30

Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

  • Upload
    others

  • View
    4

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de
Page 2: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de
Page 3: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

Insa Meinen / Ahlrich Meyer

Verfolgt von Land zu Land

Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938-1944

Unter Mitarbeit von Jörg Paulsen

FERDINAND SCHÖNINGHPaderborn · München · Wien · Zürich

Page 4: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Nora Krull, BielefeldVorsatzkarten: Michael Teßmer, Hamburg

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtemund alterungsbeständigem Papier ∞� ISO 9706

© 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne

vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig.

Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-657-77564-4ISBN der Printausgabe 978-3-506-77564-1

Titelfoto:

Ehemaliger Fluchtweg im Aachener Grenzgebiet (Aufahme 2012)

Diese Veröffentlichung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert

Page 5: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

KAPITEL 1»Ich musste das Land innerhalb von zehn Tagen verlassen oder man hätte mich in ein Konzentrationslager gebracht«. Die Flucht von Juden aus Deutschland und Österreich ab 1938 . . . . . . . . . . . . . 17

Die Akte Siegfried Rosenbaum (17) • Quellen und Anlage der Unter-suchung (19) • Ausweisung und Abschiebung aus Deutschland (22) • »Aus welchem Grunde haben Sie Belgien ausgewählt?«(30) • Materi-elle Lage (33) • Einzelschicksale (35)

KAPITEL 2Asyl in Belgien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Über die Schwierigkeit, aus Deutschland herauszukommen (42) • Das deutsche Grenzregime (46) • Überwacht, aber durchlässig: die belgische Grenze (49) • Einreise und Rückschiebung (51) • Hilfe durch andere Flüchtlinge und Verwandte (57) • Hilfe für Kinder (61) • Familien auf der Flucht (64) • Aufenthalt in Belgien: legal oder illegal (68) • Aufnahme- und Internierungszentren (76) • September 1939 (81) • Unter deutscher Besatzung (88)

KAPITEL 3Gescheiterte Rettung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Wie viele Juden flohen ab 1938 nach Belgien? (99) • Wie viele Flücht-linge fielen der »Endlösung« zum Opfer? (103) • Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich (110) • Deportation (119) • Brüssel und Antwerpen (121) • Arbeitseinsatzbefehle (123) • Fluchten aus den Todeszügen (124)

KAPITEL 4Fluchthilfe und falsche Papiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Die Akte Dora W. (128) • Belgien 1939: Einreise mit gefälschten Visa (136) • Fluchthilfe – Geschäfte mit Verfolgten und Rettungsunter-nehmen (151) • Verwendung falscher belgischer Ausweise (163)

Page 6: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

6 INHALT

KAPITEL 5 Westeuropa als Falle. Die Flucht von Juden aus Holland und Belgien während der Zeit der Deportationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Waffengebrauch mit Todesfolge (184) • »… nur als Durchgangsland«. Verhaftungen an der niederländisch-belgischen Grenze (187) • Das Devisenschutzkommando setzt V-Leute gegen Flüchtlinge ein (191) • »…dass ich mein Leben retten wollte«. Zollfahndung an der belgisch--französischen Grenze (199) • Fluchten nach Frankreich, Verhaftungen an der Demarkationslinie (206) • Verhaftungen in der »freien Zone«(213) • Fluchten als Massenphänomen (216)

KAPITEL 6Fluchtziel Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Quellen und methodisches Verfahren (227) • Wer waren die Flücht-linge? (229) • Wer floh und wer blieb zurück? Die Situation der Familien (235) • Fluchtzeiträume, Deportationen (244) • Landkarte der Fluchten (254) • Einzelschicksale (258)

SCHLUSS

Zwangsmigration und Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis (281) / Auswahlbibliographie (282) / Funde aus den Akten (285) / Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen (286) / Anmerkungen (287) / Personenregister (325) / Ortsregister (329)

Page 7: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

Vorwort

Wer nicht mit dem Thalys oder ICE von Köln nach Brüssel reist, sondern in Aachen den Regionalzug besteigt, der fährt kurz vor Welkenraedt an den Resten des ehemaligen belgischen Grenzbahnhofs Herbesthal vorbei. Das mächtige Bahnhofsgebäude, das noch aus der Kaiserzeit stammte, als der Ort auf deutschem Gebiet lag, wurde vor bald 30 Jahren demoliert. Man sieht verlassene Rangieranlagen und Schuppen, ein geschlossenes Hotel, die verblichene Werbung einer Speditionsfirma. Der heutige Rei-sende weiß nicht, welche jammervollen Szenen der Verzweiflung sich hier kurz nach dem Novemberpogrom 1938 abgespielt haben. Damals trafen ganze Gruppen unbegleiteter jüdischer Flüchtlingskinder in Herbesthal ein, die von ihren Eltern in Köln auf den D-Zug gebracht worden waren – ohne Papiere, nur versehen mit einer Anlaufadresse in Brüssel oder Antwerpen, in der Hoffnung, die Kinder auf diesem Weg vor der antijüdi-schen Gewalt in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Das belgische Rote Kreuz empfing und versorgte die Ankommenden, die belgische Fremden-polizei entschied, sie umgehend nach Deutschland zurückzuschicken.

Um die gleiche Zeit nahm der österreichische Flüchtling Hans Maier, der sich später Jean Améry nannte, einen anderen Weg ab Köln. Im Eifel-gebiet südwärts von Aachen, bei Kalterherberg , verlief eine grüne Grenze, über die man mit Glück illegal auf belgisches Territorium gelangen konn-te. Einmal dort, war man vorerst gerettet:

»Köln, Januar 1939. Wohin sich wenden flüchtigen Fußes? Nicht dorthin, rieten die Eingeweihten, denn scharf bewacht seien gerade dort die Grenzen auf beiden Seiten. Und auch nicht dahin. Nicht südwärts und nicht nach dem Norden hinauf. Blieb das kleine zweisprachige Land, wo schließlich ein prekäres Unterkommen winkte. [...] Es ging durch die winternächtliche Eifel auf Schmugglerwegen nach Belgien, dessen Zöllner und Gendarmen uns einen legalen Grenzübertritt verwehrt haben würden, denn wir kamen ohne Paß und Visum, ohne alle rechtsgültige staatbürgerliche Identität, als Flüchtlinge ins Land. Es war ein langer Weg durch die Nacht. Der Schnee lag kniehoch; die schwarzen Tannen sahen nicht anders aus als ihre Schwestern in der Heimat, aber es waren schon belgische Tannen, wir wußten, daß sie uns nicht haben wollten. [...] Irgendwo, vielleicht in der Nähe der Stadt Eupen, nahm ein Lastwagen uns auf und führte uns tiefer ins Land hinein. Am nächsten Morgen standen meine junge Frau und ich am Bahnhofspostamt von Antwerpen und telegraphierten in mangelhaftem

Page 8: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

8 VORWORT

Schulfranzösisch, wir seien glücklich angekommen. Heureusement arrivé – das war anfangs Januar 1939.«1

Das vorliegende Buch ist Ergebnis von mehr als sieben Jahren gemeinsa-mer Arbeit. Wir hatten uns dem Thema auf unterschiedliche Weise genä-hert. Bei unseren Forschungen zur Shoah in Frankreich und Belgien waren wir immer wieder mit dem Phänomen der Flucht konfrontiert worden. Wir begriffen, dass Fluchten – Fluchten in die Illegalität, über Grenzen, aus Lagern und aus Deportationszügen – neben anderen For-men der jüdischen Gegenwehr zu den wichtigsten Überlebensstrategien der Juden während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgungen ge-hörten. Im Jahr 2005 begannen wir, gestützt auf erste Archivrecherchen, den letzten sichtbaren Spuren der jüdischen Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland nachzugehen, die in großer Zahl vorübergehend in Belgien Asyl gefunden hatten und die mit der Besetzung des Landes 1940 von der deutschen Wehrmacht eingeholt worden waren. Wir suchten die früheren jüdischen Quartiere in Brüssel und Antwerpen auf.

Im Zentrum Brüssels , in der Rue Rogier Van der Weyden, befanden sich 1939/40 die Büros einer jüdischen Hilfsorganisation, des von dem renom-mierten Arbeitsrechtler Max Gottschalk geleiteten Comité d‘Assistance aux Réfugiés juifs. Als erste Anlaufstelle bot dies Komitee vielen zumeist mittel-losen Flüchtlingen materielle Unterstützung, medizinische Hilfe und ju-ristische Beratung. Es war dies Komitee, das den aus Deutschland und Österreich vertriebenen Juden damals eine wenn auch prekäre Existenz ermöglichte. Im Innenhof des Gebäudes in der Rue Van der Weyden, dort wo die Bittsteller sich sammelten, ist bis heute eine deutschsprachige Mauerinschrift aus jener Zeit erhalten geblieben. Der Text mag uns be-vormundend erscheinen, er entsprach der alltäglichen Realität in einem Land, dem der Antisemitismus nicht fremd war und das in den Jahrzehn-ten nach dem Ersten Weltkrieg bereits zahlreiche jüdische Immigranten aus Osteuropa aufgenommen hatte. Er lautet:

»Réfugiés!Zeigt Euch der Gastfreundschaft, die Ihr in Belgien geniesst, würdig. Führt Euch stets in mustergültiger Weise auf. Achtet die Sitten des Landes. Macht Euch nicht bemerkbar. Vermeidet, auf den Strassen und an öffentlichen Plätzen laut zu sprechen.Wahret Disziplin!Es handelt sich um Euer eigenes Interesse.«

