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theaterforu .ch m Projekt 2005 Johann Sebastian Bach Sonaten und Partiten für Violine solo Partita 3 in E-Dur BWV 1006, Sonata 1 g-Moll BWV 1001, Partita 2 in d-Moll BWV 1004 Sowie weitere Werke von Dieupart, Couperin, Lebègue, Rameau, Biber, J. S. Bach, Corelli, Molique, van Bruyck, Brahms, Raff u.a. Monika Baer Violine Michael Biehl Tasteninstrumente Rosario Conte Laute, Theorbe Regula Maurer Violoncello Lénaig Guegan Tanz Dominik Sackmann Dramaturgie Wilfried Potthoff Beleuchtung Mitarbeiter/-innen des Theaters Winterthur Szenische Einrichtung für die grosse Bühne Gian Gianotti Projekt und Inszenierung

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theaterforu .chm Projekt 2005

Johann Sebastian Bach

Sonaten und Partiten für Violine solo

Partita 3 in E-Dur BWV 1006, Sonata 1 g-Moll BWV 1001, Partita 2 in d-Moll BWV 1004

Sowie weitere Werke von Dieupart, Couperin, Lebègue, Rameau, Biber, J. S. Bach, Corelli, Molique, van Bruyck, Brahms, Raff u.a.

Monika Baer Violine

Michael Biehl Tasteninstrumente Rosario Conte Laute, Theorbe Regula Maurer Violoncello Lénaig Guegan Tanz Dominik Sackmann Dramaturgie Wilfried Potthoff Beleuchtung Mitarbeiter/-innen des Theaters Winterthur

Szenische Einrichtung für die grosse Bühne Gian Gianotti Projekt und Inszenierung

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Das Programm

Partita E-Dur BWV 1006 Preludio Charles Dieupart (+1740): Quatrième Suite e-Moll, Allemande (Cembalo/Ensemble) Loure Gavotte en Rondeau François Couperin (1668–1773): Pièces de Clavecin, Second Livre,

Douzième Ordre (1717), „Les Jumèles“ (Cembalo) Menuett I und II (mit einer Violoncello-Begleitung, die der Klavierbegleitung von

Robert Schumann nachempfunden ist) Nicolas-Antoine Lebègue (1631?–1702): Second Livre de Clavessin (1687),

Petite Chaconne (gespielt auf Cembalo und Laute) Bourrée Rosario Conte: Lautenimprovisation Gigue Jean-Philippe Rameau (1683–1764): Aus der Oper „Dardanus“ (1739), Chaconne Louis Couperin (+1661): „Chaconne ou Passacaille“ (Cembalo) Heinrich Ignaz Franz Biber: Passacaglia (Violine)

Einspielung: Johann Sebastian Bach, Aus der Kantate BWV 29 „Wir danken dir Gott, wir danken dir“, Sinfonia D-Dur Sonate g-Moll BWV 1001

Adagio kombiniert mit – Arcangelo Corelli (1653-1713): Sonata op. 5 Nr. 5, Adagio – Begleitung von Bernhard Molique – Bearbeitung von Carl Debrois van Bruyck Fuge kombiniert mit der Fuge für Laute BWV 1000 Presto in der Bearbeitung von Carl Debrois van Bruyck: Fuge (Cembalo) J. S. Bach: Suite für Violoncello G-Dur BWV 1007, Menuett I und Menuett II J. S. Bach: Suite für Laute g-Moll BWV 995, Sarabande Presto

Einspielung: Johann Sebastian Bach, 4. Ouvertüre BWV 1069, Réjouissance J.S. Bach: Passacaglia für Orgel BWV 582 (Laute und Cembalo)

Partita d-Moll BWV 1004 Allemanda Johannes Brahms: Studie für Pianoforte WoO 6 Nr. 5 (Klavier) J. S. Bach: Suite für Violoncello d-Moll BWV 1008, Courante Joseph Joachim Raff: Chaconne (Klavier) Sarabanda Joseph Joachim Raff: Chaconne (Klavier) Giga Chaconne

Zur Erklärung der verwendeten Schriften auf dieser Seite:

Fette Titel: Sätze aus den Violinsonaten und –partiten Kursive Angaben: Bearbeitungen einzelner Sätze aus Bachs Violinsoli aus dem 19. Jahrhundert Normale Schrift: Weitere Werke von Johann Sebastian Bach und anderen Komponisten

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Die Beteiligten

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Monika Baer Geboren und aufgewachsen in Zürich. Studium bei Robert Zimansky am Conserva-toire de musique de Genève, Solistendiplom 1994. Preisträgerin zahlreicher Wettbewer-be für Violine und Kammermusik. Stimmführerin des Gustav Mahler Jugendorchesters unter der Leitung von Claudio Abbado. Ausgedehnte Konzerttourneen als Mitglied des Ortys Quartett vor allem mit Musik des 20. Jahrhunderts. 1999/2000 Studium der Barockvioline bei John Holloway an der Hochschule für Musik in Dresden. 1999 bis 2004 Konzertmeisterin des Kammerorchesters Basel (u.a. mit Christopher Hogwood, Giovanni Antonini, David Stern und Paul Goodwin). Rege kammermusikalische Tätig-keit, Zuzügerin im Orchester der Oper Zürich und dem Tonhalle Orchester Zürich. Dozentin für Barockvioline an der Musikhochschule Zürich. Theaterprojekte: "Ein Hort, dahin ich immer fliehen möge" von Gian Gianotti beim theaterforum.ch und "Das Goldenene Zeitalter“ von Christoph Marthaler am Schauspielhaus/Schiffbauhalle Zürich. Lebt in Zürich.

Regula Maurer Geboren und aufgewachsen im Raum Zürich. Studium Violoncello an der Musik-hochschule Zürich-Winterthur, Lehr- und Orchesterdiplom bei Claude Starck, Kon-zertdiplom bei Raphael Wallfisch, Studium in Paris (Perfectionnement) bei Xavier Gagnepain. Mitglied der „Festival Strings Lucerne“, Zuzügerin in zahlreichen Or-chestern. Spielt in verschiedenen Kammermusikformationen (u.a. auch als Gam-bistin). Weitere Konzerttätigkeit in unterschiedlichsten Stilrichtungen, u.a. neapolita-nische Volksmusik, Klezmer, Swing und Salonmusik. Zahlreichen CD- und Radioein-spielungen. Lebt in Winterthur.

Rosario Conte

Geboren und aufgewachsen in Bari (I). Studium Violine, Guitarre (Diplom 1991), Laute (2002), Theorbe und Basso Continuo am Konservatorium Piccini in Bari. Fortbildungskurse bei und mit Rolf Lislevand und Hopkinson Smith an der "schola cantorum basiliensis. Breite Konzerttätigkeit in Europa in festen Formationen wie beim Kammerorchester Basel und bei Festivals. Verschiedene Einspielungen bei Rai3, Radio Litauen, DRS2, Euroradio. Gründungsmitglied des Ensembles "Terra d'Otrano" für die Erforschung der süditalienischen Barockmusik. Lebt in Basel.

Michael Biehl Geboren und aufgewachsen in Dortmund. Studium an der Staatlichen Hochschule für Musik Detmold, Cembalo-Abschluss 1992. Gleichzeitig an der "Westfälischen-Wilhelms-Universität" in Münster Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik. Studium an der "Schola Cantorum Basiliensis" Fortepiano und Cembalo bei Andreas Staier und Jean Goverts, Abschluss 1997. Generalbassspiel bei Jesper Christensen. Vorwiegend solistische Tätigkeit aber auch Kammermusikpartner, Liedbegleiter und Continuospieler auf Cembalo, Fortepiano und Orgel. Breit gefächertes Repertoire vom 17. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. CD- und Rundfunkaufnahmen, Fernsehpro-duktionen in Deutschland und Frankreich. Seit 2002 unterrichtet er Cembalo, Hammer-flügel und Generalbass an der Musikhochschule Zürich. Lebt in Basel

Lénaïg Guégan Geboren in Brittany, Frankreich. Ausbildung am National Konservatorium Paris bei Wilfried Piolet und Jacqueline Rayet, an der Ballettschule der Pariser Oper bei Christia-ne Vaussard und Francesca Zumbo, Claude Bessy, Christiane Vlassi and Max Bozzoni. Engagements: 1993-97 English National Ballet, 1995 als Prima Stella ausgezeichnet; 1997-99 Royal Danish Ballet, in der Spielzeit 1998-99 auch beim Dutch National Ballet; 1999-2001 Miami City Ballet als Solistin in Hauptrollen im Balanchine-Repertoire, inkl. bei den Feierlichkeiten für Balanchine in Washington 2000; 2001-2002 Ballet de la Comunidad de Madrid als Solistin bei Victor Ullate; 2002–04 im Zürcher Ballett als Solistin in Hauptrollen bei Heinz Spoerli. Zur Zeit tanzt sie bei Victor Ullate in Madrid, ab Herbst 2005 wieder als Solistin am English National Ballet.

