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Brief des Generalministers Br. Mauro Jöhri OFMCap IDENTITÄT UND ZUGEHÖRIGKEIT 4 Oktober 2014

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Brief des Generalministers

Br. Mauro Jöhri OFMCap

IDENTITÄT UND ZUGEHÖRIGKEIT

4 Oktober 2014

www.ofmcap.org

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© Copyright by:Curia Generale dei Frati Minori CappucciniVia Piemonte, 7000187 RomaITALIA tel. +39 06 420 11 710fax. +39 06 48 28 267www.ofmcap.org Ufficio delle Comunicazioni [email protected], A.D. 2016 

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Sommario

EINFÜHRUNG Eine Anfrage als Auslöser....................................................................................................... 41. UNSERE IDENTITÄT.......................................................................................................................................... 6

1,1. UNSER WEG DURCH DIE GESCHICHTE...............................................................................................................61. 2. PRIORITÄT DES BRÜDERLICHEN LEBENS........................................................................................................61.3. ERFAHRUNG UND ZEICHEN: WIE SIEHT UNSERE IDENTITÄT AUS?.....................................................81.4. AM ANFANG VON ALLEM........................................................................................................................................13

2. DIE ZUGEHÖRIGKEIT.................................................................................................................................... 182.1. MIT JESUS CHRISTUS, IN DER KIRCHE.............................................................................................................182.2. EIN STARKES INNERES LEBEN.............................................................................................................................192.3. ZEICHEN DER ZUGEHÖRIGKEIT..........................................................................................................................192.4. FEIERN.............................................................................................................................................................................232.5. IM WARTEN AUF SEIN KOMMEN.........................................................................................................................24

3. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN...........................................................................................................253.1. AUSEINANDERSETZUNG UND DIALOG............................................................................................................25

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IDENTITÄT UND ZUGEHÖRIGKEITBEI DEN MINDEREN BRÜDER KAPUZINER

BRIEF VON BR. MAURO JÖHRI, GENERALMINISTERDER MINDEREN BRÜDER KAPUZINER

Prot. Nr. 00710 / 14

AN ALLE BRÜDER DES ORDENS AN DIE KAPUZINERINNEN KLARISSEN

Liebe Brüder und SchwesternDer Herr gebe euch den Frieden!

EINFÜHRUNGEINE ANFRAGE ALS AUSLÖSER

Im programmatischen Brief zu Beginn des Sexenniums 2012-2018 habe ich euch angekündigt, dass wir - wie unsere Konstitutionen es in Nr.25,9 vorsehen - eine „Ratio formationis“ erarbeiten werden. Wir haben dieses „Unternehmen“ den Brüdern des Generalsekretariats für Bildung übertragen. Die betreffenden Brüder haben sich mit Einsatz und Kompetenz an die Arbeit gemacht. Sie haben mich ihrerseits gebeten, einen Text über die heutige Identität der Minderen Brüder Kapuziner vorzulegen. Meine erste Reaktion war, dass ich mir sagte: „Genügen denn die Regel und die Konstitutionen nicht, dort ist alles klar und erschöpfend festgehalten?“. Einige Tage später ging mir auf, dass ich den Brüdern unseres Ordens einen Text vorlegen sollte, der die Fundamente und

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Säulen unserer Identität und Zugehörigkeit festhält1. So möchte ich mit einem jeden von euch ins Gespräch treten und mit euch zusammen einige Überzeugungen teilen, die mir in den Jahren meines Dienstes am Orden zugewachsen sind.

Wer sind wir Minderen Brüder Kapuziner? Die Frage weist mich zu dem hin, was Papst Franziskus in einem Interview mit Pater Antonio Spadarao von der Civiltà Catolica beiläufig gesagt hat: „Es gibt keine Identität ohne Zugehörigkeit“0. Die Aussage des Papstes ist gleichsam der interpretative Schlüssel, mit dem wir die Frage der Identität angehen können. Genau diese Frage hält das Leben der Ordensleute seit dem Konzil in manchmal dramatischer Weise in Atem. Eine Identität ohne das Bewusstsein von Zugehörigkeit läuft Gefahr, abstrakt zu bleiben. Ebenso wird eine Zugehörigkeit, die auf eine präzise Identität verzichtet, leer und ohne innere Orientierung bleiben. Indem ich mir der gegenseitigen Abhängigkeit, die Papst Franziskus hervorhebt, voll bewusst bin, möchte ich seine Aussage als Leitlinie für dieses Schreiben nehmen. Ich werde einige Aspekte darlegen, die direkt mit der Identität zu tun haben, um dann einige Charakteristiken der Zugehörigkeit herauszuarbeiten.

1 Es ist klar, dass dieser Brief in keiner Weise beabsichtigt, die Konstitutionen, die während des Generalkapitels im Jahr 2012 erneuert und dann vom Heiligen Stuhl approbiert wurden, zu ersetzen. Er soll verstanden werden als eine dringliche Einladung, ihn aufmerksam zu lesen und zu studieren.0 La Civiltà Cattolica 2013 III 459 / 3918 (19.September 2013).

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1. UNSERE IDENTITÄT

1,1. UNSER WEG DURCH DIE GESCHICHTE

Ich nehme die Frage, die ich oben gestellt habe, nochmals auf: Wer sind wir Mindere Brüder Kapuziner? Die Frage ist schnell gestellt, die Antwort schon schwieriger. Weswegen? Ein Grund könnte die Verschiedenheit der Meinungen um unsere Ursprünge sein: Einige weisen auf Franziskus als unseren Gründer, andere dagegen legen das Gewicht auf das, was in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Kapuzinerreform ihren Anfang nahm, sich abgespielt hat. Ich möchte festhalten, dass beide Positionen ihre Berechtigung haben. Persönlich ziehe ich es vor, von der kirchengeschichtlichen Situation des 16. Jahrhunderts auszugehen, um dann auf das charismatische Ereignis des Franziskus zurückzugreifen. Ich bin aber überzeugt, dass der hermeneutische Schlüssel, mit dem wir Franziskus und sein Erbe verstehen, zutiefst in der Tradition des 16. Jahrhunderts verwurzelt ist.

Die Geschichte der Franziskanischen Familie kennt viele Spaltungen und Reformen. Uns Kapuziner gab es während fünf Jahrhunderten, ohne dass wir je in einem anderen Verband integriert gewesen wären. Mit etwas „Stolz“ können wir sagen, dass wir über ein starkes DNA verfügen. Auf der anderen Seite haben wir in unserem Orden in den Jahren unmittelbar nach dem 2. Vatikanischen Konzil zahlreiche Umbrüche erlebt. Aspekte, die seine Einheit ausmachten, haben sich grundlegend verändert oder sind sogar gänzlich verschwunden. Ein Anzeichen für diese Entwicklung sind auch die häufigen Revisionen unserer Konstitutionen, zunächst im Jahr 1968, dann 1982 und schliesslich auf dem letzten Generalkapitel 2012.