Die »deutschen« Flüchtlinge kamen in den Stadtteilen unter, die schon von der vorherigen Generation der Einwanderer bewohnt waren – und

Page 9: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

9VORWORT

das waren oft die Straßenzüge in der Umgebung der großen Bahnhöfe. In der flämischen Metropole Antwerpen ist jüdisches Leben südlich des Hauptbahnhofs bis heute präsent, während das angrenzende, in Richtung der Gemeinde Borgerhout gelegene alte »Judenviertel«, ein Armutsquar-tier, das auch von vielen Flüchtlingen bevorzugt wurde, längst zu den Zentren der marokkanischen Immigration zählt. Jean Améry wollte, wie er berichtet, gerade dort nicht hin, sondern hielt es für besser, als Fremder unbemerkt zu bleiben. Er fand Obdach in der Hafengegend der Schelde-stadt, »wo in überfüllten, Hotels sich nennenden Herbergen für billiges Geld Zimmer zu mieten sind«.2 In Brüssel konnte man nahe des Nord- und Südbahnhofs günstig logieren, etwa in den Kommunen Schaerbeek, An-derlecht, Saint-Gilles oder im innerstädtischen Bezirk der Marolles. In diesem populären Viertel, mit dem Flohmarkt als Mittelpunkt, drängten sich nicht wenige Deutsche und Österreicher in den engen Häusern, Kellerräumen und Mansarden, in der Rue des Tanneurs hatte eine Tages-stätte mit Ausschank, Lesesaal und Schachzimmer eröffnet, die den zur Untätigkeit verurteilten Flüchtlingen als Treffpunkt diente und Unterhal-tung bot. In der Rue de Lenglentier stand eine kleine Synagoge, die 1959 abgerissen wurde. Die dort einst gebetet und die in dem Viertel gelebt hatten, kehrten nicht aus Auschwitz zurück oder sie zogen nach dem Krieg irgendwann fort. Nur eine Gedenktafel erinnert heute noch an die ermor-deten Juden aus den Marolles.

Später fuhren wir an die Grenzen. Uns war klar geworden, dass Belgien nicht nur vor dem Krieg eines der wichtigsten Aufnahmeländer für jüdi-sche Flüchtlinge gewesen war, sondern dass das Königreich während der Zeit der deutschen Besatzung auch zum Transitland wurde. Viele der Ju-den aus dem deutschen Reichsgebiet flohen aus Belgien weiter nach Frankreich, und ab 1941/42 setzten größere Fluchtbewegungen von Ju-den innerhalb Westeuropas ein. Wir suchten die Grenzübergänge südlich von Roosendaal , die holländische Juden benutzt hatten, die mit Beginn der Deportationen in den Niederlanden 1942 heimlich nach Belgien und weiter nach Frankreich zu gelangen hofften, aber von mobilen Streifen der Wehrmacht abgefangen wurden; die Bahnhöfe und Zollhäuschen, an denen Juden aus Belgien auf dem Weg in das Nachbarland vorbeigekom-men sein mussten, die Kontrollstellen an der belgisch-nordfranzösischen Grenze bei La Marlière , Baisieux und Feignies , an denen viele von ihnen scheiterten. In der Ortschaft Feignies , an der damals meistfrequentierten Schnellzugstrecke zwischen Brüssel und Paris gelegen, gibt es heute eben-falls keinen Bahnhof mehr, die stillgelegten Gleise und Bahnsteige sind von der Vegetation überwuchert. Verfallende Lagerhallen und Abferti-gungsgebäude lassen erahnen, wo einst dort stationierte, übereifrige deut-

Page 10: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

10 VORWORT

sche Zöllner die im Zug festgenommenen, mit falschen Papieren und ohne den obligatorischen »Judenstern« reisenden jüdischen Flüchtlinge ersten Verhören unterzogen – Verhören, deren Niederschriften wir Jahr-zehnte später in einem Brüsseler Archiv wiedergefunden hatten.

Die verlassenen Orte sagen nichts, die stummen Überreste der Vergan-genheit geben nichts mehr preis. Was wir von ihnen wissen, wissen wir aus schriftlichen Quellen. Aus unserer archivalischen und lokalen Spurensu-che entstand der Gedanke, ein Buch über jüdische Flüchtlinge in West-europa zu schreiben, in dessen Mittelpunkt Belgien stehen sollte, das neben den Emigranten aus dem deutschen Reichsgebiet auch die Flücht-linge aus den Niederlanden einbeziehen und schließlich die Frage klären sollte, wie viele Juden noch während der Zeit der Deportationen aus und über Belgien nach Frankreich gelangt sind. Viele der Örtlichkeiten, die wir in diesem Buch nennen, haben im heutigen grenzenlosen Europa ihre Bedeutung verloren. Es ist 70 Jahre her, dass sich dort entschied, wer zu den Geretteten und wer zu den Untergegangenen zählen sollte. Heute fallen die Entscheidungen anderswo, auf dem Mittelmeer vor den Küsten Europas oder zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Dass Men-schen Grenzen überwinden müssen, um zu überleben, ist zu einem glo-balen Problem geworden.

*

Im Folgenden untersuchen wir die Fluchten von Juden aus Deutschland und Österreich nach den Pogromen des Jahres 1938 und die Fluchtbewegungen innerhalb des deutsch besetzten Westeuropas ab 1941/42, die im Zeichen eines drohenden Genozids standen.3 Wir gehen davon aus, dass sich im Zeitraum zwischen 1938 und 1942 ein neuer Typus von Flüchtlingen her-ausgebildet hat, deren erzwungene Migration mit der Radikalisierung der Judenverfolgung und dem Übergang zur Vernichtungspolitik zusammen-hängt. Unsere Themen sind nicht die Auswanderung, das Exil und der Heimatverlust. Wir beginnen mit der behördlichen Ausweisung von Juden aus Deutschland, beschreiben die Schwierigkeiten der Flucht nach Westeu-ropa und fragen danach, was aus der Masse der »Ausgewanderten« wurde und wie sich ihre Wege mit denen der belgischen und holländischen Juden kreuzten, als die Deportationen nach Auschwitz drohten. Kurz: wir versu-chen, die Schicksale von »namenlosen« jüdischen Opfern nachzuzeichnen, deren Spuren sich in Polizeiakten, in den Registraturen der Verfolgung und in den Listen von Todestransporten erhalten haben.

Hannah Arendts frühe Ausführungen über nationale Minderheiten, Staatenlose und Flüchtlinge in der Zwischenkriegszeit, die an Aktualität

Page 11: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

11VORWORT

bis heute nichts verloren haben,4 sowie die spätere, bahnbrechende Studie von Michael R. Marrus über europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert haben uns gezeigt, dass die sogenannte »Judenfrage«, wie sie die Natio-nalsozialisten verstanden, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zu einem internationalen Flüchtlingsproblem geworden war.5 In einer Reihe von Monographien wurden seither auch die restriktive Fremdenpolitik und die Abschottung der potentiellen Aufnahmestaaten kritisch beleuchtet.6 Diesen geschichtlichen Hintergrund setzen wir in unserer Darstellung voraus. Kaum erforscht dagegen sind die Aktivitäten der jüdischen Flücht-linge selbst, ihr Kampf um einen Aufenthaltsstatus in einem fremden Land nach ihrer gewaltsamen Austreibung aus dem damaligen Deutschen Reich; über die neuerliche Fluchtwelle, zu der es während der deutschen Besatzung kam, als Tausende westeuropäischer Juden sich vor der Depor-tation zu retten versuchten, findet sich in der einschlägigen Literatur so gut wie nichts; und die genaue Zahl von Opfern aus Österreich und Deutschland unter den aus Westeuropa deportierten Juden ist bislang ebenso wenig dokumentiert wie die Zahl der Juden aus den Niederlanden und Belgien, die ab 1941/42 flüchteten und die ebenfalls, zumeist aus Frankreich, deportiert wurden. Zur Beschreibung dieses historischen Fel-des, der Zeitspanne von 1938 bis 1944, verwenden wir den Begriff der Zwangsmigration. Er soll Fluchten aufgrund einer unmittelbaren physi-schen Existenzbedrohung kennzeichnen und zugleich anzeigen, dass es sich – aus der Perspektive der Verfolgten – oftmals um eine einzige, zu-sammenhängende Odyssee handelte. Die Beantwortung der Frage, inwie-weit sich die Massenflucht jener Jahre in die Geschichte der jüdischen Migration im 20. Jahrhundert einfügt, muss anderen, vergleichenden Untersuchungen überlassen bleiben.

