Jaspers Achsenzeit

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Geschichtsphilosophie

Citation preview

  • 191

    Jrg Dittmer

    Jaspers Achsenzeitund das interkulturelle Gesprchberlegungen zur Relevanz eines revidierten Theorems

    Manche Bcher sind ihrer Zeit voraus und erleben seltsame Rezeptionsschick-sale. Eines davon drfte das 1949 erschienene Werk des Heidelberger Existenz-philosophen Karl Jaspers mit dem Titel Vom Ursprung und Ziel der Geschich-te sein, dessen Intentionen erst im Zusammenhang der drngender werdendenProbleme des global village in den letzten 10 bis 20 Jahren in ihrer ganzen Trag-weite verstanden, kritisch aufgenommen und weiterentwickelt worden sind. Dadennoch nicht viel mehr als das Schlagwort von der Achsenzeit wirklich be-kannt ist, werden die folgenden Ausfhrungen zunchst daran erinnern, was Jas-pers eigentlich wollte. In einem zweiten Schritt werden die kritischen Rezep-tionen seines Achsenzeit-Konzeptes dargestellt und bergeleitet in die Kon-zeption einer Referenzzeit bzw. Referenzstruktur. Schlielich wird derenmgliche Relevanz im Kontext des Streites um Samuel P. Huntingtons Kampfder Kulturen, Hans Kngs Projekt Weltethos und die Frage nach einer Ver-stndigungsgrundlage fr das interkulturelle Gesprch angedeutet.

    1. Karl Jaspers Theorem einer Achsenzeit der Weltgeschichte

    Getragen von dem Bewutsein der Zusammengehrigkeit der verschiedenenMenschheitskulturen hat Jaspers wie nur wenige andere Philosophen seinerZeit1 sich bereits frh auch der Philosophie der nichteuropischen Kulturen zu-gewandt und sie in vergleichender Perspektive also nicht blo als Additum inseine philosophiegeschichtlichen Darstellungen einbezogen.2 Die Erfahrung derfaktischen Verwstung Europas im Zweiten Weltkrieg und der geistig-moralischen Zerstrungen unter der nationalsozialistischen und kommunisti-schen Herrschaft erneuerte und vertiefte sein diesbezgliches Interesse und fhr-te zur Abfassung seines Werkes Vom Ursprung und Ziel der Geschichte3. Auf

    1 Hier ist vor allem auf M. Scheler, Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Philoso-

    phische Weltanschauung, 3. Aufl., Mnchen 1968, 89ff und auf G. Misch, Der Weg in diePhilosophie, Bern 1950, hinzuweisen.

    2 Vgl. dazu K. Jaspers, Die groen Philosophen. Erster Band, 3. Aufl., Mnchen 1981.

    3 Vgl. zum Folgenden K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 8. Aufl., Mn-

    chen 1983, bes. 1548 und 76105. Zu den historischen Entstehungsbedingungen desWerkes vgl. A. Assmann, Jaspers Achsenzeit, oder: Vom Glck und Elend der Zentralper-spektive in der Geschichte, in: D. Harth (Hg.), Karl Jaspers. Denken zwischen Wissen-schaft, Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, 187205, bes. 196ff und dies., Einheitund Vielfalt in der Geschichte. Jaspers Begriff der Achsenzeit neu betrachtet, in: S.N. Ei-

  • 192

    der Suche nach einem empirisch verifizierbaren einheitlichen Bezugspunkt freine Menschheitsgeschichte jenseits aller Nationalgeschichten und eurozentri-scher Perspektiven stie Jaspers auf den Zeitraum von 800 bis 200 v. Chr., dener zusammenfassend mit dem Begriff Achsenzeit umschrieb und der nur frden Glubigen zugnglichen traditionellen christlich-abendlndischen Deutungvon Christus als Achse der Weltgeschichte gegenberstellte.4 In dieser Zeit seifr alle Vlker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverstndnisseserwachsen. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben.5Materiale Voraussetzung dieser These ist zunchst die Beobachtung aueror-dentlicher und in China, Indien und dem Abendland annhernd gleichzeitigerEntwicklungen, die Jaspers zunchst nur durch Nennung einiger Namen andeu-tet: In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chi-nesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezhlteandere, in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden allephilosophischen Mglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, biszur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt, in Iran lehrte Za-rathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Bse, in Pa-lstina traten die Propheten auf von Elias ber Jesaias und Jeremias bis zuDeuterojesaias, Griechenland sah Homer, die Philosophen Parmenides,Heraklit, Plato und die Tragiker, Thukydides und Archimedes.6Interessant ist nun, wie Jaspers die Leistungen dieser Denker zu einer Charakte-ristik der Achsenzeit7 ausdeutet. Als entscheidendes Merkmal scheint ihm in

    senstadt, Kulturen der Achsenzeit II. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, 3 Bde.,Frankfurt a.M. 1992, 330340, bes. 335, die ebd. auch auf den Zusammenhang seinerKonfrontation mit totalitren Wertvorstellungen und kollektivistischen Mythen hinweistund als Beleg zitiert, was Jaspers schon 1946 auf einer Konferenz in Genf geuert hat:Vorbei ist der europische Hochmut, ist die Selbstsicherheit, aus der einst die Geschichtedes Abendlandes die Weltgeschichte hie. ber Jaspers in den folgenden Jahren immerklarer Gestalt annehmenden Plan einer Weltphilosophie vgl. H. Saner, Jaspers Idee einerkommenden Weltphilosophie, in: L.H. Ehrlich/ R. Wisser (Hg.), Karl Jaspers Today. Phi-losophy at the Threshhold of the Future, Washington D.C. 1988. Es berrascht nicht, daJaspers gerade wegen dieser Offenheit auch in nicht-europischen Lndern intensiv rezipiertworden ist (vgl. etwa D. Yoshizawa, The Reception of Jaspers in Japan, in: L.H. Ehr-lich/R. Wisser (Hg.), Karl Jaspers Today, 395400, bes. 398f).

    4 Jaspers selbst nennt (Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 28) Vorlufer seiner Theorie

    aus dem 19. Jahrhundert. Schon im 18. Jahrhundert (etwa bei Voltaire und Duperron) warman auf die geistigen Umbrche dieser Zeit in den groen Weltkulturen aufmerksam ge-worden, jedoch ohne die Absicht, die universale, das gesamte geistige Sein der damaligenMenschheit treffende Parallele herzustellen (ebd.). Als direkter Vorlufer von Jaspers in derBeschreibung der Phnomene ist Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie,Amsterdam 1935 zu nennen, der viele Beobachtungen bereits vor Jaspers machte und voneinem synchronistischen Weltzeitalter (ebd., 7) sprach. Doch stammt der Begriff Ach-senzeit und seine umfassende philosophische Deutung von Jaspers selbst.

    5 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 19.

    6 Ebd., 20.

    7 Ebd., 20ff. Dort finden sich auch die im folgenden zitierten Stellen. Zu meiner Zusammen-

    fassung vgl. auch den strker begrifflich kategorisierenden Versuch von J. Assmann, Maat.Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten gypten, Mnchen 1990, 26. Meine Darstel-lung bleibt nher an Jaspers sehr dichtem Text.

  • 193

    dem gesamten Zeitraum ein bewutseinsgeschichtlicher Durchbruch fabar zusein, der in allen drei Welten darin besteht, da der Mensch sich des Seins imGanzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewut wird. Er erfhrt die Furchtbar-keit der Welt und die eigene Ohnmacht. Er stellt radikale Fragen. Er drngt vordem Abgrund auf Befreiung und Erlsung. Indem er mit Bewutsein seine Gren-zen erfat, steckt er sich die hchsten Ziele. Er erfhrt die Unbedingtheit in derTiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz (20).

    Im einzelnen lassen sich die folgenden Aspekte genauer unterscheiden, die jedochim historischen Proze nur in gegenseitiger Wechselwirkung zu denken sind undals Facetten einer umfassenden Entwicklung verstanden werden mssen:1. Das Medium des bewutseinsgeschichtlichen Durchbruchs ist eine neue Artder Reflexion bzw. der rationalen Weltdeutung, wobei sich die Reflexion nichtnur auf die bewut gewordenen Grenzen, sondern auch auf das Denken selbstrichtete. Aus dem unbefragten Innesein des Lebens geschieht die Lockerung, ausder Ruhe der Polaritten geht es zur Unruhe der Gegenstze und Antinomien.Der Mensch ist nicht mehr in sich geschlossen. Er ist sich selber ungewi, damitaufgeschlossen fr neue, grenzenlose Mglichkeiten. Er kann hren und verste-hen, was bis dahin niemand gefragt und niemand verkndet hatte (21). Das ge-schichtliche Ergebnis dieser Vergeistigung besteht in der Ablsung des mythi-schen Zeitalters in seiner Ruhe und Selbstverstndlichkeit (ebd.). Die bis da-hin unbewut geltenden Anschauungen, Sitten und Zustnde wurden der Pr-fung unterworfen, in Frage gestellt, aufgelst. Es begann der Kampf gegen denMythos von seiten der Rationalitt und der rational geklrten Erfahrung (derLogos gegen den Mythos) (ebd.). Die alte mythische Welt versank langsam inden Hintergrund des Ganzen und blieb nur noch im Glauben der Volksmassenlebendig, whrend das neue geistige Ringen das Verstndnis des Mythos vern-derte, indem es ihn zum Gleichnis werden lie, ihn umformte oder in neuer Tiefeerfate.2. Treibende Kraft der Entwicklung werden in einem mchtigen Individualisie-rungsschub die groen Einzelnen: Zum ersten Mal gab es Philosophen. Men-schen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen (22). Bei aller Ver-schiedenheit der Wege vermochte es jetzt der Mensch, sich der ganzen Weltinnerlich gegenberzustellen. Er entdeckte in sich den Ursprung, aus dem er bersich selbst und die Wahrheit sich erhebt. Im spekulativen Gedanken schwingt ersich auf zu dem Sein selbst (ebd.) und spricht diese Erfahrungen (in unter-schiedlicher und notwendig zweideutig-miverstndlicher Weise) aus, getriebenvon der Sehnsucht des eigentlichen Menschen Befreiung und Erlsung(ebd.). Es geschah in der Achsenzeit das Offenbarwerden dessen, was spterVernunft und Persnlichkeit hie. Der Abstand zwischen den Gipfeln menschli-cher Mglichkeiten und der Menge wird auerordentlich. Aber was der Einzelnewird, verndert doch indirekt alle. Das Menschsein im Ganzen tut einen Sprung(22f).3. Was der Reflexion des Einzelnen zum Bewutsein gekommen ist, findet Ver-breitung durch Akte erweiterter Kommunikation. Es erwuchsen geistige Kmp-