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theaterforum.ch

Zum Projekt 2005: Bach 1720

Gian Gianotti

Die Bachforschung sagt, dass der Tod der Maria Barbara Bach im Jahr 1720 keinen Ein-fluss hatte auf die Komposition von Johann Sebastian. Zu der Zeit zwischen Mai und Juli war er in Karlsbad mit seinem Fürsten Leopold von Köthen mit den Sonaten und Partiten für Violine Solo im Gepäck (und sehr wahrscheinlich auch im Repertoire). Als er zurück-kam, war seine Frau tot und begraben und er blieb zurück mit vier Kindern, Catharina Dorothea (12), Wilhelm Friedemann (10), Carl Philipp Emanuel (6) und Johann Gottfried Bernhard (5). Die Forschung sagt, der Einschnitt, die Irritation sei nicht zu "merken", sei also wissenschaftlich nicht feststellbar.

Seine Frau und Weggefährtin über bessere und schlechtere Zeiten, die knapp 30-jährige Mutter (mit mindestens 6 Schwangerschaften inkl. Zwillingen), sei ohne irgendwelche Vorzeichen gestorben, Johann Sebastian sei für die Nachricht nicht erreichbar gewesen. Sie lebte Solidarität und Kollegialität, nicht nur in der Betreuung der Kinder und der Schü-ler, die wie die eigenen Kinder im Haushalt lebten und ihre Position hatten.

Und wenn die Forschung recht hat, und beweisen will, dass sie aus den Kompositionen keine Bruchstelle ableiten kann und Johann Sebastian somit der Tod seiner ersten Frau keinerlei Lebenshemmung oder Motivationsverzögerung eingebracht habe … dann will ich vermuten dürfen, dass irgendetwas in den Forschungsunterlagen fehlt, was ihn zum Menschen macht: verloren gegangene Noten, Briefe, Äusserungen … oder es fehlt noch in der wissenschaftlichen Wahrnehmungsfähigkeit, dass er eben in den Kompositionen formuliert hat, dass er Freude und Trauer, Freundschaft und Sehnsucht, Geborgenheit und Stütze hat formulieren und finden – und womöglich erst dadurch auch hat geben können, Musik als Lebensbewältigung.

Mich interessieret, eben diese Sehnsucht und diesen Schmerz in seinen Kompositionen in dieser unmittelbaren Zeit (was ist nicht alles verloren gegangen …) zu finden, nicht unbe-dingt wissenschaftlich sondern künstlerisch und menschlich, im besten Fall intuitiv: wie hat der 35-jährige bei seiner Ankunft in Köthen reagiert? Was war diese Todeserfahrung? Seine nächsten grösseren Kompositionen waren die Cellosuiten (BWV 1007 – 1012), et-was später die Partita für Flöte in a-Moll (BWV 1013), wiederum eine Beschäftigung in die Tiefe eines Instrumentes und nicht in die äussere Wirkung eines Grossauftrittes. Welche Gedanken und Gefühle hat er pflegen können, welche verdrängen müssen, und wie haben sie sich in Musik und Leben geäussert: Wie viele "Tode" starb Maria Barbara, bis sich sein "normales Leben" wieder einstellte und er sich an neuem Ort neuen Herausforderungen stellen konnte? (Bewerbung für Hamburg, die Komposition der Brandenburgischen Kon-zerte 1721 BWV 1046 bis 1051, die Wiederheirat im Dezember 1721, dann Bewerbung und Anstellung in Leipzig 1723). Was geschah mit ihm, mit seiner innersten Lebensmotivation und Ausrichtung? Aus den Noten und Unterlagen "können wir es nicht erfahren" was kön-nen wir zwischen den Noten, Notaten und Zeilen lesen?

Hören und lesen wir seine Musik heute, dann erfahren wir mehr Lebenshaltung als aus jeder Protokollierung einer Freude oder eines Schmerzens - aber anders formuliert, künst-lerisch, musikalisch, "verwandtschaftlich" von Mensch zu Mensch, von Seele zu Seele. So haben wir rein theatralisch die Tode der Tänzerin erfunden und beschäftigen uns mit Phänomen und Bedeutung von Bach in den Jahren um 1720: Ein Werk und dessen musi-kalische Wirkung als künstlerische Haltung.

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Warum komponierte Bach die Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001 – 1006 ?

Dominik Sackmann

Die Sei solo a violino senza basso accompagnato von Johann Sebastian Bach gelten als Höhe-punkt der Violinliteratur, und viele Geigerinnen und Geiger betrachten sie heute noch als Beginn eines Repertoires von Musik für Violine solo, das später in Nicolò Paganinis Capri-ces op. 1, in den Solowerken von Max Reger, Eugène Ysaÿe u. a. würdige Nachfolger fand. Die Verbindung von polyphonem und melodiös-tänzerischem Satz, die Vermischung von Sonaten- und Suitenstil und die hohen spieltechnischen Anforderungen gelten als Ausweis von Virtuosität in zweifacher Hinsicht: Bach machte es zum einen sich selbst als Kompo-nist und zum anderen den Geigern als Interpreten keineswegs leicht. Dabei ist noch nicht einmal klar, wen unter den Zeitgenossen er im Auge hatte, der (oder die) sich solchen interpretatorischen Anforderungen zu stellen imstande war.

Die Erörterung solcher Aspekte soll zu einer Antwort auf die Frage beitragen, warum Bach wohl diese exorbitanten Stücke in Angriff nahm und sie zudem in für ihn außergewöhnli-cher Sorgfalt zu Papier brachte. Technische Schwierigkeit, musikalischer Gehalt der Werke, ihre stilistische Einordnung, ihre möglichen gattungsmäßigen Vorbilder, ihre spezielle Auf-zeichnung und die funktionale Bestimmung der sechs Violinsoli sind sechs Seiten eines einzi-gen Würfels, den es, um sein Wesen zu verstehen, etwas näher zu betrachten gilt.

„Die sechs Solowerke … sind gewiß nicht nur visionär, ohne Rücksicht auf Ausführung, konzipiert, sondern Kammermusik mit realer Bestimmung. […] Hingegen gibt der optische Befund des Autographs, dessen kunstvolle Gestaltung ‚eine kalligraphische Meisterleistung unter gleichzeitiger sparsamster Raumausnutzung‘ darstellt, eindeutige Hinweise auf die intendierte oder tatsächliche Verwendung in der geigerischen Praxis. Auch als Kalligraph ist Bach zugleich ‚Interpret des Musikers‘. Die Beachtung günstiger Wendestellen, die Setzung von Kustoden, die Wendeanweisungen (VS = verte subito; volti), einzelne wie Nachtragun-gen wirkende Tempovorschriften und eine singuläre – nicht unbedingt von Bach stammen-de – Fingersatzangabe lassen den Schluß zu, daß Bachs Eigenschrift eine Partitur für den Gebrauch und sein Werk für die klingende Realisierung gedacht war.“1

Der Blick in die ältere Violinliteratur legt die Vermutung nahe, dass Bach diese sechs Werke nicht ohne Kenntnis ähnlicher, bereits bestehender Musik plante. Dies beginnt bereits bei der seltsam anmutenden Tatsache, dass die drei Sonaten und drei Partiten nicht in separaten Gruppen, sondern abwechslungsweise aufeinander folgen. Vielleicht lieferten Tomaso Albinonis Opus 2 und Torellis Opus 5 die Vorbilder dazu, wenn dort auch mit der Kombination von Sonaten und Konzerten. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Zahl an sorgfältig gedruckten Werken für Violine solo aus dem deutschen Sprachraum, die durchaus in Bachs Reichweite gelegen haben: die „Scherzi da Violino solo“ (1676) und der „Hortulus chelicus“ (1688) des damaligen Mainzer Hofgeigers Johann Jakob Walther, die 1681 gedruckten Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber, die „Six Suites“ von Jo-hann Paul von Westhoff von 1696, dessen Suite in A-Dur sogar bereits 1683 im „Mercure

1 Wolfgang Ruf: „Polyphonie in Bachs Sonaten für Violine solo“, in: Siegbert Rampe (Hrsg.): Das Wohltemperierte

Klavier I. Tradition, Entstehung, Funktion, Analyse (Musikwissenschaftliche Studien, Band 38), München-Salzburg: Katzbichler, 2002, S. 221.