In der Holocaust-Forschung hat sich seit längerem ein Wechsel der Perspektive durchgesetzt. Der zeitliche Abstand von mehr als vier Jahr-zehnten, der zwischen Raul Hilbergs Pionierwerk über die »Vernichtung der europäischen Juden« und dem zweiten Band von Saul Friedländers opus magnum »Das Dritte Reich und die Juden« liegt, markiert zugleich eine historiographische Entwicklung, die mit der Rekonstruktion der bü-rokratischen Abläufe des Vernichtungsprozesses anhand der von den Tä-tern selbst gefertigten Dokumente begann und die schließlich den Beweis erbrachte, dass die jüdische Katastrophe nur unter Einbeziehung einer Vielzahl von Stimmen und Zeugnissen der Opfer angemessen darzustel-len ist. Damit gerieten auch die Reaktionsweisen der Juden in den Jahren der Verfolgung und Vernichtung, die mannigfaltigen Formen von Selbst-behauptung, Gegenwehr und Widerstand, mehr in das Blickfeld.7 Zu-nächst galt es, die Breite des organisierten, bewaffneten jüdischen Wider-

Page 12: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

12 VORWORT

stands in Ost- und Westeuropa aufzuzeigen, um dem grausam falschen Verdikt zu begegnen, die Juden seien »wie Schafe zur Schlachtbank« ge-gangen. Hinzu kamen Studien, die den Rettungsbemühungen legaler und klandestiner jüdischer Organisationen und Hilfswerke gewidmet sind. Inzwischen setzt sich die Erkenntnis durch, dass auch unorganisierte, aber massenhaft verbreitete »individuelle Überlebensstrategien« zum Spekt-rum jüdischer Selbstbehauptung angesichts der Shoah gehören.8 Zu die-sen Überlebensstrategien zählen die Fluchten als Massenphänomen, die Gegenstand unseres Buches sind.9 Auch Schritte wie die, eine illegale Existenz anzunehmen, mit der Familie »unterzutauchen« oder die gefähr-deten Kinder zu verstecken, zählen dazu. Wenngleich es sich nicht um Akte der offenen Auflehnung handelte, wurden solche kollektiven Reak-tionen angesichts einer lebensbedrohlichen Gefahr von deutscher Seite aufmerksam registriert, da sie das polizeiliche Vorgehen gegen die Juden erheblich erschwerten. Soweit wir sehen, gibt es allerdings bislang wenig Forschungsarbeiten, die das Leben zahlloser Juden im Versteck,10 die Beschaffung falscher Papiere oder die grenzüberschreitenden Fluchtver-suche während der Zeit der Deportationen zum Gegenstand hätten.

Werden die Zeugnisse von Opfern in die Historiographie des Holocaust einbezogen, und das geschieht unterdessen oft, dann sind es entweder Tagebücher, Briefe oder sonstige Aufzeichnungen von Menschen, deren Namen und Schicksale ein besonderes Interesse der Nachwelt begründen, oder es handelt sich um Augenzeugenberichte von Geretteten und Über-lebenden, wie sie vielfach überliefert sind. Wir haben uns vorgenommen, von den Untergegangen zu berichten, deren Spuren die Nazis zu tilgen versuchten, von »namenlosen« jüdischen Flüchtlingen, die alles dafür taten, sich und ihre Angehörigen vor der Vernichtung zu retten, und die schließlich scheiterten, deportiert und ermordet wurden. Ihre Geschich-ten sind nirgends aufbewahrt, in keinem Familiengedächtnis weitergege-ben worden, von ihren verzweifelten Rettungsanstrengungen können wir uns nur noch ein ungefähres Bild machen, wenn wir Dutzende von Akten und Registern heranziehen.

*

Wir betreiben in diesem Buch eine Spurensuche, wo ansonsten keine Dokumente vorhanden sind. Letzteres erklärt sich allein schon aus dem klandestinen Charakter der Fluchten, die wir untersuchen. In den Archi-ven finden sich zwar manche Berichte deutscher Stellen, die die »illegale Abwanderung« der Juden verzeichneten, auch Vernehmungsprotokolle verhafteter Flüchtlinge. In der Hauptsache aber waren wir auf zahllose

Page 13: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

13VORWORT

Personendossiers der Fremden- und Grenzpolizeien, Meldeunterlagen, »Judenregister«, Lagerkarteien, Deportationslisten und dergleichen Mas-senquellen angewiesen. Die systematische Auswertung dieser Massenquel-len führt nicht nur zu statistischen Befunden, sondern – wie wir zu zeigen hoffen – auch zu inhaltlich neuen Erkenntnissen. Und lässt man sich darauf ein, den Namen auch nur einer einzigen Person in verschiedenen Überlieferungen und Verzeichnissen aufzusuchen, dann fügen sich Stati-onen der Verfolgung wie biographische Teilstücke zusammen. Unsere historische Darstellung wird daher immer wieder durch eine möglichst genaue Schilderung von Einzelschicksalen unterbrochen. Es sind exem-plarisch erzählte Geschichten gewaltsam ausgelöschten Lebens.

Da kaum Aktenbestände im herkömmlichen Sinne zur Verfügung ste-hen, mit denen die Lage jüdischer Flüchtlinge in Westeuropa zwischen 1938 und 1944 und das Ausmaß von Fluchtbewegungen zureichend zu beschreiben sind, waren wir darauf angewiesen, die Quellengrundlage für unserer Arbeit allererst selbst zu erstellen. Das wäre nicht weiter erwäh-nenswert, wenn es sich nicht großenteils um »retro-digitalierte« Massen-daten handeln würde. Die Verwendung, Verbindung und rechnergestütz-te Auswertung solcher Daten auf dem Gebiet der Holocaust-Forschung dürfte in Zukunft zunehmen, wirft aber Probleme auf, die nicht allein technischer Art sind.11 Registraturen, die einst zur Erfassung der jüdischen Bevölkerung und zur Verwaltung der Todesmaschinerie dienten, sind in großer Zahl überliefert; dazu kommen »normale« Behördenvorgänge, Residentenlisten und so weiter. Archive, Gedenkstätten und sonstige For-schungseinrichtungen haben in den letzten Jahren solche Bestände digi-talisiert und in Form von Datenbanken online veröffentlicht.12 Das ermög-licht jedermann die Suche nach den Namen, Geburtsdaten, Geburtsorten, Wohnorten, Deportations- oder Sterbedaten ermordeter Juden. Nicht alles ist im Internet zu finden, für Forschungszwecke sind jedoch auch gesperrte Datenbanken zugänglich. Gleicht man diese elektronisch auf-bereiteten, heterogenen Bestände untereinander ab und führt sie länder-übergreifend zusammen, dann verfügt man über personenbezogene In-formationen, Gruppenprofile und Bewegungsbilder, die beängstigend genau sind. Personendaten in hochaggregierter Form erlauben beliebige statistische Auswertungen. Die Vergangenheit wird mit Methoden erkun-det, die denen der modernen Fahndung gleichen. Mit anderen Worten: Es entsteht ein postumes Wissen über die Opfer der Shoah, das den Nach-geborenen womöglich gar nicht zukommt. Nicht auszudenken, was ge-schehen wäre, wenn die deutsche Bürokratie in den 1940er Jahren solche Instrumente zur Hand gehabt hätte. Die Rede von den Spuren des Ver-brechens, die die Nazis zu tilgen versuchten, ist nicht falsch, wir selbst

Page 14: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

14 VORWORT

benutzen sie in diesem Buch. Aber wie sich jetzt zeigt, gibt es weit mehr verborgene Aktenspuren, als früher zu ahnen war, denn nun lassen sie sich mit technischen Hilfsmitteln rekonstruieren.

Wir wollen nicht den Nutzen rechnergestützter Verfahren in der Ge-schichtswissenschaft bestreiten, ohne die wir unsere eigene Untersuchung von Fluchtbewegungen kaum hätten durchführen können. Zugegebener-maßen war uns die Dimension unseres Vorhabens nicht von vornherein klar. Eben darin liegt aber das nächste Problem beschlossen. Mit den ge-nannten Verfahren können historische Forschungsprojekte in Angriff genommen werden, die ohne Datenverarbeitung gar nicht erst begonnen worden wären; es lassen sich Forschungsfragen beantworten, die man zuvor gar nicht erst gestellt hätte. Aber wer weiß, ob nicht ein anhand qualitativ ausgewählter Dokumente gewonnenes Ergebnis aufschlussrei-cher ist als mancher zeitaufwendig erhobene Befund, der auf Massenda-ten beruht. Es wäre für eine künftige Holocaust-Forschung, die nicht dem akademischen Selbstlauf gehorcht, wichtig und vielleicht sogar geboten, sich ihre Fragestellungen nicht vom Stand des technisch Möglichen vor-schreiben zu lassen. Der Leser möge urteilen, ob die in diesem Buch versammelten Zahlenangaben und Statistiken zur Erhellung eines weithin unbekannten Themas erforderlich sind oder ob die aus den Akten ausge-wählten Einzelschicksale jüdischer Flüchtlinge ihm mehr sagen.

*

Nicht alle Archivbestände und Datenbanken, die wir eingesehen haben, sind öffentlich zugänglich. Das wirft Fragen des Datenschutzes und der Anonymisierung auf. Wir sind nach der Regel verfahren, die Namen jü-discher Flüchtlinge nur dann zu nennen, wenn sie sich auch in veröffent-lichten Memorbüchern oder Datenbanken finden lassen und wenn die betreffende Person deportiert wurde und in Auschwitz oder in einem anderen Vernichtungslager zu Tode gekommen ist. Alle anderen Namen von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung, die nach unserer Kenntnis möglicherweise oder nachweislich überlebt haben, wurden ab-gekürzt. Die in Belgien übliche Verwaltungspraxis, Ehefrauen unter ih-rem Geburtsnamen zu registrieren, hat uns dazu veranlasst, im Text Dop-pelnamen anzuführen, da sich Hinweise auf Quellen belgischer Provenienz andernfalls nicht nachvollziehen ließen.

Alle statistischen, sachlichen und personenbezogenen Angaben in die-sem Buch stützen sich, wo nicht Einzelnachweise angeführt werden, auf online verfügbare Datenbanken,13 auf digitalisierte Bestände, die wir im Joods Museum van Deportatie en Verzet (JMDV) in Mechelen (Malines) ein-

Page 15: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

15VORWORT

sehen durften,14 oder auf die Kartei des »Judenreferats« der Brüsseler Gestapo und auf Nachkriegserhebungen des belgischen Kriegsopferdiens-tes, die uns im Archiv des Service des Victimes de la Guerre (SVG), Brüssel, zugänglich gemacht wurden. Ausführlichere biographische Informatio-nen stammen zumeist aus den zitierten Dossiers der belgischen Fremden-polizei oder den Ermittlungsakten deutscher Zoll-, Grenz- und Besat-zungsorgane, die in den Archives Générales du Royaume (AGR) bzw. im Brüsseler Forschungsinstitut Centre d’Études et de Documentation Guerre et Sociétés contemporaines (CEGES) lagern. Französische und niederländische Zitate wurden von uns ins Deutsche übertragen.