  • 194

    fe mit den Versuchen, den anderen zu berzeugen durch Mitteilung von Gedan-ken, Grnden, Erfahrungen. Es wurden die widersprechendsten Mglichkeitenversucht. Diskussion, Parteibildung, Zerspaltung des Geistigen, das sich doch imGegenstzlichen aufeinander bezog, lieen Unruhe und Bewegung entstehen bisan den Rand des geistigen Chaos (20). Als soziologische Voraussetzung der sichintensivierenden Kommunikation betrachtet Jaspers die Flle kleiner Staatenund Stdte (23) in allen drei Gebieten, die in einem Kampf aller gegen alledoch zugleich in erstaunlichem Mae Kraft und Reichtum entfalten. Gegen-seitiger Verkehr brachte je innerhalb der drei Welten die geistige Bewegung inUmlauf (ebd.), die groen Lehrer wanderten und bildeten Schulen, diskutiertenund konkurrierten um den richtigen Weg zur Wahrheit.4. Im Vergleich mit dem dauernden geistigen Zustand des mythischen Zeitalters,in dem trotz Katastrophen alles sich wiederholte, beschrnkt in den Horizon-ten, in einer stillen, sehr langsamen geistigen Bewegung, die nicht verstanden unddaher nicht begriffen wurde (23), kam es jetzt nicht nur zu einer mchtigen Dy-namisierung, sondern auch zu einer Historisierung des Denkens. Indem die wach-senden Spannungen zwischen alt und neu und die schnelleren Vernderungenbewut werden, wurde das menschliche Dasein als Geschichte Gegenstanddes Nachdenkens. In der eigenen Gegenwart, so fhlt und wei man, beginntAuerordentliches. Aber damit zugleich wird bewut, da unendliche Vergan-genheit vorherging. Schon im Anfang dieses Erwachens des eigentlich menschli-chen Geistes ist der Mensch getragen von Erinnerung, hat er das Bewutsein desSptseins, ja des Verfallenseins (23). Die Geschichte wird als ein einheitlichesGanzes gedacht, sei es als Verfall, Aufstieg oder Zyklus.5. Die Folge der historischen Relativierung des eigenen Standpunktes bestehtdarin, da die Gestaltung des politischen Raumes als Problem verstrkt in denBlick kommt. Man will durch Einsicht, Erziehung, Reform planend denGang der Ereignisse in die Hand nehmen (23), man erdenkt, auf welche Weisedie Menschen am besten zusammen leben, verwaltet und regiert werden. Re-formgedanken beherrschen das Handeln. Die Philosophen ziehen von Staat zuStaat, sind Ratgeber und Lehrer, werden verachtet und gesucht (24). Es bestehteine soziologische Analogie zwischen dem Scheitern des Konfuzius am Hofe desStaates Wei und dem des Platon in Syrakus, zwischen der Schule des Konfuzius,in der kommende Staatsmnner ausgebildet wurden, und der Akademie Platons,in der dasselbe geschah (ebd.).

    Im Kontext dieser Entwicklungen wurden nach Jaspers die Grundkategorienhervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Anstze derWeltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben (20f). Dennes begann der Kampf um die Transzendenz des Einen Gottes gegen die Dmo-nen, deren Existenz bestritten wird, und der Kampf gegen die unwahren Gt-tergestalten aus ethischer Emprung gegen sie. Die Gottheit wurde gesteigertdurch Ethisierung der Religion (21). In diesem neuen Denken vom Grunde hertraten Religion und Philosophie der politischen Herrschaft und kulturellen Ord-nung zunehmend als differenter, eigenstndiger, autonomer Bereich gegenber. In

  • 195

    Jaspers Sichtweise geht die so charakterisierte Achsenzeit an ihrem Ende in einePhase der Konsolidierung ber, in der die Lehrmeinungen fixiert und in groenUniversalreichen zum Gegenstand von Schule und Erziehung (24) gemachtwurden (die Han-Dynastie konstituierte den Konfuzianismus, Asoka den Bud-dhismus, das Augusteische Zeitalter die bewute hellenisch-rmische Bildung;ebd.). Was aber auch nach dem Zerfall dieser Reiche am Ende blieb, war dieSpannung zum Geiste, der in der Achsenzeit erwachsen ist und von daher stn-dig wirksam wurde, indem er allem menschlichen Tun eine neue Fragwrdigkeitund Bedeutung gab (25). In dieser bewuten, geistig offenen, fragenden Haltungliegt fr Jaspers auch der bleibende Unterschied einerseits zu den vorhergehen-den lteren Hochkulturen (wie gypten oder Babylon), ber die ein merkwr-diger Schleier gebreitet liege, als ob der Mensch in ihnen noch nicht eigentlichzu sich selbst gekommen sei (26), und andererseits zu den als ungeschichtlicheingestuften Naturvlkern, die in der Folge entweder in ihrem bedeutungslosenZustand verblieben oder ausstarben oder mit den Achsenzeitkulturen in Berh-rung kamen, sich dabei assimilierten und in die Geschichte aufgenommen wurden(wie die germanischen und slawischen Vlker im Norden oder im Osten Japaner,Malaien oder Siamesen): Die Achsenzeit assimiliert alles brige. Von ihr auserhlt die Weltgeschichte die einzige Struktur und Einheit, die durchhlt oderdoch bis heute durchgehalten hat (27).Worin sieht Jaspers nun die Bedeutung dieser gemeinsamen Achsenzeit? Vondem, was damals geschaffen und gedacht wurde, lebt die Menschheit bis heute.In jedem ihrer neuen Aufschwnge kehrt sie erinnernd zu jener Achsenzeit zu-rck, lt sich von dorther neu entznden (26). Das Phnomen der Renais-sancen als Erinnerung und Wiedererweckung der Mglichkeiten der Achsenzeit(ebd.) schafft die Voraussetzung dafr, da zwischen den drei Welten Chinas,Indiens und des Abendlandes ein gegenseitiges Verstehen bis in die Tiefe mg-lich ist. Sie erkennen, wenn sie sich treffen, gegenseitig, da es sich beim an-dern auch um das eigene handelt. Bei aller Ferne geschieht ein gegenseitiges Be-troffensein (27). Whrend Jaspers vor dem Versuch einer Fortfhrung der Pa-rallele nach der Achsenzeit (32), etwa in synchronistischen Tabellen, als im-mer knstlicher warnt, hebt er doch den allumfassenden, alle geistigen Erschei-nungen in sich fassenden Charakter (ebd.) der Achsenzeit als geschichtlich ein-maliger Tatsache hervor. Nur in dieser Zeit habe man weltgeschichtlich univer-sal eine Parallele im Ganzen, nicht blo eine Koinzidenz besonderer Erschei-nungen (ebd.). Trotz der spteren divergierenden Entwicklungen liegt daher inder gemeinsamen Achsenzeit fr Jaspers die wesentliche Basis gegenseitiger Ver-stndigung der drei Kulturen und gegenseitiger Akzeptanz, denn je weiter wirzurckgehen bis zur Achsenzeit, desto verwandter werden wir einander, destonher fhlen wir uns (ebd.). Jenseits aller partikularen Glaubenswelten hat da-her die auf Erfahrung, nicht auf Offenbarung beruhende Achsenzeit fr Jaspersden Sinn, etwas zu gewinnen, was der ganzen Menschheit gemeinsam ist(40). Diese den drei Kulturen gemeinsame historische Bezugsgre aber, diemehr ist als das allem Menschlichen zugrundeliegende anthropologische Substratund weniger als die historisch-individuelle Erscheinungsform einer der drei Kul-

  • 196

    turen oder ihrer Gestaltungen, versteht er als Aufforderung zur grenzenlosenKommunikation. Die anderen zu sehen und zu verstehen, hilft zur Klarheit bersich selbst, zur berwindung der mglichen Enge jeder in sich abgeschlossenenGeschichtlichkeit, zum Absprung in die Weite und wird so zum besten Mittelgegen die Irrung der Ausschlielichkeit einer Glaubenswahrheit (41) religiseroder weltanschaulich-ideologischer Art.

    2. Von der Achsenzeit zur ReferenzstrukturAus dem oben Dargestellten ergibt sich, da schon Jaspers selbst deutlich dasnormative Interesse seiner Achsenzeit-Theorie gesehen hat. Dem selbsterhobe-nen Einwand, bei der Achsenzeit handele es sich nicht um eine Tatsache, sondernum

    das Ergebnis einer Vorliebe oder eines Werturteils, begegnet er mit dem Hinweisdarauf, da in alles geistesgeschichtliche Verstehen Werturteile einflieen undsich insofern auch seine These der Natur der Sache nach einem endgltigen Be-weise entzieht (30). Er uert jedoch die berzeugung, da sie durch Erweite-rung und Vertiefung der Anschauung besttigt werden kann (ebd.). Was damitgemeint ist, wird an anderer Stelle noch deutlicher ausgesprochen: Nur die Ver-gegenwrtigung der Flle historischer berlieferung kann zu wachsender Klarheitder These fhren oder zu ihrer Preisgabe. Diese Vergegenwrtigung ist nicht Sa-che eines kurzen Buches. Meine Hinweise bedeuten Frage und Aufforderung, esmit der These zu versuchen (25).Diese Herausforderung an die Adresse der Fachwissenschaften fand erst seitAnfang der 70er Jahre Gehr. Auf einer unter Leitung des Sinologen BenjaminSchwartz abgehaltenen interdisziplinren Tagung, deren Ergebnisse in Band104, 2 der Zeitschrift Daedalus8 verffentlicht wurden, versuchte Schwartz ineinem ersten Zugriff, das Gemeinsame der Achsenzeitkulturen als strain to-wards transcendence zu charakterisieren, wobei er den Begriff der Transzen-denz in einem ganz weiten Sinne verstanden wissen wollte als a kind of critical,reflective questioning of the actual and a new vision of what lies beyond.9Im Anschlu an Jaspers und an Schwartz Definition der Achsenzeit als age oftranscendence fhrte dann in den 80er Jahren der Soziologe Samuel N. Eisen-stadt in eigenen historisch-soziologischen Untersuchungen und auf mehreren vonihm organisierten interdisziplinren Konferenzen die Untersuchung der Achsen-zeit einen groen Schritt weiter.10 Dabei erkennt auch er einen grundlegenden

    8 Vgl. B. Schwartz (Hg.), Wisdom, Revelation and Doubt. Perspectives on the Ist Milleni-

    um BC, Daedalus 104 (1975), 2. Auch Eric Voegelin begann um dieselbe Zeit, sich in sei-nem monumentalen Werk Order and History (Bd. IV, The Ecumenic Age, 1974) explizitmit Jaspers auseinanderzusetzen.

    9 B. Schwartz, Wisdom, Revelation and Doubt, 3.

    10 Die Ergebnisse der Konferenzen sind in insgesamt fnf Bnden verffentlicht bei S.N.

    Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprnge und ihre Vielfalt, 2 Bde., Frank-furt a.M. 1987 und ders. (Hg.), Kulturen der Achsenzeit II.. Zu seinen eigenen Forschun-gen vgl. die in Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit, Bd. 1, 9 zusammengestellte Li-teratur.

