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ORAL HISTORY OF EUROPE IN SPACE Interview mit Prof. Dr. Gerhard Haerendel Transkription des Interviews Das Gespräch führten Prof. Dr. Helmuth Trischler und Dr. Matthias Knopp vom Deutschen Museum in München. Es fand am 9. April 2010 im Deutschen Museum statt.

Interview mit Prof. Dr. Gerhard Haerendel · Gleichzeitig aber haben zum Beispiel Guido Pizzella aus Rom und ich einen Vorschlag für eine Satellitenmission der ESRO, und zwar ohne

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Page 1: Interview mit Prof. Dr. Gerhard Haerendel · Gleichzeitig aber haben zum Beispiel Guido Pizzella aus Rom und ich einen Vorschlag für eine Satellitenmission der ESRO, und zwar ohne

ORAL HISTORY OF EUROPE IN SPACE

Interview mit Prof. Dr. Gerhard Haerendel

Transkription des Interviews Das Gespräch führten Prof. Dr. Helmuth Trischler und Dr. Matthias Knopp vom Deutschen Museum in München. Es fand am 9. April 2010 im Deutschen Museum statt.

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00:01 HT: Vielen Dank nochmals Herr Haerendel, dass Sie sich zu diesem Interview bereit erklärt haben. Meine erste Frage ist immer die, wie Sie denn in das Interessen- und Tätigkeitsfeld der Weltraumforschung und Raumfahrt hineingekommen sind. Es gibt viele Wege in die Raumfahrt. Einige Interessierte werden schon über die Schule, vielleicht über die Beschäftigung mit Science Fiction-Literatur, sozusagen angewärmt, viele andere aber finden erst im Studium oder nach dem Studium durch die berufliche Sozialisation zur Raumfahrt. Ich nehme an, bei Ihnen ist eher Letzteres der Fall gewesen. Es ist Ihnen noch nicht in die Wiege gelegt worden, sich für Raumfahrt zu interessieren. Wie war das bei Ihnen mit der ersten Berührung mit diesem Tätigkeitsfeld? 00:45 GH: Das war rein zufällig. Ich hatte ja Physik studiert und beschlossen, nach München zu gehen, nach dem siebten Semester oder so, um bei Herrn Biermann am Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik zu studieren, Ludwig Biermann, weil er der prominenteste Astrophysiker in Deutschland zu der Zeit war. Und so habe ich mich Anfang Mai 1959 bei Biermann vorgestellt, und er hat mich angenommen – das war in seinem Seminar – und hat mir ein Thema über die Sternentwicklung gegeben. Dann passierte aber Folgendes: Gegen Ende des Jahres kam Reimar Lüst, der am Max-Planck-Institut Abteilungsleiter war, aus Amerika von einem Aufenthalt am Courant-Institut zurück nach München, und da erzählte ihm Herr Biermann, er habe einen neuen Studenten, den Gerhard Haerendel. Da sagte Lüst: Ja, aber Herr Biermann, Sie haben doch bei der Ludwig-Maximilians-Universität unterschrieben, dass Sie nur Doktoranden haben dürfen, aber keine Diplomanden. Ach, was machen wir denn da? Na ja, dann müssen wir den Haerendel zum Schlüter geben. Arnulf Schlüter war neben seiner Abteilungsleitertätigkeit am Max-Planck-Institut auch Professor, und zwar Full-Professor, an der Universität. Also kam ich zu Herrn Schlüter. Das war um Weihnachten 1959, da wurde das Ganze akut, und da sagte Herr Schlüter: Ja, ich weiß nicht, ich kann kein Sternentwicklungsthema betreuen, aber Sie haben so einen schönen Seminarvortrag gehalten über den Van-Allen-Strahlungsgürtel. Machen Sie doch etwas über den Van-Allen-Belt. Das war meine Diplomarbeit, die sich dann interessanterweise zu einer Doktorarbeit entwickelte. Ich habe also gar kein Diplom gemacht, sondern promoviert, weil die Fakultät unter Zuspruch von Herrn Schlüter wohl fand, dass das schon eine Doktorarbeit sei. Ich habe dann ein paar Jahre später promoviert. So bin ich in die Weltraumforschung reingekommen. Und da ich nun schon an einem Weltraumthema arbeitete und gleichzeitig Ende 1961 Heisenberg und Biermann beschlossen, dass Herr Lüst eine Arbeitsgruppe für Weltraumforschung gründen sollte, griff er dann auf die zurück, die dem Weltraum nahe standen. Ich war wohl der erste Doktorand in Deutschland, der über ein Weltraumthema promoviert hat. Also wurde ich von Herrn Lüst im Oktober 1961 in seine Gruppe geheuert und so war ich von Anfang an dabei. Rein zufällig. 03:48 HT: Das war ja genau die spannende Zeit des Aufbaus dieses Forschungsfeldes in der Bundesrepublik, natürlich auch in Europa. Aber bleiben wir zunächst einmal bei der Bundesrepublik, und da war Reimar Lüst einer der – wie Sie sagen – Initiatoren, der ganz eindeutig das Feld nach vorne gebracht hat, der dann aber auch schon relativ notwendigerweise in Berührung mit der ESRO kam. Wie sind Sie in diese europäische Landschaft hineingekommen? Wann sind Sie damit zum ersten Mal in Berührung gekommen? Haben Sie zuvor schon den Aufbau von ESRO und ELDO wahrgenommen und erlebt, dass sich in Europa etwas tat? Das war eine spannende Zeit, die unterschiedliche Wege nach Europa eröffnete, in ein durchaus noch fragmentiertes Europa, das aber über die Raumfahrt zusammengewachsen ist.

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04:48 GH: Sie sagen es ganz richtig, Herr Lüst hat eine sehr wichtige Rolle gespielt. Er war der erste deutsche Vertreter bei der ESRO und bei der ESA und wurde dann ja auch deren erster Wissenschaftlicher Direktor. Bevor das alles passierte, gab es die Aufbauorganisation COPERS. Sie machte auch Veranstaltungen, und meine erste Berührung war in Paris, ich glaube, es war im März 1962. Das war ein Symposium, auf dem waren die einschlägigen Leute aus England, Frankreich, Deutschland zusammen und hielten Vorträge. Es war rein wissenschaftlich, aber hinter den Kulissen wurden auch sehr viele Aufbaufragen der ESRO besprochen, in denen Herr Lüst und Herr Amaldi und andere eine große Rolle spielten. Ich kam also zunächst einmal nur als wissenschaftlicher Teilnehmer dazu, aber sehr bald eben auch, als es die ESRO gab, als Mitglied von den Beratungskomitees über die Ionosphäre, Atmosphäre, Plasmaphysik und so weiter. Ich kam also relativ früh hinein, auch als Nutzer. Wir hatten allerdings schon 1961 mit Herrn Lüst angefangen, Weltraumexperimente zu machen, diese Bariumwolkenexperimente, von denen Sie sicher gehört haben. Ich war von Anfang an der Haustheoretiker gewesen und habe auch die ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Gruppe geschrieben. Dann war ich ein Jahr draußen, weil ich in Amerika als Postdoc am Caltech war, und als ich dann wiederkam, war die Sache inzwischen soweit gediehen, dass man Bariumwolken, Plasmawolken, erzeugen konnte. Das passierte im November 1964 bei einem Experiment in der Sahara, und dann ging es also richtig los, man konnte die Technik anwenden. Und dann wurde ich die wissenschaftlich bestimmende Kraft: wo wir was machen wollten, was interessant war, wie wir unsere Payloads ausstatteten, auch mit zusätzlichen diagnostischen Instrumenten. Es ging um Plasmawolkenexperimente, im Wesentlichen mit Höhenforschungsraketen, die auf ein paar hundert Kilometer Höhe flogen. Ich habe auch die Theorie dazu gemacht, aber vor allem die Zweckbestimmung in die Hand genommen. Es dauerte ja auch dann nicht so furchtbar lange, bis Herr Lüst mich 1969 zum Abteilungsleiter und zum Wissenschaftlichen Mitglied machte. Ich hatte also schon meinen eigenen Forschungsbereich, in dem eben auch die Nutzung der ESRO mit Raketen vorkam, die wir von Sardinien oder von Kiruna aus gestartet haben. Das war aber im Wesentlichen ein deutsches, ein nationales Programm, gefördert vom BMFT, oder wie immer das Ministerium damals hieß, aber ab und an auch ein ESRO-Programm mit Höhenforschungsraketen. Ich war also – sagen wir es so – bei der ESRO auf der niedrigsten Stufe mit Höhenforschungsraketen beschäftigt, aber dann auch in Beratungsgremien, auch mit Vorschlägen für Satellitenexperimente. So entwickelte sich das. Naturgemäß kam ich dann letzten Endes auch in das höchste wissenschaftliche Beratungsgremium der ESRO hinein, das sich damals LPAC, Launching Programme Advisory Committee, nannte. Ich möchte jetzt nicht zu viel zu diesem Punkt erzählen, Sie wollen sicher weiter fragen. 09:00 MK: Ich wollte fragen, wie stark Sie zu dieser Zeit schon an Satellitenprogramme gedacht haben. War das ein Faktor der Umstände, dass man noch keine Möglichkeit hatte, zum Beispiel auch mit den Amerikanern zusammen zu arbeiten, die ja schon Raketen hatten? 09:14 GH: Nein, es ging zwar relativ langsam vorwärts, aber dennoch so, dass wir die Möglichkeit bekamen, auf dem HEOS-Satelliten der ESRO, der Ende 1968 startete, zu experimentieren. Wir haben unser Experiment 1969 durchgeführt. Wir hatten einen Bariumbehälter an Bord des Satelliten, die so genannte Bombe, vor der alle Angst hatten, weil es ja ansonsten eine diagnostische Payload war. Die „Bombe“ wurde im März 1969 gezündet. Wir haben vom Kitt Peak aus und anderen Stationen, zum Beispiel Mount Palomar, beobachtet. Und wir nutzten also schon damals Satelliten für die Bariumexperimente. Gleichzeitig aber haben zum Beispiel Guido Pizzella aus Rom und ich einen Vorschlag für eine Satellitenmission der ESRO, und zwar ohne Bariumwolkenexperimente, gemacht, die

