkeitsbestimmende

Haltung gegenüber den neuen Medien beschrieben. Die inhaltliche Belegung dieses

Begriffs gerät in dieser Diskussion in ein fast schon verdrängungsartiges Konkurrenz-

verhältnis zu dem fachsprachlich seit langem fest etablierten Terminus der Medien-kompetenz. Gewiss haben neue Termini ihren Sinn, wenn sie in Bezug auf die be-

stehenden sinnerweiternd sind, einen Mehrwert an Klarheit und Information auf-

weisen und nicht nur einen belanglosen Etikettenwechsel bewirken. Der termino-

logische Aufschwung von Medienbildung in Konkurrenz zu Medienkompetenz ist

insofern erstaunlich, als hier kein erkennbarer innovativer Mehrwert sichtbar wird.

Kompetenz für Medienalltag und Medienhandeln

Medienpädagogik, die sich diesem Verständnis verpflichtet fühlt, hat sich als

reflexivpraktische Medienpädagogik zu einer Disziplin entwickelt, die nicht mehr nur

auf die Vorgaben der Medienentwicklung reagiert und versucht, im Sinn einer

funktional-technologischen Pädagogik zur Aneignung der Medien beizutragen oder

dieselben ihrer problematischen Inhalte wegen abzulehnen. Vielmehr versucht sie,

die Medien als wesentliche Mitgestalter heutiger Kultur der bewussten Nutzung der

Subjekte unter Beibehaltung ihrer sozialen Verantwortung unterzuordnen. Dies

geschieht durch die Vermittlung von Medienkompetenz. Ziel dieser Medienpädagogik

ist, dass die Subjekte sich Medien selbsttätig aneignen und diesen Aneignungs-

prozesses als kritisch reflektierten zu unterstützen.

Reflexiv-praktischer Medienpädagogik ist es also einerseits darum zu tun, sich mit

den Medien, den Rezipienten und den Rezeptionsbedingungen kritisch und

analytisch auseinander zu setzen und andererseits die Menschen zu befähigen, die

Medien als selbständig handelnde zu nutzen, sie also nicht nur zu konsumieren.

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Mediales Handeln hat dabei zwei Inhaltskomponenten. Zum einen wird der Prozess

der Medienrezeption als einer der aktiven Aneignung, nicht der passiven

Beeinflussung angesehen und zum anderen werden Medien prinzipiell als

Werkzeuge betrachtet, die dem Menschen zur Gestaltung seiner Lebenswelt zur

Verfügung stehen (sollen).

Die frühere Medienpädagogik konzentrierte sich auf die Aufklärung der im Netz der

Medien gefangenen Rezipienten und auf ihre Befreiung aus der passiven

Konsumentenrolle. Medienpädagogisches Denken und Handeln waren geprägt von

der Dichotomie (d.h. Zweiteilung, Gliederung) einer gesellschaftlich gesicherten

Allmacht der Medien auf der einen und einer ihnen gegenüber weitgehenden

Ohnmacht der „Konsumenten" auf der anderen Seite. Mediale Sozialisation wurde

verkürzt als monodirektionaler (einseitiger) Prozess gesehen, indem nur nach der

Bedeutung der Mediennutzung für die Sozialisation des einzelnen gefragt wurde,

nicht aber nach dem Einfluss individueller Sozialisationsverläufe auf den Umgang mit

Medien. Medienhandeln ist nicht nur eine Funktion der vorfindbaren Mediensituation,

sondern ebenfalls ein Ergebnis der individuellen Lebensgeschichte. „Medien sind

relevante Bestandteile des Alltags. Die für das Subjekt bedeutsame

Medienwirklichkeit wird durch dessen sinnhaftes Handeln konstituiert." (Rogge).

Veranschaulicht wird diese Sicht durch den Begriff der Medienaneignung, der auf

Seiten der Subjekte verdeutlicht, dass diese sich nicht den Medienangeboten

unterwerfen, sondern sich diese auswählen und aneignen, moderiert durch ihre

biografischen Erfahrungen und eingebettet in ihren je spezifischen Alltag. Der

Medienalltag ist ein Segment des dem Willen handelnder Individuen unterworfenen

Alltags. Er umfasst die Medien, die dem Menschen in seinem Lebenskontext

gegenüberstehen, und die er in diesen einbezieht. Das, was der einzelne mit den Medien macht, wie und zu welchen Zwecken er sie nutzt, stellt sein Medienhandeln dar.