  • 197

    Durchbruch und sieht das Movens des achsenzeitlichen Syndroms in der Span-nung zwischen der transzendentalen und der weltlichen Ordnung sowie in denVersuchen zu ihrer berwindung11. Zugleich relativiert er aber zu Recht Jas-pers Einengung der Achsenzeit auf den Zeitraum von 800 bis 200 v. Chr. undunterscheidet sekundre und tertire Durchbrche. Damit hat Eisenstadt dasVerdienst, Jaspers Gedanken in eine kultursoziologische und kulturanalytischeHypothese umgesetzt zu haben, mit der sich historisch arbeiten lt. Seine zen-trale Frage lautet: In welchen Formen haben die betroffenen Gesellschaften dietranszendenten Visionen institutionalisiert? Welche institutionellen Eliten wer-den zum Trger der neuen Gedanken und von welcher sozialen Stellung aus kn-nen sie Einflu auf ihre Kulturen nehmen?12

    Gegenber den Fragen von Schwartz nach der Transzendenz und von Eisen-stadt nach der Etablierung autonomer Reflexionseliten steht bei dem Heidelbergergyptologen Jan Assmann in zwei umfangreichen Monographien13 besondersder Aspekt der Kommunikation im Mittelpunkt seines Interesses. Als intimerKenner einer vorachsenzeitlichen Kultur mit reicher schriftlicher berlieferungkritisiert er zu Recht Jaspers plakative Schwarz-Wei-Malerei und die Verwei-gerung jeder hermeneutischen Auseinandersetzung mit der vor- und auerachsen-zeitlichen Welt14, die teils auf Unkenntnis, teils auf dessen normativem Interes-se beruhe, jedenfalls aber die Fremdheit der vorachsenzeitlichen Welt berbe-tont15. Assmanns Diskussionsbeitrag als gyptologe besteht daher in wichti-gen Differenzierungen, die dazu einladen, die Konzeption eines einzigen,menschheitsgeschichtlichen Durchbruchs von universaler Bedeutung zu ber-denken16. Auch wenn unser kulturelles Gedchtnis17 von geistigen Traditio-nen geprgt sei, die nur bis zu den Griechen oder den Propheten Israels zurck-reichen, so stelle sich doch die Frage, ob deren Verhltnis zum vorachsenzeitli-chen gypten eher als Evolution oder als Revolution, als Schritt oder alsSprung zu rekonstruieren ist18.

    Assmann geht aus von einer Kritik an Jaspers eigentmlicher Blindheit fr

    11 Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit, Bd. 1, 21. In den Schriften von Eisenstadt und

    den von ihm edierten Sammelbnden und ihren bersetzungen ins Deutsche wird der Be-griff transzendental quivalent mit transzendent gebraucht.

    12 J. Assmann, Maat, 27. Die beste Zusammenfassung von Eisenstadts Theorie findet sich in

    der Einleitung zu Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit, Bd. 1, 1040.13

    Vgl. J. Assmann. Maat (bes. 11f, 24ff und 45ff); ders., Das kulturelle Gedchtnis, Schrift,Erinnerung und politische Identitt in frhen Hochkulturen, Mnchen 1992 (bes. 24f und290ff) und ders., Groe Texte ohne eine groe Tradition. gypten als eine vorachsenzeitli-che Kultur, in: S.N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit II, Bd. 3, 245280.

    14 J. Assmann, Maat, 27. Schwartz und Eisenstadt wird bei allen Verdiensten ihrer Werke die

    unkritische bernahme von Jaspers Theorie vorgeworfen.15

    Ebd., 28.16

    Ebd.17

    Dieser Begriff wird entwickelt und ausfhrlich begrndet in J. Assmann, Das kulturelleGedchtnis.

    18 J. Assmann, Maat, 10. Die folgenden Zitate sind diesem Werk entnommen.

  • 198

    geschichtliche Bedingtheiten und Prozesse (41), insbesondere auch in Fragender Kommunikation: Jaspers glaubt an die Selbstdurchsetzung der groen Ge-danken. Verstehen ist unwiderstehlich. Kommunikation ist allenfalls an dasReisen gebunden. Einmal verbreitet, lt sich die Wahrheit nicht mehr verlieren(42). Demgegenber fragt Assmann nun nach den Bedingungen der Verfestigungvon Tradition, nach der Institutionalisierung von Permanenz und kommt zudem Ergebnis, da in altgyptischen Texten bereits erweiterte Thematisierun-gen und Explizierungen stattfanden und auch die entsprechenden Textualisie-rungen (in mndlicher, vor allem aber schriftlicher berlieferung): Auf die Pe-riode der Ersten Zwischenzeit und des Mittleren Reiches etwa treffen alle Kenn-zeichen achsenzeitlicher Kommunikation zu. Die Geschichte dieser Epoche lieesich mhelos in Jaspers Begriffen rekonstruieren (44). Was fehlte, war Ass-manns Ansicht nach in der Hauptsache die Institutionalisierung der Erinnerung,und dazu gehrt vor allem die Kanonisierung von Texten, d.h. das bewuteEinwirken auf die Bildung einer Tradition fundierender Texte mit der dazugehri-gen Auslegungskultur. So ist etwa das Gesprch eines Mannes mit seinem Ba der einzige altgyptische Text, den Jaspers wegen seiner Explizierung allge-meingltiger tieferer Menschheitsfragen wenigstens erwhnt hat nur auf einemeinzigen Papyrus des Mittleren Reiches erhalten und offenbar niemals in dieberlieferung eingegangen, geschweige denn in einen zentralen Rang gerckt. Wir drfen nicht davon ausgehen, da sich die groen Texte von selbst durchset-zen, sondern nur als Ergebnis kultureller Entscheidung und Arbeit.19 Als Re-sultat bleibt festzuhalten, da im Hinblick auf die altgyptische Hochkultur Jas-pers Zwei-Phasen-Modell der Achsenzeit durch ein Drei-Phasen-Modell zuersetzen wre, wobei die gyptische sowie verwandte Kulturen im Hinblick aufihre differenzierte und explizierte Einstellung zu Fragen der Moral und Religionals mittlere Phase zwischen den ursprnglichen Kulturen und den Achsenzeit-kulturen anzusehen sind, insofern sie mehrere achsenzeitliche Phnomenevorwegnehmen, ohne sie indessen dauerhaft institutionalisieren zu knnen.Doch auch darber hinaus wird die Bedeutung der Achsenzeit als Epochen-schwelle in Frage gestellt: Nicht die ungefhre Gleichzeitigkeit bestimmter Ph-nomene in einer bestimmten Epoche ist fr Assmann entscheidend, zumal auchEchnaton und Mohammed in diese Reihe zu stellen wren, Zoroaster heute we-sentlich frher (um 1000 v. Chr.) datiert wird und damit ein Zeitraum von etwa2000 Jahren sich ergibt, der jegliche Signifikanz verliert. Statt dessen deutet er dieSymptomatik der Achsenzeit als typischen historischen Vorgang, nmlich alskulturelle Transformation von ritueller zu textueller Kohrenz20, die mit derAusbreitung der Schriftlichkeit im 1. Jahrtausend v. Chr. historisch verdichtetaufgetreten sei und durch den variierenden Rckbezug der Erinnerung auf fundie-rende Texte Ideenrevolutionen ermglicht habe. In dieser Zeit entstehen nichtnur die fundierenden Texte, sondern auch die kulturellen Institutionen, mit derenHilfe die normativen und formativen Impulse dieser Texte ber die sich wan-

    19 Ebd., 48 und ausfhrlich in J. Assmann, Das kulturelle Gedchtnis, 195.

    20 J. Assmann, Das kulturelle Gedchtnis, 291.

  • 199

    delnden Sprachen, Gesellschaftssysteme, politischen Ordnungen und Wirklich-keitskonstruktionen hinweg in Kraft gehalten und die Rahmenbedingungen einesDialogs mit den Vorgngern ber Jahrtausende hinweg geschaffen werden.21Das bedeutet aber auch, da die achsenzeitlichen Errungenschaften nicht ein frallemal gewonnen und gesichert sind, wie Jaspers meinte, weil sie zu ihrer Siche-rung an Tradierung durch Institutionen gebunden sind.22

    Prinzipieller noch als Jan Assmann hat seine Frau, die LiteraturwissenschaftlerinAleida Assmann, in den letzten Jahren den Begriff der Achsenzeit problemati-siert.23 Jaspers Interesse als Philosoph richtete sich demzufolge mehr auf dieEinheit der Geschichte als auf die Vielfalt der Kulturen und ihre Besonderheitenim einzelnen er war mehr Historiosoph als Historiograph. Seiner Betonungdes Allgemeinen und Universalen fielen, eingekleidet in seinen existentialistischenSprachstil24, allzuviele differente Erscheinungen, fiel zu viel Partikulares zumOpfer. So wichtig auch nach den Zerstrungen des Zweiten Weltkrieges seineneue, universal auf die ganze Menschheit als Subjekt der Geschichte gerichteteSichtweise gewesen sei, der er in der Achsenzeit-These eine gemeinsame, dauer-hafte Orientierung geben wollte, so gro auch sein Beitrag zu einer erheblichenErweiterung des kulturellen Horizonts25 der Deutschen gewesen sei, so wenigdrfe darber doch die Vergewaltigung der Vielfalt kultureller Wirklichkeit durchdie Achsenzeit-These bersehen werden:

    21 Ebd.

    22 Es ist jederzeit mglich, da Institutionen der Auslegung verschwinden, fundierende Texte

    unverstndlich werden oder ihre Autoritt verlieren, kulturelle Mnemotechniken verschwin-den und Kulturen wieder in rituelle Kohrenz zurckfallen (ebd., 292, mit Anm. 61). MitBezug auf A.B. Seligman (Hg.), Order and Transcendence. The Role of Utopias and theDynamics of Civilizations, Leiden 1989 fgt er hinzu: Die Stimmen hufen sich, die un-ser eigenes postmodernes Zeitalter im Sinne einer Re-Oralisierung und De-Axialisierungdeuten. Jaspers selbst hatte mit Blick auf die exponentiell wachsenden technischen Mg-lichkeiten geuert, da wir vielleicht aber diesmal die gesamte Menschheit betreffend auf dem Weg sind in eine neue, uns noch ferne und unsichtbare zweite Achsenzeit der ei-gentlichen Menschwerdung (Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 46).

    23 Vgl. A. Assmann, Jaspers Achsenzeit und Einheit und Vielfalt in der Geschichte. Ich

    beschrnke mich im wesentlichen auf ihre Ausfhrungen. Vgl. aber auch die Arbeiten vonG.B. Pepper, Die Relevanz von Jaspers Achsenzeit fr interkulturelle Studien, in: K. Sa-lamun (Hg.), Karl Jaspers. Zur Aktualitt seines Denkens, Mnchen 1991, 7085 und vonP. Gaidenko, Die Achsenzeit und das Problem des philosophischen Glaubens bei Karl Jas-pers, in: K. Salamun (Hg.), Karl Jaspers, 8694. Zur Aktualitt von Jaspers im gegenwr-tigen philosophischen Fragehorizont vgl. auerdem H. Fahrenbach, Das philosophischeGrundwissen kommunikativer Vernunft. Ein Beitrag zur gegenwrtigen Bedeutung derPhilosophie von Karl Jaspers, in: J. Hersch/J.M. Lochmann/R. Wiehl (Hg.), Karl Jaspers.Philosoph, Arzt, politischer Denker. Symposium zum hundertsten Geburtstag in Basel undHeidelberg, Mnchen 1986, 232280 und R.A. Mall, Philosophie im Vergleich der Kultu-ren. Interkulturelle Philosophie eine neue Orientierung, Darmstadt 1995.