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diskutiert aber nicht realisiert wurde. Und dann kam der HEOS 2-Satellit, für dessen Nutzung wir inzwischen Leute wie Herrn Rosenbauer und Herrn Paschmann hatten. Herr Rosenbauer war eine der starken Kräfte im instrumentellen Bereich. Wir konnten trotz des relativ verspäteten Anlaufs Instrumente bauen, die nicht nur genauso gut wie amerikanische waren, sondern zum Teil noch besser. Ja, diese Herren waren auch alle in der Gruppe Lüst – das Institut war gewachsen –,vor allem um Teilchenexperimente, und zwar im hochenergetischen Bereich durch Herrn Hovestadt und im niederenergetischen Bereich durch Herrn Rosenbauer. So kamen wir schon Anfang der 70er Jahre in den Genuss von den besten diagnostischen Daten des Plasmas in der Erdumgebung, besser als das, was die Amerikaner oder Russen hatten, so dass wir, Paschmann und ich, einige sehr schöne Arbeiten geschrieben haben. Wir haben die Grenzschichten der Magnetosphäre erforscht und den Plasmamantel gefunden, usw. Wir haben viele schöne Dinge gemacht. Es blieb also nicht bei den Bariumwolken, die waren aber immer unter meinem Schutz. Jetzt gehe ich zurück zu Herrn Biermann, der uns die Aufgabe gestellt hatte, einmal im Weltraum einen künstlichen Kometen zu erzeugen. Das dauerte von der ersten Idee bis zur Durchführung ungefähr ein Vierteljahrhundert. Aber das haben wir dann mit einem Satelliten gemacht, den wir eigens dafür gebaut haben, den AMPTE-Satelliten, und das fand dann 1984/85 statt. Es war also ein langer Weg: parallel die Bariumwolkenexperimente, wo noch viel anderes passierte am Äquator und sonst wo, und die Teilchenexperimente, die von Herrn Paschmann betreut wurden, weil Rosenbauer nach Lindau an das Max-Planck-Institut für Aeronomie ging. Unsere Messungen fanden im mittelenergetischen Bereich statt, in dem das Plasma in der Erdumgebung energetisch vorherrscht, und im hochenergetischen Bereich, in dem vor allen Dingen solare und kosmische Strahlungsteilchen vorkommen. Die hat Herr Hovestadt gemessen, und mein Bereich war der der künstlichen Plasmawolken und der diversen physikalischen Experimente, die man damit machen konnte. 12:43 HT: Ich will noch einmal zu den 60er Jahren zurückkommen. Sie haben die ESRO im Wesentlichen als Nutzer erlebt. Ich nehme an, Sie sind ganz pragmatisch vorgegangen und haben entschieden, welche Programme können wir eher auf der nationalen Ebene finanzieren, weil Sie eine andere Größenordnung haben, und bei welchen müssen wir uns sozusagen europäisch verknüpfen und transnational tätig sein. War das so? Verlief das stromlinienförmig genau entlang dieser Schiene? Wurden Ihre Projekte sozusagen von der Größendimension her national oder europäisch gesteuert, oder was waren die Einflussfaktoren für die Entscheidung, wie man das ausbalancierte? 13:23 GH: Hier mussten wir zweigleisig fahren. Herr Paschmann und Herr Hovestadt, die ja die diagnostischen Experimente planten und durchführen wollten, mussten die Gelegenheiten der großen Weltraumorganisation, sprich der NASA und der ESA, nutzen. Da ich ihr Direktor war, als Herr Lüst Präsident der Max-Planck-Gesellschaft wurde, musste ich mich – oder auch schon zuvor als ihr Abteilungsleiter – dafür einsetzen, dass sie Fluggelegenheiten hatten, und ich habe mich auch an den Überlegungen und natürlich auch an den Datenauswertungen und dergleichen beteiligt. Das war die diagnostische Schiene mit Satelliten, die Ende der 60er Jahre, etwa ab 1968, losging. Damals wurde auch der AZUR-Satellit gebaut, bei dem Herr Hovestadt einen Hauptanteil hatte und interessanter Weise die Dinge gemessen wurden, die ich in meiner Doktorarbeit rein theoretisch bearbeitet hatte. Die andere Schiene war also die, Plasmawolkenexperimente auch für Satelliten zu bauen. Das ging nicht so ganz einfach, das war sehr aufwändig, also haben wir meistens mit Höhenforschungsraketen gearbeitet. Wir haben die tollsten Dinge erlebt. Höhenforschungsraketenexperimente haben meistens eine

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große Dramatik. Man muss schlechtem Wetter aus dem Weg gehen, wenn man etwas Sichtbares am Himmel macht, man muss auf das Polarlicht warten und so weiter; Raketen funktionieren nicht immer, wir haben dramatische Fehlschläge erlebt. Es war eine Welt für sich, die dann insbesondere unter meiner Ägide war. Und so bin ich also zweigleisig gefahren, wurde aber dann in die ESA in das Beratungskomitee LPAC berufen. Da war ich zwei Jahre Mitglied. Und jetzt kommt ein interessanter Punkt. Ich war zu der Zeit intensiv mit den HEOS-Daten beschäftigt und habe viel Zeit in mein Höhenforschungsraketenprogramm investiert. Und da habe ich den Entschluss gefasst, kein Wissenschaftsmanager zu werden, sondern Wissenschaftler zu bleiben. Ich habe dann in einer dramatischen Aktion, nachdem ich mich eine Nacht lang mit Herrn van de Hulst beraten hatte, der mir allerdings abgeraten hatte, alle meine Ämter als deutscher Vertreter bei der ESA, im LPAC, als Chairman der Solar System Working Group usw. gekündigt. Das hat viele Leute verärgert und auch zur Folge gehabt, dass ich über Jahrzehnte nicht mehr von der ESA gefragt wurde, irgendetwas für sie zu tun. 16:46 HT Es fiel mir schon auf, dass Sie enorm tätig waren bis 1975 und dann … 16:55 GH: Mit aller Wahrscheinlichkeit wäre ich der nächste Chairman gewesen, so sagte es jedenfalls Trendelenburg, der ja der Wissenschaftliche Direktor war und ein guter Freund von mir wurde. Er reagierte ganz negativ auf meine Entscheidung, die ich ganz selbstsüchtig getroffen hatte, weil ich meine Kräfte für meine Forschung einsetzen wollte. 17:16 HT: Sie sahen auch keine Kompromisslösung? 17:21 GH: Es gab Jahre vorher einmal die Situation, als die erste Frau von Lüst, Rhea Lüst, zu mir sagte: Herr Haerendel, passen Sie auf, dass Sie nicht meinem Mann nachfolgen. Irgend so etwas in der Art. Und siehe da, ich bin es auch nicht. Ich bin nicht den Weg des Wissenschaftsmanagers gegangen. Aus zwei Gründen. Einerseits weil ich meine Wissenschaft weiterhin primär mit Händen an den Daten betreiben wollte, andererseits auch weil ich wusste, dass ich nicht die Fähigkeit von Herrn Lüst hatte, so etwas zu leisten. Dazu braucht man diverse Fähigkeiten, von denen ich meinte, sie nicht in dem Maße zu haben. Ich bin also ausgestiegen aus einer möglichen wissenschaftspolitischen Karriere, weil ich ahnte, dass es nicht die richtige für mich sei, sowohl von meinen Interessen als auch von meinen Fähigkeiten her gesehen. 18:16 HT: Aber Sie haben später dann durchaus wieder Positionen übernommen als Chairman von gewissen Gremien? 18:23 GH: Das habe ich und zwar sehr häufig, in allen möglichen Gremien. Bei COSPAR bin ich als Präsident gewählt worden, ich habe bei der Entwicklung des European Incoherent Scatter Radar, IESCAT, mitgemacht, zum Beispiel auch als Vorsitzender des Councils, ich habe alles Mögliche andere gemacht, aber ich habe in der ESA keine Rolle mehr gespielt bis zum Jahr 2007. 18:52 HT: Aber Sie waren ab 2003 im SSAC? 18:55 GH: Ach so, ja stimmt. Ich war da aber immer nur ex officio. Ich war die ganze Zeit über nie ein stimmberechtigtes Mitglied. Ich war zunächst Chairman des European Space Science Committee, von 2003 bis 2007, und dann wurde ich Vorsitzender von ACHME,

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Advisory Committee for Human Spaceflight, Microgravity and Exploration Programmes. So bin ich wieder in die ESA gekommen, zunächst einmal durch die Hintertür über das European Space Science Committee und dann genuin als Chairman von ACHME. 19:45 HT: Darauf kommen wir sicher noch zu sprechen. 19:50 GH: So bin ich wieder zurückgekehrt zur ESA, aber in der Zeit von 1975 bis 2003 habe ich in der ESA keine Rolle gespielt als steuerndes Organ – aber als Nutzer, ich war ja wesentlich verantwortlich für die Konzeption und letzten Endes die Akzeptanz der CLUSTER-Mission. 20:17 HT: Ich will noch einmal auf die 60er Jahre zurückkommen. Das war die Phase, in der das erste nationale Programm gemacht wurde, von Bölkow im Wesentlichen. AZUR war ein Teil des nationalen Programms. Haben Sie sich an der Definition dieses nationalen Programms beteiligt? 20:32 GH: Ja schon, aber nicht so intensiv, eigentlich mehr über Reimar Lüst und Dieter Hovestadt, der auf AZUR ein Instrument hatte. Ich war immer irgendwie beteiligt, aber bei AZUR nicht federführend. 20:51 HT: Und wie haben Sie die Entscheidungsfindung darüber, was national gemacht wurde, erlebt? 20:56 GH: Ich habe das so erlebt: Die Deutschen brauchen einen Satelliten; der AZUR ist eigentlich nicht mehr up to date, er kommt ein bisschen spät, aber lass sie mal machen. Und letzten Endes hat zumindest Dieter Hovestadt durchaus etwas Gutes daraus gemacht, mit solaren Teilchen- und Strahlungsgürtelmessungen. 21:16 MK: Wir haben ihn hier in unserer Ausstellung stehen. 21:19 GH: Ja, aber er kam ein wenig spät. Meine Interessen waren schon weit über das, was AZUR machen konnte, hinausgewachsen. Aber sie wurden dann eingeholt von den HEOS-Satelliten, insbesondere von dem zweiten HEOS-Satelliten, HEOS 2, und das ist noch mal eine der meistzitierten Arbeiten, die wir damals geschrieben haben, mit der Entdeckung der Grenzschicht der Magnetosphäre. 21:42 HT: Das eine Spannungsfeld habe ich erwähnt, dasjenige des Ausbalancierens zwischen dem nationalen Programm und dem ESRO-Programm, dem europäischen Programm. Das andere ist das zwischen europäischer Kooperation und transatlantischer Kooperation. Mit anderen Worten, macht man etwas im Rahmen der ESA oder auch ihrer Vorläuferorganisation oder macht man etwas gemeinsam mit den Amerikanern oder vielleicht bilateral mit Frankreich? Wie sind Sie da vorgegangen? 22:13 GH: Ja, ich sah natürlich die Möglichkeiten, mit der NASA zusammen zu arbeiten, auch im Sounding Rocket-Bereich. Ich habe sie auch genutzt, oder mit dem Naval Research Lab, das damals auch stark in den Höhenforschungsraketen engagiert war. Ich hatte meine Ohren überall, auf den Tagungen, in den vielen Zusammenarbeiten, ich denke eigentlich international. Deutschland war wichtig für die Finanzierung von Höhenforschungsraketenexperimenten, aber eigentlich habe ich mehr im internationalen Rahmen gewirkt, in allen möglichen Zusammenhängen. Da traf ich immer wieder Leute, die