Das Thema der grenzüberschreitenden Fluchten von Juden in Westeu-ropa ist von uns seit 2005 mehrfach behandelt worden; wir greifen in der vorliegenden Darstellung auf einzelne Teile früherer Veröffentlichungen zurück.15 Für die Abdruckgenehmigungen bedanken wir uns bei den Redaktionen der »Theresienstädter Studien und Dokumente« in Prag und der »Cahiers de la Mémoire contemporaine« in Brüssel. Wenige Textstücke, auf die wir aus thematischen Gründen hier nicht verzichten konnten, sind Insa Meinens zuerst 2009 erschienener Monographie »Die Shoah in Belgien« entnommen. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt hat dem freundlicherweise zugestimmt.

Unser Buch enthält die Ergebnisse des langjährig von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts »Zwangsmigra-tion und Holocaust«. Wir danken für die großzügige Gewährung finanzi-eller Mittel, ohne die eine Untersuchung wie die vorliegende nicht mög-lich gewesen wäre. Besonderen Dank schulden wir den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts, die bei der Auswertung von Akten und Datenbanken geholfen oder Forschungsliteratur beschafft haben: Wilma Meinen, Laurence Petrone, Ronald Sperling und Yasmina Zian. Dan Michman, Leiter des International Institute for Holocaust Research (Jerusa-lem), und Jean-Philippe Schreiber, stellvertretender Direktor des Centre interdisciplinaire d’Étude des Religions et de la Laïcité (Freie Universität Brüs-sel), haben unsere Forschungen von Beginn an mit Interesse begleitet. Unser Dank geht sodann an die Leiter und Mitarbeiter verschiedener Archive, vor allem an Laurence Schram und Patricia Ramet (JMDV) sowie an Sophie Vandepontseele und Gert De Prins (SVG), die uns den Zugang zu Karteien, Akten und digitalisierten Beständen ermöglicht und die un-ser Vorhaben mit wichtigen Hinweisen und Auskünften unterstützt haben; an Direktor Karel Velle, Pierre-Alain Tallier und Filip Strubbe vom belgi-schen Reichsarchiv (AGR), die dafür sorgten, dass wir den umfangreichen Bestand der Fremdenpolizei unter besten Arbeitsbedingungen sichten und nutzen konnten. Christine Langé, Archivleiterin der Archives départe-

Page 16: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

16 VORWORT

mentales Pyrénées-Orientales in Perpignan, gewährte uns dankenswerterwei-se Einsicht in eine elektronische Fassung der Karteien der Internierungs-lager Saint-Cyprien und Rivesaltes. Wir danken der leitenden Archivarin des Pariser Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC), Karen Taïeb, für die Bereitstellung von Dokumenten, dem stellvertretenden Direktor des Amsterdamer Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD), Peter Romijn, und der Leiterin der am Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG) angesiedelten Forschungsgruppe »Digitaal Monument Joodse Gemeenschap in Nederland«, Karin Hofmeester, für freundliche Auskünfte. Fritz Backhaus vom Jüdischen Museum Frank-furt/Main eröffnete uns den Zugang zur Datenbank »Deportierte Juden aus Frankfurt am Main«; Monica Kingreen vom Pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer-Instituts half uns mit Auskünften über jüdische Familien aus Hessen. Ohne die graphische Sorgfalt von Michael Teßmer wäre unser Plan, detaillierte Karten der Herkunfts- und Zielländer der Flüchtlinge zu erstellen, nicht umgesetzt worden. Der Dank, der Jörg Paulsen dafür ge-bührt, dass er an dem gesamten Projekt ehrenamtlich mitgewirkt und uns mit seinem Sachverstand und mit großer Geduld bei der Anlage und Auswertung unseres eigenen Datenbanksystems unterstützt hat, kommt auf der Titelseite des Buches zum Ausdruck.

Brüssel/Oldenburg, im Dezember 2012 INSA MEINEN, AHLRICH MEYER

Page 17: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

KAPITEL 1

»Ich musste das Land innerhalb von 10 Tagen verlassen oder man hätte mich in

ein Konzentrationslager gebracht«. Die Flucht von Juden aus Deutschland

und Österreich ab 1938

DIE AKTE SIEGFRIED ROSENBAUM

Siegfried Eugen Rosenbaum wurde während des Novemberpogroms fest-genommen und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.1 In den folgenden sechs Wochen ermordete die Gestapo in diesem Lager mehr als 220 Juden. Rosenbaum überstand die Haft vom 10. bis zum 27. November 1938 und wurde aus dem Deutschen Reich ausgewiesen. Bis dahin hatte der ledige Viehhändler in seinem Geburtsort, der thüringi-schen Kreisstadt Arnstadt , wo schon sein Vater zur Welt gekommen war, im Hause seiner Eltern gelebt. Er war 26 Jahre alt, als er Anfang Januar 1939 ohne Visum und auf heimlichen Wegen nach Belgien floh. Dort suchte er sich eine Unterkunft im flämischen Antwerpen − eine der beiden belgi-schen Metropolen, in denen nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung des Landes ansässig war, und vor allem Ort eines bedeutenden Überseehafens. Bei seiner Anmeldung versicherte Rosenbaum der belgischen Polizei, in die USA weiterreisen zu wollen. Daraufhin wurde dem deutschen Staats-angehörigen eine vergleichsweise großzügige Ausreisefrist von drei Mona-ten zugebilligt. In der Tat verfügte er über ein Affidavit, also die eidesstatt-liche Erklärung eines in den Vereinigten Staaten wohnhaften Bürgen, die zur Beantragung eines Einreisevisums erforderlich war. Im September 1938 hatte er sich beim Berliner amerikanischen Konsulat registrieren lassen. Als das Antwerpener Hilfskomitee, das die örtliche jüdische Ge-meinschaft zur Unterstützung der aus Nazi-Deutschland geflohenen Juden unterhielt, im Mai 1939 bei der belgischen Fremdenpolizei eine Verlänge-rung der Aufenthaltsfrist für Rosenbaum beantragte, ging man noch opti-mistisch davon aus, dass der Flüchtling Belgien im Laufe des Jahres verlas-sen könne, da er unter die deutsche Quote falle. Doch wenig später stellte sich heraus, dass daraus nichts werden würde.2

Im November 1939, der Zweite Weltkrieg hatte inzwischen begonnen, erhielt Rosenbaum eine zunächst auf sechs Monate befristete Aufenthalts-

Page 18: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 18

genehmigung und einen regulären Fremdenausweis. Infolge seines schlechten Gesundheitszustandes hatte er nicht in die zunächst geplante Unterbringung in einem Flüchtlingszentrum einwilligen müssen, um in Belgien vorläufig geduldet zu werden, solange er nicht in ein anderes Land ausreisen konnte. Stattdessen lebte er mit seinen Eltern zusammen. Ebenfalls aus dem Deutschen Reich ausgewiesen, waren sie wenige Wo-chen nach ihrem Sohn in Antwerpen eingetroffen. Leo Rosenbaum , von Beruf Viehhändler wie sein Sohn, stand bereits im 60. Lebensjahr.3 Er und seine zehn Jahre jüngere Frau Hermine Rosenbaum-Weiss hatten mehr-fach und an verschiedenen Stellen vergeblich versucht, die grüne Grenze nach Belgien heimlich zu überqueren, und waren mindestens zweimal von der belgischen Gendarmerie nach Deutschland zurückgeschoben worden, bevor ihnen die Einreise glückte.

Als die deutsche Wehrmacht am 10. Mai 1940 in das neutrale Belgien einfiel, verhaftete die belgische Polizei Tausende von deutschen und österreichischen Männern im waffenfähigen Alter, darunter viele jüdi-sche Flüchtlinge, und schob sie nach Südfrankreich ab, wo die meisten von ihnen in das Internierungslager Saint-Cyprien bei Perpignan ein-gewiesen wurden.4 Siegfried Rosenbaum gehörte zu den Verhafteten, doch spätestens Anfang November 1940 konnte er entkommen und kehrte nach Belgien zurück, das nun unter deutscher Militärverwaltung stand.