    24 A. Assmann, Jaspers Achsenzeit, 191f wird dargelegt, da Jaspers ursprnglich fr den

    Einzelnen entwickelte Begriffe der existentialistischen Philosophie auf die Weltgeschichtebertrug: Die Achsenzeit hat fr die Menschheitsgeschichte dieselbe Bedeutung, die dieGrenzsituation fr die individuelle Lebensspanne besitzt (dies., Einheit und Vielfalt inder Geschichte, 334).

    25 Ebd., 336. Ich folge im weiteren ihren Ausfhrungen.

  • 200

    Wo er die Reflexion der conditio humana als Signatur der Achsenzeit zum all-gemeinen Mastab mache, verlren gemessen an dem damit etablierten Achsen-standard viele Kulturen als vorgeschichtlich oder nicht geschichtsfhig ihre eigeneDignitt. Der einheitliche Mastab, mit dem Jaspers das Ziel verfolge, kulturelleund ethnische Schranken zu berwinden, um den Erdball zur gemeinsamen Hei-mat der Menschheit zu machen (ebd.), fhre doch am Ende zu einer Verkrzungin der Wahrnehmung der Vielfalt menschlicher Mglichkeiten und kulturellerWirklichkeiten. Der europische Hochmut, den Jaspers so entschieden ablehn-te, habe sich durch die Hintertr wieder eingeschlichen. Um die Verschiedenartigkeit der Kulturen aufeinander beziehen zu knnen,mute Jaspers notwendigerweise Schicht um Schicht alle unterscheidendenMerkmale abtragen, um zu dem wesentlichen Kern des existentiellen Mensch-seins vorstoen zu knnen. Dieses Substraktionsverfahren aber fhre zu einerAbstraktion, die durch ihren Reduktionismus potentiell gefhrlich sei, weil nichtder wirkliche Mensch oder die individuelle Kultur mit ihrer spezifischen Beson-derheit, der Flle ihrer Erscheinungsformen und ihren Traditionen im Mittel-punkt des Interesses stehe. Das Besondere laufe Gefahr, im Namen des Allge-meinen seinen Eigenwert zu verlieren.

    Schlielich hat Stefan Breuer in einer profunden Studie den Versuch unternom-men, die wichtigsten Beitrge zu dieser Debatte zu sichten und auszuwerten.26Im Ergebnis besttigt sich auch fr ihn vom soziologisch-empirischen Befund herJaspers Ansicht, da es in China, Indien, Palstina und Griechenland in derAchsenzeit zu einem entscheidenden geistigen Durchbruch gekommen sei. Aller-dings treten auch charakteristische Unterschiede zwischen den Kulturen hervor,wenn man als Kriterien fr den Durchbruch zur Transzendenz festlegt, da dieHomologie von jenseitiger und diesseitiger Welt (Eisenstadt) beseitigt und dasontologische Kontinuum (Uffenheimer) einer magisch-mythischen Welt zer-strt worden sei. Gemeinsam ist dann bei allen Durchbrchen paradoxerweisevor allem die Tatsache, da sich die neu entwickelten Gedanken in den folgendenJahrhunderten in keinem Fall bruchlos und vollstndig als dominantes Weltdeu-tungsmodell etablieren konnten.Fr China zeigt Breuer, da es dort in der Tat in der Zeit vom spten sechstenbis zum spten vierten Jahrhundert vor Christus einen beispiellosen intellektu-ellen Aufbruch gab, in dessen Verlauf sich die primordiale Einheit von Kosmosund Gesellschaft spaltet und innerhalb der letzteren eine Spannung zwischen derberlieferten (konventionellen) Sittlichkeit und neuen Formen der Moralitt undLegalitt entsteht (4). Doch lie sich der in der Achsenzeit erreichte Durch-bruch nicht stabilisieren, und es besteht Einigkeit darin, da das vorherrschen-de Muster der chinesischen Geschichte von onto- und kosmologisch begrndetenOrdnungsmodellen geprgt wurde (5). Die Entwicklung verlief daher schleifen-

    26 S. Breuer, Kulturen der Achsenzeit. Leistung und Grenzen eines geschichtsphilosophischen

    Konzepts, in: Saeculum 45, 133, 2. An dieser Stelle knnen nur einige Ergebnisse seinerUntersuchungen festgehalten werden. Um so nachdrcklicher verweise ich auf seinen Auf-satz.

  • 201

    frmig; es ergibt sich ein Bild von tastenden Vorgriffen auf das Gebiet der Prin-zipienmoral und der formal-operativen Rationalitt, die indes vereinzelt bleibenund durchgngig unter der Vorgabe stehen, zur Restitution der verlorengegange-nen Sittlichkeit beitragen zu mssen (5). Die dualistischen Denkmuster konntensich im Kontext eines stark diesseitigen Denkens mit zyklisch-weltlichem Zeit-begriff nicht recht entfalten, so da es zwar einen Durchbruch zur Transzendenzgab, in der jedoch die Spannungen und Differenzierungen mit sehr diesseitigenMitteln wieder eingekapselt und an einer weiteren Vertiefung gehindert werden(7). Auch in Indien lt sich in der Philosophie der Upanischaden und im Bud-dhismus ein geistiger Durchbruch erkennen, in dem die fr ein magisch-mythisches Weltbild charakteristische Homologie von Gtter- und Menschen-welt zunehmend durch ein abstrakteres Denken ersetzt wird, das die anthropo-morphe Auffassung der Gtter ablst. Ganz anders als in China werden dabeijedoch Staat und Gesellschaft weitgehend entwertet. Erlsung wird nicht durchBewhrung in irgendeinem innerweltlichen oder auerweltlichen Handeln ge-sucht, sondern allein in einer aktivittsfremden Zustndlichkeit (12). In dergesellschaftlichen Wirklichkeit Indiens lt sich trotz dieses Durchbruchs schonbald auf breiter Front eine Rckkehr zum Ritual feststellen.Insgesamt bleibt fr den Fernen Osten charakteristisch, da die Religionsent-wicklung an der Homologie von Diesseits und Jenseits ansetzt, ohne dabei dasontologische Kontinuum zu sprengen (13). In Mesopotamien und gyptendagegen wird genau umgekehrt in das ontologische Kontinuum mit der Betonungdes Schpfungsgedankens schon frh ein Keil getrieben, whrend das Jenseitsbzw. die Gtterwelt lange Zeit in Homologie bzw. Analogie zum Diesseits ge-dacht wird (13). berall im Vorderen Orient setzt sich im 2. Jahrtausend eintheozentrisches Weltbild durch, das im Unterschied zu der in Indien und Chinadominierenden kosmozentrischen Konzeption die Schpferrolle eines oberstenGottes betont und das Universum wie die Geschichte als in gttlicher Macht undgttlichem Willen gegrndet auffat (14). Am weitesten gehen die Durchbrcheim Westen dabei in den peripheren oder intermediren Zonen, die ihren Aufstiegdem Umstand verdanken, da sie auf die eine oder andere Weise Anschlu an denFern- und Durchgangshandel fanden, der durch die Nachfrage nach bestimmtenGtern in den Zentren entstand (17). Denn mit dieser Abhngigkeit von exo-genen Faktoren war zugleich eine extreme Riskiertheit der Existenz begrndet.Kam es, aus welchen Grnden auch immer, zu einem Kollaps oder auch nur zueinem signifikanten Rckgang des Handels, war die Gefahr einer umfassendenRegression gegeben (ebd). Diese Situation frderte die Offenheit gegenber ganzneuen und radikalen Lsungen menschlichen Selbstverstndnisses sowie neuarti-gen Formen in Religion, Staat und Gesellschaft, wie sie besonders in Palstinaund Griechenland27 beobachtet werden knnen. Breuer fat zusammen: Wennes richtig ist, da der transzendentale Durchbruch sich nicht in einer Abkehr vonder Homologie erschpft, vielmehr auch einen Bruch mit dem ontologischenKontinuum, dem Monismus der mythischen Substanz, impliziert, dann hat ein

    27 Vgl. dazu ebd., 1729.

  • 202

    solcher Vorgang vollstndig nur in zwei Achsenzeit-Kulturen stattgefunden,nmlich in Israel und Griechenland. In Mesopotamien und gypten finden sichnur Anstze zu einer Theologie des Willens, die zwar das ontologische Kontinu-um, nicht aber das polytheistische Weltbild und mit ihm die Homologie berh-ren. In China und Indien wiederum wird wohl die Homologie berwunden, nichtaber das ontologische Kontinuum (28). Trotz des vollstndigen Durchbruchs inPalstina und Griechenland sind aber auch dort rcklufige Entwicklungen zuverzeichnen, die Magie und Ritual fr breite Bevlkerungsschichten wieder inden Vordergrund treten lassen.Nach diesen Differenzierungen mchte Breuer am Begriff der Achsenzeit nur mitdrei Einschrnkungen festhalten: nmlich wenn man die verschiedenen Variantennicht nivelliert; wenn man nicht vergit, da es auch auerhalb dieses ZeitraumsDurchbrche gab und sich im Zeitraum der Achsenzeit nur durch Zufall mehrereDurchbrche ereignet haben; und wenn man schlielich nicht aus den Augenverliert, da auf die meisten Durchbrche Regressionen und Schleifen folgten(33).Was bedeuten alle diese kritischen Einwnde und Modifikationen fr das Jas-perssche Konzept heute? Vielleicht viererlei:1. Jaspers Intention lag darin, in den Gemeinsamkeiten der Achsenzeit so etwaswie eine mgliche Grundlage fr das interkulturelle Verstehen zu sehen, um ge-genseitiges Verstndnis bis in die Tiefe zu ermglichen. Diese von einem norma-tiven Interesse geleitete These hat nunmehr die Fachwissenschaften herausgefor-dert und dabei notwendigerweise zu Differenzierungen im einzelnen gefhrt.Man kann aber auch sagen, sie hat vor dem Hintergrund der Annahme eines uni-versalen Durchbruchs die differenzierenden Einwnde und damit ein genaueresVerstehen der kulturellen Unterschiede erst ermglicht. Damit hat sie sich als einfruchtbares heuristisches Mittel erwiesen, das noch weiter entwickelt werdenkann, wenn nicht nur die Kategorien der Homologie und des ontologischen Kon-tinuums betrachtet, sondern auch die damit verbundenen Vorstellungen von Ra-tionalitt, Individualitt, Kommunikabilitt, Historizitt und Politizitt genauerin den Blick genommen werden.2. Mit Blick auf die Leistungen der altgyptischen Kultur hat Jan Assmann vor-geschlagen, Jaspers zweiphasiges Modell der Geschichte durch ein dreiphasigeszu ersetzen. Zugleich wurde durch seine Untersuchungen deutlich, da entschei-dend fr den dauerhaften geistigen Fortschritt die Art und Weise ist, wie die neu-en kulturellen Symbole kommuniziert werden, wer sie mit welchen Mitteln undunter welchen Umstnden an wen vermittelt und wie viele Menschen davon er-reicht werden. Da nicht nur Altgypten aufgrund der notwendigen, aber fehlen-den Institutionalisierung seine achsenzeitlichen Anstze nicht entfalten konnte,sondern auch in allen anderen achsenzeitlichen Kulturen Schleifen und Regres-sionen zu beobachten sind, macht die entscheidende Bedeutung des Aspekts derKommunikation von anderer Seite noch deutlicher. Whrend die okzidentaleEntwicklung untypischer- und daher charakteristischerweise durch eine langeKette von Renaissancen gekennzeichnet ist, in denen versucht wird, die Gehalteder Tradition wieder zu erreichen und in agonistischer Manier zu berbieten, ist