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etwas vorhatten, was günstig für meine Experimente oder meine Interessen war, und so kam ich dann immer wieder mit den Amerikanern zusammen. Wir haben gemeinsam Vorschläge gemacht für Raketenkampagnen und eben auch für unseren ersten Satelliten. Wie gesagt, ich war da einfach eklektisch, was mir eben gut passte. 23:30 MK: Sie haben bei einem Satellitenprojekt sogar mit der Air Force zusammen gearbeitet. Das ist ja eher außergewöhnlich. 23:32 GH: Ja, exakt. Das ging über das Naval Research Lab und das Lab in Boston, AFCRL, Air Force Cambridge Research Laboratory. Mit denen habe ich in Brasilien zusammen gearbeitet, und ich hatte viel mit amerikanischen Raketen für meine Bariumwolken gearbeitet, in Indien, aber auch mit den Engländern mit dem University College London, in Australien und vieles andere. Ich könnte ein langes Buch darüber schreiben. 24:10 HT: Bei NASA-Missionen besteht immer das Problem, dass die NASA für sich die Federführung reklamiert und eher eine Juniorpartnerschaft als eine Partnerschaft auf gleichem Fuße akzeptiert wird. Haben sie das auch so erlebt? War es schwieriger, mit der NASA zusammen zuarbeiten? 24:28 GH: Ich hatte da Glück. Man hatte meine führende Rolle in diesen Experimenten, die wir zusammen machten, auch bei der NASA anerkannt. Ich konnte sehr stark bestimmen, was geschah. Das war gut. Natürlich musste zuerst einmal ein Projekt genehmigt werden, aber ich will nur ein Beispiel nennen: 1977 fragte mich Herr Lebeau, der damals Direktor für Programmes and Planning bei der ESA war, ob wir innerhalb von drei Jahren eine Payload für den zweiten Ariane-Start bauen könnten. Da habe ich gesagt, ja das kann ich. Da wollten wir nicht nur Bariumwolken machen. Die Bahn sollte so sein, das man in 12 Erdradien Höhe experimentieren konnte. Ich habe angenommen und in kürzester Zeit, innerhalb von Monaten, ein Projekt zustande gebracht, in dem die NASA mitmachte, in dem Kanada mitmachte und in dem England mitmachte. Ich bin zur NASA gegangen und habe ihnen das Projekt vorgestellt, und ich erinnere mich, dass der damalige Deputy Administrator sagte, nachdem er sich das alles angehört hatte, das ist viel zu gut, um nicht mit zu machen. Das wurde quasi ad hoc entschieden. Da habe ich viel Glück gehabt. Und nicht nur die NASA machte mit, auch Berkeley und ein anderes Lab haben die Instrumente gebaut. Es handelte sich um einen Hauptsatelliten mit den Bariumbehältern und Instrumenten, und vier Sub-Satelliten, die alle diagnostisch in den ausgedehnten Bariumwolken, die wir da draußen machen wollten, die Teilchen und Felder messen sollten. Das kam alles zustande. Wie gesagt, Kanada hat mitgemacht und England auch. Leider Gottes platzte die Rakete beim Start am 23. Mai 1980. Das Projekt hieß Firewheel, Feuerrad. Die Presse war voll davon. 26:45 MK: Mit CLUSTER ist Ihnen das später noch einmal passiert. 26:48 GH: Ich sage immer, ich habe einen einsamen Rekord: Ich habe bei der ESA 9 Satelliten verloren, vier auf CLUSTER und fünf auf Firewheel. Das war ein einsamer Rekord, wie Sie sehen. Aber ich habe das nur zur Illustration dafür gesagt, dass ich sehr unkonventionelle Wege gegangen bin, nicht in den normalen Bahnen von Vorschlag und Auswahl – bei CLUSTER schon. Ich habe dadurch eine Menge schöner eigener Programme gehabt und war in meiner Programmgestaltung relativ selbstständig. Ich musste auch um Geld kämpfen und musste Vorschläge machen, die dann genehmigt werden mussten. Aber es war irgendwie immer außerhalb des normalen Rahmens.

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27:49 HT: Dann kommen wir jetzt in die Phase Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, als aufgrund des Fehlschlags der ELDO sich die ESA neu positioniert hatte durch die Fusion von ELDO und ESRO. Während die ESRO sehr erfolgreich war, sozusagen ein Erfolgsmodell europäischer Kooperation darstellte, war die ELDO eigentlich ein Desaster nach dem anderen. Diese Fusion hat dann die ESA in einen Lernprozess gebracht, der am Ende relativ erfolgreich war, so kann man das wohl zusammenfassen. Aber am Anfang war das ein schwieriger Weg, ein Erfolgsmodell und ein eher gescheitertes Modell zusammen zu führen. Haben sie das mit Bedenken gesehen? 28:34 GH: Nein, ich habe das sogar mit großen Hoffnungen gesehen. Allerdings habe ich es damals nicht gut gefunden, dass die ESA das Sounding Rocket-Programm opferte, weil ich immer fand, dass das seine Bedeutung nicht so sehr in der Wissenschaft hatte, sondern in der Ausbildung des Nachwuchses, dass junge Menschen Instrumente bauen konnten in einem Labor, und sie fliegen konnten, dass sie in relativ kurzer Zeit ein Feedback über ihre eigene experimentelle Tätigkeit bekamen. Das hat die ESA nicht gemacht, aus finanziellen Gründen. Das fand ich immer falsch. Ich habe auch dagegen protestiert, also Briefe geschrieben, mehr konnte ich ja nicht tun. Ansonsten fand ich es gut, dass es dann doch ein Wissenschaftsprogramm gab, das ein Compulsary Programme ist, bei dem man sich einigt und zustimmt und dazu stehen muss, und die Wissenschaft von den Wissenschaftlern entschieden wird. Das fand ich alles sehr gut. Das Höhenforschungsprogramm zerfledderte ein bisschen, aber zunächst einmal hatte Deutschland gesagt, wir halten unser Programm aufrecht. Ich war dadurch indirekt Nutznießer der ESA-Entscheidung und habe dann 1974 mein PORCUPINE-Programm aufgelegt, das sehr gut finanziert wurde. 30:19 MK: Das war eine Höhenforschungsrakete? 30:21 GH: Das war ein nationales Höhenforschungsprogramm und zwar mit Starts in Kiruna. Damit sind viele interessante Geschichten verbunden. Das Naval Research Lab wollte eine neue Rakete, die zweite Stufe der militärischen Minuteman Rakete, die ausgemustert wurde, einsetzen. Dann kam ich mit dem Porcupine Programm dazu. Wir testeten die Rakete in White Sands, und alles lief gut. Dann hatte ich aber ein neues Programm gemacht, wonach diese steuerbare Rakete auf über 500 Kilometer fliegen sollte. 30:47 MK: Das klingt alles sehr spannend, und ich glaube, es war Ihnen schon damals ein großes Anliegen, auch Studenten für diese neue Fachrichtung zu begeistern. 30:54 GH: Ja, genau. Junge Menschen dabei zu haben, war ganz, ganz wichtig. Dann passierten viele Dinge: Das Programm sah vor, dass diese steuerbare Rakete über Norwegen ins Eismeer fliegen sollte. Da oben hat ja Norwegen eigentlich nichts zu sagen. Aber die Schweden, von deren Territorium aus gestartet werden sollte, haben dann doch bei den Norwegern angefragt, und die haben nein gesagt. So mussten wir also steil rauf fliegen und wieder in ESRANGE bei Kiruna landen, 550 Kilometer hoch und mit einem horizontalen Range von etwas 50 Kilometern. Das war riskant, viel riskanter als über Norwegen zu fliegen. Und so passierte es dann auch, dass eine Rakete kurz vor dem Ausbrand explodierte und die Stücke überall hinflogen und auch in Norwegen landeten, denn die Grenze war ja ganz nah, weniger als 100 Kilometer von Kiruna entfernt. Und so kam es also zu einem Incidence, einen politischen Zwischenfall zwischen Schweden und Norwegen, der dazu führte, dass im norwegischen Parlament ein Stück von unserer Rakete herumgezeigt wurde und dass ein Jahr lang die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf diesem Gebiet ziemlich schlecht waren. Das ist eine von den vielen Anekdoten, die ich erzählen kann. Vieles hat sich dann

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noch ergeben, aber das Programm ging weiter. Ein anderer Aspekt ist, dass mein Programm das erste war, bei dem Sowjetunion-Russland und Deutschland im Weltraum zusammen gearbeitet haben. Die Russen haben ein Experiment auf unserer Raketen installiert. Das war das erste Mal. 32:39 HT: Wann war das? 32:42 GH: Das begann 1974, und 1975 begannen wir zu bauen. Kayser-Threde hat die Nutzlasten gebaut. Der erste Start war 1976, und der explodierte. Dann wurde aber das Heilmittel gefunden, da war ich auch als Ingenieur tätig. Wir haben gewusst, was wir tun müssen, damit die Rakete nicht explodiert – das sind Details, die ich ein anderes Mal erzählen kann. 1977 und 1979 haben wir dann mehrere Raketen geflogen, jeweils sehr erfolgreich. Wir haben wunderbare Experimente gemacht, an denen auch die Russen beteiligt waren, sowohl das Institut IKI von Herrn Sagdeev als auch das Institut für Ionosphärenphysik in Moskau. Interessant ist auch: Als ich 1974 begann, mit Herrn Sagdeev, der ja der Lüst der Sowjetunion war, das auszuhandeln, wandte ich mich an unser Auswärtiges Amt und sagte, ich würde jetzt mit den Russen experimentell zusammenarbeiten, Experimente austauschen und so weiter. Ob sie dagegen Bedenken hätten? Dann haben sie ein paar Tage überlegt und schließlich gesagt, sie hätten keine Bedenken, aber ich sollte es nicht an die große Glocke hängen. 34:05 HT: Es gab ja COMECON. Da musste man vorsichtig sein. 34:07 GH: Genau. 34:10 MK: Sie haben später einmal eine Arbeit über diese Zusammenarbeit mit der russischen Akademie der Wissenschaften geschrieben. Das war ja noch zur Zeit des Kalten Krieges. 34:25 GH: Wir hatten beste Beziehungen, das ging sehr gut. Da war ein Herr Zhulin, der gleichsam der Manager dieser Zusammenarbeit war, und es sind viele Freundschaften entstanden, die noch heute bestehen. 34:37 MK: Es gab internationale Gremien, denen Sie ja später auch vorgesessen sind, COSPAR usw. Welche Rolle haben diese gespielt? Waren sie eine Brücke zwischen Ost und West? 34:43 GH: Ja, aber für diese spezielle Zusammenarbeit überhaupt nicht. 34:49 MK: Das war vollkommen unabhängig? 34:50 GH: COSPAR ist ja ein reines Forum, um Informationen auszutauschen. Dass man auf dem Korridor vielleicht auch einmal ein neues Experiment diskutiert, kann vorkommen, ist aber in COSPAR direkt nicht vorgesehen. Hier werden Resultate mitgeteilt und diskutiert, aber keine Programme entworfen. Solange ich Präsident war, habe ich mich auch streng dran gehalten. 35:26 HT: Wir wissen heute, dass der Eiserne Vorhang durchlässiger war, als das noch in den 80er Jahren galt. Es gab durchaus Möglichkeiten der Kooperation, angefangen vom Internationalen Geophysikalischen Jahr 1957. Würden Sie sagen, das war schon so etwas wie Tauwetter auf der wissenschaftlichen Ebene, das die engere Kooperation in den späten