1. 2. PRIORITÄT DES BRÜDERLICHEN LEBENS

Der offensichtlichste Umbruch, der nach dem Konzil stattgefunden hat, war der Übergang vom ausgeprägten Selbstverständnis des Ordens als eines Ordens der Busse zu einem Ordensverständnis, das das Gewicht auf das brüderliche Leben legt. Der Vorrang des brüderlichen Lebens ist in unserer Gemeinschaft voll

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anerkannt. Die diesbezügliche Ausbildung der Brüder im ganzen Orden hat sich gefestigt und sie bleibt wesentlicher Bestand unseres Charismas. Gleichzeitig sind wir uns aber bewusst, dass die Verlockung des Individualismus und das Ausweichen in seinen Bereich in beängstigender Weise sich verbreitet. Wenn wir früher eher weniger in das, was ausserhalb unserer Klöster vor sich ging, einbezogen waren, so bieten uns die modernen Kommunikationsmittel in raffinierter, überzeugender und nachhaltiger Weise Modelle des Lebensstils an, die eine individualistische Mentalität propagieren. Das macht es für uns schwierig, uns zu orientieren und die nötigen Unterscheidungen zu treffen. Gegenüber dieser Situation haben wir in der Brüdergemeinschaft einen starken Bezugspunkt. Er ist wesentlich in der Erneuerung unserer Satzungen vom Jahr 1968 verwurzelt. Damals wurde die Stärke und die Schönheit des brüderlichen Lebens als erstrangige Elemente unseres Lebensstils festgehalten. Wo das brüderliche Leben gelebt und sorgfältig gepflegt wird, da wachsen die Voraussetzungen heran, unter denen der einzelne Bruder in gelassener Heiterkeit auf die schwierigen, auch provozierenden Situationen unserer Zeit eingehen kann. Der Umbruch im Jahr 1968 stellt einen providenziellen Wechsel dar. Nun geht es darum, dass wir diesem Umbruch treu bleiben und ihn im raschen Wandel, in dem die Welt begriffen ist, immer wieder neu aktualisieren. Jeder Bruder hat das Recht auf Brüderlichkeit und muss sich seinerseits unter der Pflicht sehen, seine eigene Energie einzubringen. Nur so kann sich sein Charisma in seiner dynamischen Vitalität entwickeln.

Der Umbruch, von dem ich oben geschrieben habe, hat seine Wurzeln in der Relecture der Franziskanischen Quellen. In ihnen zeigt sich deutlich, welch hohe Bedeutung Franz von Assisi dem Geschenk zumisst, das jeder einzelne Bruder darstellt. Ganz bewusst hat er die Bewegung, die er ausgelöst hat, als „fraternitas“, als Brüdergemeinschaft0, bezeichnet. Mit Blick auf die Originalität des Franziskus können wir voller Überzeugung sagen: Das brüderliche Leben, wenn es in Treue und ganz gelebt wird, geht der Entscheidung für die Armut weit voraus. Ich erkläre mich: Wenn die Armut vor allem darin besteht, möglichst vieles dem Leben zu entziehen und meine und unsere Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren, so verlangt das brüderliche Leben ein beständiges Sich-Verschenken, Dadurch werden wir dazu angeleitet, die Beziehungen, die unser alltägliches Leben ausmachen, immer authentischer zu gestalten.

0 Vgl. PIETRO MARANESI, Der Traum des Franziskus. Thematisch-historische Relecture der Regel der Minderen Brüder auf der Suche nach ihrer Aktualität, Assisi 2011.

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Manchmal geht es darum, verzeihen zu können und es immer wieder von Neuem zu tun; manchmal muss man einen Schritt rückwärts gehen und dadurch Raum schaffen, dass die Gaben des anderen Bruders sich entfalten und Frucht bringen. Das brüderliche Leben, an dessen Wurzeln der Heilige Geist wirkt, kann gedeihen, wenn unsere Beziehungen zu den Brüdern geprägt sind vom Klang der Gastlichkeit, von dem des Vergebens, des Erbarmens und der Liebe, die der Herr Jesus als Seligkeit für unsere Existenz uns vor Augen gestellt hat. Die Armut, die so viele unserer Brüder voll Freude gelebt haben und noch heute leben, ist deshalb nicht auf den zweiten Platz verwiesen. Aber die Armut hat im Licht der Erneuerung, die die Charismen immer wieder lebendig macht, ein neues Gesicht bekommen: Solidarität, Teilen der Güter, und das mit den letzten Menschen dieser Erde, Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung. Brüderlichkeit bedeutet die Bereitschaft, die Grenzen der örtlichen Gemeinschaft und der Provinz oder Kustodie zu überschreiten: Es kann auch bedeuten, Zirkumskriptionen, die in Schwierigkeiten stecken, zu unterstützen oder sich einer interkulturellen Gemeinschaft anzuschliessen, wenn der Mangel an Personal es nötig macht. Mit dem Generalrat überprüfen wir die Möglichkeit, interkulturelle Gemeinschaften an jenen Orten zu schaffen, wo die Zeichen und Werke christlichen Glaubens nach und nach zu verschwinden drohen.

1.3. ERFAHRUNG UND ZEICHEN: WIE SIEHT UNSERE IDENTITÄT AUS?

1.3.1 Die Niederlassungen

Die Minderen Brüder Kapuziner sind aus dem klaren Willen einer Gruppe von Observanten entstanden. Diese wünschten ein strengeres und zurückgezogeneres Leben zu führen. Die ersten Kapuziner wählten sich bevorzugt abgelegene Orte als ihre Niederlassungen. Diese ursprüngliche Absicht bestimmte auch in den kommenden Jahrhunderten den Stil unserer Klöster. Sie wurden immer in einem gewissen Abstand zu den Siedlungen der Leute gebaut. Die Auswahl der Orte war eine sehr präzise Botschaft an die Menschen. Entsprechend aktualisiert gibt sie auch unserer Zeit einen tiefen Wert weiter: Die Brüder lebten in Zurückgezogenheit, weil sie in Gebet und Betrachtung den Vorrang der Beziehung zu Gott leben wollten. Aber gleichzeitig

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wollten sie nicht derart zurückgezogen leben, dass sie die Stimme und den Schrei derer nicht mehr gehört hätten, die auf unsere Präsenz zählten. Sie wollten das Wort Gottes hören oder waren aus ihrer Lebenssituation heraus darauf angewiesen, von unseren Werken geistlicher und leiblicher Barmherzigkeit zu profitieren. Denken wir an die Brüder, die ihr Leben aufgeopfert haben, um den Pestkranken zu Hilfe zu kommen und sie zu trösten. Denken wir an die Brüder, die in so vielen Ländern auch heute den Letzten der Erde zu Hilfe kommen.

1.3.2. Das Wesentliche

Ein anderes bedeutsames Element, dem man damals besondere Aufmerksamkeit schenkte, war die Grösse der Niederlassungen. Die Gemeinschaftsräume, die für den einzelnen Bruder bestimmte Zelle und was der Gemeinschaft zur Verfügung stand, das alles zeichnete sich aus durch Nüchternheit und Reduktion auf das Wesentliche. Alles folgte einer präzisen Pädagogik: Wesentlichkeit, Strenge und Nüchternheit riefen dem Bruder jeden Tag in Erinnerung, dass er auf dieser Erde ein „Pilger und Fremder“0 ist. Lebensmittelvorräte durften nur für wenige Tage angelegt werden. So bekundeten die Brüder klar und deutlich, dass das Vertrauen in die Vorsehung sich nicht auf erbauliche Reden und schöne Worte beschränken durfte. In unseren Kirchen durfte man keinen Marmor und keine Vergoldungen anbringen; allein Holz und Terracotta waren erlaubt. Das strikt Notwendige und nichts mehr! Die Brüder Kapuziner haben über Jahrhunderte dieses glaubwürdige und realistische Bild von sich gegeben und aus mehr als einem Zeugnis wissen wir, dass all das in franziskanischer Freude gelebt wurde. Weshalb? Welche Motivation stand hinter all dem? Durch Armut, Strenge und Vertrauen in die Vorsehung wollten die Brüder Zeugnis geben für den Vorrang Gottes. Gott war für sie das Gut und der Reichtum, der grösser war als ihr eigene Existenz. Ihr Zeugnis hatte eine hervorragend eschatologische Bedeutung. Was sie lebten und was sie taten, sprach von einer Heimat und einer Erfüllung, die jenseits dieses Lebens angesiedelt ist und die in der vollen Vereinigung mit Gott besteht. Das Leben, die Dinge und die Niederlassungen gehörten zu einer Phase des Übergangs, waren Zeichen einer Pilgerschaft, die bald ihr Ende finden sollte0.