  • 203

    Besuch im Dorf, 1981

  • 204

    dies in den anderen Kulturen in diesem Mae nicht erfolgt oder wenn, dann mitder Intention der bloen Rckgewinnung des verloren geglaubten guten Al-ten.28 Die Tatsache, da in den Texten aller Achsenzeit-Kulturen noch unein-gelste Potentiale stecken, die durch kritische Rckbesinnung auf die je eigenenTraditionen entfaltet und zur Geltung gebracht werden knnen, birgt daher dieChance, die jeweils eigene Kultur (zumindest partiell) auch aus den eigenen Wur-zeln heraus in einer Weise weiterentwickeln zu knnen, die einerseits die eigeneIdentitt stabilisiert und andererseits die eigene Kultur auf dem achsenzeitlichenReflexionsniveau komparabel und dadurch gesprchsfhig mit anderen Kulturenmacht.3. Der von Jaspers wegen seiner welthistorisch-faktisch besonderen Bedeutsam-keit durch den Begriff der Achsenzeit privilegierte Zeitraum von 800 bis 200v. Chr. mag mit den von Breuer genannten Einschrnkungen weiterhin so genanntwerden, solange zugleich klar ist, da hier keine quasi geschichtsmetaphysischbegrndete Ausschlufrist der Weltgeschichte gemeint ist, die im Sinne eineseinmaligen und unumkehrbaren Ereignisses alle Kulturen der sekundren odertertiren Durchbrche z.B. den Islam, um nur die wichtigste zu nennen oderKulturen ohne achsenzeitlichen Durchbruch zur Transzendenz in irgendeinerWeise als nichtachsenzeitlich diskriminiert. Da der Begriff der Achsenzeit je-doch genau dieses Miverstndnis nahelegt und andererseits die Rede von mehre-ren Achsenzeiten wenig signifikant ist, schlage ich vor, die Prgungsphase derjeweiligen Kultur als Referenzzeit und den Komplex der zu dieser Zeit ent-wickelten Ideen, Symbole und Texte als Referenzstruktur zu bezeichnen, weilim Bezug auf diese Zeiten bzw. Strukturen die jeweiligen Gegenwarten positivwie auch negativ ihre Identitt zu bestimmen suchen.29 Mit dieser pluralisie-renden ffnung knnte den berechtigten Einwnden von Aleida Assmann gegenJaspers latenten Eurozentrismus und die unangemessene Zentralperspektiveseiner Geschichtsbetrachtung begegnet und doch zugleich an Jaspers Intentionfestgehalten werden, durch kulturkomparatistische Besinnung auf das Gemein-same eine Basis fr das interkulturelle Gesprch und die weltweite Kommunika-tion zu legen. Da beim empirischen Zugriff sogleich auch die Unterschiede her-vortreten, drfte Jaspers kaum gestrt haben, sondern ist die notwendige Folgeseiner Aufforderung an die Fachwissenschaften, es mit seiner These einmal zuversuchen.4. Unbeschadet der auf diese Weise wieder in den Blick kommenden Vielfalt kul-tureller Entwicklungen und Optionen mit eigener Dignitt taucht jedoch auch in

    28 Fr das europische Mittelalter hat in letzter Zeit Arnold Angenenth (Geschichte der Reli-

    giositt im Mittelalter, Darmstadt 1997) gezeigt, wie nach der Regression der Vlkerwan-derungszeit und des Frhmittelalters die bei dieser geographischen Ausweitung des medi-terranen Kulturraums verlorengegangenen achsenzeitlichen Elemente durch immer neue Zu-griffe auf die antiken und christlichen Texte nach und nach wieder hervorgeholt und dannweiterentwickelt werden konnten.

    29 Nicht nur die Autoren und Gedanken, auf die man sich zurckbezieht, knnen dabei im

    Lauf der Zeit variieren, sondern in gewisser Weise kann sogar die Referenzzeit selbst sichvordergrndig auf andere Zeiten verlagern, die aber ihrerseits bereits als Rezeptionsphno-mene zu deuten sind. Vgl. etwa die verschiedenen Humanismen in Deutschland.

  • 205

    neuer Gestalt die Kernfrage von Jaspers historischem Platonismus (Haber-mas)30 wieder auf, ob es so etwas wie einen gemeinsamen, transkulturellenSchatz an Deutungsmustern gibt, der sich von einer bestimmten Stufe der Ent-wicklung an in vergleichbarer, wenn auch nicht genau gleicher Weise in den ver-schiedenen Kulturen antreffen lt. Fr Jaspers stand die andeutungsweise Be-zeichnung dieses gemeinsamen, den Raum einer einzelnen Kultur berschreiten-den Bezugsrahmens im Mittelpunkt seines Denkens, weil er darin die Basis undeine Art Matrix fr die weltgeschichtlich unausweichlich gewordene interkultu-relle Kommunikation sah. Gelnge es, ein historisch erhebbares empirischesUniversales31, dessen Existenz durch kulturkomparatistische Untersuchungenzu erweisen oder zu widerlegen, jedenfalls aber zu diskutieren wre, in den Refe-renzstrukturen nachzuweisen bzw. plausibel zu machen, so wre in der Tat eineBasis interkultureller Kommunikation gefunden jenseits kulturimperialistischerStrategien modernen Zuschnitts auf der einen und kulturrelativistischer Kon-zepte postmoderner Provenienz auf der anderen Seite, die beide einen echtenDialog der Kulturen eher behindern als befrdern.

    3. Kampf der Kulturen, Projekt Weltethos und ReferenzstrukturLt man die philosophischen Debatten der vergangenen Jahre um die begrn-dungstheoretischen Mglichkeiten und Grenzen der Vernunft Revue passieren,so drfte sich als wesentliches Ergebnis herauskristallisieren, da weder die Re-zepte einer radikal verstandenen Moderne mit dem totalitren und unifizierendenAnspruch ihrer Deutungsmodelle noch eine radikale Postmoderne mit der ten-denziellen Folge eines totalen Kulturrelativismus Anspruch darauf erheben kn-nen, in einer auf vielfltige Weise immer strker vernetzten Welt eine gemeinsameBasis fr die unabweisbar gewordene interkulturelle Kommunikation liefern zuknnen. Gefragt ist offensichtlich ein theoretischer Ansatz, der nach Gemein-samkeiten fragt, ohne die ebenso konstitutive Funktion des Differenten zu hin-tergehen, und der andererseits deutlich offen ist fr die respektvolle Anerken-nung der Differenz, ohne deswegen jede Diskussion zu tabuisieren, die den inund hinter dem Differenten mglicherweise vorhandenen Gemeinsamen oder garempirisch universalen Elementen gilt. Vielmehr stellen die interkulturellenberlappungsstrukturen32 fr alle Beteiligten eine implizite Aufforderung zum

    30 J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1981, 92; vgl. auch H.

    Roetz, Die chinesische Ethik der Achsenzeit. Eine Rekonstruktion unter dem Aspekt desDurchbruchs zu postkonventionellem Denken, Frankfurt a.M. 1992, 47.

    31 Der Begriff des empirischen Universalen ist Jaspers Konzept einer empirisch zugngli-

    chen Universalgeschichte (Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 18) entlehnt,die sowohl dem Wahren in den einzelnen Kulturen in ihrer unverwechselbaren Einmaligkeitnachspren als auch der Kommunikation oder der Kontinuitt des Menschseins gerechtwerden will. Jaspers zielte also auf eine Verankerung des Universalen im Empirisch-Geschichtlichen.

    32 Der Begriff der berlappungsstrukturen stammt von R.A. Mall, Philopsophische Refle-

    xionen zum Projekt Weltethos (1993), in: B. Jaspert (Hg.), Hans Kngs Projekt Welt-ethos. Beitrge aus Philosophie und Theologie, 2. Aufl., Hofgeismar 1996.

  • 206

    Dialog dar, in dem nach der reflexiven Klrung der eigenen kulturellen Identittim zweiten Schritt die ffnung fr den interkulturellen Dialog erfolgen kann.33Wie dringlich eine praxisorientierte Reflexion ber diese Fragen ist, haben dieAnalysen von Samuel P. Huntington gezeigt, denen zufolge die hauptschlichenpolitisch-militrischen Konfrontationsgebiete im 21. Jahrhundert an den Bruch-linien zwischen den groen kulturellen Systemen und Traditionen der Welt ent-stehen werden: Die Welt nach dem Kalten Krieg ist eine Welt aus siebenoder acht groen Kulturkreisen oder Zivilisationen. Kulturelle Gemeinsamkeitenund Unterschiede prgen ihre Interessen, Antagonismen und staatlichen Zusam-menschlsse. Die wichtigsten Lnder der Welt kommen ganz berwiegend ausverschiedenen Kulturen. Jene lokalen Konflikte, deren Eskalation zu umfassen-deren Kriegen am wahrscheinlichsten ist, sind Konflikte zwischen Gruppen undStaaten aus verschiedenen Kulturen. Die vorherrschenden Muster der politischenund wirtschaftlichen Entwicklung differieren von Kultur zu Kultur. Die Schls-selthemen auf der internationalen Tagesordnung implizieren Unterschiede zwi-schen Kulturen. Die globale Politik ist multipolar und multikulturell gewor-den.34