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de France“ erschienen war, sowie die in Amsterdam gedruckten Sonatensammlungen von Henricus Albicastro op. 2 bzw. op. 5 aus den Jahren um 1700.

Neben diesen allgemein bekannten Drucksammlungen spielte die handschriftliche Über-lieferung von solistischer Violinmusik eine noch weit wichtigere Rolle. In England, Nord-deutschland und natürlich in Italien wurde solistisches Violinspiel gepflegt, mit und ohne Basso continuo.2 Zum Teil unter italienischen Einfluss bildete sich im süddeutsch-österreichischen Raum eine besonders reiche Kultur solistischen Violinspiels heraus. Eini-ge der virtuosen Werke für Violine solo von Johann Heinrich Schmelzer, Johann Voita, Rupert Ignaz Mayer, Heinrich Ignaz Franz Biber beispielsweise sind in einem umfangrei-chen handschriftlichen Sammelband (im Wiener Minoritenkonvent: A Wm XIV 726) ver-einigt. Gewisse Musiker aus dem Südosten Deutschlands, namentlich aus Augsburg (Fi-scher) und Nürnberg (Eberlin), sind in direkte Verbindung mit Bach gebracht worden.3

Wie weit später, ab 1709, Bachs Beziehungen zu dem ehemaligen Torelli-Schüler Johann Georg Pisendel dazu führten, daß ihm weitere Werke der Violinliteratur zur Kenntnis gelangten, etwa die Solofantasien von Nicola Matteis d. J. und Angelo Ragazzi und über-dies Violinmusik italienischer Komponisten4, die in denselben Überlieferungszusammen-hängen erhalten geblieben sind, ist nach wie vor unklar.

Es fällt jedenfalls auf, daß in Bezug auf die Violinmusik der mitteldeutsche Raum, in dem Bach aufwuchs, auf vielfältigste Weisen mit dem deutschsprachigen Süden einen ziemlich einheitlichen Raum bildete. Gerade die erwähnte Handschrift aus dem Minoritenkonvent enthält ein Repertoire, das den Wiener Raum (repräsentiert durch Schmelzer), Salzburg (Biber), Passau (Mayr) und den erzbischöflichen Hof von Kremsier (repräsentiert durch Biber, Schmelzer und Faber) mit der Dresdener Hofkapelle, in der damals Johann Jacob Walther wirkte, verband.5

Spieltechnischer Ausdruck dieser Zusammengehörigkeit des Repertoires ist das reiche Doppelgriffspiel, das in allen hier angesprochenen Werken eine bedeutende Rolle spielt. Diese Tradition geht wohl zurück auf ein in den niederen Ständen des Musikertums be-heimatetes Spiel auf Geigeninstrumenten aller Art, die sich in Sachsen ebenso greifen läßt wie im süddeutsch-österreichischen Raum.6

In Kreisen, die an technisch anspruchsvollem und häufig polyphonem Violinspiel interes-siert waren, begann ein Diskurs über den Begriff des Virtuosen, der sich zunächst in den Schriften Johann Beers spiegelte. Daraus ergibt sich, daß der Virtuose seinen Status nicht bloß seinen geigerischen Fähigkeiten verdankte, sondern auch dem Vorhandensein eines „sachverständigen und gleichermaßen gesellschaftlich hochstehenden Publikums“.7 Jo-hann Beer merkte in seinen „Musikalischen Diskursen“ an, manche würden glauben, die wären „alleine virtuosi, die sich vor Könige und Kayser, Fürsten und Herren hätten hören lassen und von denenselben mit güldenen Ketten, Adelsbriefen, Schaupfennigen und der-gleichen wären beschenket worden.“8 Das ist kein Phantasiegespinst eines musikalischen Literaten, sondern entspricht durchaus den Tatsachen: Johann Heinrich Schmelzer, „einer

2 Einen Überblick bietet Clemens Fanselau: Mehrstimmigkeit in J. S. Bachs Werken für Melodieinstrument ohne Begleitung

(Berliner Musik Studien, 22), Sinzig: Studio, 2000, S. 11–69 passim. 3 Fanselau, Mehrstimmigkeit, S. 58–62. 4 Reinhard Goebel: „Bachs geschichtlicher Ort. Werke für Solovioline bis Johann Sebastian Bach“, in: J.S. Bach: Sei

Solo, Sechs Sonaten und Partiten für Violine. Interpretation, Aufführungspraxis, Authentizität (hrsg. von Reinhard Seiffert), Esslingen: Edition Praxis & Hintergrund, 1991, S. 127–143.

5 Thomas Drescher: Spielmännische Tradition und höfische Virtuosität. Studien zu Voraussetzungen, Repertoire und Gestaltung von Violinsonaten des deutschsprachigen Südens im späten 17. Jahrhundert, Tutzing: Schneider, 2004, S. 131–141.

6 Drescher: Spielmännische Tradition, S. 43–74 passim. 7 Thomas Drescher: „’Virtuosissima Conversazione’. Konstituenten des solistischen Violinspiels gegen Ende des 17.

Jahrhunderts“, in: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis 20, 1996 (Winterthur: Amadeus), S. 44. 8 Ebda.

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der gefeiertsten Violinspieler der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts“9, hinterließ einen Besitz im Wert von 10650 Gulden, der sich im Inventar seines Nachlasses spiegelt. Darin befand sich ein Verzeichnis der „Guldenen Ketten, Gnadenpfennige und Ring“, die der Verstorbene von fürstlichen Persönlichkeiten im Laufe seiner Karriere geschenkt be-kommen hatte. Bei manchen Stücken ist der Name des Gebers auf der Liste hinzugesetzt. Namentlich genannt sind Kaiser Ferdinand III., Kaiser Leopold, Kaiserin Eleonora, Erz-herzogin Anna, der Kurfürst von Bayern, die Kurfürsten von Köln und Mainz, der Her-zog von Braunschweig, der Herzog von Württemberg, der Herzog von Sachsen-Lauenburg, die Fürsterzbischöfe von Olmütz und Salzburg und der Bischof von Eich-stätt.10 Die goldenen Ketten galten wohl nicht nur Schmelzer selbst, sondern durch ihn, den kaiserlichen Hofgeiger, letztlich auch dem Kaiser.

Zu Bachs Zeit kehren die Diskussion um den Virtuosen in den Schriften Johann Matthe-sons wieder: Mattheson forderte im Prolog zu seiner Sonatensammlung von 1720 mit dem Titel „Der Brauchbare Virtuoso“ vom Virtuosen die „Virtus practica“ also praktische Fä-higkeiten, die „Virtus theoretica“, theoretische Kenntnisse (Kontrapunkt und Generalbass), und dazu die „Virtus moralis“, also menschliche Qualitäten. Mattheson unterschied also den „brauchbaren Virtuosen“ vom normalen Virtuosen, der nur über praktische Fähigkeiten verfügte.

Vor diesem Hintergrund erscheint es also kaum verwunderlich, daß Bach mit u.a. seinen-Violinsoli Proben seiner „Virtus practica“ ebenso wie seiner „Virtus theoretica“ abzulegen, bestrebt war, äußerlich ebenfalls sichtbar an der verzierungs- und abwechslungsreichen Melodik und am anspruchsvollen polyphonen Doppelgriffspiel in den „Violinsoli“. Beide Komponenten spezifisch geigerischer Virtuosenpraxis lassen sich bereits bei Schmelzer und Biber und in weiten Teilen des zum Teil anonymen deutschen und italienischen Re-pertoires für solistische Geige mit oder ohne Basso continuo ablesen11. Dort beginnen die Werke mit kurzen Abschnitten, in denen nacheinander die Stimmung des Instruments durch häufiges Anstreichen leerer Saiten geprüft wird und über einem Halteton präludiert wird, bevor eine vorbereitende Geste in einen umfangreichen, kontrapunktisch elaborier-ten Satz mündet.