0 Vgl. PIETRO MARANESI, Der Traum des Franziskus. Historisch-thematische Relecture der Regel der Minderen Brüder auf der Suche nach ihrer Aktualität, Assisi 20110 Vgl. den Beitrag von GIOVANNI POZZI, Die Identität des Kapuziners und ihre Symbole. Vom 16. - 17. Jahrhundert, in: I Cappuccino in Emilia Romagna. Geschichte einer Präsenz, von G. Pozzi (a cura, von P. PRODI (a cura), Bologna

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1.3.3. Die strenge Armut

Ich bin noch immer beeindruckt von der Inschrift, die ich in San Giovanni Rotondo, wo Padre Pio von Pietrelcina lebte, im alten Refektorium gelesen habe: „Wenn zu wenig da ist, dann denk an die Armut“. In unseren Klöstern konnte es vorkommen und kam es auch vor, dass zu wenig und zu eintönige Nahrung zur Verfügung stand. Die Inschrift erinnert daran, dass die Brüder kein Recht hatten sich zu beklagen, wenn der Tisch einmal schmal und nur mit dem Notwendigsten gedeckt war. Das stand in Übereinstimmung mit dem evangelischen Rat der Armut und ermöglichte den Brüdern, die Lebenssituation der Armen zu teilen, die ja oft nicht wussten, womit sie ihren Bauch füllen sollten. Angesichts der heute zunehmenden Armut, die immer mehr Menschen betrifft, und im Blick auf den Strom der Migranten, der so viele Männer und Frauen, die nach einem menschenwürdigeren Leben Ausschau halten, erfasst hat, sind wir aufgerufen, unseren Lebensstil zu vereinfachen und Formen des Teilens zu finden, auf Grund deren wir Häuser und Grundstücke, die wir selber nicht mehr brauchen, zur Verfügung stellen0.

Die Art und Weise des Betens wurde auf das Wesentliche reduziert. Das göttliche Offizium hielt man in aller Einfachheit, selten wurde gesungen. So konnte jeder Bruder dem inneren Gebet, dem stillen Verweilen bei Gott, mehr Zeit widmen. Sie zogen sich dazu zurück in eine dunkle Nische der Kirche oder des Klosters. Die liturgische Erneuerung nach dem 2. Vatikanischen Konzil hat neue, bedeutsame Formen des gemeinsamen Betens hervorgebracht. Aber mit Bitterkeit stelle ich fest, dass viele Brüder die Praxis des inneren Gebets aufgegeben haben.

1.3.4. „Dorthin, wohin niemand gehen will“

Das Zeugnis eines strengen und armen Lebens erregte Erstaunen und Bewunderung. Die Kapuziner waren bei den Bischöfen und bei allen Schichten der Bevölkerung sehr begehrt. Bald hatten sie sich den Namen „Brüder des

2002,48-77. 0 Diesbezüglich sagen unsere Satzungen in Nr. 62,2: Die Armut verlangt einen anspruchslosen, einfachen Lebensstil. Bemühen wir uns deswegen, unsere materiellen Bedürfnisse auf ein Minimum zu reduzieren und mit dem Lebensnotwendigen zu leben, indem wir jede rein am Konsum orientierte Mentalität und Praxis ablehnen.

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Volkes“ verdient. Auch das Konzil von Trient, das im selben Jahrhundert stattfand wie unsere Gründung, gab sich darüber Rechenschaft, wie wirksam unsere Präsenz war. Die Hierarchie, die Kardinäle und Bischöfe übertrugen uns den Dienst des Predigens. Sie hofften, auf diese Weise den Getauften den Geist und die Erneuerung des Konzils von Trient nahe zu bringen und der andrängenden protestantischen Reform entgegentreten zu können. Wenn man predigen wollte, dann musste man vorbereitet sein. So verschafften sich die Brüder den Zugang zu einer ganzen Reihe von Predigthandbüchern, die darlegten, wie man das Evangelium zu verkünden habe. Diese Bücher boten auch glänzende Beispiele aus den Werken der soliden Theologie der Kirchenväter. Das war auch der Grund, weswegen in die Konstitutionen eingefügt wurde, dass man im Kloster einen Raum frei halten solle, wo man die für den Predigtdienst notwendigen Bücher aufbewahren kann. Aus diesem Umstand kann man ersehen, wie weit weg wir in der Geschichte davon waren, zur Unbeweglichkeit verurteilt zu sein.

Noch eindrücklicher war unsere Existenz als „Pilger und Fremde“. Sie führte uns dazu, unterwegs zu sein und in Iteranz zu leben. Der Wechsel von Ort oder Aufgabe, zu dem wir verpflichtet waren, gehörten zu unserer gehorsamen Existenz und war eine ganz „normale“ Realität. In diesem Bewusstsein haben unsere Brüder wunderbare Seiten der Evangelisierung geschrieben. Sie waren Höhepunkte an Heroismus und Heiligkeit. Unsere Brüder sind immer wieder aufgebrochen und haben mit anderen Orden zusammen die Ziele der Propaganda Fidei ins Leben umgesetzt. Der hl. Josef von Leonessa brach auf in die Türkei, der hl. Fidelis von Sigmaringen predigte in Räthien. Wie viele Brüder sind im 17. Jahrhundert bis in den Kongo und nach Angola gelangt, andere haben ihre Schritte nach Georgien gewandt. Im darauf folgenden Jahrhundert gelangten sie sogar auf die Höhen des Tibets. Sie sind aufgebrochen und jener Eifer trieb sie vorwärts, der jene erfasst, die sich gesandt wissen. Sie brachen auf, viele starben unterwegs an Krankheiten, Überfällen von Banditen und weil sie verfolgt wurden. Sie brachen auf, um dorthin zu gehen, wohin niemand gehen wollte. Ich bitte Gott, dass er diesen Eifer in unserem Orden nicht untergehen lässt0.

0 Vgl. MAURO JÖHRI, Rundbrief über die Mission an alle Brüder des Ordens, „ Im Herzen des Ordens die Mission“, Rom 2009.

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1.3.5. Eine Schar von Heiligen

Viele Brüder kamen von der Observanz und folgten dann der Reform der Kapuziner. Zu ihnen stiessen Personen jeglichen Rangs und aller sozialen Schichten: Vom einfachen Bruder Felix von Cantalice bis zum Adligen Ange de Joyeuse0, der die Truppen des Königs von Frankreich kommandiert hatte. In den vergangenen Jahrhunderten finden wir Kapuziner mitten unter den einfachen Leuten, andere weilen am Hof des Kaisers. Unsere Mitbrüder übernehmen diplomatische Aufträge (Laurentius von Brindisi) oder stehen in entscheidenden Schlachten mit den Soldaten an vorderster Front; so bei Lepanto und Wien (Markus von Aviano). Ich frage mich: War der Grund, dass unsere Brüder in verzweifeltste soziale, politische und religiöse Situationen verwickelt wurden? Ich glaube, es ist deswegen, weil man uns als solchen, die keine eigenen Ziele verfolgten, das Vertrauen schenkte. Ich denke an unsere Brüder, die predigen und das Volk Gottes formen und begleiten. Gerne erinnere ich an die eucharistische Frömmigkeit. Mit der Publikation von Hand- und Gebetsbüchern wurde diese gefördert. Nachdrücklich war immer die geistliche Begleitung von Menschen; es gab viele Publikationen, die die Praxis des inneren Betens verbreiteten0. Dank dem Himmel, dass sich diese Art von Seelsorge in unserem Orden immer wieder erneuert hat. Ich erwähne nur Br. Ignacio Larranaga, Gründer der „Talleres de Oracion y Vida“ (Werkstätten des Gebets und des Lebens). Br. Ignacio ist erst kürzlich verstorben0.