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achtziger und in den neunziger Jahren vorbereitete? Waren Sie ein Vorreiter dieser Kooperation? 36:00 GH: Ich war natürlich nicht der einzige, aber ich war wohl einer der Vorreiter in diesem Sinne. Ja, ich würde sagen, da die Wissenschaft und gerade die Weltraumwissenschaft privilegiert war im Osten, auch in der DDR, hatten es die Leute relativ leicht, Ausnahmen zu erhalten, Reisen zu dürfen und Zusammenarbeit zu machen. Im Wesentlichen lag es daran, dass den Sowjets daran gelegen war, in dem sehr prestigeträchtigen Weltraumbereich auch Kontakte mit dem Ausland zu haben. Insofern war das nicht so ungewöhnlich. Nach 1989 ist es eigentlich schlechter geworden, weil im Osten die Infrastrukturen weitgehend zusammenbrachen, auch in der DDR. Das, was damals im Institut für Kosmosforschung für das INTERKOSMOS-Programm gemacht wurde, fiel dann zusammen. Die Wiedervereinigung war eigentlich in unserem Bereich ein Rückschritt. 37:12 HT: Aber Sie hatten keine direkte Kooperation mit dem Institut für Kosmosforschung in Ostberlin? Das war nicht möglich? 37:16 GH: Nein, das war nicht möglich. Wenn wir uns auf Tagungen in Leningrad oder anderswo trafen und die Leute dann hörten, dass man Deutscher war – Deutscher Ost oder Deutscher West? –, dann war es nicht von Vorteil, aus der DDR zu stammen. Die wurden nicht so gut behandelt wie wir, die wir aus dem Westen stammten. Das war leider so. Aber wir haben natürlich unsere Kollegen kennen gelernt, aber immer nur bei solchen Gelegenheiten. Wir konnten nicht direkt zusammen arbeiten. Das war nicht möglich. 37:50 MK: Damals gab es ja auch ein politisches Abkommen, das war ja lange Zeit auf Eis gelegt worden. 1986 hat man sich dann durchgerungen, ein deutsch-sowjetisches Wissenschaftsabkommen zu machen. Hat Ihnen das massiv geholfen? 38:04 GH: Nein, zu dem Zeitpunkt habe ich es nicht mehr gebraucht. Das hat mir dann nichts mehr geholfen – aber da muss ich jetzt nachdenken, in welcher Reihenfolge das ging. Ich war ja noch an Mars 96 beteiligt, aber ich weiß nicht mehr genau, wann die Diskussion darüber losging, das habe ich vergessen. Wir waren an dieser Marsmission schon beteiligt, die dann leider auch fehlschlug. 38:55 HT: Ich möchte eine ganz andere Frage stellen: Mit der Gründung des MPI für extraterrestrische Physik hat sich Ihr Forschungsgebiet innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft verselbstständigt und eigenes Gewicht gewonnen. War für Sie der ideale Ort für extraterrestrische Forschung immer die Max-Planck-Gesellschaft, oder gab es aufgrund der Struktur der Max-Planck-Gesellschaft Begrenzungen, die Sie erleben mussten und die Sie vielleicht zum Nachdenken gebracht haben, ob man ein solches Institut in anderen forschungspolitischen Kontexten besser führen könnte? 39:33 GH: Ich habe mehrfach in meinem Leben ausgedrückt und auch kürzlich, als ich mich bei Präsident Peter Gruß für das Geld, das er mir jährlich für meine Kongressreisen zur Verfügung stellt, bedankte, habe ich geschrieben, dass es ein wunderbares Privileg ist, unter dem Schirm der Max-Planck-Gesellschaft forschen zu dürfen. Ich habe das immer als Privileg empfunden. Ich habe staunend die Freiheit betrachtet, die man hatte, sein eigenes Programm zu machen. Ich fand, dass dieser Ort ideal war, dass aber nicht unbedingt die deutsche akademische Umgebung ideal war. Ich habe mich da meist raus gehalten. Ich habe mit deutschen Universitäten nur sehr wenig zu tun gehabt. Ich bin dann zwar irgendwann

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Honorarprofessor in Braunschweig geworden. Im Münchner Raum funktionierte das aus Gründen, die ich nicht erwähnen will, nicht. Ich habe mich immer mehr international orientiert, nach Berkeley und New Hampshire und Iowa. Ich habe mich nicht so sehr wohl gefühlt im deutschen akademischen Rahmen. Im internationalen aber habe ich mich sehr wohl gefühlt. 40:59 MK: Wie war denn der Stand Ihres Forschungsgebiets innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft? Sie haben ja im Gegensatz zu den echten Extraterrestrikern, die Gammaspektroskopie oder Röntgenspektroskopie gemacht haben, etwas dazwischen gemacht. Man könnte ja darüber streiten, ob man das überhaupt extraterrestrische Physik nennen sollte. Das hat ja sowohl mit der Erdatmosphäre zu tun als auch mit den Plasmaerscheinungen und dem Sonnenwind. 41:22 GH: Das ist im Wesentlichen schlicht Physik. Ein bisschen aber ist es auch extraterrestrisch, würde ich sagen. Aber, wie dem auch sei, Sie haben Recht, wir sind natürlich gewachsen, wir haben durch Herrn Pinkau die Gammaastronomie bekommen. Als Lüst schon Präsident war, haben Pinkau und ich beschlossen – das heißt, im Wesentlichen kam die Initiative von Herrn Pinkau –, Herrn Trümper zu berufen und die Röntgenastronomie aufzubauen, was ein hervorragender Beitrag zur Entwicklung unseres Instituts war, und dann war es meine Initiative, Mitte der 80er Jahre Herrn Genzel aus den USA zu holen, weil wir eine kleine Infrarotgruppe hatten, deren ich mich angenommen hatte. Das war eine kleine Gruppe, und als der Leiter, Herr Michel, plötzlich starb, hatte ich sie unter meine Fittiche genommen, habe aber gesehen, dass man ein echter Experimentator sein musste, um in diesem Gebiet an die Weltspitze zu kommen und habe dafür dann Herrn Genzel aus Amerika geholt. Ich habe diese Expansion sehr stark gefördert, die letzten Endes dazu führte, dass mein Bereich mit meiner Emeritierung ausstarb. Das ist immer so und das ist auch gut so, die Dinge müssen wechseln. Ich würde sagen, mein Forschungsbereich ist im Prinzipiellen, aber nicht im Detail, abgegrast. Es ist gut, dass wir uns im Max-Planck-Institut jetzt mehr in das Universum hinaus bewegt haben. Ich selbst mache allerdings immer noch etwas in meinem Gebiet, weil ich das am Besten kann, aber ansonsten ist das eine vernünftige Entwicklung gewesen. Das Institut ist sehr stark geworden, gerade durch die Namen, die ich eben erwähnt habe, Trümper und Genzel. Da gibt und gab es keine Einschränkung. Unser Institut war immer ein sehr starkes Institut, das seine Pläne je nach der Durchsetzungskraft der führenden Leute realisieren konnte. Ich habe ein Erlebnis in Erinnerung. Das war 1983, als ich etwas für die Infrarotastronomie tun wollte. Damals war Herr Genzel noch nicht da, und da gab es die Gelegenheit, ein offenes Teleskop auf einem Forschungsflugzeug, den Canadair Jet, zu installieren. Realisiert werden sollte das Ganze unter dem Namen Astroplane. Wir haben eine Studie mit Astrium und Zeiss zusammen gemacht. Das lief sehr gut. Wir hatten auch finanzielle Zusagen vom Ministerium und auch von der Industrie bekommen, dieses Astroplane zu bauen. Dann kamen Kollegen aus Heidelberg, und sagten: Nein das brauchen wir nicht, da kommt ja das SOPHIA, das ist viel größer und das fliegt schon in ein paar Jahren. Na ja, unser Flugzeug wäre 1989 geflogen, und dieses SOPHIA ist auch heute immer noch nicht gestartet. Damals habe ich gemerkt, dass es im deutschen Rahmen Schwierigkeiten geben konnte. Deshalb habe mich meist davon fern gehalten, so gut es ging. 45:07 HT: Das berührt noch mal die Frage nach dem politischen Management und nach dem idealen Ort für solche Aktivitäten. Andere Länder waren andere Wege gegangen, Frankreich mit der CNES, die USA mit der NASA und so weiter. Das haben Sie natürlich alles beobachtet, aber Sie haben die – ich sage jetzt einmal – Autonomie, die Sie als MPI genießen,

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höher geschätzt als die Möglichkeiten, die eine andere Konstruktion wie etwa das CNES Ihnen hätte offerieren können. 45:41GH: Ja und nein. Primär ist richtig, dass meine Basis das Max-Planck-Institut war, und es viele Möglichkeiten gab, aber natürlich nicht alle Möglichkeiten. Es gab ja einen kurze Zeit im Deutschland, da gab es die DARA mit Herrn Mennicken und Herrn Stoewer. Das war eine gute Zeit. Dass die DARA eingestellt wurde, hielt ich für vollkommen falsch, denn das war eine autonome Weltraumorganisation, die die Möglichkeit hatte, etwas unabhängig von den untergründigen Bestrebungen zu fördern. Seitdem diese Rolle an das DLR angegliedert wurde, hat es nicht mehr diese Transparenz. Das Programm wird sehr stark von den internen Wünschen mitbestimmt. Das stimmt nicht auf der Ebene der einzelnen Mitarbeiter, im Projektbereich; mit denen hatte ich immer sehr gute Beziehungen, ich kann denen nichts vorwerfen. Aber auf höchster Ebene merkte man doch die Steuerung. Ich habe es für falsch gehalten, die DARA aufzugeben. Das war mit Sicherheit ein Machtpoker von Seiten des DLR. 47:06 HT: Das lässt anklingen, dass Sie gegenüber dem DLR eine gewisse Reserviertheit haben, weil es zu stark am politischen Gängelband hängt. 47:14 GH: Ja, weil sie auch zu wenig Ohr für die wissenschaftlichen Belange hatten. Sie haben die Wissenschaft nicht so stark in der ESA vertreten, wie sie es hätte tun können. Sie haben sehr stark die Industrieinteressen vertreten. Die Industrieinteressen kamen lange vor den wissenschaftlichen Interessen. Das kann ich naturgemäß als Wissenschaftler nicht ganz so gut finden. 47:38 HT: Das entspricht ja auch der politischen Vorgabe. Das Ministerium versucht, das DLR, und überhaupt die ganze Großforschung, in den Anwendungsbereich hineinzusteuern, und da hängt das DLR mit drin. 47:54 GH: Völlig richtig. Das Forschungsministerium hatte immer ein großes Interesse daran, die Industrie zu fördern. Die sahen immer den Effekt der Industrieförderung in der Forschung. Andererseits, ohne eine wirklich gute Forschung fehlt auch, jedenfalls auf dieser Schiene, die Industrieförderung. Und ich meine, man kann dies jetzt sehr gut beobachten – als Chairman von ACHME habe ich gute Einblicke in die Industriepolitik bekommen. Gerade die deutsche Industriepolitik habe ich persönlich im Bereich der bemannten Raumfahrt und Exploration für nicht gut gehalten. Der Kontakt zwischen DLR-Spitze und Minister war immer sehr eng, aus welchen Gründen auch immer; das kann man analysieren, auch soziologisch, so dass die Wissenschaft eigentlich immer nur in zweiter Linie kam. Und insofern fanden wir uns nie gut vertreten. 49:08 MK: Andererseits war die DARA ja eine reine Managementstruktur ohne eigene Forschungskapazität. Hat das nicht letztendlich wieder dazu geführt, dass man gesagt hat: Es funktioniert so nicht, wir müssen es wieder anders machen. Es ist ja wieder in das DLR inkorporiert worden. 49:24 GH: Ich meine, es hätte funktionieren können, aber das war eine Frage der Entwicklung. Natürlich hätte es auf die Dauer nicht bei diesem Managementbüro alleine bleiben können. Aber das ist Schnee von gestern. 49:44 HT: Es fällt ja auf, dass Deutschland seine Probleme hat mit dem Raumfahrtmanagement, dem Weltraummanagement: Die GFW und der RTB, die DARA und