Medienpädagogik ist die Vermittlungsebene zwischen Medienalltag und

Medienhandeln. Die Zielperspektiven der Medienpädagogik sind aus diesem

Spannungsfeld zu entwickeln. Pädagogische Erklärungen und Modelle beziehen ihre

inhaltlichen Schwerpunkte und methodischen Vermittlungsprinzipien einerseits aus

dem vorgegebenen Medienalltag und andererseits aus der subjektiven Aufnahme

und Ausprägung dieses Alltags, dem Medienhandeln der Subjekte.

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Medienpädagogische Forschung und Praxis hat sich letztlich darauf zu konzen-

trieren, die Souveränität von Medienhandeln zu stärken. Will die Medienpädagogik

diese Forderung einlösen, so ist eine verstärkte rezeptionszentrierte Perspektive im

medienpädagogischen Forschen unabdingbar, die ihr Interesse neben der Auf-

klärung des objektiven Medienalltags ganz besonders auf das Verstehen und die

Rekonstruktion des subjektiven Medienhandelns richtet sowie auf die Offenlegung

von Bedingungen, die den Subjekten eine möglichst weitgehende Mitgestaltung

medialer Kommunikationsprozesse eröffnen.

Literaturempfehlungen:

Hoffmann, B.: Medienpädagogik. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Paderborn 2003.

Schorb, B.: Medienalltag und Handeln. Medienpädagogik in Geschichte, Forschung und Praxis. Opladen 1995.

Vollbrecht, R.: Einführung in die Medienpädagogik. Weinheim 2001.

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IV. MEDIENDIDAKTIK

Mediendidaktik ist ein Teilgebiet der Medienpädagogik und bezeichnet alle

pädagogischen Beschäftigungen mit Medien. Sie beschäftigt sich mit der Funktion

und Bedeutung von Medien in Lehr- und Lernprozessen und geht auf die gleichen

Fragen zurück, wie die allgemeine Didaktik. Es soll geklärt werden, wie man durch

die Benutzung von technischen Medien Lehr- und Lernprozesse im Unterricht

verbessern kann und wie diese Mittel methodisch einsetzbar sind.

Geschichte

Der Einsatz von Medien als Hilfsmittel und zur Veranschaulichung kann schon bei

Comenius festgestellt werden. In der älteren Mediendidaktik ging es bei Medien-

entscheidungen häufig um Fragen, wann und unter welchen Rahmenbedingungen

ein Tafelbild angemessen ist, wann Overheadfolien, Lehrfilme, Dias oder Modelle

eingesetzt werden sollten.

Sie bezog sich hauptsächlich auf die Institution Schule. Durch die wachsende

Verbreitung digitaler Medien in allen Bereichen der Gesellschaft stehen inzwischen

auch andere Zielgruppen und Einsatzbereiche im Mittelpunkt. Zum einen handelt es

sich dabei um die betriebliche Bildungsarbeit, die Weiterbildung sowie das nicht-

institutionalisierte, informelle Lernen in der Arbeit und Freizeit.

In den 20er Jahren galt das Konzept: Medien als Unterrichtsreihe. Für kurze Zeit

ersetzten die Medien die Informationsweitergabe des Lehrers. Dem Lehrer blieben

die Aufgabe zur Nachbereitung sowie die Integration des Stoffes in Lehrgängen.

In den 60er Jahren sprach man von Medien getragenen Unterrichtarrangements.

Dabei übernahmen die Medien über eine längere Zeitspanne die traditionelle

Einweisungsrolle des Lehrers.

In den 70er Jahren gab es die so genannte Gegenbewegung. Die Medien wurden

den Schülern als Kommunikationsmittel zugewiesen. Dadurch kam es zur

Ermöglichung von Öffentlichkeit, Darstellung von Erfahrungen und Bedürfnissen,

zum Ausschluss komplizierter Medien, zur Anregung zur Kommunikation

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(Pinnwände, Collagen, Dokumentation)und Nutzung offener multimedialer

Lernumgebungen.