Wie viel Liebe, Karitas und Wohlwollen habe unsere Bettelbrüder zu den Menschen gebracht. Sie waren ganz selbstverständlich für das besorgt, was die Brüder und die Armen brauchten. Aber mit der Einfachheit und Anziehung, die sie lebten, wurden sie zu einer wirksamen „Berufswerbung“. Wie viele Leben wurden aufgeopfert, um den Pestkranken beizustehen, um die Kranken in den Spitälern zu trösten und um in den verschiedenartigsten Konflikten die jungen Soldaten zu unterstützen. Wie viele Stunden wurden aufgewendet, um das Busssakrament zu spenden, was den Brüdern zu Recht die Bezeichnung „Gute, barmherzige Brüder“ eintrug. In der Tat, der Geist des Herrn hat unsere Geschichte begleitet, er hat unsere Mitbrüder zu lichtvoller Heiligkeit bewegt. Es geht hier zunächst um die, die wir offiziell verehren; aber ich bin überzeugt, dass

0 Vgl. „Angelus de Joyeuse“ in Lexicon Capuccinum, Rom 1951,73ff.0 Für eine kurze Darstellung dieses Bereichs unserer Geschichte vgl. MARIANO D`ALATRI, Die Kapuziner, Geschichte einer franziskanischen Familie, Rom 1194,73-76.0 Um mehr zu erfahren kontaktiere: www.tovpil.org

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wir über eine grosse Zahl von Brüdern verfügen, die ihr Leben für den Herrn und für die Brüder geopfert haben. Sie sind uns freilich weniger bekannt, aber was sie im Leben vollbracht haben, ist aufgezeichnet im Buch des Lebens. Für uns alle sind sie kostbare Vorbilder.

Neben diesen Zeichen der Heiligkeit war der Kapuzinerbruder auch durch eine Reihe äusserer Kennzeichen kenntlich gemacht: Er trug eine Kutte aus rauem Stoff; daran befestigt war die Kapuze; an den Füssen trug er Sandalen; der Bart war normalerweise ungepflegt. Oben habe ich schon von der Wahl der Orte gesprochen, von der einfachen Ausstattung der Kirchen und von unserer Lebensweise. Das alles waren Zeichen, die eine Geschichte und eine Erfahrung hinüberbrachten und davon erzählten, wie sehr die Brüder wünschten, dem Herrn nachzufolgen. Die Schönheit des Charismas des Franz von Assisi sollte ihnen bei ihrem Bemühen eine Stütze sein. Wer sind wir heute? Woran kann man uns erkennen?

1.4. AM ANFANG VON ALLEM

1.4.1. Wir sind daran interessiert, unsere eigene Geschichte zu kennen

An diesem Punkt wird mehr als ein Mitbruder sagen: „Unser Generalminister ist ein wenig nostalgisch“. Ich lasse euch eure Meinung. Aber gesteht mir zu, dass ich begründe, was ich eben geschrieben habe. Unsere Identität hat sich im Lauf der Zeit herangebildet, die Jahrhunderte unserer Geschichte sind voll von Brüdern, die durch ihr Leben und ihre Hingabe an Christus und an die Kirche unserem Orden sein Gesicht gegeben haben. Wir finden unsere Identität in Dokumenten und Texten, die im Innern des Ordens geschaffen wurden. Aber sie zeigt sich noch mehr in der geistlichen und menschlichen Erfahrung, die die Mitbrüder, die uns vorangegangen sind, gelebt haben. Ich habe den Akzent auf einige äussere Merkmale gelegt, deswegen weil sie von unserem Eigentlichen sprechen. Es geht aber im Entscheidenden darum, unserem Leben eine klare Identität zu geben. Wir verfügen über eine wertvolles, starkes spirituelles Erbe. Es wurde uns vererbt und möchte von uns aktualisiert und gelebt werden. Darum ist es eine grundlegende Notwendigkeit, dass wir die Geschichte unseres

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Ordens kennen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Mir kommt in den Sinn, wie es bei manchen Familien geht. Die Neffen wollen wissen, wer die Urgrosseltern waren. Oder sie möchten genauer wissen, wie die Grossmutter und der Grossvater sich kennen gelernt haben. Man möchte einen Stammbaum aufstellen und die Orte besuchen, an denen unsere Vorfahren gelebt haben. Es beunruhigt mich, wenn ich Brüder oder jungen Postnovizen vor der feierlichen Profess begegne, die nur über eine oberflächliche Kenntnis unserer Geschichte und ihrer eigenen Zirkumskription verfügen. Noch schlimmer ist es, wenn Brüder sagen, dass all das nicht wichtig sei! Ich möchte festhalten: Wenn wir für die Ausrichtung unserer Zukunft Entscheidungen treffen, dann müssen wir uns von unserer Geschichte und Tradition inspirieren lassen.

1.4.2. Heiliger Franziskus von Assisi

Unsere Reform hat ihren ersten Bezugspunkt in der Person des Heiligen Franziskus. Seine Erfahrung und sein Charisma stehen am Ursprung der ersten Konstitutionen des Ordens. Diese wurden in kürzester Zeit verfasst, denn den Brüdern war klar, was sie leben wollten. Aus den wenigen Seiten der Konstitutionen geht deutlich hervor, dass sie die Regel und das Testament des Heiligen Franziskus „spiritueller“ beobachten wollten. Das Wort „spirituell“ könnte man auch wiedergeben mit „integral“. Uns heute kann es leichter und unmittelbarer erscheinen, alles auf Franziskus zurückzuführen und unsere Geschichte und die Ereignisse, die zu unserer Tradition geführt haben, zu vergessen. Es wäre ein schwerer Irrtum, in einen „Gleichheitswahn“ zu verfallen, in dem aus uneinsichtigen Gründen alles flach gewalzt wird. Jedes Charisma wird zu einem Reichtum, wenn es verstanden, gelebt und bezeugt wird. Das gilt auch für die grosse Franziskanische Familie. Ihre Quelle ist einmalig und einzigartig; aber was von ihr ausgeht, die Bäche, die von ihr ausgehen, haben ganz verschiedene Flüsse und Ströme hervorgebracht. Die Kapuziner haben von allem Anfang an begriffen, dass Franziskus unter vielen Entsagungen ein Leben in Strenge geführt hat. Sie wollten ihn nachahmen. Sie sahen in ihm den Heiligen, der von der Predigt des Evangeliums immer wieder wechselte zu ausgedehnten Zeiten, wo er allein an einsamen Orten sich zum Gebet einfand. Auch darin wollten sie ihn nachahmen. Sie erkannten in ihm einen Mann von grosser innerer Freiheit, einen, der es bei jedem Menschen aushielt und der auch über die Schwellen der Häuser der Reichen und Mächtigen trat. Er teilte auch in allen

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Bereichen die dramatische Situation der Aussätzigen. Sie zeigten sich fasziniert vom Poverello, der unter die Ungläubigen gegangen war. Sie wollten dasselbe tun wie er.

Liebe Brüder, in welcher Weise fordern die Werte, die unsere Identität ausmachen, uns heute heraus? Wie können wir auf die eindeutigen Erwartungen an unsere Identität reagieren?