Diente die Besatzung des Königreichs vorrangig dazu, die Ressourcen des Landes zu Gunsten der deutschen Kriegswirtschaft auszuplündern, so leiteten der Militärbefehlshaber und sein Militärverwaltungschef ab Herbst 1940 auch eine Serie antijüdischer Maßnahmen ein, die die Juden zunehmend in ihren Grundrechten einschränkten, sie nach und nach aus dem Berufsleben und der Wirtschaft ausschlossen und ihnen schließlich die Verfügung über ihre Ersparnisse und ihr Eigentum entziehen sollten.5 Bereits ab 1940 forcierten die Deutschen die Judenverfolgung insbeson-dere in Antwerpen , wo sie überdies stärker auf die Mitwirkung belgischer Behörden und Kollaborateure zählen konnten, als dies in Brüssel der Fall war. Aus diesem Grund flohen während der Besatzungszeit viele Juden aus Antwerpen nach Brüssel , sofern sie nicht schon im Winter 1940/41 aus der Stadt an der Schelde vertrieben wurden. Der einschlägige Erlass des Militärbefehlshabers zur Sicherung des Küstengebiets ordnete unter anderem die Ausweisung aller seit 1933 aus Deutschland nach Belgien ausgewanderten Personen an.6

Siegfried Rosenbaum entging der daraufhin eingeleiteten Massenab-schiebung Tausender ausländischer Juden in die belgische Provinz Lim-burg. Doch auch er verließ Antwerpen und meldete sich 1941 in Brüssel-

Page 19: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

QUELLEN UND ANLAGE DER UNTERSUCHUNG 19

Schaerbeek an, wo er bald eine gemeinsame Unterkunft mit seinen ebenfalls in die belgische Hauptstadt ausgewichenen Eltern bezog. Die Familie wurde von der öffentlichen Sozialfürsorge unterstützt: im März 1942 erhielten die Eheleute Rosenbaum und ihr nach wie vor kranker Sohn zusammen 161 belgische Franken pro Woche, umgerechnet ent-sprach dies knapp 13 Reichsmark.7 Kurz darauf plante die Fremdenpolizei eine Überprüfung der Angelegenheit und warf die Frage auf, ob nicht ein weiterer nach Belgien geflohener Sohn für Leistungen zum Unterhalt seiner Angehörigen herangezogen werden könne. Im Mai 1942 kürzte die belgische Wohlfahrtsbehörde ihren Zahlungsbetrag um 90%. Nun ging Siegfried Rosenbaum einer nicht näher bezeichneten Arbeit nach, die pro Woche mit 200 belgischen Franken vergütet wurde. Diese Tätigkeit übte er aus, bis seine deutschen Verfolger ihn erneut festnahmen.

Am 22. Juli 1942 begannen Sicherheitspolizei und SD (Sipo-SD) − die örtlichen Dienststellen des Reichssicherheitshauptamtes − und die Feld-gendarmerie des Militärbefehlshabers gemeinsam mit der planmäßigen Verhaftung von Juden im Rahmen der »Endlösung«.8 An diesem Tag lie-ferte man Siegfried Rosenbaum in das mitten in Belgien errichtete Kon-zentrationslager Breendonk ein, das als Folter- und Hungerstätte zu trau-riger Berühmtheit gelangte und von der Sipo-SD geführt wurde, jedoch dem direkten Befehl des Militärverwaltungschefs unterstand.9 Spätestens Anfang September 1942 verbrachten die Deutschen Rosenbaum in das nahegelegene Sammellager Mechelen (Malines), wo die Züge nach Auschwitz zusammengestellt wurden. Der erste Konvoi verließ Belgien am 4. August 1942. Siegfried Rosenbaum wurde am 8. September 1942 mit dem achten Transport deportiert. Auch seine Eltern entkamen der Ver-nichtung nicht. Leo Rosenbaum und Hermine Rosenbaum-Weiss folgten ihrem Sohn ein halbes Jahr später mit dem Transport Nr. XVIII.10

QUELLEN UND ANLAGE DER UNTERSUCHUNG

Was hier über die jahrelange Flucht Siegfried Rosenbaums und seiner Angehörigen vor der nationalsozialistischen Judenverfolgung berichtet wurde, beruht fast ausschließlich auf Personendossiers der belgischen Fremdenpolizei, die im Brüsseler Reichsarchiv aufbewahrt werden und erst seit einigen Jahren für die Forschung zugänglich sind.11 Über solche, letzten Endes vergeblichen, Rettungsanstrengungen der aus Deutschland und Österreich nach Belgien geflohenen Juden unter den Bedingungen

Page 20: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 20

von Pogrom, gesperrten Grenzen und der Expansion der NS-Herrschaft nach Westeuropa wissen wir bis heute zu wenig. Dagegen ist die belgische Flüchtlings- und Asylpolitik der dreißiger Jahre dank der Pionierarbeiten des Genter Historikers Frank Caestecker über die »Unerwünschten Gäs-te« gründlich erforscht.12 Die Fremdenpolizei war in Belgien Teil der Sûreté publique und unterstand dem Justizministerium. Wenngleich die deutsche Vertreibungsstrategie, die darauf zielte, die Juden in großer Zahl ohne Ressourcen unter höchstem Druck aus dem Land zu jagen, in Bel-gien die gleichen Abwehrmaßnahmen hervorrief wie in anderen Staaten, und obwohl manche der verantwortlichen belgischen Beamten und Poli-tiker xenophobe oder antisemitische Anschauungen vertraten, bot das Königreich schätzungsweise 25.000 jüdischen Flüchtlingen Zuflucht.

Ohne das Engagement jüdischer Unterstützer wäre dies undenkbar gewesen. Bereits 1933 war ein jüdisches Hilfskomitee in Brüssel gegründet worden, das Comité d‘Aide et d‘Assistance aux Victimes de l‘Antisémitisme en Allemagne (CAAVAA), das sich ab Mitte 1938 Comité d‘Assistance aux Réfugi-és juifs (CARJ) nannte. Den Vorsitz hatte der Vizepräsident der Brüsseler israelitischen Gemeinschaft Max Gottschalk inne. In Antwerpen hatte sich ebenfalls schon 1933 ein Komiteit tot Verdegiging der Rechten der Joden gebil-det, das auf politischer Ebene gegen die deutsche Judenverfolgung inter-venierte; das angegliederte Antwerpsch Komiteit voor Joodsche Vluchtelingen unter Leitung des Präsidenten der Zionistischen Föderation Belgiens, Numa Torczyner, übernahm die Unterstützung der Flüchtlinge. Wer von der nazistischen Judenverfolgung betroffen war, ohne der jüdischen Re-ligionsgemeinschaft anzugehören, konnte sich an katholische beziehungs-weise protestantische Hilfseinrichtungen wenden, für Sozialisten gab es den Fonds Matteotti und für Kommunisten den Secours populaire, der indes keine monetären Leistungen gewährte. Doch die jüdischen Komitees waren schon in quantitativer Hinsicht mit Abstand die wichtigsten Helfer, und sie nahmen zudem weitreichenden Einfluss auf die staatliche Flücht-lingspolitik. Mit anderen Worten: Der belgische Staat überließ es weitge-hend privaten Hilfsorganisationen, sich um die Gestrandeten zu küm-mern.

Die Tätigkeit dieser jüdischen Hilfskomitees und die maßgeblich vom Brüsseler CARJ vorangetriebene Unterbringung von Flüchtlingen in ge-schlossenen Aufnahmezentren sind von der belgischen Historiographie ebenfalls kritisch aufgearbeitet worden.13 Weiteren Aufschluss bietet in-zwischen ein Forschungsbericht mit dem Titel »La Belgique docile« (über-setzt etwa: Das willfährige Belgien), der vor einigen Jahren im Auftrag des belgischen Senats erstellt wurde, um die Beteiligung der belgischen Be-hörden an der Judenverfolgung zu klären. Der Bericht geht unter ande-

Page 21: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

QUELLEN UND ANLAGE DER UNTERSUCHUNG 21

rem auf die Umstände ein, unter denen die belgische Polizei zu Beginn der deutschen Besatzung Tausende von Flüchtlingen aus Belgien nach Frankreich abschob.14

Im Folgenden werden die belgische Flüchtlingspolitik und die Hilfsko-mitees nur behandelt, insofern es zum Verständnis des Geschehens erfor-derlich ist oder wenn sich aus den von uns herangezogenen und bislang in der Literatur nicht berücksichtigten Quellen wesentliche Ergänzungen zum Forschungsstand ergeben. Unser Hauptinteresse besteht darin, die Flucht- und Verfolgungsgeschichte derjenigen jüdischen Erwachsenen, Kinder und Familien nachzuzeichnen, die sich 1938/39 − einzelne noch später − unter größten Anstrengungen aus Österreich und Deutschland nach Belgien zu retten wussten, aber dort im Mai 1940 von den deutschen Besatzern eingeholt und in den Jahren 1942 bis 1944 nach Auschwitz deportiert wurden.

Die seinerzeit von der belgischen Fremdenpolizei angelegten Perso-nendossiers bieten reichhaltige Aufschlüsse für eine Untersuchung, die die Flüchtlinge selbst in den Mittelpunkt rückt. Dies gilt insbesondere auch für die Erhebung von Fakten, die über das Einzelschicksal hinaus-gehen und sich auf die Verfolgung und das Fluchtverhalten von Familien oder von verschiedenen Gruppen wie beispielsweise polnischen Staats-angehörigen beziehen.15 Zwar sind die in den Behördenakten aufbewahr-ten Hinweise zur Geschichte der Flüchtlinge ungleichgewichtig und lü-ckenhaft. Dennoch bilden sie in der Summe − auf der Basis von rund 3.300 ausgewerteten Dossiers − sozusagen ein kollektives Fluchtschicksal ab, das die Opfer der »Endlösung« einschließt, die niemals Zeugnis ab-legen konnten.

Das vorliegende Auftaktkapitel beschäftigt sich mit den massenhaften Ausweisungen von Juden aus Deutschland und führt zugleich in die Lage der Flüchtlinge in Belgien ein. Vier ausführlich dargestellte Einzelschick-sale sind charakteristisch für die unterschiedlichen individuellen Flucht-erfahrungen und Reaktionen der Verfolgten. Im zweiten Kapitel wenden wir uns dem dauerhaft prekären Status der Flüchtlinge zu und zeigen, wie sie von ihrer Ausreise aus dem Deutschen Reich 1938/39 bis zu ihrer Deportation aus Belgien nach Auschwitz über Jahre versuchten, ihren Verfolgern zu entkommen und ihr Existenzrecht zu behaupten. Das drit-te Kapitel versammelt statistische Ergebnisse unserer personenbezogenen Studien zu bislang ungeklärten Fragen. Flohen bestimmte Gruppen, zum Beispiel ausländische Staatsbürger oder junge Männer, eher als andere Juden? Wie unterschied sich die Flucht der Juden aus Österreich von der Flucht aus dem alten Reichsgebiet? Wie groß war der Anteil der Flücht-linge unter den Opfern der Shoah aus Belgien?