    33 Vgl. M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Mglichkeiten und Grenzen des interkul-

    turellen Dialogs, Darmstadt 1997; zur Kritik des Kulturrelativismus aus universalistischerPerspektive bes. A. Wimmer, Die Pragmatik der kulturellen Produktion. Anmerkungenzur Ethnozentrismusproblematik aus ethnologischer Sicht, in: M. Brocker/H. Nau (Hg.),Ethnozentrismus, 120140, bes. 125ff. Von der Struktur des Problems her ist klar, daechte Universalitt im wesentlichen im formalen Bereich bleibt (z.B. die Diskursregelnder kommunikativen Vernunft bei Habermas), ein strikter Relativismus dagegen letztenEndes im Faktischen steckenbleibt und seine Kraft zur Gestaltung der Wirklichkeit verliert.Mit beiden Einstellungen ist daher in der gegenwrtigen Situation nur insofern gedient, alssie Grenzpositionen des Denkbaren markieren. Eine Lsung scheint am ehesten mglich inRichtung auf einen relativen Universalismus. Dieser Begriff wurde geprgt von JackDonnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca 1988 und zustimmendaufgenommen bei W. Huber, Menschenrechte und planetarisches Ethos (1993), in: B. Jas-pert (Hg.), Hans Kngs Projekt Weltethos, 88f: Gegenber einem radikalen Relativis-mus verweist er auf die Notwendigkeit und Mglichkeit kultur- und religionenbergreifen-der ethischer Einsichten, die so elementar sind, da sie auch rechtlich verbindliche Gestaltgewinnen knnen. Gegenber einem radikalen Universalismus aber verweist dieser Begriffauf das Faktum, da auch solche ethischen Einsichten und rechtlichen Normen geschicht-lich vorlufig, also relativ sind. Vor allem aber erschliet dieser Begriff den Zugang zu derTatsache, da der Konsens ber solche Einsichten und Normen aus der Vielfalt und demReichtum kultureller Traditionen und religiser berzeugungen hervorwchst. Er mu indieser Vielfalt verankert sein und in sie immer wieder neu eingebettet werden. Vgl. auchden luziden Aufsatz von G. Nunner-Winkler, Moralischer Universalismus kultureller Re-lativismus. Zum Problem der Menschenrechte, in: J. Hoffmann (Hg.), Universale Men-schenrechte im Widerspruch der Kulturen, Frankfurt a.M. 1994, 79103 mit weiterer Lite-ratur. Auch B. Tibi, Die Entromantisierung Europas. Zehn Thesen zur berwindung desEurozentrismus ohne Selbstaufgabe, in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus, 280wendet sich gegen einen kulturrelativistischen Multikulturalismus, weil er Ghettos, aberkeine Gemeinwesen mit einem verbindlichen Wertekonsens schaffe. Ohne einen solchenKonsens knnen unterschiedliche Kulturgruppen nicht friedlich zusammenleben.

    34 S.P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhun-

    dert, 5. Aufl., Mnchen/Wien 1997 (Engl. Original: The Clash of Civilisations, New York1996), 28f. Ich bin mir bewut, da es um Huntingtons Thesen eine weitgespannte Dis-kussion gibt (vgl. etwa Th. Meyer, Identitts-Wahn. Die Politisierung des kulturellen Un-

  • 207

    Schon vor dieser These Huntingtons, die er mit reichem Material belegt, hat ne-ben anderen35 Hans Kng das Problem gesehen und seit 1990 mit dem ProjektWeltethos nach einem Lsungsweg gesucht, dessen schlagwortartig zugespitzteThese lautet: Kein berleben ohne ein Weltethos. Kein Weltfriede ohne Reli-gionsfrieden. Kein Religionsfrieden ohne Religionsdialog.36 Bereits 1993 er-reichte Kng eine Erklrung zum Weltethos vom Parlament der Weltreligionenin Chicago: Vertreter aller groen Weltreligionen wollten mit diesem Weltethoskeine neue Weltideologie, auch keine einheitliche Weltreligion jenseits aller beste-henden Religionen, erst recht nicht die Herrschaft einer Religion ber alle anderenbegrnden. Mit Weltethos wollten sie einen schon bestehenden Grundkonsensbezglich verbindender Werte, unverrckbarer Mastbe und persnlicherGrundhaltungen bewutmachen.37 Bedeutung und Reichweite seines Projektes,das Kritik und Zustimmung von vielen Seiten erfahren hat38, sind in der Tatkaum zu berschtzen. Es wird neuerdings ergnzt durch berlegungen des Krei-ses der elder statesmen um Altbundeskanzler Helmut Schmidt zu einem Kanonder Weltpflichten und einer angestrebten Weltpflichtenerklrung der UN.39Erstaunlich schnell konnten hier ber die Grenzen von Religionen und Kulturenhinweg Grundkonsense gefunden werden, die von den gelehrten Vertretern oder

    terschieds, Berlin 1997), halte sie jedoch im Kern fr eine zutreffende Problembeschrei-bung.

    35 Fr die Diskussion des Problems verweist Tibi, Die Entromanisierung Europas, 271 auf

    Raymond Arons Werk Paix et guerre entre les nations, der schon 1962 auf die Heteroge-nitt der Zivilisationen als potentielle Hauptquelle der Konflikte in der Weltpolitik auf-merksam gemacht habe. Die groe Aufmerksamkeit fr Huntingtons These verdankt sichalso weniger ihrer Originalitt als vielmehr ihrer empirisch fundierten Untermauerung, denmanchmal apodiktischen Formulierungen und der nach dem Zusammenbruch Osteuropas ineiner vernderten weltpolitischen Lage grer gewordenen Sensibilitt der ffentlichkeit frsolche Fragen.

    36 Vgl. den Klappentext von H. Kng, Projekt Weltethos, Mnchen 1990, der die berschrif-

    ten der Hauptabschnitte wiedergibt.37

    H. Kng, Weltethos und Erziehung, in: J. Lhnemann (Hg.), Das Projekt Weltethos inder Erziehung, Hamburg 1995, 1934, 28. Da Kng die Unterschiede der Kulturen zu ge-ring achte, dem Fremden, Anderen zu wenig Aufmerksamkeit schenke, gehrt zu den be-zeichnenderweise besonders von den Vertretern westlichen Denkens gelegentlich geuerten,m.E. unberechtigten Kritikpunkten am Projekt Weltethos, die auf einer Isolierung einzel-ner Formulierungen beruhen. Vgl. Huber, Menschenrechte und planetarisches Ethos, 77f:Hinter der Vorstellung eines einheitlichen Weltethos schimmert trotz aller Vorsicht nochein Einheitsmodell hindurch, das mich als protestantischen kumeniker ein wenig katho-lisch anmutet.

    38 Vgl. H. Kng/K.-J. Kuschel (Hg.), Erklrung zum Weltethos. Die Deklaration des Parla-

    ments der Weltreligionen, Mnchen 1993 und fr einen ersten Eindruck H. Kng (Hg.), Jazum Weltethos. Perspektiven fr die Suche nach Orientierung, Mnchen 1995 sowie H.Kng/K.-J. Kuschel, (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, Mnchen 1998 mit der Biblio-graphie zur Weltethos-Debatte von Michel Hofmann, 493511.

    39 Vgl. H. Schmidt, Zeit, von den Pflichten zu sprechen, in: Die Zeit Nr. 41 (3.10.1997), 17

    und H. Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklrung der Menschenpflichten, Mnchen 1998.Auch hier war Kng einer der drei Academic Adviser des Inter Action Council frhererStaats- und Regierungschefs (H. Kng, Frchtet euch nicht vor dem Ethos, in: Die ZeitNr. 45, 31.10.1997, 15). Zur ergnzenden Funktion der Menschenpflichtenerklrung vgl.ebd.

  • 208

    fhrenden Politikern der verschiedenen Kulturen mit z.T. unterschiedlichen Be-grndungen als gemeinsam anerkannt werden. Beide Initiativen lassen sich somitals (zeitlich z.T. antizipierende) Arbeit an der Aufgabe verstehen, die Hunting-ton als Voraussetzung fr eine mglichst friedliche Entwicklung im 21. Jahrhun-dert angesehen hat, wenn er von seinen Kritikern oft bersehen neben dasPrinzip der Enthaltung bei innerkulturellen Konflikten und das Prinzip der ge-meinsamen Verhandlung als drittes Prinzip fr den Frieden in einer multikultu-rellen Welt das Prinzip der Gemeinsamkeiten setzt: Menschen in allen Kultu-ren sollten nach Werten, Institutionen und Praktiken suchen und jene auszuwei-ten trachten, die sie mit Menschen anderer Kulturen gemeinsam haben. DiesesBemhen wrde dazu beitragen, nicht nur den Kampf der Kulturen zu begren-zen, sondern auch Zivilisation im Singular, das heit Ziviliertheit zu strken.40Angestrebt wird dabei lediglich diejenige minimale, dnne Moral gemeinsamerzentraler Werte, die hinter den dicken Schichten der elaborierten kulturellenCodes steht: Falls die Menschen je eine Universalkultur entwickeln, wird sienach und nach aus der Erkundung und Ausweitung dieser Gemeinsamkeiten her-vorgehen (ebd.).

    Dieser letzte Satz Huntingtons markiert mit seiner Betonung der Bedeutung kul-tureller Traditionen zugleich einen wichtigen Unterschied zu dem von Kng in-tendierten Dialog der Religionen, an den eine ganze Reihe von Anfragen zu rich-ten sind: Gewi: Religionen besitzen Mittel, um nicht nur fr eine intellektuelle Elite,sondern auch fr breite Bevlkerungsschichten die ganze Existenz des Menschenzu formen und dies geschichtlich erprobt, kulturell angepat und individuellkonkretisiert.41 Richtig sieht Kng auch, da ohne die Untersttzung der gro-en Religionen, die den einzelnen Menschen in seinem Gewissen (Herzen) an-zusprechen vermgen42, die Umsetzung fundamentaler Normen in die Praxisauf breiter Basis schwierig, wenn nicht unmglich ist. Aber andererseits: Warumist der auf der Ebene der Gelehrten und Sachverstndigen relativ schnell entwik-kelte, auf das humanum43 sich grndende geistige und ethisch-moralische Grund-konsens der Religionen in der geschichtlichen Wirklichkeit so oft vergessen undgrblich miachtet worden, wenn nicht darum, weil gerade nicht das Gemeinsa-me, sondern das Besondere, Spezifizierende den Schutz und die Stabilitt einergesicherten religisen Identitt zu geben schien? Obwohl der Gedanke der Gol-denen Regel in allen Religionen sich finden lt, sind in der Geschichte unge-zhlte religis motivierte Kriege und Gewalttaten entstanden und entstehen bisheute. Kann angesichts dieser Erfahrungen erwartet werden, da sich im Kon-fliktfall das berechtigte Interesse an starker religiser Identitt neutralisierenlt? Kann man wirklich erwarten, da innerhalb der Religionen die Schwer-punktsetzung religiser Erziehung so gestaltet wird, da der Glubige in dem