° Wir führen ein einfaches Leben, das sich begnügt mit dem, was notwendig ist, und bemühen uns nicht um das, was im äussersten Fall noch erlaubt sein könnte.

° Wir widmen dem Gebet viel Zeit, wobei es sich abwechselt mit den verschiedenen Formen der Dienste, die man uns anvertraut.

° Wir bewahren jedem Menschen ein offenes Herz und machen keine Unterschiede zwischen Schichten, Rassen und Nationalitäten.

° Wir sind verfügbar und bereit dorthin zu gehen, wohin keinanderer gehen will.

All das leben wir in brüderlicher Verbundenheit; sie macht den Geschmack aus, der unserem Leben und Arbeiten Wert und Schönheit verleiht. Wir sind dazu aufgerufen, unsere soziale und kirchliche Situation voll zu leben und alles zu nutzen, was der menschliche Geist hervorgebracht hat und hervorbringen wird. Aber wir müssen auch unsere tägliche Konkretheit mit jenem Geist beleben, der unsere Väter bewegt hat. Unser Orden ist im Herzen Italiens entstanden und hat sich über mehrere Jahrhunderte vor allem in Europa ausgebreitet. Auf dem „Alten Kontinent“ sind wir Zeugen eines starken Rückgangs der Berufungen, andererseits stellen wir in Asien, Lateinamerika und Afrika ein ermutigendes Wachstum des Ordens fest. Unser Charisma und unsere Identität kommen mit anderen Kulturen und Gesellschaften ins Gespräch. Es ist ein schönes und heiliges Unterfangen, die Brüder der jungen Zirkumskriptionen zu fördern und ihnen den Zugang zu den Gehalten und Werten unserer Lebensweise zu eröffnen, sie ausgehend vom Evangelium unseres Herrn Jesus Christus und seines Dieners Franziskus an unserer Identität teilhaben zu lassen. Die Übermittlung unserer eigenen Werte an die jungen Generationen, und auch an uns selber, wird einen langen Weg brauchen. Doch wenn das Evangelium und das Charisma den Weg in die Konkretheit des Lebens und der Kultur finden

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sollen, dann braucht es den beständigen Dialog und das frohe Vorbild von Brüdern, die den neuen Generationen vorleben, dass man wirklich leben kann, wenn man die Botschaft hört und sich mit ihr beschäftigt.

1.4.3. Die Entdeckung des Antlitzes Christi

Wir Kapuziner haben uns auf Grund unserer Reform einen eigenen Zugang zu Franziskus erschlossen. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht vergessen, dass fast 500 Jahre vergangen sind, seit Br. Matthäus von Bascio und seine Gefährten den Anfang einer Geschichte geschrieben haben, zu der wir alle gehören. In all diesen Jahren waren die Kenntnisse über Franziskus, über sein Charisma und seine Botschaft Gegenstand einer fruchtbaren Vertiefung; wir können uns über unser reiches Erbe nur freuen. Es provoziert und fasziniert noch immer. Das Anwachsen dieses kostbaren Schatzes war das Werk zahlreicher gelehrter Brüder. Dank ihres Einsatzes verfügen wir heute über einen umfassenden Blick auf Franziskus und seine Zeit. Für jeden Bruder ist es wichtig, dass er neben dem historischen Wissen auch einen existentiellen Zugang zur Gestalt des Heiligen Franziskus findet. Dadurch werden wir unfehlbar zu weiteren Schritten nach vorne aufgerufen. Wohin? Dieses „darüber hinaus“ trägt einen Namen und ein Gesicht: Unser Herr Jesus Christus0. Von der Krippe zum Kreuz, von der Geburt bis zum Tod, Franziskus hat den Weg aller Geheimnisses des menschlichen Lebens Jesu durchlaufen.

Der Kapuziner schaut auf Franziskus in all seiner Originalität und Schönheit, aber Franziskus führt dich zur Begegnung mit Jesus von Nazareth. Die Nachfolge Christi ist keine nur abstrakte Sache, vielmehr möchten wir mit allen anderen leben wie Christus. Das Streben, dem am meisten Authentizität zukommt und das wir in jugendlicher Frische und voller Stärke bewahren sollen, ist: „Leben nach der Form des heiligen Evangeliums“. Dabei lassen wir uns davon bewegen, dass wir alles hinter uns lassen, dass wir uns selber verleugnen und dass wir unsere Affekte reinigen, damit Er der Erste sein kann. Wenn Er der Erste ist, dann wird alles wahrer und authentischer, auch unsere Bereitschaft, die Menschen zu lieben und ihnen nahe zu sein. In Jesus von Nazareth, dem Sohn der Jungfrau Maria, hat uns der Vater seine grosse Liebe geoffenbart, hat er sein Erbarmen über uns ausgegossen und uns seinen Willen geoffenbart, dass er sich

0 RANIERO CANTALAMESSAM , „Beobachten wir die Regel, die wir versprochen haben“ (FF Test, 127, in: Atti del Capitolo internazionale delle Studie. VIII. Centenario delle origini (1209),Rom 2009. 3552

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ganz allen verschenken möchte (Brief an das Generalkapitel und an alle Brüder). Franziskus erwog diese Dinge immer neu und in ihm wuchs eine bewegte, staunende Verehrung für das Geheimnis der Inkarnation und der Eucharistie.

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2. DIE ZUGEHÖRIGKEIT

2.1. MIT JESUS CHRISTUS, IN DER KIRCHE

Papst Franziskus hat darauf aufmerksam gemacht, dass die existentielle Kategorie der Brüderlichkeit sofort und unmittelbar nach der der Zugehörigkeit verlangt. Bevor ich meine Überlegungen über die Zeichen, die die Zugehörigkeit des einzelnen Bruders kenntlich machen, weiterführe, möchte ich an die „Mutter“ jeglicher Zugehörigkeit erinnern: Wir gehören zu Christus und seiner Kirche. Die Gnade unserer Taufe gibt uns Anteil und Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Mit ihm teilen wir die Freude und die Dankbarkeit über das Heil, das die Liebe Gottes in ihrer Treue uns durch den Herrn Jesus angeboten hat. Unser Leben und unsere persönliche und gemeinschaftliche Entwicklung geschehen innerhalb der Kirche. Sowohl der Heilige Franziskus wie auch die ersten Kapuziner wollten ihr Charisma und die daraus sich ergebende Lebensform der Autorität der Kirche unterstellen. Der VII. Plenarrat formuliert sehr treffsicher die Art und Weise unserer Zugehörigkeit zur Kirche und fordert uns auf: Wir sollen bereit sein für den Dienst an der Orts- und Weltkirche, darauf bedacht, in Eintracht mit den Hirten in der Kirche unsere Aufgaben zu erfüllen. Wir wollen mit Vorliebe jene Dienste übernehmen, die unserer Berufung als Mindere näher stehen, und uns einsetzen in pastoralen Grenzbereichen, in Aufgaben innerhalb der Kirche und an ihrer Peripherie, die weniger gesucht sind, oder eben dort, wo wir unser Mitleiden und unsere menschliche Nähe besser bekunden können, d.h. in Pfarreien an der Peripherie, in der Spitalseelsorge, in der Betreuung von Kranken, in der Welt der Randständigen, der alten Menschen und der von der neuen Armut Betroffenen0. Der Pontifikat von Papst Franziskus und die Beharrlichkeit, mit der er auf der Verkündigung des Heils bis an die Grenzen der Welt besteht, bestärkt uns und gibt uns gleichzeitig die Gelegenheit, unseren Dienst an der Kirche neu zu überdenken.