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dann wieder zurück. Dieses permanente Changieren zwischen unterschiedlichen Lösungsmodelle ist ein Indiz dafür, dass es nie so richtig funktioniert hat und immer noch nicht so richtig funktioniert. 50:02 GH: Es gab eine lange Zeit, da wurde es stark vom Ministerium gesteuert, von Herrn Regula, Herrn Finke usw. Das lief alles ganz vernünftig. Aber seitdem alles vom DLR gesteuert wird, bin ich nicht mehr mit allem zufrieden. Es gibt noch sehr gute Sachen – das ist überhaupt gar keine Frage –, die aber nicht in meinem Bereich liegen. 50:25 MK: Würden Sie sagen, in den vielfältigen internationalen Korporationen gibt es Forschungsstrukturen, die auch für Deutschland passen würden? Franzosen, Amerikaner, Russen vielleicht? Hatten die bessere Strukturen? 50:35 GH: Deutschland hätte wahrscheinlich gut daran getan, so etwas wie die CNES aufzubauen. Die CNES hat auch ihre Schwierigkeiten, klar. Aber das wäre nicht schlecht gewesen. Eine reine Raumfahrtbehörde, die losgelöst vom DLR alles machen hätte können, das hätte man tun können. Aber es ist nicht so gekommen. Das hätte ich schon für gut gehalten. Aber es hat natürlich zur Folge gehabt, dass das, was man ursprünglich, als die ESA gegründet wurde, verabredet hatte, dass man kleinere Projekte, auch Satelliten national machen wollte, letzten Endes nicht realisiert wurde. AMPTE und ROSAT wurden zwar realisiert und dann später auch noch CHAMP, nach der Wende. Aber das war zu wenig, das Programm hätte größer und ambitionierter sein können. Ein starkes nationales Programm ist dabei drauf gegangen, das muss man sagen, sonst wäre Europa in dem Bereich noch stärker gewesen. Das ESA-Wissenschaftsprogramm bleibt quasi auf einem Plafond; mal geht es ein bisschen runter und mal ein bisschen rauf, aber es hat keine Entwicklungsmöglichkeiten. Es steckt zu wenig politischer Ehrgeiz dahinter. Wenn man vergleicht, was andere Länder machen, was die NASA macht, gibt Europa, das vom Bruttoinlandsprodukt aller Mitgliedsstaaten stärker ist als die USA, nur etwa ein Sechstel der USA für die wissenschaftliche Raumfahrt aus. Da wäre also noch viel Spielraum. Wenn man nur das Wissenschaftsprogramm nimmt, ist es wirklich ganz dramatisch unterfinanziert. Das läppert sich so dahin mit seinen paar Hundert Millionen pro Jahr, das kann auf die Dauer nicht wirklich mithalten. Aber was sie in der ESA machen, haben sie meist gut gemacht. 52:46 HT: Das fällt auf, ja. 52:50: GH: Sie haben es gut gemacht, gar keine Frage, aber es ist zu wenig. Und die Wartezeiten werden immer länger, weil die Ambitionen unablässig wachsen. Das ist international so, unabhängig vom Finanzierungsrahmen der ESA. 53:05 HT: Aber das hieße ja, dass das nationale Programm stärker gefordert wäre, dass man nationale Aufwendungen noch zusätzlich zum europäischen oder zu den internationalen Programmen aufbauen müsste, weil diese zu schwach entwickelt sind? 53:23 GH: Das hätte man ebenso gut tun können, das ist aber nicht so gekommen, obwohl das Weltraumprogramm in Deutschland gegen ein Milliarde pro Jahr geht. Das hätte auch mehr sein können, und Frankreich gibt sicherlich das Doppelte aus. Aber so ist es nun einmal nicht gekommen. Es liegt ja immer an den Menschen, die ihre Ambitionen realisieren können und dadurch an Gewicht gewinnen, und diese Entwicklung ist in Deutschland zu schwach ausgeprägt gewesen.

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54:08 MK: Kann man auch sagen, dass die nationalen Programme für die Hochschulausbildung wichtig sind, für die Studenten? 54:20 GH: Unbedingt ja, das kann man so sagen. Natürlich haben Studenten in dem Bereich, wenn sie gut sind, auch die Möglichkeit, im Ausland etwas zu werden. In Deutschland gibt es bei der Realisierung von Weltraumexperimenten ja nicht so sehr viele Möglichkeiten. Da gibt es im Wesentlichen nur Lindau und Garching. 54:32 MK: Interessant sind auch Picosat-Projekte, beispielsweise von Kleinuniversitäten. 54:40 GH: Man darf nicht vergessen, dass miniaturisierte Satelliten sehr enge Grenzen haben. Die können vielleicht eine ganz kleine optische Kamera fliegen, das geht gerade noch, und sie können vielleicht auch noch Luftdruck messen oder etwas in dieser Art. Aber sie können nicht eine wirklich relevante Forschung betreiben. 55:05 MK: Das macht man ja hauptsächlich zu Ausbildungszwecken. 55:12 GH: Ja, aber man kann auch an etwas ambitionierteren Projekten ausbilden. Das kann man machen. So etwas ist vielleicht noch auf der Ebene der Universitäten möglich. Aber das hat sehr enge Grenzen. 55:30 MK: Wie war ihre Rolle als Hochschullehrer? Sie sind ja mehrfach im Ausland als Gastprofessor gewesen. Ich habe den Eindruck, dass Ihnen das immer sehr wichtig war. 55:45 GH: Ja, das ist mir auch wichtig gewesen, aber natürlich waren das stets vorübergehende Engagements, bei denen ich meine Vorlesungen gehalten habe. Aber so richtig engagiert habe ich mich in Braunschweig rund 14 Jahre lang im Graduiertenbereich. Und dann kam plötzlich die International University Bremen, bei der alles ganz anderes war. 56:07 MK: Das war dann nach Ihrer Emeritierung bei der Max-Planck-Gesellschaft? 56:15 GH: Eigentlich hätte ich bis 2003 im Amt bleiben können, ich habe aber dann – ich hatte einen Vertrag bis 68 – mit 65 aufgehört, weil diese Anfrage kam, ob ich bereit wäre, an der IUB die Naturwissenschaft aufzubauen. 56:35 HT: Was hat Sie daran gereizt, dort Gründungsdekan zu werden? 56:40 GH: Was mich gereizt hat, war das Neuartige, dass man den Mut hatte, etwas nach amerikanischem Vorbild zu machen – ich bin sehr amerikanisch geprägt durch meine vielen Aufenthalte und auch durch meine Wertschätzung der Kollegen dort. Das fand ich also sehr gut, weil es so ungewöhnlich war. Übrigens war es wieder Reimar Lüst, der mich gefragt hat, ob ich das tun wollte. Ich wusste schon vorher, dass er an diesem Geschehen beteiligt war. Ich war gerade wieder in Berkeley, da rief er mich an und fragte mich, ob ich es tun möchte, und ich habe spontan Ja gesagt. Ich musste dann 3 Jahre früher mein Amt als Direktor am Max-Planck-Institut niederlegen, was ich dann auch nicht so furchtbar ungern getan habe. 57:25 HT: Wie sehen Sie das Erfolgsmodell Bremen jetzt unter Herrn Treusch? 57:30 GH: Also zunächst war es für mich eine wunderbare Aufgabe, die mir unglaublich viel Freude gemacht hat, und auch sehr viel Arbeit. Ob es ein Erfolgsmodell ist, das wird die Zeit

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zeigen. Das kann man nach 8 Jahren noch nicht beurteilen. Es ist ganz schwierig, weil die deutsche Kultur dem im Weg steht. Die deutsche Kultur ist von der Art, dass die Ausbildung der jungen Menschen von Königen, Bischöfen oder dem Staat gefördert wurde und heute noch immer wird. Und dass die jungen Menschen glauben, sie hätten ein Anrecht auf eine Universitätsausbildung, ohne dafür zahlen zu müssen. 58:18 MK: Bezahlen muss man schon sehr viel an dieser Universität. Ich glaube, es liegt in der Größenordnung von 20.000 Euro im Jahr. 58:26 HT: Das ist das eine Problem. Das andere ist, dass die dortigen Kollegen noch immer auf die sichere Professur schauen und nicht auf die Zeitprofessur. Ich sehe das in meinem Bereich der Geschichte. Jeder der in Bremen ist, schaut, dass er wieder weg kommt, und das ermöglicht keine Exzellenz und keine Kontinuität. 58:42 GH: In Bremen gibt es inzwischen auch unbefristete Verträge. Aber ob die Universität unbefristet ist, das ist die Frage, denn die finanziellen Probleme sind noch lange nicht gelöst. Es ist ein wunderbares Modell. Die Undergraduate-Ausbildung ist wahrscheinlich die beste, die man in Deutschland haben kann. Die Graduate-Ausbildung hängt letzten Endes sehr stark von den Erfolgen der Professoren und von ihren Namen ab. Und da ist ein solches Modell noch sehr behindert. In Amerika wäre das ganz anders. Wenn es hunderte von Privatuniversitäten gibt, dann gibt es einen ganz anderen Austausch, dann gibt es einen anderen Wettbewerb. Insofern ist die Frage, ob das in Deutschland wirklich funktionieren wird. 59:27 MK: Bremen finanziert sich ganz aus den Studiengebühren? 59:30 GH : Nein, das ist ein kleiner Anteil. 59:35 MK: Ein kleiner Anteil? 59:40 GH: Ja. Die direkten Einkünfte aus den Studiengebühren lagen zu meiner Zeit bei ungefähr 30 Prozent. Ein Teil waren Darlehen, die irgendwann wieder zurückgezahlt werden müssen, und ein Teil waren ganz schlicht Stipendien, die aus privaten und anderen Mitteln gefördert wurden. Inzwischen fließt schon Geld zurück von den Studenten, die bereits ihre Darlehen zurückzahlen. In ein paar Jahren – ich glaube, sie haben ausgerechnet 2014, oder es kann auch früher sein – geben sie so viel an Darlehen, wie Geld zurückfließt. Aber das spielt sich in der Summe im Bereich von 15 Prozent ab. Das heißt, ein Gutteil der Studiengebühren, und selbst, wenn sie bei 100 Prozent lägen, würde nur ein Drittel der Kosten decken. So genau kenne ich die Zahlen nicht. Insofern ist das schwierig. Bremen ist immer noch abhängig von Donations, und Donations sind in Deutschland schwer einzutreiben. Klaus Jacobs war eine ganz große Ausnahme, der an so etwas geglaubt hat. Und es gibt nicht sehr viele. Der Anfang ging ganz gut, und auch viele Bremer Bürger, die wohlhabend sind, haben sich engagiert mit ein paar Millionen. Der Metallverband Weser hat sich sogar kürzlich noch mit 10 Mio. engagiert. Also es gibt noch namhafte Sponsoren, aber nicht in dem Maße, wie sie gebraucht werden, um diese Universität mit ihrem Anspruch aufrecht zu erhalten. Ich denke, dass wir insgesamt eher ein bisschen blauäugig waren, als wir dachten, das wird schon funktionieren. Wir haben etwas Schönes zustande gebracht, aber ob es überlebensfähig ist, wage ich nicht voraus zu sagen. 1:01:12 MK: Sind Sie immer noch aktiv?