    40 Huntington, Kampf der Kulturen, 528.

    41 Kng, Projekt Weltethos, 78.

    42 Ebd., 86.

    43 Vgl. z.B. Kng, Projekt Weltethos, 89f.

  • 209

    jeweiligen Gegenber zuerst den Menschen und die gemeinsamen Grundberzeu-gungen sieht und dann erst dessen Zugehrigkeit zu einer anderen, fremden Welt-anschauung oder Religion? So notwendig ein Dialog der Religionen, der auch die Nicht-Glaubenden miteinbezieht, fr die Schaffung und Bewahrung des Weltfriedens ist, so notwendiges weiterhin ist, universal gltige Minima Moralia zu finden und herauszustellen,so wenig hinreichend scheint doch ein solches Gesprch zu sein, wenn es zustark auf religis-ethische Fragen eingegrenzt bleibt. Was bei Kng zu kurzkommt, weil er und zwar verstndlicherweise! auf eine rasche Formulierungdes Grundkonsenses drngte, ist die Frage des Verhltnisses von Religion undKultur, bzw. von Religion und Mentalitt. Obwohl Religion bei der inhaltlichenBestimmung der Begriffe Kultur und Mentalitt jeweils eine wichtige Rollespielt, wre es doch ein Irrtum zu glauben, Religion und Kultur bzw. Mentalittlieen sich gleichsetzen. Kann ein auf den religisen Diskurs beschrnktes Welte-thos dann aber bei all seiner Notwendigkeit hinreichend sein in einer Weltsituati-on, deren Kulturen nicht nur durch Religion, sondern ebenso durch bestimmtehistorische Erfahrungen, politisch-gesellschaftliche Traditionen, wirtschaftlicheParameter und mentalittsbildende Denkgewohnheiten geprgt sind? Wird sichohne strkere Einbeziehung und Aufarbeitung des kulturell-historisch bedingtenUmfeldes das Projekt Weltethos in der Wirklichkeit und das heit: im Den-ken groer Teile der Bevlkerungen verorten und verankern lassen? Ein weiterer gravierender Kritikpunkt an Kngs Projekt Weltethos ist imAnschlu an John F. Shepherd44 zu nennen. Es stellt sich nmlich die Frage, obdie Begrndung des Weltethos wirklich aus den Religionen stammen mu undnicht besser umgekehrt zumindest aber im Sinne einer dialektischen Ergn-zung aus dem Bereich skularen Denkens stammen sollte. Gegen Kng ltsich einwenden, da etwa die von ihm genannten vier unverrckbaren Weisun-gen aller Religionen so unverrckbar nicht sind. Wenn man sich den nherenKontext anschaut, stt man nmlich auf eine groe Zahl von Ausnahme-Interpretationen, wann, um ein Beispiel zu geben, man eben doch tten darf oderunter welchen Umstnden Gewalt eben doch erlaubt ist. Ferner ist die Rckfh-rung des Weltethos auf das Vertrauen in eine letzte, hchste Wirklichkeit45 frden glubigen Menschen zwar mglich, aber gerade in dieser allgemeinen Formnicht unbedingt ntig fr die Konsistenz des Ethos. Die Gltigkeit des Ethosknne, so Shepherd, doch nicht von dem Vertrauen in etwas abhngen, ber des-sen Charakter die Religionen uneinig sind und ewig streiten werden46, sondernsei vielmehr schon pragmatisch evident vor aller religisen Letztbegrndung,insofern es primr entspringe aus den Bedrfnissen bedrngter Menschen undGesellschaften (161). Die Kng bewegenden Motive zusammenfassend kommtShepherd zu dem Schlu: Der neue Druck zur Entwicklung eines Weltethos,

    44 Vgl. zum Folgenden J.F. Shepherd, Soziale Gerechtigkeit, humanistische Grundmoral und

    die Suche nach einem Weltethos, in: J. Lhnemann (Hg.), Das Projekt Weltethos in derErziehung, 154169.

    45 Kng, Projekt Weltethos, 68

    46 Shepherd, Soziale Gerechtigkeit, 160. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Aufsatz.

  • 210

    wie er sich etwa in der Weltethoserklrung spiegelt, ist in der Praxis kein unmit-telbar religiser, sondern ein skularer. Er besteht zum Teil aus moralischen Im-pulsen und zum Teil aus pragmatischen, vor allem vielleicht aus dem Verlan-gen nach Frieden (ebd.).Darber hinaus aber stellt sich generell die Frage, ob die skulare Fundierung desWeltethos nicht sogar betont werden soll und mu. Denn es fllt auf, da dieReligionen den Wandlungen, die in der gesellschaftlichen Moral in Richtung einergreren Sensibilisierung stattfinden, oft nicht vorangehen, sondern hinterherhin-ken. Dies war zum Beispiel auf dem Gebiet der Menschenrechte der Fall undpassiert immer noch hinsichtlich der sexuellen Gleichberechtigung. Die Religio-nen scheinen in diesen Fllen moralische Impulse von drauen zu brauchen. Weder Toleranz noch Gleichberechtigung vor allem die Gleichberechtigung derFrauen sind aber vorrangig, geschweige denn unumgnglich, in den Kernschrif-ten und Kerndogmen der Weltreligionen zu vernehmen. Andererseits findet mannicht selten und manchmal in Flle in diesen Schriften und Dogmen all das, wasman unbedingt verwerfen will Ha, Vorurteile, Sexismus, Gewaltbereitschaft,Fanatismus (161f). Shepherd kommt zu dem Schlu: Das Weltethos, das wirbrauchen, ist im Grunde ein humanistisches Ethos. Die Weltreligionen knnendazu beitragen, insofern sie in ihren jeweiligen Traditionen passende Werte oderangebrachte Deutungen ihrer Werte herausarbeiten knnen. Ihre Anhnger solltensich jedoch dessen bewut werden, da die Grundmoral der Menschen zum Teilunabhngig von den Religionen ist und, wie uns an Beispielen der Diskriminie-rung einleuchtet, auch die Autoritt hat, die Religionen moralisch zu bestimmenund zum Teil neu zu gestalten (163).Auch Shepherds berlegungen werfen Probleme und Fragen auf. Da wre zu-nchst die Frage nach der Mglichkeit, nach der Gestalt und nach der Durchfhr-barkeit eines philosophischen, auf das humanum sich grndenden Ethos-Entwurfes. Dann ist nicht zu bersehen, da gerade unter Berufung auf das hu-manum und gleichzeitiger Abwehr des divinum im 20. Jahrhundert die schreck-lichsten Verbrechen geschehen sind. Und schlielich wre kritisch weiter zu fra-gen, ob die okzidentale Entwicklung zur Trennung von imperium und sacer-dotium und weitgehender Skularisierung der Lebenswelt, wie sie Shepherdsberlegungen zugrunde liegt, notwendig in hnlicher Form und im Laufe dernchsten Jahrhunderte von allen Kulturen nachvollzogen werden mu. Wie demauch sei: Angesichts der dargelegten Einwnde zu Kngs Projekt Weltethosscheint es unabweisbar, in dialektischer Auseinandersetzung mit religisen Sinn-und Wertangeboten auch die autonomen, skular-humanistischen Elemente einesWeltethos stark zu machen und ins Bewutsein zu heben, wenn sich dafr einWeg finden lt. Es mag stimmen: Kein berleben ohne ein Weltethos. KeinWeltfriede ohne Religionsfrieden. Kein Religionsfrieden ohne Religionsdialog.Aber der Religionsdialog mu geschrft werden durch den Blick auf das Problemder gerade am Spezifischen sich festmachenden Identitten; er mu ergnzt undvertieft werden um den Dialog der Kulturen und nicht-religisen berlieferungenund durch die Einbeziehung der geschichtlich geprgten Mentalitten; und er mukonterkariert und dialektisch erweitert werden durch autonome, rein auf das hu-

  • 211

    manum sich grndende Fundamente. Sonst droht das Projekt Weltethos geradeseiner Allgemeinheit zum Opfer zu fallen und knnte sich in jedem konkretenStreit als Chimre erweisen.Damit komme ich zu meiner abschlieenden These, die sich einerseits als Ergn-zung und kulturell-historische Erweiterung zu Kngs religionszentriertem An-satz, andererseits als Angebot einer pdagogischen Konkretion versteht.Grundlegend fr jede tiefere Auseinandersetzung mit anderem Denken und ande-ren Kulturen sind von jeher neben persnlichen Begegnungen und Erfahrungenjene zentralen Texte gewesen, in denen die andere Religion oder Kultur Grund-bausteine ihrer Weltanschauung und Kondensate ihrer Mentalitt sieht. Jedekulturelle Tradition hat dafr im Laufe ihrer Geschichte einen im Prinzip festste-henden, aber doch auch ber lngere Zeitrume wandelbaren Kanon von klassi-schen Texten ausgebildet, der auf referenzstrukturelle Elemente Anspruch erhe-ben kann: Klassisch werden gerade diejenigen Texte genannt, die nach demEmpfinden und Urteil ihrer Rezipienten ber das Merkmal des Exemplarischenund daher positiv wie negativ Identittsstiftenden verfgen. Der direkt ver-fgbare Fundus in diesem Sinne Groer Texte und Groer Traditionen47bietet aber ein ideales hermeneutisches Feld nicht nur fr die intrakulturelle, son-dern auch fr die interkulturelle Kommunikation. Ideal sind diese Texte vor allemdeswegen, weil der Umgang mit ihnen die offensichtlichen Handicaps andererKonzeptionen des interkulturellen Dialogs vermeiden kann: Die intendierten Groen Texte der je eigenen Referenzstruktur einer Kultursind zunchst bereits in der einen oder anderen Form traditionell inkulturiert,ins kulturelle Gedchtnis48 eingelagert. Man kann an sie anknpfen und auf sieaufbauen. Sie knnen denjenigen, die sie ergrnden und sich mit ihnen auseinan-dersetzen, ein Gefhl von Vertrautheit und Identitt vermitteln und auf diesemWege einen entscheidenden Beitrag leisten zum Aufbau eines Weltethos vonunten statt von oben. Gegenber der abstrakten Rede von den Menschen-rechten, den Menschenpflichten oder dem humanum haben sie den Vorteil,da sie vertraute Geschichten erzhlen, die affektive Bindungen ermglichenund von eigenen zu fremden fundierenden Geschichten fortschreitend imzweiten Schritt dann die bertragung dieser Bindungserfahrung auch auf dasFremde und seine Akzeptanz ermglichen. Der Fundus referenzstruktureller Texte kann in Fragestellung und Aussageab-sicht allgemeiner sein und ein weiteres Spektrum umfassen, als wenn man sichauf die Auseinandersetzung mit den fundierenden religisen Texten beschrnkt;er ist traditionsoffen und bezieht historische Erfahrungen, philosophische Re-flexion oder literarische Klassik mit ein. Aufgrund dieser greren Offenheit er-leichtert er beim zweiten Schritt des Transfers gerade den religis gebundenenMenschen den Zugang zu anderen Religionen und Kulturen, weil die Oberfl-chenstruktur dieser Texte nicht schon von vornherein die spezifische Einbindungin eine fremde Form der praxis pietatis widerspiegelt und dadurch mglicherwei-