0 Nr. 38

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2.2. EIN STARKES INNERES LEBEN

Wenn unsere Zugehörigkeit nicht Gefahr laufen will, zu etwas Ideologischem und rein Formalem zu werden, dann muss sie in der Konkretheit des Alltags gelebt werden. Der Kapuzinerbruder, der einer bestimmten Fraternität und dadurch dem Orden angehört, betet, isst, arbeitet und teilt sein Leben mit den Brüdern; mit ihnen erlebt er Augenblicke der Freude und der Fröhlichkeit; mit ihnen akzeptiert er die Augenblicke von Müdigkeit und Konflikten; sie werden uns unweigerlich heimsuchen. Wie ein Kind in den ersten Jahren seines Lebens eine ganze Reihe von Verhaltensweisen von seinen Eltern übernimmt, sie verinnerlicht und sich zu eigen macht, so muss jeder, der in unsere Lebensweise aufgenommen wird, eingeführt werden, so dass er die wesentlichen Elemente unseres Charismas lieb gewinnt und sie sich aneignet. An diesem Punkt möchte ich auf ein Element benediktinischer Spiritualität hinweisen: Wenn ein Mönch sich auf dem Feld weit weg vom Kloster vorfindet und die Glocke zum gemeinsamen Gebet, an dem er wegen der weiten Entfernung nicht teilnehmen kann, ruft, dann soll er seine Arbeit unterbrechen und sich geistlich mit dem Gebet seiner Gemeinschaft verbinden. Das Empfinden für die Zugehörigkeit zeigt sich vor allem dann, wenn niemand mich sieht und von mir Entscheidungen abgefordert sind, die mit dem zusammenhängen, was ich mit der Profess der evangelischen Räte öffentlich versprochen habe. Wie verhält es sich? Heilige ich den Ablauf des Tages mit meinem Gebet oder „dispensiere“ ich mich selber, weil ich aus den verschiedensten Gründen nicht bei den Brüdern bin? Oder noch schlimmer: Ich theoretisiere, dass das Gebet eine ganz persönliche Angelegenheit ist, für die ich niemandem Rechenschaft schuldig bin. Diese Art des Umgangs mit dem Gebet kann ich nur als unbrüderlich bezeichnen; auf die Länge fördert sie eine individualistische und opportunistische Mentalität. Zugehörigkeit, die durch den Bezug zu Gott und den Brüdern gepflegt und genährt wird, hilft uns die Schönheit einer von Gott und den Menschen empfangenen Existenz zu leben und in den Stunden der Prüfungen zu bewahren.

2.3. ZEICHEN DER ZUGEHÖRIGKEIT

Es gibt einige Signale, an denen wir erkennen, ob das Verständnis für Zugehörigkeit sich bei uns festgemacht hat. Ich will sie im Folgenden anführen, auch dadurch, dass ich die „Feinde“ dieser Einwurzelung klar benenne. Keiner

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soll sich als von mir verurteilt vorkommen müssen. Aber es könnte sich als notwendig erweisen, dass ein Bruder in aller Offenheit und Ehrlichkeit sein Verhalten überdenken müsste und auf diese Weise eine heilsame Bekehrung erfahren würde.

2.3.1 Verhältnis zum Geld

Neben der Teilnahme am Leben der Gemeinschaft ist durch unseren Umgang mit dem Geld ein eigenes Zeichen der Zugehörigkeit gegeben. Ich erinnere daran, was unsere Konstitutionen schreiben: „Alle Güter, auch die Gehälter, Pensionen, Unterstützungen und Versicherungen, die uns aus irgendwelchen Gründen zukommen, sind zum gemeinsamen Gebrauch abzugeben“0. Ich wende mich jetzt an den Bruder, der über Bankkonten verfügt oder ohne das Wissen seines Provinzialministers oder Guardians über Geld verfügt; ich wende mich auch an jenen Bruder, der die Gaben, die er erhält, oder die Entschädigungen, die er bei seinen seelsorglichen Arbeiten oder bei anderen Arbeiten verdient, nicht an die Gemeinschaft abgibt. Es kann ein Bruder sein, der sich Sorgen macht über das „Wie wird es morgen sein?“, wenn ich alt oder krank bin. Was soll ich einem Bruder antworten, der Geld dafür braucht, den eigenen Lebensstandard zu erhöhen und sich Privilegien zu verschaffen, die nichts mit Armut und Minoritas zu tun haben. Ich sage solchen Brüdern: Bekehrt euch und entdeckt von neuem das Vertrauen in die Vorsehung. Lebt, was ihr in freier Wahl und Entscheidung versprochen habt. Fasst Vertrauen zu eurer Gemeinschaft! Ich möchte euch gerne die Worte weitergeben, die Papst Franziskus am 16. August dieses Jahres während seiner apostolischen Reise nach Südkorea ausgesprochen hat: „Die Heuchelei jener gottgeweihten Männer und Frauen, welche die Gelübde der Armut versprechen, dann aber wie der Reiche leben, verwundet die Seelen der Gläubigen und schadet der Kirche. Denkt auch daran, wie gefährlich die Versuchung ist, eine bloß funktionale, weltliche Mentalität anzunehmen, die uns dazu anleitet, unsere Hoffnung allein auf menschliche Mittel zu setzen, und die das Zeugnis der Armut zerstört, die unser Herr Jesus Christus gelebt und uns gelehrt hat“. Der abgeklärte, verantwortungsbewusste Umgang mit Geld tritt auch dadurch zu Tage, dass der Bruder an den Lokalkapiteln, an denen alljährlich das Budget und die Abrechnung vorgelegt werden, teilnimmt0.

0 Nr. 64,2

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2.3.2 „Mir geht es hier gut; warum soll ich mich versetzen lassen?“

Einen anderen Appell richte ich an jenen Bruder, der sich beharrlich jeder Art von Versetzung verweigert. Mit seiner Einstellung verletzt er nicht nur den Gehorsam, sondern er distanziert sich von der Verfügbarkeit und Zusammenarbeit in jenen Vorhaben, die die Gemeinschaft verwirklichen möchte. Machen wir ein Beispiel: Ein Provinzkapitel beschliesst, eine neue Niederlassung zu gründen oder eine neue Aufgabe zu übernehmen, weil diese den Werten unseres Charismas und den Bedürfnissen der Kirche besser gerecht werden. Ein Bruder, der für diese neue Aufgabe geeignet und qualifiziert ist, weigert sich, weil er sich an seinem früheren Ort für unentbehrlich und nicht ersetzbar hält. Oder er sagt: „Mir passt die Aufgabe, in der ich drin stehe“. Den Schluss könnt ihr selber ziehen. Ich frage mich und euch: „Worin besteht denn für uns eigentlich das, was wir mit „mir geht es gut“ meinen.

2.3.3 Parallele Wege und doppelte Zugehörigkeit

Es geht dabei um eine delikate, umstrittene Auseinandersetzung. Aber reden wir in aller Ruhe darüber und fallen wir nicht in gehässige Töne, wie das leider nur allzu oft geschieht. Ich beginne mit meiner Erfahrung als Generalminister: Da erinnere ich mich an Situationen, Berichte und Gespräche, die ich im Lauf meiner acht Jahre als Generalminister erfahren habe. Ich bin Brüdern begegnet, die auf Grund ihrer Tätigkeit oder durch Einladung von Aussen in Kontakt mit der Spiritualität und der Erfahrung anderer kirchlicher Einrichtungen gekommen sind. Ich beziehe mich da im Besonderen auf die Bewegungen und Gebetsgruppen. In einigen von ihnen realisiert sich die wohltuende Dynamik eines „Dialogs der Charismen“. Das stellt eine Bereicherung und gegenseitige Unterstützung für die eigene Berufung dar. Es geht dabei um Brüder, die in Freiheit mitmachen und in diesem Umfeld ein Zeugnis für unser Charisma geben. Bei anderen hat sich eine Dynamik durchgesetzt, die dazu führt, dass sie sich mit der Realität, mit der sie in Berührung gekommen sind, voll

0 Immer noch aktuell ist, was der VI. Plenarrat des Ordens festgehalten hat: Die Armut leben in Brüderlichkeit, Nr. 31: „Das Hauskapitel ist der gegebene Ort, wo die Brüder über den Haushaltsplan ihrer Gemeinschaft befinden und sich bewusst werden, wofür sie das Geld ausgeben. Auch im wirtschaftlichen Verhalten müssen wir die Brüderlichkeit sichtbar machen. Das Hauskapitel ist der Ort, wo wir unsere wirtschaftliches Verhalten konfrontieren mit anderen Werten, wie der Treue zum Evangelium, dem Mindersein, usw.