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1:01:18 GH: Nur ein bisschen. 1:01:22 HT: Kommen wir zurück zur Raumfahrt. Eine wichtige Frage ist die nach der Balance zwischen Bemannter Raumfahrt und Weltraumforschung. Sie sind von Ihrer Position her anders als manche Kollegen – auch an Ihrem Institut – gegenüber der Bemannten Raumfahrt positioniert. Sie sehen das Potential und auch die langfristigen Zielsetzungen der Bemannten Raumfahrt etwas anders. 1:01:45 GH: Ja, ich habe ja durch meine Aufgabe als Chairman von ACHME gute Einblicke in die Bemannte Raumfahrt gehabt. Ich kenne sehr viele Astronauten, und ich habe mich auch viel mit dem Programm beschäftigt. Ich sehe das folgendermaßen: Ich glaube, die Bemannte Raumfahrt ist etwas, was die Menschheit sich leisten kann und soll. Ich glaube, dass im Moment in der Raumstation unter Mikrogravitation gute Forschung gemacht wird, keine bahnbrechende, würde ich sagen. Das ist gute Forschung, ergänzende Forschung. Es gibt wichtige Aspekte, in der Medizin insbesondere und in der Biologie, die dort betrieben werden. Es ist nichts, was sich vergleicht in der Bedeutung mit der Astrophysik und auch nicht mit der Erdbeobachtung. Aber es ist notwendig, dass es getan wird. Es hat eine wichtige Rolle als Vorbereitung für spätere Aktivitäten. Aber ich habe einen philosophischen Ansatz dazu. Den kann man bestreiten, aber meiner ist es. Der liegt darin, dass ich meine, dass alle Phantasien von UFOs oder von Kontakten mit ETs und so weiter Spinnereien sind. Wir sind darauf angewiesen, zwei Dinge zu machen: das eine ist, mit SETI zu horchen, ob man Signale von intelligenten Wesen bekommt, um die Einsamkeit, in der wir uns im Universum befinden, zu überbrücken. Das andere ist, wenigstens den Bereich durch Menschen zu erkunden, der uns zugänglich ist, das was wir Exploration nennen. Dass wir eventuell gelegentlich den Menschen wieder zum Mond bringen, das kann man sich schon vorstellen, das muss man aber nicht tun, ist meine Meinung. Ich glaube nicht, dass der Mond wirtschaftlich je eine Bedeutung haben wird. Man kann sie auch zum Mars bringen, einfach nur, um es zu tun, um das Abenteuer zu suchen und auch, um den Menschen, wenn er dort ist, als das flexibelste Forschungsinstrument, was es gibt, zu nutzen. Das ist alles nicht zwingend, das ist alles nicht notwendig, aber es ist unvermeidlich. Die Menschen können es tun im Prinzip, und sie werden es tun. Die Frage ist nur, wer sich beteiligt und wie. 1:04:35 MK: Es gibt viele Kollegen, Physiker vor allem, die die Mikrogravitationsforschung für nicht besonders spannend halten, und man hört auch immer wieder: Wir können nicht erwarten, dass der große Durchbruch dabei heraus kommt. Aber ist es nicht so, dass dieses Forschungsgebiet im Grunde erst in den Kinderschuhen steckt? Denn um vernünftige Grundlagenforschung zu machen, brauche ich entsprechende Forschungskapazitäten. Mit den Höhenforschungsraketen erreiche ich bestenfalls einige Minuten Schwerelosigkeit. Ist es nicht so, dass man einfach sagen muss: Wir sind noch gar nicht so weit, wir können noch gar nicht abschätzen, ob es einen Durchbruch geben wird. Das hat im Grunde erst mit der Internationalen Raumstation begonnen. 1:05:13 GH: Aber wir machen ja schon einige Jahre die Programme zur Mikrogravitationsforschung, die von der ESA sehr gut gefördert werden. Man muss der ESA ein Kompliment machen, das hat sie sehr gut gemacht. Die ESA und die europäische Wissenschaft ist durch die ESA sicherlich weltweit führend in der Mikrogravitation. Sie machen gute Sachen. Ich selbst übrigens habe veranlasst, dass darüber ein Scientific American-Band erschien, das war ein Sonderheft, aber ich glaube, es soll irgendwann ein reguläres Heft werden – auch in Spektrum der Wissenschaft. Ich habe das initiiert, um die

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Wissenschaft, die mittlerweile wirklich gut gemacht wird, ein bisschen unter die Leute zu bringen. Aber in der Tat hat sie nicht dasselbe Gewicht wie die Forschung im Labor oder die Forschung im Weltraum auf anderen Gebieten. Das muss man einfach so sehen. 1:06:13 MK: Wie haben Sie damals innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft diese Diskussion empfunden? Da gab es ja einige Polaritäten. Ich denke da vornehmlich an Professor Trümper, der damals in seiner Funktion innerhalb der Deutschen Physikalischen Gesellschaft eine Revolte gemacht hat. Wie wurde das intern innerhalb der MPG gesehen? 1:06:30 GH: Ich habe das immer skeptisch gesehen. Ich bin kein großer Freund davon, anderen Bereichen die Berechtigung abzusprechen. Ich meine, man soll sie machen lassen. Sie müssen natürlich dafür kämpfen, dass sie gefördert werden. Ich habe im Übrigen den Shuttle niemals für eine besonders gute Erfindung gehalten. Die Raumstation ist etwas anderes, aber man muss erst einmal dort hinkommen. Ich denke, dass die russische Art und Weise die flexiblere ist. Andererseits kann man im Shuttle größere Geräte befördern, also es hat sich durchaus auch bewährt. 1:07:05 MK: Und man kann etwas mit runter bringen. 1:07:10 GH: Ja. Ich bin einmal bei einem Shuttlestart dabei gewesen, und ich finde das schon eine tolle Sache. Ich habe mich neulich gerade wieder ganz lange mit dem Thomas Reiter unterhalten über die Aussicht der Exploration usw. Also ich bin ein Freund der Bemannten Raumfahrt, ich kann das sagen. Und ich glaube, sie ist wichtig und unerlässlich. Aber sie ist, wie alle unsere Wissenschaften, ein Luxus der Gesellschaft. 1:07:38 HT: Das bringt mich zurück zu dem Punkt, den Sie vorher die philosophische Begründung genannt haben. Die Philosophen würden sagen: die transutilitären Ziele der Raumfahrt, die nicht so sehr auf Industriepolitik und Spin off abheben, sondern auf das, was die Menschheit in Richtung ihrer letztendlichen Begründung führt. Das ist ein schwieriges Feld, das ja auch immer wieder kontrovers diskutiert, an der Grenze zu Science Fiction. Das was Carl Sagen und auch Arthur C. Clark gemacht haben, hat Sie das schon immer interessiert? 1:08:20 GH: Nein, ich bin ein Anti-Science Fiction-Mensch. Ich bin ein Realist. Mich interessieren die realen Dinge, aber ich habe Verständnis für SETI. 1:08:35 HT: Aber SETI? 1:08:40 GH: Nein, das finde ich absolut real. Die Erfolgschancen sind gering, aber die Kosten sind auch gering. Es kostet nicht viel. Ich habe mir das mal ausgerechnet, wobei man zwei Dinge vorausschicken muss: SETI alleine kann man mit 10 Mio. Dollar pro Jahr betreiben. Das ist nicht so schlimm. Aber es müsste eigentlich auch das, was wir Active-SETI nennen, dazu gehören, denn wir können nicht erwarten, dass irgendeine Zivilisation uns Signale schickt, wenn wir nicht auch welche schicken, weil sie ja dieselbe Überlegung anstellen wie wir. Wenn unsere Gesellschaft aber so ist, dass sie das für wenig Erfolg versprechend hält oder für nutzlos oder für versponnen, wenn eine Zivilisation wie unsere so denkt, dann kann man wohl davon ausgehen, dass andere Zivilisationen ebenso argumentieren. Sie existieren vielleicht, aber sie senden nicht.