Page 22: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 22

AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG AUS DEUTSCHLAND

»Hiermit erhalten Sie den Ausweisungsbeschluss des Herrn Regierungspräsi-denten in Merseburg vom 19. Februar d. J. [...], mit dem Ihre Reichsverwei-sung angeordnet wird.Auf Grund dieses Beschlusses fordere ich Sie auf, das Reichsgebiet spätestens innerhalb 10 Tagen nach Erhalt dieser Verfügung zu verlassen und es nicht wieder zu betreten.Falls Sie dieser Aufforderung nicht bis spätestens zum 12. d. M. nachkommen, [...] sehe ich mich genötigt, Ihre Überführung in ein Konzentrationslager zu veranlassen, wo Sie bis zur endgültigen Durchführung der Reichsverweisung, d. h. bis zu Ihrer Ausreise aus dem Reichsgebiet zu verbleiben hätten.«16

Dieses Schreiben vom 3. März 1938 sandte der Polizeipräsident Halle an der Saale an den jüdischen Fellhändler Jacob Graubart . Durch Fürsprache des Hilfsvereins der Juden in Deutschland konnte Graubart , der 1889 in Polen geboren wurde, zweimal einen Aufschub des Ausreisetermins errei-chen, den der zuständige Regierungspräsident schließlich definitiv auf Ende Mai 1938 festlegte. Graubart war inzwischen aus Halle nach Leipzig verzogen, wo er sich möglicherweise noch im Herbst 1938 aufhielt, falls er nicht interniert oder abgeschoben wurde, worüber die Quellen keine Auskunft geben. Es steht jedoch fest, dass ihm kurz nach dem November-pogrom die Flucht nach Belgien gelang. Am 22. November 1938 gab er in Brüssel den Satz zu Protokoll, der die Überschrift dieses Kapitels bildet. In Belgien konnte sich Graubart in Sicherheit wähnen, bis er in die Hän-de der deutschen Besatzer fiel, die ihn am 18. August 1942 nach Auschwitz deportierten.

Die planmäßige Vertreibung der Juden aus Deutschland, die das Nazi-Regime in den 1930er Jahren als Ziel verfolgte, gehört zur Vorgeschichte des Genozids. Die angewandten Mittel reichten von allgegenwärtigen Demütigungen und Schikanen über den Entzug des Eigentums und der ökonomischen Existenzgrundlage bis zur willkürlichen Inhaftierung und zu Angriffen auf Leib und Leben, die 1938 mit dem Anschluss Österreichs und dem Novemberpogrom einen systematischen Charakter annahmen. Darüber hinaus begannen die deutschen Behörden im selben Jahr in großem Stil mit Ausweisungen und illegalen Abschiebungen über die Nachbargrenzen.17 Es handelte sich vornehmlich um drei Arten der Ver-folgung: durch die Verwaltungs- bzw. Polizeibehörden schriftlich angeord-nete Einzelausweisungen aus Deutschland zwischen Frühjahr 1938 bis Mitte 1939, die Massenabschiebung nach Polen im Oktober 1938, und

Page 23: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG AUS DEUTSCHLAND 23

schließlich die von der Gestapo in den Konzentrationslagern erpressten Ausreiseverpflichtungen, die ab Ende 1938 zur Regel wurden.

Das wohl bekannteste Datum ist die Ausweisung und Deportation von schätzungsweise 17.000 überwiegend polnischen und staatenlosen Juden nach Polen, die die deutsche Polizei am 27. Oktober 1938 handstreichar-tig im gesamten Reichsgebiet einleitete, um der von der polnischen Re-gierung angedrohten Ausbürgerung der seit langem in Deutschland le-benden Juden polnischer Staatsangehörigkeit zuvorzukommen. Ein Teil der Opfer wurde ins Deutsche Reich zurückgeschoben und Tausende mussten unter zunächst katastrophalen Bedingungen im deutsch-polni-schen Grenzgebiet ausharren, wo spezielle Aufnahme- bzw. Internierungs-lager in Zbąszyń und weiteren Orten errichtet wurden.18 Das von dem deutschen Flüchtling Herschel Grynszpan in Paris aus Protest gegen die Deportation seiner Familie verübte Attentat auf einen Beamten der deut-schen Botschaft diente der Nazi-Führung als Vorwand für die Entfesselung des Novemberpogroms.

Während diese Fakten hinreichend bekannt sind, dürfte kaum jemand wissen, dass Hunderte von Juden, die von den deutschen Verwaltungs- und Polizeibehörden nach Polen abgeschoben oder aus dem Reichsgebiet ausgewiesen worden waren, alles daran setzten, nach Belgien zu fliehen. Im März 1939 meldete die zur Grenzüberwachung eingesetzte belgische Gendarmerie, nachdem sie mehrere Juden im Grenzgebiet aufgegriffen und nach Deutschland zurückgeschoben hatte:

»Den Aussagen der Vorgenannten zufolge befinden sich in Köln noch sehr viele Juden, die sämtlich eine Verfügung des Berliner Polizeipräsidiums zur Befristung ihres Aufenthalts in Deutschland erhalten haben.«19

Wir haben insgesamt annähernd 600 Flüchtlinge identifiziert, die behörd-licherseits ausgewiesen wurden und denen die Einreise nach Belgien ge-lungen ist. Allerdings umfasst diese Zahl lediglich einen Bruchteil aller Fälle. Denn die Flüchtlinge, die von belgischer Seite zwar nach erlittenen Haftzeiten oder Misshandlungen, nicht aber speziell nach Reichsverwei-sungen und Aufenthaltsverboten gefragt wurden, machten selbst oft keine Angaben darüber, dass sie aus Deutschland ausgewiesen worden waren, solange sie nicht über Anwälte oder andere Unterstützer verfügten. Wie die von der belgischen Sûreté in den 1930er Jahren anlegten Personendos-siers der Flüchtlinge aus Deutschland belegen, begannen diese Auswei-sungen bereits Anfang 1938 − noch bevor die polnische Regierung die Voraussetzungen für die Denaturalisierung schuf −, auch wenn die große Mehrheit der Ausgewiesenen erst nach dem Novemberpogrom in Belgien eintraf.20 Die Regierungs- bzw. Polizeipräsidenten stützten sich bei der

Page 24: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 24

Anordnung auf ein 1934 erlassenes Gesetz über Reichsverweisungen oder auf die am 22. August 1938 ergangene Ausländerpolizeiverordnung.21 Beide Rechtsgrundlagen richteten sich gegen Ausländer und Staatenlose, und die letztere wurde zu der oben genannten Massenabschiebung der polnischen Juden herangezogen.

Manche Juden waren erst aufgrund des 1933 in Berlin verabschiedeten Gesetzes zum Widerruf von Einbürgerungen, das gegen die sogenannten »Ostjuden« eingesetzt wurde, zu Staatenlosen gemacht worden. Zu ihnen gehörten der Wäschehändler Simon Fisch und seine Ehefrau Scheindel Narzicsenfeld . In Galizien (Österreich-Ungarn) geboren, waren beide schon seit frühester Kindheit in Karlsruhe wohnhaft, wo sie 1906 geheira-tet hatten. 1934 beraubte man sie ihrer deutschen Pässe und erklärte sie zu Staatenlosen polnischen Ursprungs. Nach der Ausweisung aus Deutsch-land floh das betagte Ehepaar im Juli 1939 nach Belgien. Im November 1939 bestätigte der Polizeipräsident Karlsruhe der belgischen Fremden-polizei auf deren Anfrage, »dass gegen Simon Fisch , geboren am 14. Juni 1875 zu Tarnobrzeg , in polizeilicher Hinsicht nichts Nachteiliges bekannt geworden ist«. Es folgte eine lapidare Erklärung dafür, was aus deutscher Sicht die Ausweisung der unbescholtenen, langjährigen Staatsbürger ge-rechtfertigt hatte: »Fisch wurde als Ostjude aus dem deutschen Reichsver-band ausgebürgert.«22 Bei ihrer Ausreise verfügten die Eheleute bereits über ein Affidavit. Doch die Hoffnungen auf eine Immigration in die Vereinigten Staaten zerschlugen sich, bevor die Deutschen sie in Belgien einholten. Anfang 1943 wurden sie in Mechelen dem XVIII. Transport nach Auschwitz zugeteilt.

Funde aus den Akten: Kein Ausweg aus der Staatenlosigkeit

»Jacob Rosenthal , geboren in Botosani (Rumänien) am 31.12.1880, zuletzt ununterbrochen 50 Jahre in Berlin wohnend; ich war Mitinhaber einer Damen Conf. Firma, die sich eines guten Rufes erfreute.Im Jahre 1923 wurde ich in Deutschland eingebürgert und im Jahre 1932 [muss heißen: 1933] auf Grund der neuen Gesetze wieder ausgebürgert und wurde dadurch staatenlos.Von dem Bestreben beseelt aus Deutschland heraus zu kommen, um zu meinen Kindern nach Amerika auszuwandern, um mir dort selbst eine neue Existenz zu gründen, bemühte ich mich nach einer anderen Staatsangehörig-keit, resp. Pass, da ich auf meinen Staatenlosen-Pass nirgends eine Einreise-erlaubnis erhielt.Zufällig lernte ich in Berlin einen Herrn kennen, der mir als Kapitän bei der finnischen Botschaft vorgestellt wurde; derselbe zeigte sich bereit, mir für RM 6.000.- auf legale Weise einen finnischen Pass zu besorgen.