Offensichtlich übte das virtuose Spiel auf einem Streichinstrument, zumal durch den Schöpfer selbst, auf Teile des Hochadels eine erhebliche Anziehungskraft aus. In gewissen Fällen ging diese sogar über bloße Bewunderung hinaus: Mitglieder des mittelfränkischen Geschlechts der Grafen von Schönborn hatten selbst um 1700 Violinunterricht bei Hein-rich Ignaz Franz Biber. Darüber hinaus ist ein Empfehlungsschreiben erhalten, das der Violinvirtuose Johann Jacob Walther im Jahre 1701 dem jungen Grafen Rudolf Franz Erwein von Schönborn, der sich auf dem Violoncello hervortat, an Musikerkollegen der Wiener Hofkapelle mitgab. „Rudolf Franz Erwein hatte eine militärische Stellung in Wien anzutreten und Walther war zu jener Zeit geheimer Sekretär des Mainzer Erzbischofs Lothar Franz von Schönborn, eines Onkels von Rudolf Franz Erwein. Die Verbindung Walthers mit dem jungen Grafen beruhte somit auf verwandtschaftlichen Kontakten der Familie Schönborn. Man bedenke aber die Umkehrung aller gewohnten und gesellschaftli-chen Hierarchien: Ein Musiker und Verwaltungsbeamter gibt dem Neffen seines hochad-ligen Dienstherren ein Empfehlungsschreiben an Berufsgenossen in Wien mit. Er emp-fiehlt im Januar 1701 den jungen Grafen den Mitgliedern der kaiserlichen Hofkapelle zu einer [wie er schreibt:] „virtuosissima conversazione“. In diesem konkreten Fall treffen sich Virtuosen und adeliges Publikum auf einer einvernehmlichen Ebene einer intimen Kennerschaft. Auf [dieser Ebene] waren offenbar gewisse Regeln der höfischen Etikette

9 Drescher, Virtuosissima Conversazione, S. 42. 10 Zitiert nach Drescher, Virtuosissima Conversazione, S. 43. 11 Manfred Hermann Schmid: „Elemente schriftlosen Musizierens in Violinwerken des 17. Jahrhunderts und ihre

Bedeutung für das spätere Solokonzert“, in: Jahrbuch für musikalische Volks- und Völkerkunde 13, 1988, S. 23–43.

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außer Kraft gesetzt.“12 Der virtuose, solistische Geiger hatte also eine herausragende Stel-lung dem Hochadel und den Regierenden gegenüber, die ihn nicht nur reichlich mit Ge-schenken versorgte, sondern es konnte zwischen Geiger und Adligem sogar zur temporä-ren Annäherung ihrer gesellschaftlichen Ränge kommen.

Die musikalischen Gegenstände jener Konversation sind wohl in der Mehrzahl verschol-len, ja wahrscheinlich gehörte es sogar dazu, daß die Stücke, die dabei gespielt wurden, niemals aufgezeichnet, sondern stets improvisiert wurden. In dieser Hinsicht bilden Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo eine aufs Ganze gesehen rare Ausnahme. Auch aus sei-nem Gesamtwerk ragen diese Werke heraus, da sie wie kaum eine andere Komposition Bachs mehrfach und insbesondere bereits von Bach selbst äußerst sorgfältig aufgezeichnet wurden13. Die autographe Reinschrift hat Bach selbst auf „ao. 1720“ datiert. Von dieser Niederschrift, die nicht die ursprüngliche Kompositionspartitur darstellt, fertigte Bachs zweite Frau Anna Magdalena eine minutiöse Kopie an, die in Schriftzügen und Seitenlay-out von Bachs Vorlage kaum zu unterscheiden ist. Zwei weitere Quellen aus der Zeit um 1725/26 gehen nicht auf die Reinschriften des Ehepaars Bach zurück, sondern auf eine frühere Aufzeichnung, womöglich das ursprüngliche Kompositionsmanuskript.

Aufgrund einer Notationseigentümlichkeit in einer dieser beiden späteren Quellen, die jedoch etwas über die Werkentstehung verraten, datierte Clemens Fanselau die Entste-hung der Violinsoli auf die Zeit um 1713/1714.14 Fanselaus Datierung trifft wohl auf die Sonate in g-Moll und die Partita in d-Moll zu, die Partita in h-Moll und die Sonate in a-Moll könnten auf Grund kompositorischer Weiterentwicklungen in den letzten Monaten in Weimar oder in den ersten Monaten in Köthen, also 1717 oder 1718, entstanden sein. Die Partita in E-Dur ist nicht vor 1719 entstanden15, das späteste Stück ist zweifellos die Sonate in C-Dur. Diese Neudatierung basiert auf umfassenden Beobachtungen zur Entwicklung von Bachs Harmonik, zur Periodik und zum Aufbau der einzelnen Sätze anhand der Kan-taten- und Konzertkompositionen.16

Die Arbeit an den sechs Werken erstreckte sich also über mehrere Jahre, in denen Bach vor allem mit der Leitung und Organisation von instrumentaler Ensemblemusik beschäf-tigt war, zunächst ab März 1714 als Konzertmeister am herzoglichen Hof in Weimar, da-nach ab Dezember 1717 als Kapellmeister des fürstlichen Hofs in Anhalt-Köthen.

In Weimar und Köthen werden sich die Verhältnisse nicht grundsätzlich von den Gepflo-genheiten der reicheren Höfe in Wien und Dresden unterschieden haben. An allen Adels-höfen im deutschsprachigen Raum, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaßen, machten sich damals aus Frankreich importierte Sitten und Gebräuche breit. Man könnte das Spe-zifikum der virtuosen deutschen Violinmusik auch als Bollwerk gegen die ubiquitäre Fran-zösisierung postulieren. Dies würde wenigstens den etwas seltsamen Abgrenzungsversuch des Weißenfelser Konzertmeisters Johann Beer erklären: „Was aber in specie die violin anlanget, habe ich biß dato noch keinen Frantzosen gesehen, der ein Biberisches solo ge-spielt hätte“17.

Für derart anspruchsvolle solistische Violinmusik muss jedenfalls ein fähiger Spieler vor-handen gewesen sein, und der Verdacht liegt nahe, dass dies in Weimar wie in Köthen ein

12 Verkürzt zitiert nach Drescher, Virtuosissima Conversazione, S. 49 f. 13 J. S. Bach: Werke für Violine (NBA VI/1), Kritischer Bericht (Günter Hausswald und Rudolf Gerber), Kassel: Bärenrei-

ter, 1958, S. 25 ff. 14 Fanselau, Mehrstimmigkeit(siehe Anm. 2), S. 9 sowie S. 319 ff. 15 Siegbert Rampe: „Suiten und Klavierübung“, Abschnitt „Französische Suiten“, in: Bach-Handbuch (hrsg. von Konrad

Küster), Kassel: Bärenreiter, 1999, S. 761. 16 Diese Datierung basiert auf den an den Kantaten und Konzertkompositionen entwickelten analytischen Befunden

zu Bachs kompositorischer Entwicklung bis 1721, siehe Siegbert Rampe und Dominik Sackmann: Bachs Orchestermu-sik. Entstehung, Klangwelt, Interpretation, Kassel: Bärenreiter, 2000, S. 201–249 passim.

17 Zit. nach Drescher, Spielmännische Tradition (siehe Anm. 5), S. 18.

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und dieselbe Person war, nämlich Johann Sebastian Bach selbst. Darüber und noch mehr über die Frage, welche Rolle die Violine in Bachs Leben gespielt hat, soll im Folgenden nachgedacht werden.

Es spricht alles dafür, dass die Violine Bachs Erstinstrument war. Er stammte aus dem Haushalt eines Stadtpfeifers, in dessen täglicher Arbeit traditionellerweise die Geige einen zentralen Platz einnahm. Darum ist anzunehmen, dass der kleine Bach sich auf der Violi-ne bereits in Eisenach übte, während die Ausbildung zum Organisten möglicherweise erst später, bei seinem Bruder in Ohrdruf, begonnen wurde. Für eine frühe Betätigung auf der Geige im Alter unter zehn Jahren spricht außerdem ein Sachverhalt, der aus der Biogra-phie Johann Georg Pisendels bekannt ist. Der Kantor Simon Pisendel ließ seinen Sohn schon in sehr jungem Alter musikalisch ausbilden, damit dieser aufgrund solch besonderer Fähigkeit für ein fürstliches Stipendium in Frage kam, das ihm erst eine umfassende Schulbildung ermöglichte.18 Ähnliches ließe sich auch von Johann Ambrosius Bach an-nehmen, der, selbst nicht mehr gerade jung, seinem Jüngsten dadurch eine Existenz zu verschaffen gedachte, daß er ihn nicht nur schon früh auf eine musikalische Berufstätig-keit vorbereitete, sondern ihn damit auch zu einem potentiellen Empfänger städtischer oder fürstlicher Sonderzuwendungen machte. Möglicherweise waren seine Kenntnisse im Violinspiel eine förderliche Visitenkarte, als sich Bach im Jahre 1700 um eine Freistelle an der Lüneburger Michaelisschule bewarb. Seine erste sozusagen berufliche Tätigkeit als Geige spielender Lakai am Weimarer Hof (1703) setzt jedenfalls eine mehr als minimale Beschäftigung mit der Violine in den Jahren davor voraus.