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identifizieren. Das kann so weit gehen, dass sie die Forderung aufstellen, die Gemeinschaft müsse all das übernehmen, was von der Bewegung oder der Gruppe herrührt. Psychologisch und emotional muss man sagen, dass diese Brüder sich von der Dynamik der Gemeinschaft der Provinz und von der vor Ort gelöst haben. Alles wird von der Realität der anderen Gruppe, von der sie sagen, dass sie ihr „folgen“, absorbiert. Dabei haben sie ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu eben dieser Gruppe entwickelt. Der Dialog zwischen den Charismen kann eine Bereicherung sein und nicht selten beobachtet man, dass diese Synergie der Charismen Wege des Glaubens, karitative Werke und menschliche Entwicklung hervorbringt. Die doppelte Zugehörigkeit führt aber oft zu Konflikten und Spannungen und die Originalität der eigenen Berufung geht verloren. Wenn einer Kapuziner werden möchte und von einer Bewegung kommt, dann verlange ich von ihm nicht, dass er seine Vergangenheit verleugnet (Wie soll ich auch von jemandem verlangen, dass er jene Wirklichkeit verleugnet, die ihn dem Herrn begegnen liess?); aber ich erwarte, dass er in das schöne und heilige Charisma des Franz von Assisi und die Tradition unseres Ordens hineinwächst und dabei jene Verhaltensweisen übernimmt, die eine konkrete und wirkliche Zugehörigkeit zur Gemeinschaft möglich machen. Bei all diesen sehr verschiedenen Fragen um die doppelte Zugehörigkeit stelle ich mir manchmal eine Frage, die ich mit euch teilen möchte: „Warum suchen die Brüder anderswo etwas, das ihnen helfen soll, ihrem Leben einen Sinn zu geben?

Daneben gibt es andere Situationen, die eine einzelne Person zerreissen und die Beziehungen unter den Brüdern aufs Schwerste durcheinander bringen. Ich rede von den affektiven Beziehungen, die im Verborgenen gepflegt werden. In diesen Fällen verzichten viele auf jegliche Hilfe und verlagern Verstand und Herz in einen Bereich ausserhalb der Gemeinschaft. Es kommt auch vor, dass ein Bruder sich derart mit seiner Aufgabe identifiziert, dass er seine Präsenz in der Gemeinschaft und sein Engagement für sie auf ein Minimum reduziert. In einem solchen Fall kann die demütige Bitte um Hilfe, damit wir unsere Zugehörigkeit wieder und neu entdecken, zur Gelegenheit für eine innere Erneuerung werden. Der betreffende Bruder wird dann seine Berufung mit erneuertem Bewusstsein leben können. Brüder, wenn die „Krise“ über uns kommt, dann wollen wir nicht zögern und die anderen Brüder um Hilfe bitten.

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2.4. FEIERN

Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder an unsere eigene Berufung erinnern: Das hilft uns, den Sinn für die Zugehörigkeit zu stärken. Die Provinzialminister, die Kustoden und die Guardiane sind verpflichtet, über die Anweisungen und Absichten des Gesamtordens und über die Entscheidungen des Provinzkapitels zu informieren und zu berichten und auch darüber zu informieren, wie es dazu gekommen ist. Der Sinn für die Zugehörigkeit wird gefestigt, wenn man wichtige Gedenktage im Leben der Gemeinschaft und des Einzelnen festlich begeht. Normalerweise gibt es in unseren Provinzen und Gemeinschaften viel Kritik, etwas wohltuende Selbstkritik, aber viel mehr Klagen und Anschuldigungen. Versuchen wir doch Gott zu preisen für alles Gute und Schöne, das er in uns und unter uns gewirkt hat. Es wäre traurig und beunruhigend, wenn wir diese Dimension nicht mehr sähen! Warten wir mit dem Erzählen über das Gute, das einer getan hat, nicht bis zu seinem Tod! Seien wir dem Herrn dankbar, dass dieser „heilige Mensch“ zu unserem eigenen Orden gehört, dass er einer von uns ist.!

2.4.1. In unser Leben einführen

Die Einführung in unser Leben kennt verschiedene Etappen, die je entsprechend zu leben sind. Die Ausbildner und die Gemeinschaft sind beauftragt, die Eignung des Kandidaten zu prüfen und zu verifizieren. Junge Leute in unser Leben einzuführen, das bedeutet auch, sie in die verborgene Tiefe des inneren Lebens einzuführen. Darüber habe ich bereits gesprochen. Die Jungen oder die schon Erwachsenen, die das Ordensleben in unserer Lebensform annehmen, müssen die österliche Dynamik von Tod und Auferstehung erfassen, sich dem Weg Jesu anschliessen und sich der Schönheit bewusst werden, die darin liegt, aus Liebe sein Leben dahin zu geben. Wenn wir die Nachfolge Jesu meditieren, uns sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung vor Augen führen, dann werden wir nach und nach in das Mysterium des Heils hineingenommen. Liebe Brüder, dieser Weg ist nicht den Jungen in der Grundausbildung vorbehalten, er ist das existentielle Modell, an dem wir uns immer wieder auszurichten haben. Wenn wir das Geheimnis von Ostern, das unsere Existenz bestimmt, meditieren, dann bewahren wir uns ein jugendliches Herz, das Ausschau hält nach dem Guten, dann macht uns das wagemutig und hindert uns daran, in die Logik des Kompromisses, des Kompensierens und der Entmutigung zu fallen. Lest, was

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Papst Franziskus den koreanischen Ordensleuten gesagt hat: „Nur wenn unser Zeugnis freudig ist, werden wir Männer und Frauen für Christus interessieren. Und diese Freude ist ein Geschenk und wird durch das Gebetsleben, durch die Betrachtung des Wortes Gottes, durch die Feier der Sakramente und durch das Gemeinschaftsleben, das sehr wichtig ist, genährt. Wenn das fehlt, werden Schwächen und Schwierigkeiten aufkommen, um die Freude niederzudrücken, die wir am Beginn unseres Ordenslebens so gut kannten“.

Es ist notwendig, dass die Auszubildenden dazu ermutigt werden, den alten Menschen mit seinen Gewohnheiten hinter sich zu lassen und in der neuen Zugehörigkeit zu Christus zu leben, wie es sich im Ordensleben realisiert. Das Abstandnehmen von der eigenen Familie, von den bisherigen Lebensgewohnheiten und vom Ort unserer Herkunft will ein Zeichen für die neue Zugehörigkeit sein. Ausgedehnte Zeiten des Gebets und der Stille und ein strikt auf das Notwendige beschränkte Kontakte nach Aussen sind die beiden Elemente, die denen, die sich um unser Leben bemühen, helfen, sich in der Liebe mit dem Herrn einzuwurzeln. Der Herr gibt denen das Hundertfache, die ihn als den Allerersten lieben. In der Phase der Ausbildung ist das Vorbild der Ausbildner und der Gemeinschaft schlechthin unverzichtbar.