Page 25: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG AUS DEUTSCHLAND 25

Diesen Betrag hielt ich für zu hoch, woraufhin mir der Kapitän den Vorschlag machte, ihm einige meiner Bekannten, die sich in gleicher Lage befanden, zuzu-führen, wogegen er mir dann meinen eigenen Pass billiger berechnen würde.Ich ging auf diesen Vorschlag ein; einige Interessenten erhielten ihre Pässe, worauf ich sodann meinen eigenen unentgeltlich erhielt.Betonen möchte ich ausdrücklich, dass mir nach Erhalt meines Passes Be-denken über die Richtigkeit aufstiegen, woraufhin der Pass vernichtet wurde.Bald darauf erschien die Gestapo bei mir und verhaftete mich; ich wurde 22 Tage in Schutzhaft gehalten und nachdem ich in dieser Passangelegenheit meine absolute Schuldlosigkeit klar erwiesen hatte, wurde ich bedingungslos entlassen.Erfahrungsgemäß wird ein in Deutschland lebender Jude, der einmal mit der Gestapo zu tun hatte, seines Lebens nicht mehr froh; demzufolge entschloss ich mich, Deutschland schnellstens zu verlassen. Da ich keinen Pass besaß, überschritt ich illegal die belgische Grenze.«

Aus einer Aufzeichnung, die Jacob Rosenthal im Sommer oder Herbst 1939 in Belgien anfertigte und den belgischen Behörden vorlegte.23 Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht von der Gestapo in Brüssel erneut verhaftet, nach Deutschland überstellt, dort zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und nach deren Verbüßung nach Belgien zurückgeschickt, wurde Rosenthal am 1. September 1942 mit dem Transport Nr. VII aus dem belgischen Meche-len nach Auschwitz deportiert.

Die Ausweisungen trafen nicht ausschließlich, aber in beträchtlichem Maße polnische Juden, die seit langer Zeit in Deutschland lebten und deren Verbindung zu Polen sich oft darauf beschränkte, dass ihr galizischer Geburtsort − bzw. der ihrer Eltern − nach dem Ersten Weltkrieg der polni-schen Republik zugesprochen worden war. Neben der großen Gruppe der Polen befanden sich unter den aus Deutschland ausgewiesenen und in Belgien geduldeten Flüchtlingen in geringerem Umfang auch Tschecho-slowaken, Rumänen, Russen und Ungarn. Mehr als ein Viertel der Ausge-wiesenen besaßen die ehemals österreichische oder deutsche Staatsange-hörigkeit. Zu ihnen gehörten die jüdischen Männer, die im Anschluss an den Pogrom vom 9./10. November 1938 in den Konzentrationslagern Buchenwald , Sachsenhausen oder Dachau inhaftiert wurden und nur frei kamen, wenn sie sich zur unverzüglichen Emigration verpflichteten.24

Viele Ehefrauen, die ihren ins Ausland vertriebenen Männern einige Zeit später folgten, gaben in Belgien zu Protokoll, dass sie nach der Flucht ihres Mannes solange von der Gestapo unter Druck gesetzt worden seien, bis sie ebenfalls eine Ausreiseverpflichtung unterzeichnet hätten. Die schriftlichen Ausweisungen durch die Polizeipräsidenten trafen Männer und Frauen sowie ganze Familien:

Page 26: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 26

»Aufgrund [...] der Ausländerpolizeiverordnung vom 22.8.1938 verbiete ich Ihnen hiermit den Aufenthalt im gesamten Reichsgebiet mit Wirkung vom 31. Mai 1939 an. Das gleiche Verbot gilt auch für alle Ihre Familienangehö-rigen.«25

(Schreiben des Polizeipräsidenten in Breslau vom Januar 1939 an Szlama Pechwasser , der im Januar 1944 zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen mit dem Transport Nr. XXIII aus Meche-len deportiert wurde.)

»...wird für Sie und ihre Familie zum Verlassen des Reichsgebiets eine endgül-tige letzte Abzugsfrist bis zum 31. Dezember 1939 festgesetzt.«26

(Schreiben des Polizeidirektors Gießen vom Juli 1939 an Jankel Fel-dan , der im Oktober 1942 mit dem XVI. Transport aus Mechelen deportiert wurde.)

Die Massenabschiebung der Polen im Oktober 1938 richtete sich in man-chen Städten ausschließlich gegen Männer, in anderen jedoch ebenso gegen Frauen und Kinder. Im Januar 1939 ordnete der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Himmler an, den zurückgebliebenen Frauen und Kindern den Aufenthalt im Reichsgebiet zu verbieten.27 Nicht wenige Familien wurden durch die Ausweisung auseinander gerissen. Moses Grosskop , ein Schneider aus Brandenburg, der im polnischen Opa-tow zur Welt gekommen und seit dem Frühjahr 1938 im Besitz eines deutschen Fremdenpasses war, wurde zusammen mit seiner Frau und mit seinen beiden in den zwanziger Jahren in Brandenburg geborenen Töch-tern im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben. Im November gelangte er allein nach Belgien, wo er als Staatenloser einen relativ günstigen Auf-enthaltsstatus erhielt. Im Frühjahr 1940 legte sein belgischer Rechtsanwalt der Sûreté die verzweifelte Situation seiner Familie dar:

»Die Familienangehörigen wurden auf tragische Weise voneinander getrennt. Im Oktober 1938 wurden sie schlagartig von den ersten rassischen Maßregeln Hitlers getroffen. Man brachte die in Brandenburg lebenden Eltern und ihre beiden kleinen Mädchen an die polnische Grenze und jagte sie über den deut-schen Zollbezirk hinaus, während die Regierung der polnischen Republik den Zutritt auf ihr Territorium untersagte. Die Familie musste auseinander gehen, um aus diesem Niemandsland heraus zu kommen. Der Vater […] hat sich im November 1938 in Belgien angemeldet. Seither sucht er nach den Seinen. Die Mutter ist bedauerlicherweise unauffindbar und gilt als vermisst. Die kleinen Mädchen haben kürzlich aus dem Lager Otwolsk in der Nähe von Warschau geschrieben. Sie klagen über Hunger und Kälte und flehen ihren Vater an, sie zu sich zu holen.«28

Page 27: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG AUS DEUTSCHLAND 27

Auch wenn die Sûreté keine Einreisebewilligung für die Töchter erteilte, konnten diese doch auf heimliche Weise nach Belgien fliehen, wo sie im Gegensatz zu ihrem Vater der Deportation entgehen sollten.

Die Mehrzahl der ausgewiesenen Juden reiste illegal ein. Nur wenige schafften es, mit einem Visum regulär nach Belgien zu kommen. Immer-hin ermöglichten die von der belgischen Regierung bewilligten Kinder-transporte, auf die wir im folgenden Kapitel noch eingehen, auch einigen Opfern der Polenabschiebung eine legale Einreise. Zu ihnen gehörte Siegfried Grynszpan , der seit seiner Geburt im Jahre 1925 mit seinen El-tern in der Stadt Gelsenkirchen gelebt hatte.29 Sein aus Polen stammender Vater und seine in Mainz geborene Mutter waren am 28. Oktober 1938 nach Polen abgeschoben worden. Sie befanden sich im Lager Zbąszyń , als ihr damals 13-jähriger Sohn im Frühjahr 1939 bei der belgischen Frem-denpolizei angemeldet wurde. Wie viele andere vom belgischen Staat aufgenommene Kinder fand er bei Verwandten Zuflucht, nämlich bei Onkel und Tante, die in den zwanziger Jahren aus Łódź immigriert und in Antwerpen ansässig waren. Drei Jahre seines kurzen Lebens verbrachte Siegfried Grynszpan in Belgien. Im Alter von 16 Jahren wurde er von der deutschen Besatzungsmacht nach Auschwitz deportiert.

Hoffnung auf die Erteilung einer Einreisegenehmigung bestand ferner im Falle sehr betagter Flüchtlinge, deren Geschick die Brutalität der Ok-toberausweisung vor Augen führt. Hinda Broder , im österreichisch-unga-rischen Galizien geboren, war als 77-jährige Witwe von der deutschen Polizei verhaftet und nach Polen abgeschoben worden. Ihr in Antwerpen lebender Sohn beantragte Mitte Dezember 1938 eine Einreisegenehmi-gung für seine Mutter:

»Ungeachtet ihres hohen Alters haben die deutschen Behörden sie abgeschoben − zusammen mit Tausenden anderen polnischen Juden […]. In Zbąszyń hat sie Aufnahme in einem Sanatorium gefunden. Doch nun wurde sie gezwun-gen, diese Einrichtung zu verlassen, um für noch ältere Personen Platz zu machen!«30

Obwohl der Sohn garantierte, für den Unterhalt seiner Mutter aufzukom-men, lehnte die Sûreté die Bewilligung eines Visums zunächst ab, zumal der Sohn selbst Immigrant war und ebenso wie Hinda Broder die polni-sche Staatsangehörigkeit besaß. Doch mit Unterstützung des Rechtsan-walts und sozialistischen Stadtverordneten Léon Kubowitzki − auf dessen Initiative 1933 in Antwerpen das erwähnte politische Komitee zur Vertei-digung der Rechte der Juden gegründet worden war, zu dem das Antwer-pener jüdische Flüchtlingskomitee gehörte31 − gelang es, die belgischen Behörden umzustimmen. Die belgische Botschaft in Warschau stempelte

Page 28: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 28

Hinda Broder ein Visum in ihren polnischen Pass, und im April 1939 konnte sie zu ihrem Sohn nach Belgien flüchten. Unter deutscher Besat-zung wurde die Witwe vom Militärbefehlshaber ungeachtet ihres hohen Alters zunächst aus Antwerpen in die belgische Provinz Limburg ausge-wiesen. 1942 deportierte die Sipo-SD Hinda Broder mit dem Deportati-onszug Nr. XIV aus Mechelen in den Tod.