Die Weimarer Hofkapelle hatte eine ansehnliche Größe, die von der Neugründung im Jahre 1683 bis ins Jahr 1702 auf immerhin 22 Mitglieder angewachsen war. Als Konzert-meister wirkte seit 1699 Johann Paul von Westhoff, der zuvor von 1674 bis 1697 Mitglied der Dresdener Hofkapelle gewesen war, sich 1681/82 in Italien und Frankreich aufgehal-ten und die bereits erwähnten Suitendrucke verfasst hatte. In der ersten Jahreshälfte 1703 stieß der junge Bach zur Kapelle. Der „Laquey“ wird wohl unter Westhoffs kundiger Lei-tung in der Kapelle als Geiger mitgewirkt haben. 1708 kehrte Bach, zunächst in der Funk-tion eines Hoforganisten, nach Weimar zurück. Wohl hatte er sich in der Zwischenzeit vor allem auf das Orgelspiel und auf den Orgelunterricht spezialisiert, aber das Geigen-spiel, das er bei seinem Vater erlernt und vermutlich fortwährend gepflegt hatte, gehörte noch stets zu seinen Beschäftigungen. Dies müssen wir eigentlich voraussetzen, denn im März 1714 wurde Bach zum Konzertmeister ernannt, „dagegen Er Monatlich neüe Stücke ufführen, und zu solchen proben die Capell Musici uf sein Verlangen zu erscheinen schul-dig u. gehalten seyn sollen“.19 Dabei stand nicht die Komposition von monatlich neuen Kantaten und Konzerten im Vordergrund, sondern tatsächlich die Leitung der Kapelle. Dies scheint sich auch dadurch zu bestätigen, daß die Kapellproben hinfort auf der nach unten abschließbaren Orgelempore der Hofkapelle, der so genannten Himmelsburg, statt-fanden. Der neue Konzertmeister und auch weiterhin als Hoforganist wirkende Bach hatte also durchgesetzt, daß die Musiker ihn an seinem angestammten Arbeitsplatz aufsuchten, wo er das Ensemble wohl mit der Geige unterm Kinn anführte.

Carl Philipp Emanuel Bach berichtete später in einem Brief an den Bach-Biografen Jo-hann Nikolaus Forkel, sein Vater habe „als der größte Kenner und Beurtheiler der Har-monie am liebsten die Bratsche mit angepaßter Stärke und Schwäche“ gespielt, und fuhr dann weiter: „In seiner Jugend bis zum ziemlich herannahenden Alter spielte er die Violi-ne rein und durchdringend und hielt dadurch das Orchester in der größeren Ordnung, als er mit dem Flügel hätte ausrichten können. Er verstand die Möglichkeiten aller Geigenin-

18 Kai Köpp: Johann Georg Pisendel (1687-1755) und die Anfänge der neuzeitlichen Orchesterleitung, Tutzing: Hans Schneider,

2005, S. 23. 19 Bach-Dokumente II, Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685-1750 (hrsg.

von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze), Bärenreiter: Kassel, 1969, Nr. 66, S. 53.

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strumente vollkommen. Dies zeigen seine Soli für die Violine und für das Violoncell ohne Baß...“20 Diese häufig zitierte Aussage aus dem Munde des Sohnes würde schon allein ausreichen für die Annahme, Bach habe seine Violinsoli und die Suiten für Violoncello für den eigenen Gebrauch komponiert.

Gerade in seiner Weimarer Zeit war sowohl für den Konzertmeister wie für den Organis-ten Bach die Ensemblemusik, und d.h. in erster Linie Musik für Streichinstrumente, be-sonders wichtig. Im Sommer 1713 war der jüngere Stiefbruder des einen der beiden regie-renden Herzöge von einer Kavalierstour samt Studium an der Universität Utrecht zurück-gekehrt und hatte eine ganze Menge an Konzerten nach der neuesten italienischen Mode nach Hause schaffen lassen, an der er selbst größtes Interesse hatte und sein Hoforganist nicht weniger.21 Um diesem musikalisch einigermaßen begabten Prinzen und dessen adli-gem Umfeld zu gefallen, bearbeiteten Bach und sein Neffe zweiten Grades, der Stadtor-ganist Johann Gottfried Walther, die Concerti aus der Feder italienischer und deutscher Komponisten für ein solistisches Tasteninstrument. Von Bach ist eine Konzertbearbeitung für Orgel (BWV 596) erhalten, in der er ausnahmsweise sehr genaue Angaben zur Registrie-rung machte, die exakt auf die Weimarer Schlosskapellenorgel paßten.22 Der Schwierig-keitsgrad dieser Konzertbearbeitung nach einem Concerto aus Vivaldis „Estro armonico“ op. 3 wie auch die meisten der übrigen 21 Konzertbearbeitungen für Orgel bzw. Cembalo weisen einen Schwierigkeitsgrad auf, der denjenigen der gedruckten Clavierübung, der Cla-viersuiten oder des Wohltemperirten Claviers bei weitem überstieg. Bachs Bearbeitungen dien-ten nicht eigenen Studienzwecken – Bach brauchte solche Bearbeitungen nicht, um das Komponieren von Concerti zu erlernen, wie immer wieder behauptet wird, sondern sie waren Stücke, in denen der Hoforganist seine Virtuosität zur Schau stellte, unter Verwen-dung von Material, das damals äußerst erfolgsträchtig war. Wie stolz mußte eine Hofka-pelle auf einen Organisten sein, der ganze Concerti allein spielen konnte, ohne daß die Kapelle eigens dazu aufgeboten werden musste – Bach als des Hofes Jukebox, und was für eine! Solche Transkriptionen von Bach oder von Walther hatten aber nur dann einen Sinn, wenn es dafür ein Publikum gab, und das wird die Hofgesellschaft selbst gewesen sein, die musikinteressiert war, ja geradezu sachkundig. Aus Walthers Autobiographie weiß man, daß er dem Prinzen während dessen Krankheit, die bald nach der Heimkehr ausgebrochen war, des Nachts in dessen Privatgemächern vorspielte. 23 Das war damals auch im Rahmen einer Musikeranstellung bei Hofe ungewöhnlich, aber nur dem Schein nach ein Verstoß gegen die Etikette. Irgendwie fühlt man sich an Rudolf Franz Erwein von Schönborn und dessen erhoffte „Virtuosissima Conversazione“ in Wien erinnert. Hatte sich der Schönborn-Spross auf dem Violoncello hervorgetan, so wissen wir aus einem Brief, daß Prinz Johann-Ernst von Sachsen-Weimar unvergleichlich Violin“ spielte.24

Wenn sich also gewisse Parallelen auftun zwischen dem Wiener Geiger Schmelzer und dem Weimarer Organisten Bach, der auch ein professioneller Geiger in leitender Position war, so könnte man sich ja fragen, ob die kompositorisch wie spieltechnisch eigenartig anspruchsvollen Violinsoli nicht als Seitenstücke zu den Konzertbearbeitungen für Tasteninstru-ment, als selbstdarstellerische Vorspielstücke für einen speziellen Kreis ausgesuchter Ken-ner und Liebhaber zu betrachten sind.

20 Brief von Carl Philipp Emanuel Bach an Forkel (1774), in: Bach-Dokumente III, Dokumente zum Nachwirken Johann

Sebastian Bachs 1750-1800 (hrsg. von Hans Joachim Schulze), Kassel: Bärenreiter, 1984, Nr. 801, S. 285. 21 Siehe dazu Dominik Sackmann: „Konzerte des/für den Prinzen. Zu Funktion und Datierung von Bachs Konzert-

bearbeitung BWV 595/984“, in: Bachs Musik für Tasteninstrumente. Bericht über das 4. Dortmunder Bach-Symposion 2002, hrsg. von Martin Geck): Dortmund: Klangfarben Musikverlag, 2003, S. 133–143.