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1:09:29 HT: Aber braucht man nicht genau dafür die Öffentlichkeit, um die Politik zu mobilisieren? 1:09:40 GH: Dafür braucht man die Öffentlichkeit. Wenn die Weltbevölkerung sich entschlösse zu sagen, wir wollen auch Signale senden – da existieren die tollsten Ängste, etwa dass die uns dann aufspüren und uns Viren oder etwas ähnliches schicken, das ist alles Mumpitz –, das heißt ständig Signale senden, müsste man auf zwei Hemisphären Sendeantennen aufbauen. Wahrscheinlich ist der Radiobereich der beste, aber es gäbe auch andere Möglichkeiten. Das wäre eine Investition von weniger als einer Milliarde Euro, und im laufenden Betrieb von 10 bis 20 Millionen Euro pro Jahr. Das kann sich die Menschheit erlauben. 1:10:25 MK: Das Senden passiert ja im Grunde seit Beginn des Raumfahrtzeitalters. 1:10:30 GH: Aber nicht in der Weise, wie es sein müsste. 1:10:35 MK: Das geht natürlich auch nach außen. 1:10:39 GH: Ja, aber das sind sehr diffuse Signale. 1:10:45 MK: Aber ist es nicht so, dass die Statistiker unter den Physikern sagen: Beides ist wahrscheinlich, dass es andere gibt, die senden, dass wir senden, aber es ist unwahrscheinlich, dass beides zeitlich irgendwann einmal zusammen trifft. 1:10:58: GH: Richtig. Also wenn man diese so genannte Drake Equation auswertet, und wenn man das auf durchaus kritische, aber sagen wir mal positive Weise tut, dann kommt man doch zu dem Schluss, dass in erreichbarer Nähe in unserer Milchstraße zwischen 0 und 5 solcher Zivilisationen liegen. Die Zahl ist sicher nicht groß. Es kann vielleicht einmal neue Einsichten geben, aber es wird uns nichts nützen. Die messen ja jeden Tag, finden jeden Tag neue außerirdische Planeten, und eines Tages wird man auch erdähnliche auffinden, die sich in der richtigen Habilitationszone befinden, und man wird auch vielleicht Signale finden, die andeuten, es könnte dort Sauerstoff in der Atmosphäre sein. All das ist möglich, aber dann wissen wir immer noch nicht, ob es nicht nur Mikroben gibt, wenn überhaupt. Um festzustellen, dass es anderswo Leben gibt, gibt es Möglichkeiten im Sonnensystem, den Mars, den Jupitermond Europa und vielleicht noch andere Objekte. Und es gibt organische Moleküle diverser Art, das wissen wir jetzt schon, in Kometen- oder Asteroidenbruchstücken, usw. Das gibt es alles. Aber wir werden nie wissen, ob wir singulär im Universum sind oder nicht, wenn wir nicht so etwas wie SETI machen. 1:12:36 HT: Sie waren die letzten Jahren auf diesem Feld auch publizistisch unterwegs. Hat Ihnen das Vorbehalte Ihrer Kollegen eingetragen? 1:12:45 GH: Das habe ich noch nicht gehört. Was sie vielleicht gedacht haben, haben sie mir nicht gesagt, aber ich habe nichts Negatives zurückbekommen. Ich stehe auch weiterhin dafür ein. Ich bin jetzt auch im Beratungskomitee der Europäischen Kommission, DG Enterprise, und wir arbeiten gerade an einem europäischen Programm, im Rahmen der EU, für Exploration. Das Papier wird in diesen Tagen erstellt, wir haben ausführlich darüber beraten. Es besteht die Möglichkeit, dass Geld aus der Landwirtschaft umgeleitet wird in ein ambitioniertes Weltraumprogramm. Wofür ich eintrete, ist, dass man einen europäischen Konsens herbeiführt – nicht nur über die ESA, sondern EU-weit – darüber, dass sich Europa

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profilieren soll als ein möglicher, durchaus starker Partner in einem globalen Unternehmen, eines Tages Menschen zum Mars zu schicken. Das kann nur global gehen, das kann nur mit Hilfe aller großen Weltraumorganisationen gehen: USA, China, Indien, Japan, Russland. Aber Europa muss eine Rolle spielen, und Europa kann nur eine Rolle spielen, wenn es die Größenordnung von mindestens einer Milliarde Euro pro Jahr in dieses Unternehmen steckt, sonst ist es unterkritisch, das ist das Minimum. Momentan investieren sie, wenn man es genau nimmt, für Exploration nur etwa 150 Millionen. 1:14:47 HT: Aber das heißt ja fast das Doppelte des Wissenschaftsprogramms der ESA. 1:14:55 GH: Richtig, ja. 1:14:59 HT: Das wirft die Frage auf, ob das, wie Sie es jetzt formuliert haben, in einem anderen institutionellen Rahmen passieren muss, eher im Rahmen der EU und nicht mehr der ESA? Oder was bedeutet das generell für die ESA, dass jetzt andere Felder wie Erdbeobachtung dazu kommen? Muss sie sich neu positionieren in der Kooperation mit der EU, oder muss man ein neues Dach finden? 1:15:13 GH: Das kann nur in Kooperation mit der EU sein, die ESA kann nur ausführendes Organ sein. Sie hat das technische Know-how, die EU wird das politisch und programmatisch steuern müssen. Man darf nicht vergessen, das wäre eine enorme Investition in Industrien diverser Art. Das Geld wird im Wesentlichen für Gehälter ausgegeben und nicht für irgendwelche exotischen Materialien, und das muss wachsen. Das hätte volkswirtschaftlich einen besseren Effekt als die Unterstützung der Landwirtschaft. Aber ob es zustande kommt, ist eine Frage eines europäischen Konsenses. Da kommen wir zu Ihren transutilitären Zielsetzung. Es ist sehr schwer, die Menschen dafür zu interessieren, denn man kann nicht nur über die Spin offs argumentieren. Die Spin offs sind geradezu unvermeidlich, da kann man machen, was man will. Wenn man im hochtechnologischen Bereich Geld ausgibt, dann gibt es Spin offs, da braucht man gar nicht darüber nachzudenken. 1:16:24 MK: Die ESA hat ja ein eigenes langfristiges Marsprojekt, das AURORA-Programm. Ich kann mich aber auch erinnern, dass vor einigen Jahren die ESA-Verantwortlichen gesagt haben, es dürfen keine Marsastronauten mehr innerhalb von ESA-Projekten gezeigt werden. Die Öffentlichkeitsleute zeigen ja gerne solche futuristischen Szenarien. Ein Grund dafür war auch, dass man in der öffentlichen Diskussion gesagt hat, wir müssen in Sachen Erderkundung, Klimatologie usw. noch sehr viel mehr machen. Was würden Sie einem Kritiker sagen, der sagt, ist es nicht vernünftiger, in die Klimasatelliten zu investieren, und mit dem Mars beschäftigen wir uns vielleicht einmal dann, wenn wir die Probleme hier weitgehend gelöst und wenn wir unsere Erdatmosphäre und das Wettergeschehen verstanden haben? 1:17:07 GH: Die Frage des Klimawandels ist ungeheuer wichtig für unser irdisches Dasein. Da muss man das Richtige tun, da gibt es das GMES, das Global Monitoring for Environment und Security, bei dem die EU und die ESA zusammenarbeiten, die beide sehr viel Geld dazu geben. Das sind alles wichtige Dinge, die laufen. Die sind nicht unterfinanziert, die sind gut finanziert. Die kann man hier und da auch aufstocken. Das haben wir soeben, Gott sei Dank, mit CRYOSAT 2 erlebt. Das sind alles absolut wichtige Dinge, die stehen im Moment im Vordergrund. Daneben muss man aber sagen: Wir wollen einmal zum Mars fliegen. Das kann 2050 oder 2100 sein. Die Zeit spielt dabei gar keine Rolle. Aber man sollte eine europäische Position finden: Welche Rolle wollen wir spielen, wie wollen wir uns global beteiligen? Die

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Chinesen werden weiter arbeiten, die Amerikaner auch. Obamas jetzige Meinung ist durchaus vernünftig, aber sie wird nicht ewig tragen; das wird wieder korrigiert werden, ganz bestimmt. Da ist viel zu viel Ambition in Amerika da. 1:18:22 MK: Vom nächsten Präsidenten wahrscheinlich. 1:18:26 GH: Von allen Seiten, wie auch immer. Davon, dass es jetzt einen kurzfristigen Einbruch gibt in diesem Bereich, muss sich Europa nicht irritieren lassen. Aber wir sollten eine Position finden, das ist das Wichtigste. Und wenn die Position positiv ist – ja, wir wollen eine Rolle spielen –, dann müssen wir etwas aufbauen, ein Programm, was letzten Endes zu Ausgaben führt, die ungefähr eine Milliarde pro Jahr betragen. Das muss einfach so sein. 1:18:58 HT: Sie haben ein Stichwort genannt: Spin off. Sie sind ja für einen theoretischen Astrophysiker einen ganz ungewöhnlichen Weg gegangen, indem Sie 1987 ein Anwendungsinstitut, ein Unternehmen gegründet haben. Was hat Sie dazu bewogen, Ihr eigenes Unternehmen zu gründen? Es gibt ja auch noch Garching Instruments. 1:19:25 GH: Ja, es heißt SME, Science Management and Engineering. Es sollte auch genau das tun, was der Name sagt, aber es tut es mittlerweile nicht mehr. Aber was hat mich dazu bewogen? Mich hat die Erkenntnis bewogen, dass wir plötzlich ein Projekt bekamen, für das wir einen Manager und einen guten Ingenieur brauchten und nicht aus unserem Bestand loseisen konnten. Und wie Sie schon sagen, die Leute wollen lieber Dauerverträge haben, und diejenigen, die mit Dauerverträgen bei uns waren, die waren in anderen Projekten gebunden. Plötzlich musste man eine Managementstruktur aufbauen. Wie könnte man das machen? Und das war die Idee: eine Firma aufzubauen, die Leute und Know-how vorhält, die in solchen Fällen eintreten können. Das Problem war, letzten Endes ist das Konzept am Nein der Kollegen gescheitert. Dann bin ich ausgestiegen. Darauf ging es noch schlechter als vorher. Irgendwann einmal habe ich meinen Schwiegersohn überredet. Er hat die Leitung übernommen, und die Firma macht jetzt Softwareentwicklung für die Steuerung von Industrieanlagen. 1:20:35 HT: Also ganz andere Dinge. 1:20:37 GH: Ganz andere Dinge. 1:20:38 MK: War es nicht das, was Ludwig Bölkow am Schluss im Sinn hatte? Er hat ja auch gesagt, wir brauchen Systemtechnikingenieure. 1:20:46 GH: Richtig, das stand dahinter. Aber nicht deswegen lief es nicht. Ich habe vorher schon ein paar Mal deutlich gesagt, ich habe mich mit dem deutschen Kram nicht immer so ganz wohl gefühlt. Da spielten zu sehr Neid oder quer laufende Ambitionen eine Rolle. Solche außergewöhnlichen Dinge kamen nicht gut an. Da habe ich lieber meine Hände davon gelassen. Aber die Firma läuft gut und hat etwa 30 Angestellte. Aber sie tut nicht das, was sie ursprünglich tun sollte, nur der Name ist geblieben. 1:21:27 HT: Die Familienlösung. 1:21:30 GH Das war die Familienlösung.