Der Aufenthaltsstatus der Masse der Flüchtlinge, die nicht mit Genehmi-gung, sondern auf illegalem Wege nach Belgien einreisten, hing in erheb-lichem Maße von ihrer Staatsangehörigkeit ab. Die Lage der polnischen Juden war besonders schwierig.32 Wie unsere Durchsicht mehrerer Tau-send fremdenpolizeilicher Dossiers ergab, befanden sich unter den jüdi-schen Flüchtlingen aus Deutschland über 30% (ehemals) polnische Staatsangehörige und weniger als 50% deutsche Juden.33 Letztere waren vergleichsweise privilegiert, wurden sie doch, sofern ihnen die illegale Einreise bis ins Landesinnere gelungen war, unter bestimmten Vorausset-zungen vorläufig im Land geduldet.

Im Falle der polnischen Juden vertrat die belgische Fremdenpolizei demgegenüber noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs regelmäßig den Standpunkt, dass die Betreffenden nach Polen ausreisen könnten, selbst wenn die dortigen Behörden sie bereits nach Deutschland zurück-geschoben hatten.34 Tatsächlich war die Sachlage kompliziert. Viele der seit langem, oftmals seit Jahrzehnten in Deutschland lebenden und von dort ausgewiesenen Juden besaßen einen polnischen Ausweis, der augen-scheinlich gültig war, aber zur Einreise nach Polen dennoch nicht berech-tigte, da die polnischen Behörden die Validität der von ihren Auslands-vertretungen − in Deutschland − ausgestellten polnischen Pässe seit Oktober 1938 von einer jeweils einzuholenden Genehmigung der War-schauer Regierung abhängig machten, die im Falle der Juden aus Nazi-Deutschland häufig verweigert wurde − wobei die Ablehnung gleichbe-deutend mit der von polnischer Seite seit Frühjahr 1938 angedrohten Ausbürgerung der Antragsteller war.

Um einen provisorischen Aufenthaltstitel in Belgien zu erhalten, muss-ten die (ehemals) polnischen Staatsangehörigen nachweisen, dass sie de-naturalisiert worden waren bzw. dass das Verfahren wegen Anfrage eines Einreisepasses im Gange war. Andernfalls drohte die Inhaftierung oder Abschiebung.35 Die Betroffenen sahen sich dazu gezwungen, das jüdische Hilfskomitee oder belgische Rechtsanwälte einzuschalten. Sofern das Ant-werpener polnische Konsulat bescheinigte, dass die Frage der Staatsange-hörigkeit derzeit in Warschau überprüft werde, konnte das zwar nützlich sein, aber es waren doch immer neue Demarchen nötig, da die von der

Page 29: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG AUS DEUTSCHLAND 29

belgischen Sûreté festgesetzte Ausreisefrist stets nur kurzzeitig verlängert wurde. Überdies griffen die Brüsseler Behörden nach eigenem Bekunden zu dem Abschreckungsmittel, die polnischen Flüchtlinge, deren Denatu-ralisierungsverfahren sich oft über Monate hinzog, zu verhaften und zu inhaftieren, »um ihnen den Aufenthalt ›unbequem‘ zu machen«.36

Dass eine erhebliche Zahl der aus Deutschland ausgewiesenen Juden polnischer Staatsangehörigkeit sich nach Belgien retten konnten, wird eindrücklich dadurch belegt, dass das Antwerpener jüdische Flüchtlings-komitee eigens entsprechende Formblätter drucken ließ, um die Rechte dieser Personengruppe gegenüber der belgischen Fremdenpolizei zu ver-teidigen:

»Nachdem ich seit … in Deutschland gelebt habe, wurde ich (zusammen mit meiner Frau/Familie) als Ausländer(in) aus diesem Land ausgewiesen. Die polnischen Behörden haben mir (uns) die Einreise nach Polen verweigert und behaupten, dass ich (wir) staatenlos geworden sei(en). Um der Verfolgung durch die Gestapo zu entgehen, musste ich (zusammen mit meiner Frau/Fa-milie) fliehen, und ich (wir) habe(n) uns nach Belgien geflüchtet. Ich habe die erforderlichen Schritte unternommen, um das Recht zur Einreise nach Polen zu erhalten. Dort hoffe ich (mit meiner Frau/Familie) meine (unsere) Emigra-tion nach … abwarten zu können. Falls die polnischen Behörden diese Geneh-migung verweigern, möchte(n) ich (wir) bis zu unserer endgültigen Emigrati-on im Lande bleiben.«37

Angesichts der Vielzahl der betroffenen Personen intervenierte das Ant-werpener Komitee laufend in Einzelfällen und legte der Sûreté im Frühjahr 1939 überdies mehrere Listen mit jeweils rund 20 Namen vor, um eine Verlängerung der ablaufenden Ausreisefristen von noch nicht ausgebür-gerten polnischen Juden zu erreichen.38

Was die Flüchtlinge selbst und ihre Verhaltensweisen anbelangt, so gab es Einzelne, die gegen den Entzug ihrer polnischen Nationalität Protest einlegten.39 Andere aus Deutschland ausgewiesene Juden versuchten, dem außergewöhnlich schlechten Status zu entkommen, der den polnischen Staatsangehörigen auferlegt wurde. Entweder legten sie Widerspruch da-gegen ein, dass die belgischen Behörden sie zu Polen erklärten, da sie ihre Staatenlosigkeit nicht nachweisen konnten.40 Oder sie beriefen sich auf die Tatsache, dass sie vor dem Untergang der Donaumonarchie Österrei-cher gewesen waren. So gelang es einem Leipziger Ehepaar, als Staaten-lose ehemals deutscher Herkunft geführt zu werden, indem der in Gali-zien geborene Ehemann der belgischen Polizei nicht seinen polnischen Ausweis, sondern einen österreichischen Pass vorwies, dessen Gültigkeit seit 1917 abgelaufen war. Erst nach Ankunft der deutschen Besatzer zeig-

Page 30: Insa Meinen / Ahlrich Meyer - download.e-bookshelf.de

1 DIE FLUCHT VON JUDEN AUS DEUTSCHLAND UND ÖSTERREICH AB 1938 30

ten Mann und Frau den Antwerpener Behörden ihre in den dreißiger Jahren in Leipzig ausgestellten polnischen Papiere und ließen die Angabe zu ihrer Staatsangehörigkeit berichtigen.41

»AUS WELCHEM GRUNDE HABEN SIE BELGIEN AUSGEWÄHLT?«42

Bei ihrer Anmeldung von den belgischen Behörden gefragt, weshalb sie nach Belgien gereist seien, verwiesen die Flüchtlinge immer wieder auf Kinder, Eltern oder andere Verwandte, die sich bereits im Lande aufhiel-ten. In anderen Fällen spielte die geografische Nähe zu Deutschland eine Rolle, oder die Schiffspassagen, die von belgischen Häfen ausgingen. Viele Flüchtlinge hofften, aus Ostende bzw. Antwerpen nach England oder Übersee gelangen zu können, und manche hatten sich wohl auch deswegen nach Belgien begeben. Jedenfalls erklärten sie dies gegenüber der belgischen Polizei oder legten Dokumente vor, die ihre Bemühungen nachwiesen, eine Einreisegenehmigung für Großbritannien, die Vereinig-ten Staaten, ein südamerikanisches Land oder Palästina zu bekommen. Wie gering die Aussichten angesichts der restriktiven Aufnahmepolitik fast aller Drittländer auch sein mochten, bildete die Ausreisechance die Voraussetzung dafür, dass viele Tausend jüdische Frauen, Männer und Kinder vorerst in Belgien in Sicherheit waren. Denn die befristeten Auf-enthaltsgenehmigungen, die der belgische Staat den illegal eingereisten Juden aus Deutschland zugestand, waren an die Bedingung geknüpft, dass die Flüchtlinge ihre Auswanderung in ein Drittland vorbereiteten und das Königreich sobald wie möglich wieder verließen. In welchem Maße und bis wann die Flüchtlinge selbst eine weitere Emigration für realistisch hielten, lässt sich nicht beantworten. Doch lagen zumindest ab Ende 1938 in der Mehrzahl der Fälle nicht positive Gründe für eine spezielle Wahl Belgiens als Fluchtziel vor, sondern das Entscheidende war, möglichst rasch aus Deutschland herauszukommen:

»Das Land ist nicht wichtig, nur von Deutschland fort«.(David Jakobowitsch , 17 Jahre, im März 1939 aus Köln nach Brüssel geflohen, im Juli 1944 mit dem XXVI. Transport Belgien-Auschwitz deportiert).43

»Ich habe den erstbesten Ort genommen«.(Chil Pilicer , 37 Jahre, im Dezember 1938 aus Leipzig nach Antwer-pen geflohen, im Mai 1944 mit dem XXV. Transport Belgien-Ausch-witz deportiert).44