22 Siegbert Rampe: „Abendmusik oder Gottesdienst? Zur Funktion norddeutscher Orgelkompositionen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts“ in: Schütz-Jahrbuch 2005 (Druck in Vorb.)

23 Autobiographie von Johann Gottfried Walther, in: Johann Mattheson: Grundlage einer Ehrenpforte, Hamburg 1740, Reprint Kassel: Bärenreiter, 1969, S. 389.

24 „Nachträge zu Bach-Dokumente II (siehe Anm. 19)“ , in: Bach-Dokumente III (siehe Anm. 20), Nr. 58a, S. 649 f.

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Wenn in Bachs Weimarer Zeit die Violine neben dem Spiel von Tasteninstrumenten die Rolle spielte, die wir hier vermutet haben, dann verlagerten sich seine Interessen in der ersten Köthener Zeit noch stärker in diese Richtung. Einige Violinkonzerte waren zwar schon in Weimar entstanden, aber noch reichhaltiger wurde die Produktion auf diesem Gebiet in den ersten beiden Köthener Jahren 1718 und 1719. Die Violinkonzerte gehören zu jenem Fundus an Konzertmusik, den Bach mit der Vervollständigung und Reinschrift der so genannten „Brandenburgischen“ Konzerte im März 1721 abschloss. Ein Jahr später vollendete er das Wohltemperirte Clavier I, um eigenes Unterrichtsmaterial bereitzustellen für eine insgeheim angestrebte Wiederaufnahme seiner Tätigkeit in der Organistenausbildung – was ihm dann in Leipzig auch gelang. Noch während der Arbeit an den Konzerten be-endete er 1720 die Reinschrift aller sechs Violinsoli. Dabei kann offen bleiben, ob sie primär dem Virtuosen oder den Absichten des Pädagogen Bach dienten, ob sie als Widmungspar-titur gedacht waren oder als Musterbuch für einen möglichen Violinunterricht, der damals vielleicht auch in Bachs Gesichtskreis lag, später aber gegenüber den Aufgaben eines Or-ganistenausbildners zurücktrat. Beide Möglichkeiten bieten sich also an, und beide würden erklären, warum die Violinsoli ins Reine geschrieben, und das heißt auch musikalisch revi-diert, zu Bachs Lebzeiten aber nicht gedruckt wurden.

Ich tendiere eher zu der Annahme, daß es sich dabei um eine einigermaßen sauber geschrie-bene Sammlung von Stücken seines Vorspielrepertoires handelt, die Bach bei Bedarf auch jemandem hätte widmen können. Georg von Dadelsen entwickelte dazu auch eine durchaus plausible Hypothese. Sie basiert auf der Beobachtung, daß die Bachs Autograph, auf Papier geschrieben ist, dass im böhmischen Joachimstal, in der Nähe des Kurortes Karlsbad ge-schrieben ist. Dies brachte von Dadelsen auf die Idee, diese Sammelreinschrift könne im Zusammenhang mit Bachs Aufenthalt in Karlsbad im Jahre 1720 gestanden haben.

Dazu muß man wissen, daß mindestens bis zum Wiener Kongress in Karlsbad Weltpolitik getrieben wurde. Adlige und Herrscher waren des Sommers dort zur Kur, der sächsische Kurfürst ebenso wie andere Territorialherren, darunter auch der Herr über das kleine an-haltinische Ländlein Köthen. In Karlsbad konnte der Musik liebende Fürst Leopold wie nirgendwo sonst Außenpolitik treiben, Bündnisse anbieten und Kooperationen schließen. Da er nicht mit weiten Ländereien ausgestattet war, setzte er offenbar auf die Musik als Macht- und Lockmittel. Im Jahre 1718 nahm er sechs seiner Hofmusiker mit, darunter Johann Sebastian Bach, und ließ eigens dazu „das Fürstliche ClaviCymbel ins CarlsBad tragen“.25 Für diese Gelegenheit entstand wohl das Fünfte „Brandenburgische“ Konzert, bei dem – wie früher in Weimar – Bach seine stupenden technischen Fertigkeiten in den Dienst der – diesmal auch politischen – Bedürfnisse seines Herrn stellte.26

Auch die Reinschrift der „Brandenburgischen“ Konzerte diente später wohl ähnlichen Zwecken. Wahrscheinlich hatte im April 1721 der Köthener Hofmeister Christoph Jobst von Zanthier die Reinschrift vom 24. März 1721 Christian Ludwig, dem Markgrafen von Schwedt aus dem Hause Brandenburg, im Auftrag seines fürstlichen Herrn zu überreichen, welcher zu-vor die musikalische Sammlung wie auch deren Reinschrift bei seinem Kapellmeister Bach bestellt hatte.27 Auch aus der genaueren Kenntnis von Pisendels Lebensgang ergibt sich, dass die Reisen des Dresdener Geigers nach Frankreich, Italien und Wien nicht, wie bisher angenommen, zu Studienzwecken unternommen wurden, sondern primär mit dem klaren Auftrag zur Begleitung und klingenden Repräsentation des Kurprinzen.28

Hier verknüpfen sich die Fäden: Die Violinsoli könnten 1720 zu ähnlichen Zwecken ver-vollständigt, gesammelt und in die reinschriftliche Form gebracht worden sein. Denn ge-

25 Bach-Dokumente II, (siehe Anm. 19) Nr. 86, S. 67 f. 26 Rampe/Sackmann, Bachs Orchestermusik (siehe Anm. 16), S. 96–100. 27 Rampe/Sackmann, Bachs Orchestermusik, S. 90. 28 Köpp, Pisendel (siehe Anm. 18), S. 83.

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rade in Karlsbad konnten sowohl Bach als auch Fürst Leopold mit Adligen aus den süd-deutsch-österreichischen, habsburgischen Landen rechnen, die noch die „Virtuosissima conversazione“ von früheren Generationen her kannten. Dieser Bezug zu den habsburgi-schen Zentren hat vielleicht auch gar keine Rolle gespielt, aber jedenfalls wird Bach seine Violinsoli (spätestens) in Karlsbad vor einem verständigen Publikum selbst aufgeführt und damit bewiesen haben, daß der modisch-virtuose Vivaldi-Stil nicht der einzig mögliche war, sondern daß man auch als Geiger aus der deutschen Tradition durchaus Furore ma-chen konnte, u.a. mit polyphonem, akkordisch-melodischem Doppelgriffspiel.

Im Gegensatz zu früheren Reisen kränkelte Fürst Leopold von Anhalt-Köthen während seines Aufenthalts von Mai bis Juli 1720 und war wohl mit den medizinisch-therapeutischen Anwendungen zeitlich stärker beansprucht als bei früheren Karlsbader Kuren.29 Wahrscheinlich hatte Bach, der übrigens diesmal als einziger Musiker mit dem Kurfürsten nach Karlsbad gereist war, neben seinen zeitlich eingeschränkten Verpflich-tungen im Auftrag des Fürsten genügend Freiraum, um seine Violinsoli fertig zu stellen und ins Reine zu schreiben. Möglicherweise waren sogar Musiker aus anderen Hofkapel-len zugegen, die sich dafür interessierten, ein solches Werk abschreiben zu können. Mög-licherweise hatten Bach oder der Fürst einen möglichen Widmungsträger im Auge, Bach aus finanziellen Gründen, der Fürst aus politischen.

Vielleicht hatte sich Fürst Leopold verrechnet, und der Ausersehene war – durch Krankheit, durch Zufall, durch Regierungsarbeitsüberlastung – verhindert, nach Karlsbad zu kommen. Darum blieben die Violinsoli liegen, für die der Fürst vielleicht bezahlt hatte und die Bach deswegen nicht einfach anderweitig veröffentlichen oder jemand anderem widmen durfte. Vielleicht wurden sie auch von Musikerkollegen – der damaligen Berufspraxis gemäß gegen Entgelt30 – abgeschrieben, aber solche Abschriften haben sich nicht erhalten.