Aufgaben und Ziele

Zu den Aufgaben und Zielen der Mediendidaktik gehört unter anderem die

Vermittlung von Fertigkeiten, um ein fachliches Lehrziel durch die Einsetzung von

Medien zu erreichen und konkrete Unterrichtszusammenhänge mittels neuer

Technologien darzustellen. Der Umgang mit Medien soll den Unterricht effektiver und

das Lernen effizienter gestalten (Ziel-Mittel-Relation). Dabei dienen diese als

kommunikationsförderndes Mittel welches zu einer schülerorientierteren Funktion

führen soll. Die Mediendidaktik hat es sich zur Aufgabe gemacht aktivere

Auseinandersetzungen der Schüler/innen mit ihrer Lernumgebung zu fördern.

Empirische Forschungsansätze der Mediendidaktik

Die empirischen Forschungsansätze sind bei der Beantwortung der Frage, welche

Konzepte zur Verwendung von Medien in Lehr-Lernprozessen sich unterscheiden

lassen und welche Überlegungen damit verbunden sind, von Bedeutung. Hierbei wird

zwischen Untersuchungen zu allgemeinen Medieneffekten und zu speziellen Medienmerkmalen von interaktionsorientierten Studien und Evaluationen

unterschieden. Außerdem sind diese Forschungsansätze mit verschiedenen

theoretischen Annahmen und Ansätzen zur Mediengestaltung verbunden, nämlich

die medientaxonomischen Ansätze (Differenzierung der Medien bezüglich ihrer

Eigenschaften und Eignungen für unterschiedliche Lehraufgaben) und die

lerntheoretischen Ansätze (Bezüge zu unterschiedlichen Grundorientierungen).

Insgesamt unterscheidet man dann letztendlich zwischen fünf Konzepten der

Medienverwendung: Lehrmittelkonzept, Arbeitsmittelkonzept, Bausteinkonzept,

Systemkonzept, Lernumgebungskonzept. (vgl. Tulodziecki)

Vorzüge der Mediendidaktik

Die Vorzüge der Mediendidaktik bestehen im raschen Zugriff auf eine umfangreiche

Materialauswahl in verschiedenen medialen Formen. Außerdem erfolgt eine schnelle

Rückmeldung auf die Lernaktivitäten der Schüler und Schülerinnen (z. B. bei

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Computerprogrammen), deren Eigenverantwortlichkeit und -aktivität gestärkt werden

können bzw. sollen. Medien dienen der Motivation, da man sich die Computer-

begeisterung der Kinder zu Nutze machen kann. Des Weiteren unterstützen sie

einen schülerzentrierten, individualisierten, sowie handlungsorientierten Selbstlern-

prozess. In der Regel stellt der Umgang mit Medien eine offene Lernumgebung dar.

Durch Eigeninitiative soll es bei den Schülern zu selbstbestimmtem Lernen führen,

wodurch es auch zur Entlastung des Lehrers kommt. Ein weiterer Vorteil besteht in

der selbstständigen Informationsbeschaffung (Interaktion mit ihrer Lernumgebung),

sowie der Möglichkeit, Problemanalysen durchzuführen und Lösungen eigenständig

zu erarbeiten.

Kritische Anmerkung

Lernprozesse lassen sich nicht beliebig herstellen oder durch ausgefeilte

Technologien optimieren, wie ein Produkt. Selbst durch die beste Technik kann

Bildung nicht erzeugt, sondern nur ermöglicht werden. Letztendlich bedeutet sie

Selbstbildung, da das (Mit-)Tun des Lernenden die Voraussetzung für eine

bestimmte Richtung und Intensität des Lernprozesses ist. In den 90er Jahren kam es

zu einer Diskussion über den Konstruktivismus. Diese hat das Lernen gegenüber

dem Lehren erneut hervorgehoben und gesagt, dass das Lehren ein Angebot für

Lernende ist. „…was diese aus einem solchen Angebot machen, ist nicht determiniert

und nur in Grenzen vorhersagbar…“ (Siebert, 1999).

Eines der größten Probleme sind wohl die Rahmenbedingungen für den Einsatz von

Medien, da nicht jede Schule über genügend Computer verfügt. Oftmals widerstrebt

es auch der älteren Generation von Lehrern, neue Medien in den Unterricht zu

integrieren.

Prof. Dr. Thomas Schlager-Weidinger, PH Linz.