    47 Die Begriffe verwende ich im Anschlu an J. Assmann, Das kulturelle Gedchtnis.

    48 Zu diesem Begriff vgl. ausfhrlich J. Assmann, Das kulturelle Gedchtnis.

  • 212

    se Widerstnde auslst. Die Beschftigung mit diesen Texten braucht nicht schon von vornherein unterdem Anspruch des Du sollst! zu stehen eine solche Instrumentalisierung undEngfhrung wrde nicht weit fhren. Sie lt sich vielmehr Zeit, anhand exem-plarischer Texte die Wirklichkeit zunchst der eigenen Kultur in ihrer ganzenTiefe und Breite zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen, und ist nach diesemund durch diesen Proze in der Lage, auch andere Kulturen tiefer zu verstehen.Auswahl und Zusammenstellung der Texte sollten geleitet sein von ihrer Aussa-gekraft im Hinblick auf die Jaspersschen Kategorien des Verstndnisses von Ra-tionalitt, Individualitt, Kommunikabilitt, Historizitt und Politizitt. Dabeiwird deutlich, da jede Kultur innerhalb dieser Kategorien mehrere verschiedeneModelle entwickelt hat, die sich auf einer mittleren Schrfeebene typologischbeschreiben lassen. Vergleicht man dann diese Modelle bei verschiedenen Kultu-ren, wird man feststellen knnen, da beispielsweise die Denkform des Skepti-zismus sich nicht nur in Europa, sondern ebenso in Indien und China findet, wosie sich jedoch mit jeweils verschiedenen Vorstellungen von Individualitt oderHistorizitt verbindet: Skeptiker aller Kulturen sind also durch ihr Rationalitts-verstndnis eng miteinander verbunden und stehen sich gegenseitig insofern vielnher als irgendwelchen Nicht-Skeptikern der eigenen Kultur, aber sie sind auchsehr verschieden im Hinblick auf andere Kategorien ihrer kulturell bestimmtenSelbstdefinition. Holenstein fat zusammen, da dasjenige, was Kulturen wiedie europische und die chinesische unterscheidet, nicht einfach und auf derganzen Linie in unterschiedlichen Grundwertvorstellungen, ja nicht einmal durch-gngig in unterschiedlichen Gewichtungen von Werten besteht. Die Grenzenzwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen und Wertgewichtungen verlaufennicht entlang der Grenzen und Kulturen, wenn von solchen in Anbetracht derflieenden bergnge und berlappungen berhaupt die Rede sein kann. Sieverlaufen vielmehr kreuz und quer zu ihnen.49

    Die referenzstrukturellen, fundierenden philosophischen und literarischen Tex-te der Weltkulturen knnten daher zu den zentralen Bausteinen einer intra- undinterkulturellen Hermeneutik und Pdagogik werden und mglicherweise Wegezeigen zu empirischen Universalien. Sie allein knnen aufgrund ihrer Allge-meinheit und Dichte, aufgrund ihrer sprachlichen Qualitt und ihrer historischenDistanz orientieren, ohne mit festgelegten Antworten vorzeitig zu normieren.Das schliet die fundierenden religisen Texte nicht von der Behandlung aus,doch sollte auch sie geleitet sein von den auf das vergleichende Verstehen gerich-teten Jaspersschen Kategorien. Erst in der Gestalt solch einer kategorialen Neu-tralisierung drfte fr die meisten Menschen im Sinne einer Ergnzung der eige-nen religisen Identitt die ernsthafte Auseinandersetzung mit anderen Lebens-und Weltentwrfen auerhalb der eigenen Religion zumutbar sein, ohne da sichaus dem Gefhl der Bedrohung der eigenen Identitt eine ungewollte Polarisie-rung ergibt. Das gilt erst recht fr die Gruppe derer, die sich keiner Religionsge-

    49 E. Holenstein, Wo verlaufen Europas Grenzen? Europische Identitt und Universalitt auf

    dem Prfstand, in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus, 54.

  • 213

    meinschaft mehr zugehrig fhlen und jede hermeneutische Auseinandersetzungmit religisen Texten verweigern, solange sie das leitende Interesse der Bekeh-rung oder Vereinnahmung im Sinne einer bestimmten Religion vermuten.Was damit angedeutet wird, ist das m.E. notwendige Programm einer interkultu-rellen Allgemeinbildung, die das bewhrte Prinzip Kanon aus dem intrakultu-rellen Rahmen herauslst und auf den globalen Kontext bertrgt. Ihre zentraleAufgabe besteht darin, die Menschen zur Unterscheidung von der Innenper-spektive ihres eigenen Glaubens und ihrer eigenen Weltanschauung, die An-spruch auf Wahrheit und Richtigkeit erhebt, und der Auenperspektive der-selben, die sie mit Distanz als ein Deutungsmuster unter mehreren betrachtet, zubefhigen, damit sie anderen und fremden Paradigmen offen und frei gegenber-treten knnen.50 Wenn Huntingtons These richtig ist, da der Frieden heute ammeisten gefhrdet ist an den kulturellen Bruchlinien innerhalb und auerhalbder Staaten, so wre eine Vereinbarung zwischen den Staaten der Welt unter demDach der Vereinten Nationen anzustreben, die eine auf die Referenzstrukturengesttzte pdagogisch-philosophische Grundlegung interkultureller Kommunika-tion zum Ziel hat. Das Ziel dieser Bemhungen besteht in einem reflexiv abgefe-derten und gesteuerten clash of experiences (wie es Clifford Geertz ausgedrckthat)51, der wohl das beste Mittel ist, um einem mit kriegerischen Mitteln ausge-

    50 Vgl. H. Kng, Projekt Weltethos, 129f und die Skizzen in ders., Weltfrieden durch Religi-

    onsfrieden (1993), in: B. Jaspert (Hg.), Hans Kngs Projekt Weltethos, 733, 32f. Zulernen und einzuben ist mithin eine Hermeneutik, die weder das Fremde und Andere inidentitrem Miverstndnis als das Eigene vereinnahmt, noch andererseits seine totale Dif-ferenz und Inkommensurabilitt behauptet. Eine Skizze dieser analogischen Hermeneutik,die aus vielen empirischen Grnden von berlappungen der Kulturen ausgeht, die Kom-munikation und bersetzung erst ermglichen (72), gibt R.H. Mall, Interkulturelle Philo-sophie und die Historiographie, in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus, wo esS. 78 heit: Wer Differenz als einen Unwert betrachtet und Identitt verabsolutiert, verfhrtideologisch; wer Differenz absolut setzt, verhindert den Diskurs. Fr ein interkulturellesGesprch reicht eine schwache Version des Konsensualismus aus, die besagt, da der Kon-sens ein zu realisierendes Ideal ist, jedoch nicht hypostasiert werden darf. Die Geschichtelehrt, da friedliche Kulturbegegnungen dann zum Scheitern verurteilt waren, wenn implizitoder explizit falsche Absolutheitsansprche am Werke waren. Es knnen nmlich zweiFormen des Absolutheitsanpruchs unterschieden werden: 1. Absolutheit nach auen und 2.Absolutheit nach innen. Der Absolutheitsanspruch nach auen beinhaltet einmal die absolu-te Wahrheit der eigenen berzeugungen fr sich und fr die seinen, und zum anderen im-pliziert er die Falschheit anderer berzeugungen. Der Absolutheitsanspruch nach innen hin-gegen vertritt zwar die absolute Wahrheit der eigenen berzeugung, ohne jedoch damitnotwendigerweise die Falschheit anderer berzeugungen zu verbinden. Unser Toleranzmot-to lautet daher: Mein Weg ist wahr, ohne da dein Weg deswegen falsch sein mu. DerAbsolutheitsanspruch nach innen ist dem Absolutheitsanspruch nach auen vorzuziehen,denn er erlaubt uns, mit vlliger Gewiheit fr die eigene berzeugung einzutreten, ohneuns innerlich zu relativieren. Ein solcher methodologischer Standpunkt bildet den Aus-gangspunkt aller unserer interreliglsen und interkulturellen Diskurse und hilft uns, dieWahrheit zu vertreten, ohne dabei Konflikte zu produzieren (Mall, Interkulturelle Philoso-phie und die Historiographie, 84f).

    51 Ich verdanke das Zitat Mall, Interkulturelle Philosophie und die Historiographie, 79. Ebd.

    der Hinweis auf M. Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Wien 1973, 208: Diewestliche Philosophie kann sich nicht endlos nur innerhalb ihrer eigenen Tradition bewe-

  • 214

    tragenen clash of civilizations langfristig den Boden zu entziehen. Im Anschluan die jeweiligen Referenzstrukturen knnte damit ein wichtiger, vielleicht sogarder entscheidende Schritt fr die Grundlegung tieferer Kommunikation getanwerden, wie Jaspers sie gewollt hat.52Wie auch immer man im einzelnen die Realisierungsmglichkeiten und dieSchwierigkeiten dieses Projektes referenzstruktureller Kommunikationsfundie-rung einschtzen mag man sollte die sich bietenden Chancen nicht ungenutztlassen.

    53

    gen, ohne provinziell zu werden mit dem zutreffenden Kommentar: Diese Worte geltenmutatis mutandis fr alle Philosophien, Kulturen und Religionen.

    52 hnlich wiederum Mall: So ist die Interkulturalitt durch die stndige Suche nach ber-

    lappungen gekennzeichnet. Ferner geht es um eine Strukturanalogie, die es uns erlaubt,auch das Fremde zu tolerieren und anzuerkennen. Die Rede von einer multikulturellen Ge-sellschaft bleibt ein Gerede, solange es uns nicht gelingt, uns die innere Kultur der Inter-kulturalitt anzueignen (Mall, Interkulturelle Philosophie und die Historiographie, 88).Whrend Begriffe wie berlappungen und innere Kultur der Interkulturalitt bei Malletwas unscharf bleiben, kommt seine Rede von einer Strukturanalogie meiner Terminolo-gie nahe. Im Unterschied zu Strukturanalogie erlaubt es jedoch der Begriff der Referenz-struktur im Anschlu an Jaspers Achsenzeitkonzept, die ganze historische Dimension miteinzubeziehen und pragmatisch von inkulturierten Texten auszugehen, die durch die reflek-tierte Anwendung der Jaspersschen Kategorien auf einer mittleren Schrfeebene einen Fun-dus intra- und auch interkulturell vergleichbarer Bedeutungen aus sich entlassen. Anschlu-fhig sind z.B. die Konzepte von A. Wimmer, Die Pragmatik der kulturellen Produktionund M. Fuchs, Universalitt der Kultur. Reflexion, Interaktion und das Identittsdenken eine ethnologische Perspektive, in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus, die fr ei-nen pragmatischen, auf dem Willen zur Aushandlung von Bedeutungen beruhenden Uni-versalismus pldieren.

    53 Denn schn ist der Preis und die Hoffnung gro (Plat. Phaid. 114c). Vgl. auch W. Bur-

    kert, Klassisches Altertum und antikes Christentum. Probleme einer bergreifenden Religi-onswissenschaft, Berlin 1996, 46, der zum Verhltnis von Theologie und Philologie beidiesem Proze bemerkt: Als Erbe des Historismus sollte auf jeden Fall der Respekt vorden Fakten bleiben, der Respekt vor der berlieferung, die Verpflichtung zur sachlichenRichtigkeit auf Grund genauen Studiums der Quellen, das nicht im Sinn postmoderner Be-liebigkeit aufgegeben werden kann. Zugleich bleibt die Humanisierung einer multikulturel-len Welt nicht deren fundamentalistische Theologisierung als gemeinsame Herausforde-rung im weiteren Rahmen. Die Philologie steht dabei, scheint mir, mehr als frher auch ander Seite der Theologie, indem wir uns gemeinsam den Fragen einer gemeinsamen Welt zustellen haben. Man lernt nicht einfach aus der Geschichte. Da die historische, alter-tumswissenschaftliche Forschung bei diesem allgemeinen Lernproze mithelfen kann, wageich zu hoffen.