Als Beleg für die Wahrscheinlichkeit einer solchen Deutung spricht gleichwohl eine heute nicht mehr erhaltene Abschrift der Violinsoli. Manfred Fechner (Dresden) machte mich auf-merksam auf den besonderen Rang einer heute nicht mehr zugänglichen Quelle mit demsel-ben – grammatikalisch haarsträubenden – Titel wie Bachs Autograph von „ao. 1720“, die bereits im Kritischen Bericht der Neuen Bach-Ausgabe folgendermaßen beschrieben ist:

„Die B.[Bibliothek] Dresd.[Dresden] besaß eine Sammelhs. [Sammelhandschrift] mit der Signatur 1 R/1 (alte Signatur Ca5), die eine vollständige Abschrift der drei Sonaten und Partiten enthielt. Die Quelle ist heute nicht mehr nachweisbar. Nach Andreas Moser […] lautete der Titel:

Sei Solo a Violino senza Baßo accompagnato. Er stimmt mit den Quellen A [D-B Mus ms. Bach P 967] und G [D-B Mus ms. Bach P 573] überein. Nach Studeny […] war in der Hs. [Handschrift] folgende Reihenfolge ein-gehalten: Partita I h-Moll, Sonata I a-Moll, Partita II d-Moll, Sonata II g-Moll, Partita III E-Dur, Sonata III C-Dur. […] Weder Spitta noch Dörffel kannten die Hs., die nach Studeny‚ in schöner, großer Schrift‘ geschrieben war; die Ermittlung des Schreibers je-doch ‚lieferte keine endgültige Entscheidung‘.“31

29 Günther Hoppe: „Zu musikalisch-kulturellen Befindlichkeiten des anhalt-köthnischen Hofes zwischen 1710 und

1730“, in: Cöthener Bach-Heft 8, Köthen 1998, S. 16. 30 Sie dazu beispielsweise den Briefwechsel zwischen Johann Gottfried Walther und Heinrich Bokemeyer, veröffent-

licht in: Johann Gottfried Walther: Briefe (hrsg. von Klaus Beckmann und Hans-Joachim Schulze), Leipzig: Deut-scher Verlag für Musik, 1987, S. 224 bzw. S. 252.

31 J. S. Bach: Werke für Violine (siehe Anm. 13), S. 24.

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Vor allem die alte Signatur weist laut Fechner darauf hin, dass es sich dabei um eine Quel-le, die zum kostbarsten Bestand der Privatbibliothek des sächsischen, in Dresden residie-renden Kurfürsten gehört haben muß. Der Schreiber der Quelle hat die Reihenfolge der sechs Satzzyklen nicht ohne Grund so verändert, dass die C-Dur-Sonate BWV 1005 mit der riesigen Fuge an zweiter Stelle und dem rasanten Finale den krönenden Abschluss bildete und die stilistisch etwas abseits stehende Partita in E-Dur an die zweitletzte Stelle vorrück-te. Diese Veränderung dürfte auch der Grund für die konsequenten Umstellungen im vorderen Teil der Sammlung gewesen sein. Fechner schließt nicht aus, daß es sich bei dem Schreiber oder zumindest demjenigen, der die Abschrift überwachte, durchaus um den Dresdener Konzertmeister Johann Georg Pisendel handeln könnte. Damit rücken beide Deutungsmöglichkeiten wieder in Reichweite: daß die Reinschrift von Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo für einen auswärtigen, höher gestellten Potentaten gedacht waren und daß sie von Kollegen abgeschrieben wurde. Voraussetzung für beide Vermutungen dürfte aber die Tatsache sein, daß – wie im Falle von Bachs ganzem übrigen Œuvre, die Suiten für Violoncello eingeschlossen32 – er selbst als Erstinterpret vorgesehen war.33

32 Thomas Drescher: „Giovanni Battista Vitali – ,Sonatore di violone da brazzo’. Beobachtungen zum Problemkreis

‚Violone’ und ‚Violoncello’“, in: Geschichte, Bauweise und Spieltechnik der tiefen Streichinstrumente, 21. Musikinstrumentenbau-Symposium Michaelstein, 17. bis 19. November 2000 (hrsg. von Monika Lustig), Michaelstein: Janos Stekovics, 2004, S. 74: „Ikonographische und schriftliche Quellen liefern ein dichtes Netz von Anhaltspunkten dafür, dass die Schulter-haltung für ein kleinformatiges Bassinstrument sowohl in Italien wie in Deutschland und Frankreich bis ins 18. Jahrhundert hinein bekannt gewesen ist. Wie auch immer die Hinweise im Detail gedeutet werden, so steht doch fest, dass hier eine Praxis des Spiels von Violinbässen im 8’-Bereich zu Tage tritt, die sich von allem unterscheidet, was heute mit der Spieltechnik des Violoncellos verbunden wird.“ bzw. S. 73: „Von diesem Punkt aus eröffnen sich Perspektiven bis zum Violoncello piccolo von Johann Sebastian Bach, das ebenfalls auf dem Arm gespielt wurde“, siehe auch Art. „Violoncello“, in: MGG, Sachteil, Band 9, Kassel: Bärenreiter, 1998, Sp. 1690-1691. Außerdem be-zeugte Johann Friedrich Agricola 1775, daß Bach „sie [„die noch viel schwerern 6 Violinsolos ohne Baß“] selbst oft auf dem Clavichorde“ spielte, Bach-Dokumente III (siehe Anm. 20), Nr. 808, S. 293.

33 Für wertvolle Ergänzungen und Korrekturen danke ich Siegbert Rampe (Rommerskirchen) und Manfred Fechner (Dresden). Den Anstoß zu den vorliegenden Gedankengängen gaben John Holloway und Michael Heinemann mit einer gemeinsamen Veranstaltung im Rahmen der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden am 23. Juni 2004.

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Leben und Werk von Johann Sebastian Bach I. Über den Komponisten

„J. Sebastian Bachs Werk und geschichtliche Erscheinung können nur dann verstanden werden, wenn man sich ihrer völlig einzigartigen Mittelstellung bewußt ist. Im entschei-denden Wendepunkt der abendländischen Mg. umfaßt Bachs Leben rückschauend noch einmal die gesamten Voraussetzungen und Bedingungen, auf denen durch Jahrhunderte das Musikwesen Europas geruht hat, und eröffnet gleichzeitig den Ausblick auf neue Le-bens- und Wirkensformen des Musikers. In gleicher Weise faßt sein Werk noch einmal zusammen, was die Jahrhunderte vor ihm geleistet, gewußt und gekonnt haben, und öff-net weit die Tore zu der Musik eines neuen Zeitalters, ja, wird selbst eine der wichtigsten Voraussetzungen für diese jüngere Epoche. Bachs geschichtliche Erscheinung umgreift eine Weltenwende des europäischen Geistes, sein Werk ist genährt von der Vergangenheit und speist die Zukunft.“ [Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Bach, Johann Sebasti-an, S. 72. Digitale Bibliothek Band 60: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 4436 (vgl. MGG Bd. 01, S. 999-1017) (c) Bärenreiter-Verlag 1986]

Johann Sebastian Bach wurde am 21. März 1685 im thüringischen Eisenach geboren und erhielt seine erste musikalische Ausbildung durch seinen Vater, den Stadtmusikus Johann Ambrosius Bach. Als sein Vater starb, zog er zu seinem älteren Bruder Johann Christoph, der in Ohrdruf als Organist tätig war.

II. Frühe Jahre

Im Jahr 1700 wurde Bach Chorknabe der Michaelisschule in Lüneburg. Seine erste Anstel-lung erhielt er 1703 als Geiger im Kammerorchester des Herzogs Johann Ernst von Wei-mar. Er zog aber noch im gleichen Jahr nach Arnstadt und wurde dort Organist. Im Ok-tober 1705 unternahm Bach eine Fußreise nach Lübeck, um dort bei Dietrich Buxtehude Unterricht zu nehmen. 1707 heiratete er seine Cousine Maria Barbara Bach. Im selben Jahr wurde er Organist an der Sankt-Blasius-Kirche in Mühlhausen. Im folgenden Jahr wurde er Hoforganist und Geiger am Hof der Herzöge Wilhelm Ernst und Ernst August von Sachsen-Weimar, 1714 Konzertmeister. Die Weimarer Jahre gelten als erster Höhe-punkt in seinem Schaffen. Hier komponierte er etwa 30 Kantaten, darunter auch den be-kannten Actus Tragicus Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit sowie Orgel- und Cembalower-ke. 1717 begann für Bach ein sechsjähriger Aufenthalt als Kapellmeister am Hof des Fürs-ten Leopold von Anhalt-Köthen. In dieser Zeit schuf er neben zahlreichen weltlichen und Kirchenkantaten vor allem Musik für Ensembles und Soloinstrumente, u. a. die Sonaten und Partiten für Violine solo, die so genannten Brandenburgischen Konzerte, zwei Vio-linkonzerte und Das wohl temperirte Clavier I. Im Jahr 1720 starb Bachs erste Frau. Ein Jahr später heiratete er Anna Magdalena Wilcken.