2.5. IM WARTEN AUF SEIN KOMMEN

Unsere Zugehörigkeit zu Christus, zur Kirche und zum Orden rufen nach der eschatologischen Dimension des Ordenslebens. Ein strenger, auf das Wesentliche beschränkte und einfache Lebensstil in Freude versetzt uns in die Lage, dass wir froh und voll Vertrauen die Fülle erwarten, die nicht zu dieser Welt gehört. Gott hat sie für seine Söhne bereitgestellt undd will, dass wir die volle Gemeinschaft mit ihm geniessen. Wie wahr und tiefgründig ist diese Erwartung; sie macht unsere Tage wesentlich und wahr! Nähren wir unsere Sehnsucht danach, Gottes Antlitz zu sehen, mit ausgedehnten Zeiten des Wachens und Betens,. Das brüderliche Leben ist bei allem Mühsamen und Mühseligem ein Zeugnis für das endgültige Einswerden der Welt.

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3. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN

Liebe Brüder, ich danke euch, dass ihr meinen Brief gelesen habt. Zu Beginn des Briefes habe ich das Verb „bekehren“ verwendet. Jetzt wo ich zum Schluss komme, wird mir bewusst, wie wenig systematisch und erschöpfend ich davon gesprochen habe. Meine Absicht war es, euch das weiterzugeben, was ich im Bezug auf Identität und Zugehörigkeit für Wesentlich halte. Ich hoffe, dass jeder in dem, was ich geschrieben habe, auf Anhaltspunkte stösst, die es ihm erlauben, sein eigenes Leben mit der Schönheit und Aktualität unseres Charismas zu konfrontieren. Ich denke, dass es um dieselben Verhaltensweisen geht, die wir dem Evangelium gegenüber einnehmen: Wir brauchen das Evangelium nicht von allem Anfang an ganz zu kennen. Wer es liest, wird von einem Abschnitt oder einem Wort angerührt und beginnt, es zu vertiefen und zu leben. Von diesem Anfang aus kann er später zur Ganzheit und Fülle der Guten Nachricht voranschreiten. Aus diesem Grund lege ich das Gewicht auf das brüderliche Leben. Ich bin mir sicher, dass unsere Brüdergemeinschaft früher oder später dank der Gnade Gottes ein Zeichen für authentische zwischenmenschliche Beziehungen sein wird. Unsere Beziehungen werden die reine und belebende Luft des Evangeliums verbreiten. Der Bruder, der seine Zugehörigkeit zum Orden lebt und im brüderlichen Leben seine Identität wahrnimmt, wird andere faszinieren und ist ein geeignetes Gefäss für grosse spirituelle Fruchtbarkeit.

3.1. AUSEINANDERSETZUNG UND DIALOG

Ich bitte, dass die Brüder über diesen Brief „arbeiten“. Ich übertrage den Konferenzpräsidenten, den Provinzialministern, Kustoden und Guardianen die Verantwortung, dass mein Brief zu allen Brüdern gelangt. Brüder, setzt euch zusammen, redet und diskutiert über die Anstösse, die euch mein Brief gegeben hat. Sehr gerne werde ich den Brief oder das E-mail eines jeden Bruders lesen, der mir seine eigenen Überlegungen, Beobachtungen und Kritiken mitteilen möchte.

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Die Auseinandersetzung und der Dialog über unsere Identität und Zugehörigkeit können ein gutes Thema für die ständige Weiterbildung sein. Im Folgenden stelle ich einige Fragen zusammen, die bei euren Zusammenkünften wegweisend sein können.

° Worin bestehen die wesentlichen Elemente unserer franziskanisch-kapuzinischen Identität? Welche Elemente sollen in der aktuellen Situation des Ordens und in deinem persönlichen sozialen Kontext den Vorrang haben? Was bringt dich dazu, so zu denken?

° Welches sind die Schwierigkeiten, die der Zugehörigkeit innewohnen? Welche Schwierigkeiten sind in deiner Umgebung besonders wirksam? Die Anhänglichkeit an die eigene Familie, der Aktivismus im kirchlichen Dienst, die fehlende Transparenz beim Umgang mit dem Geld oder anderes?

° Was muss in deiner Brüdergemeinschaft, Zirkumskription und Konferenz den Vorrang erhalten, wenn wir unsere Identität als Mindere Brüder Kapuziner und unsere Zugehörigkeit stärken wollen?

Was Papst Franziskus den Generaloberen am 29. November 2013 gesagt hat, möchte ich euch als Schlusswort weitergeben. Lassen wir uns herausfordern, fürchten wir uns nicht, unsere Einstellungen, Verhaltensweisen und Mentalitäten zu ändern. Unsere Hinwendung zu dem, der uns am Charisma des Heiligen Franziskus Anteil gibt, macht uns bereit für den Weg der Heiligkeit. Wenn wir ihn durchlaufen haben, dann wird er zur vollen Erfüllung unserer Existenz führen.

„Weckt die Welt! Seid Zeugen für eine andere Art zu leben, zu handeln und die Dinge anzupacken! Man kann in dieser Welt anders leben! Wir reden von einem eschatologisch geprägten Blick auf die Welt, wir reden von den Werten des Reiches, die hier, auf dieser Erde, sich verwirklichen. Es geht darum, alles zu verlassen, um dem Herrn zu folgen. Ihr müsst wahrhaftig Zeugen sein für eine andere Art sich zu verhalten. Allerdings, im Leben ist es schwerlich so, dass alles klar, präzis und eindeutig umschrieben ist. Das Leben ist komplex, es besteht aus Gnade und Sünde. Wir alle machen Fehler und wir müssen unser Versagen anerkennen. Ein Ordensmann. der zu seiner Schwäche und Sündhaftigkeit steht, ist kein Widerspruch zur Botschaft, die zu verkünden er gerufen ist; im Gegenteil er

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macht die Botschaft stärker, und das ist gut für alle. Ich erwarte mir von euch Zeugenschaft. Ich erwarte von den Ordensleuten diese besondere Zeugenschaft“0.

Brüderlich verbunden im Herrn

Br. Mauro JöhriGeneralminister OFMCap

Rom, 4. Oktober 2014Fest des hl. Franz von Assisi

0 ANTONIO SPADARO S.I, „Weckt die Welt! Gespräch von Papst Franziskus mit den Generaloberen, in: Civiltà Cattolica 2014 3 17 / 3925 (4. Januar 2014

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Contents

EINFÜHRUNG Eine Anfrage als Auslöser................................................................................................41. UNSERE IDENTITÄT............................................................................................................................6

1,1. UNSER WEG DURCH DIE GESCHICHTE...............................................................................................61. 2. PRIORITÄT DES BRÜDERLICHEN LEBENS...........................................................................................61.3. ERFAHRUNG UND ZEICHEN: WIE SIEHT UNSERE IDENTITÄT AUS?....................................................81.4. AM ANFANG VON ALLEM................................................................................................................13

2. DIE ZUGEHÖRIGKEIT........................................................................................................................182.1. MIT JESUS CHRISTUS, IN DER KIRCHE..............................................................................................182.2. EIN STARKES INNERES LEBEN..........................................................................................................192.3. ZEICHEN DER ZUGEHÖRIGKEIT........................................................................................................192.4. FEIERN.............................................................................................................................................232.5. IM WARTEN AUF SEIN KOMMEN.....................................................................................................24

3. ABSCHLIESSENDE BEMERKUNGEN...................................................................................................253.1. AUSEINANDERSETZUNG UND DIALOG............................................................................................25

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