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1:21:50 HT: Was würden Sie aus Ihrer Sicht, aus Ihren Erfahrungen mit der ESA noch zur Sprache bringen wollen? Was ist bei der ESA besonders gut gelaufen, was ist weniger gut gelaufen, und was schließen Sie daraus für die Wege, die die ESA vielleicht neu gehen sollte oder wie sie sich neu aufstellen muss? 1:22:16 GH: Also das Letzte, was Sie sagten, zielt mehr auf das Programmatische. Ich will auf das Atmosphärische zu sprechen kommen. Die ESA zeigt einen gewissen Alterungseffekt, zumindest in dem Bereich, den ich überschauen kann, also die Wissenschaften, Exploration usw. Es sind nicht mehr die besten Ingenieure da, es sind nicht mehr die besten Wissenschaftler und Manager da. Meine Meinung ist, die ESA zieht nicht mehr die Besten unter den Guten an. Das ist schade. Leute wie Reimar Lüst oder Bonnet oder Ernst Trendelenburg und viele andere, oder David Dale, einer der besten Ingenieure der ESA, die sind alle nicht mehr da, und sie sind nicht ersetzt worden durch gleich gute Leute. Die ESA tut sich schwer, wirklich ganz hervorragende Menschen zu binden. Das Zweite ist, dass das Wissenschaftsprogramm stark unterfinanziert ist. Wenn es besser finanziert wäre, würde sie wahrscheinlich auch wieder bessere Leute anziehen. Es wird zu viel Politik gemacht und zu wenig eigenes Engineering, was natürlich politisch gewollt ist. Alles wird von der Industrie gemacht und nichts mehr von der Weltraumagentur – was sehr schade ist, denn in den Jahren, die ich erlebt habe, die 60er, 70er und bis in die 80er Jahre hinein, war ESTEC eine Quelle der Kompetenz, der Anregungen und der Erkenntnisse im Weltraumbereich. Das ist immer schlechter geworden. 1:24:02 MK: Denken Sie, die ESA sollte auch, was die Mitgliedsländer angeht, expandieren, so wie es die EU gemacht hat? 1:24:10 GH: Ja, wo immer es geht, wenn denn ein Beitrag geleistet werden kann, aber das ist im Moment nicht so wichtig. Man muss sehen, welche Länder wirklich etwas zu bieten haben und auch gewillt sind, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Das ist ja nicht so ganz einfach. Ich glaube, Griechenland ist jetzt schon Mitglied oder wird Mitglied. Österreich ist es schon seit längerer Zeit, und die leisten auch ihren Beitrag. Aber das ist nicht der Punkt. Das Problem ist, dass die vorhandenen Mitgliedsländer zu wenig investieren. 1:24:55 MK: Sie sagen, es gibt heute zu wenig gute Leute. Könnte das daran liegen, dass die ESA zu wenig eigene große Forschungseinrichtungen hat – ESTEC ist sicherlich die größte, es gibt auch kleinere wie ESRIN usw. –, aber hapert es vielleicht da? 1:25:06 GH: Ja, da hapert es schon, vor allen Dingen an der mangelnden Eigenständigkeit dieser Institutionen. Sie können immer weniger selbst machen, sie können eigentlich nur noch Industrieaufträge steuern. Sie lesen diese Papierberge, statt selbst kreativ sein zu dürfen, was sie alle gerne getan haben. Die erste und die zweite Generation waren sehr kreativ. Das waren hervorragende Leute, die sehe ich nicht mehr, aber das kann auch mein Fehler sein. 1:25:38 HT: Das hört sich so an, als sei das auch darin begründet, dass die industriepolitische Dimension zu sehr nach vorne tritt. Damit kommt das Fair Return-Prinzip wieder stark zur Geltung, und die eigenständige Forschungsbasis, die Wissensbasis der ESA, wird ausgehöhlt. 1:25:56 GH: So ist das. So ist das gelaufen, und das finde ich sehr, sehr schade. Das ist von den Nationen sehr kurzsichtig gewesen, aber so ist die Politik gelaufen. Ich denke, bei der NASA ist das genauso gelaufen, denn dort haben sie all das Know-how auf die Consultants ausgelagert. Es müssen starke europäische Institutionen geschaffen werden. Die Welt lebt

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letzten Endes davon, dass ambitionierte hochbegabte Menschen ihre Ziele realisieren können, und dafür muss es die entsprechenden Spielwiesen geben. Im Weltraumbereich liegen diese nur in der Industrie, und Sie wissen ja, wie das in der Industrie geht: Wenn man Hauptauftragnehmer ist, macht man nur Papierkram, und kann überhaupt nicht kreativ sein. Die Fuchs-Gruppe jedoch läuft sehr gut, das ist eine sehr gute Firma. 1:27:13 MK: Sie meinen OHB? 1:27:16 GH: Ja, OHB. Die kenne ich sehr gut, genauso wie Kayser-Threde. Auch die sind noch gut, aber schon an der Grenze, an der es umschlagen kann in immer mehr Papiertigerei statt Kreativität. Und das ist schade. 1:27:34 HT: OHB ist das Stichwort für eine weitere Frage: Wie haben Sie die Kooperation mit der deutschen Raumfahrtindustrie in Ihren Projekten erlebt? Lief sie immer gut, reibungslos? 1:27:43 GH: Sie lief immer gut. Sie lief mit Kayser-Threde gut, sie lief mit Astrium sehr gut, sie lief früher mit MBB sehr gut, oder mit der IABG. Da kann ich überhaupt nicht klagen. Wir haben immer Partner gehabt, die Verständnis für uns hatten und unsere Wünsche zu ihren eigenen Ambitionen gemacht haben. Da kann ich nur Positives sagen. 1:28:08 HT: Das deckt sich mit dem Bild, das Ihre Kollegen zeichnen. Das ist bemerkenswert und verdient, festgehalten zu werden, weil es ganz unterschiedliche Logiken sind, in denen die Industrie einerseits und die Weltraumwissenschaft, die Astrophysik, andererseits operieren. Dass beide so kompatibel waren – gar noch moderiert durch die DARA usw. –, ist erstaunlich. 1:28:31GH: Das lief auf jeden Fall so lang gut, wie direkte Kontakte möglich waren. Das ist im Laufe der Zeit deswegen auch etwas schwierig geworden, jedenfalls teilweise in gewissen Projekten; da hat man nur über die ESA mit der Industrie kommuniziert. Das habe ich persönlich nicht mehr erlebt. Ich habe nur die Zeit erlebt, in der direkte Kontakte möglich waren, und da habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. 1:28:53 MK: Würden Sie sagen, dass die großen Fusionen der richtige Weg waren. Es gibt ja heute eigentlich nur noch zwei große Raumfahrtfirmen, EADS mit Astrium und OHB. 1:29:03 GH: Ja, im Grunde genommen gab es nur noch eine. OHB hat sich aber mittlerweile gemausert. Aber es ist noch nicht lange her, da gab es nur eine Firma. Sie kooperierten dann mit einer englischen oder französischen Firma, etc. Das war keine gesunde Situation. OHB hat die Situation wieder gesünder gemacht, würde ich sagen, weil die jetzt in der Liga mitspielen, in der Astrium und EADS – und die entsprechenden italienischen und französischen großen Unternehmen – spielen. OHB spielt jetzt in deren Liga, und das ist gut so. Kayser-Threde tut es nicht, sie sind noch in der kleinen und mittleren Raumfahrt. 1:29:58 MK: Ja, sie gehören aber mittlerweile auch zur OHB. 1:30:00 GH: Sie gehören dazu, aber haben eine gewisse Selbstständigkeit. Im Grunde genommen ist das etwas gesünder dadurch geworden. 1:30:14 HT: Eine letzte Frage von meiner Seite: Wenn Sie die Raumfahrtpolitik im Großen und Ganzen betrachten, die sich durch die Ministerien und durch die verschiedenen Ägiden von Ministern manifestiert, und die deutsche Politik Revue passieren lassen – vor

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Riesenhuber, unter Riesenhuber und nach Riesenhuber –, wie haben Sie die Weltraumpolitik der unterschiedlichen Regierungen erlebt? 1:30:40 GH: Ich war natürlich nicht immer so nah dran. Zu der Zeit von Strauß oder Leussink war ich gewissermaßen noch ein kleiner Mann und hatte damit wenig zu tun. Riesenhubers Reden waren mir immer zu lang, aber ansonsten hat er eigentlich Gutes bewirkt – auch Wissmann war noch sehr gut, für eine kurze Zeit. Mit Wissmann wären wir gut gefahren, wenn er länger geblieben wäre, das ist meine Meinung. Rüttgers war in gewisser Weise dann schon eine Pleite, mit vielen Ambitionen und wenig Taten, und Frau Bulmahn war eher eine Katastrophe, obwohl sie zuletzt die Exzellenz-Initiative aufgelegt hat. Das war ihre Initiative, und das war gut für die deutsche Universitätslandschaft. 1:31:44 HT: Unbedingt. 1:31:46 GH: Das war eine gute Tat, die Juniorprofessuren hingegen waren eine schlechte Erfindung. Im Übrigen war sie sehr negativ gegenüber den Weltraumwissenschaften eingestellt. 1:31:56 HT: Ja, schon als Berichterstatterin im Bundeshaushaltsausschuss. 1:32:00 GH: Frau Schavan macht das sehr viel netter und besser. Aber ich bin jetzt draußen, ich mache jetzt keine Politik mehr – doch, über die EU jetzt immer noch. 1:32:11 HT: Nun, das ist schon auch große Politik. 1:32:15 GH: Ja, das könnte große Politik werden, wenn es gelingt. 1:32:19 HT: Sich in der EU zu betätigen, ist wirklich große Politik. 1:32:24 GH: Das muss ich sagen, dafür hat es einen Trigger gegeben. Als ich in Bremen aufhörte, war ich zur Schaffermahlzeit eingeladen. Man wird nur eingeladen, wenn man nicht in Bremen wohnt, oder man muss Schaffer sein, also Kapitän oder etwas Ähnliches. Ich wurde also eingeladen, das war im Januar 2006. Der eingeladene Sprecher des Abends war Günter Verheugen, und beim Empfang traf ich also Verheugen. Wir haben uns unterhalten, ich habe ihm ein bisschen von meinen Anliegen erzählt, und er hat mich eingeladen – ich war damals der Chairman des European Space Sciences Committee –, nach Brüssel zu kommen. Ich bin mit dem Kollegen Jean-Claude Worms, dem Sekretär des European Space Sciences Committee, im Juni 2006 zu ihm gefahren. Wir haben ihm insbesondere von Exploration, von der Bemannten Raumfahrt und der Erkundung des Sonnensystems erzählt, und er war total begeistert. Wir haben fast 2 Stunden miteinander geredet, und davon ist etwas im Enterprise Direktorat geblieben, denke ich. Es hat sich jetzt auch erweitert, und ich bin erstaunt über die positive Haltung von Herrn [Reinhard] Schulte-Braucks und anderen. Sie wollen Exploration fördern. Sie sehen das als eine fördernswerte Aufgabe an. Ich denke, dass ich vielleicht – Verheugen hatte zuvor nichts davon gehört – ein bisschen die Grundlagen mit gelegt habe. Ja, aber wie war nochmals Ihre Frage? 1:34:28 HT: Meine Frage war, wie Sie die verschiedenen Perioden der bundesdeutschen Forschungspolitik erlebt haben.

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1:34:37 GH: Ach ja, ich habe bereits ehrlich gesagt, was ich von den Ministern gehalten habe. Frau Bulmahn war, als sie zur Chairwoman irgendeiner europäischen Ministerkonferenz für Weltraumfragen gemacht wurde, begeistert, und hat sich auch ein bisschen erwärmt für die Astronauten und dafür, was damit an Publicity zusammenhängt. Das ist richtig. Aber ansonsten hat sie für die Wissenschaft nichts bemerkenswert Gutes getan. 1:35:18 HT: Das waren unsere Fragen. Vielen Dank.