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III. Späte Jahre

1723 zog Bach nach Leipzig, um die Stelle des Musikdirektors und Kantors an der Tho-maskirche und Thomasschule zu übernehmen. In dieser Funktion war er auch für die kirchliche und weltliche Musikpflege der Stadt zuständig. In Leipzig entstanden die gro-ßen zyklischen Instrumental- und Vokalkompositionen sowie Orgel-, Klavier- und Kir-chenwerke. Die wichtigsten Werke waren u. a. (aufgrund der beruflichen Verpflichtung) fünf vollständige Jahreszyklen von Sonntagskantaten, zahlreiche Orgelchoräle, 13 Klavier-konzerte, die Auferstehungskantate, das Weihnachtsoratorium, das Musicalische Opfer, die Johannespassion, die Matthäuspassion und die h-Moll-Messe. Unter den in dieser Zeit entstandenen Klavierwerken, die weitgehend als Lehrwerke für seine Schüler, darüber hinaus auch als Studienwerke für ein größeres Publikum gedacht waren, sind die Gold-bergvariationen, der zweite Teil des Wohl temperirten Claviers und die Kunst der Fuge, ein Werk, in dem Bach die verschiedenen kontrapunktischen Bearbeitungsarten in 16 Fu-gen und 4 Kanons exemplarisch vorführte. In Leipzig schuf sich Bach seinen Ruf als her-vorragender Orgelvirtuose, Komponist, Kompositionslehrer und Orgelgutachter. Trotz-dem war er immer im Streit mit den Behörden der Stadt, die in „aufgeklärter Haltung” seine „altmodischen Musikformen” kritisierten. Aus Verärgerung darüber zog sich Bach immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurück. Fast erblindet starb er am 28. Juli 1750. Von den 20 Kindern, die Bach aus zwei Ehen hatte, wurden vier Söhne ebenfalls Kom-ponisten von Rang: Wilhelm Friedemann Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Friedrich Bach und Johann Christian Bach.

IV. Die Wiederentdeckung Bachs

Nach seinem Tod wurde Bach weniger als Komponist denn als Orgel- und Cembalospie-ler in Erinnerung gehalten. Seine wiederholten Reisen hatten ihm den Ruf eingebracht, der bedeutendste Organist seiner Zeit zu sein, sein kontrapunktischer Stil hingegen galt seinen Zeitgenossen als veraltet. Die meisten von ihnen bevorzugten die neuen, vorklassi-schen Stilrichtungen, die homophoner und weniger kontrapunktisch waren als Bachs Werke. Und so wurden seine Schöpfungen 80 Jahre lang nicht beachtet, obwohl sie von einigen Musikern, unter ihnen Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven, bewundert wurden. Erst im 19. Jahrhundert erwachte das Interesse an Bachs Werken er-neut. Eines der entscheidenden Ereignisse war die Aufführung der Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1829 (100 Jahre nach der Uraufführung). Die 1850 gegründete Bach-Gesellschaft widmete sich der Auffindung, Redaktion und Herausgabe der Werke Bachs. Da die „Wiederentdeckung Bachs” mit der Blüte der romantischen Musik zusammenfiel, wurden die Aufführungen oft zu krassen Verzerrungen von Bachs ursprünglicher Auffüh-rungspraxis. Die Forschung des 20. Jahrhunderts, die anfangs vom Enthusiasmus Albert Schweitzers getragen wurde, hat nach und nach Aufführungsformen rekonstruiert, die Bachs Zeit und seiner Musik gerechter werden.“

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Johann Sebastian Bach, Daten zu Leben und Werk

1685 21. März: geboren in Eisenach als sechstes Kind des Johann Ambrosius Bach, Leiter der Ratsmusik und Mitglied der Eisenacher Hofkapelle.

1694 Tod der Mutter.

1695 Tod des Vaters, J.S. Bach zieht zu seinem ältesten Bruder

Johann Christoph nach Ohrdruf, wo er Clavier und Orgelunterricht erhält.

1700 Freischüler der Michaelisschule in Lüneburg.

1702 Vergebliche Bewerbung um die Organistenstelle in Sangershausen.

1703 Von März bis September Hofmusiker des Herzogs Johann

Ernst von Sachsen-Weimar.

Prüfung der neuen Orgel der Neuen Kirche in Arnstadt als offizieller Gut-achter. Am 9. August wird er dort als Organist gewählt.

1705 Ende Jahr: Mehrmonatige Reise zu Dietrich Buxtehude nach Lübeck

1707 Juni: Wahl zum Organisten der Blasius-Kirche in Mühlhausen.

17. Okt. heiratet er seine Cousine zweiten Grades Maria Barbara Bach in Dornheim.

1708 Juni: Anstellung als Organist und Kammermusiker der Herzöge Wilhelm Ernst und Ernst August in Weimar.

29. Dez. Geburt der Tochter Catharina Dorothea.

1710 22. November: Geburt von Wilhelm Friedemann Bach.

1713 Bewerbung um die Organistenstelle an der Liebfrauenkirche in Halle, aber Rücktritt von der Bewerbung im Februar 1714.

1714 2. März: Ernennung zum Konzertmeister in Weimar.

8. März: Geburt von Carl Philipp Emanuel.

1717 5.August: Berufung zum Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen. Im Herbst: Reise nach Dresden: “Wettstreit” mit Marchand.

6. Nov.-2. Dez. Inhaftierung in Weimar und ungnädige Entlassung.

1720 7. Juli: Beerdigung von Maria Barbara Bach.

November: Bewerbung um die Organistenstelle an St. Jakobi in Hamburg.

Reinschrift der Sonaten und Partiten für V oline solo i

l

1721 3. Dezember Trauung mit Anna Magdalena Wilcke, Tochter des Weißenfelsi-schen Hoftrompeters.

Widmung der Brandenburgischen Konzerte

1722 Dezember: Bewerbung um das Thomaskantorat in Leipzig.

Das Wohltemperierte C avier I

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1723 7. Februar Probemusik in der Thomaskirche zu Leipzig,

5. Mai: Unterzeichnung des Anstellungsrevers,

22. Übersiedelung nach Leipzig,

30. Mai: Aufführung der Antrittsmusik.

1724 Erste Aufführung der Johannes-Passion

1725 November: Orgelkonzerte in Dresden.

1726-1730 Cembalo-Partiten BWV 825-830 in Einzeldrucken

1727 11. April: Erste Aufführung der Matthäus-Passion

1729 Im Frühjahr übernimmt Bach das Collegium musicum, einer Vereinigung aus Berufsmusikern und Studenten, die wöchentlich mindestens ein Konzert gab

1730 “Entwurff einer wohlbestallten Kirchen-Music” und Erdmann-Brief

1731 September: Orgelkonzerte in Dresden

Clavierübung I

1732 21. Juni: Geburt von Johann Christoph Friedrich Bach

1733 Juli: Reise nach Dresden und Überreichung der Missa

1734/35 Erste Aufführung des Weihnachtsoratoriums

1735 5. September: Geburt von Johann Christian Bach

Clavierübung II

1736 Beginn des Präfektenstreits

19. Nov.: Ernennung zum kurfürstlich-sächsischen Hof-Compositeur;

1. Dez.: Orgelkonzert in Dresden

1737 Frühjahr: Rücktritt von der Leitung des Collegium musicum

1738/39 Cembalokonzerte P 234

1739 Okt.: Wiederaufnahme der Leitung des Collegium musicum

Clavierübung III

1742 Goldberg-Variationen

1747 7./8. Mai: Besuch in Potsdam bei Friedrich II. von Preussen.

Musikalisches Opfer

Juni: Eintritt in die Mizler’sche “Societät der musikalischen Wissenschaften”

Canonische Veränderungen über das Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ für Orgel

1748/49 "Schübler-Choräle" für Orgel

1749 8. Juni: Gottlieb Harrer legt die Kantoratsprobe als Nachfolger Bachs ab.

1750 Ende März/Anfang April zwei Augenoperationen

28 Juli: Tod in Leipzig

30. Juli: Bestattung auf dem Friedhof der Thomaskirche

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Franz Rueb, aus: 48 Variationen über Bach Nicht Bach – Meer sollte er heissen. Ludwig van Beethoven 1820

1. Vergessen

Nachdem Bach 1750 verscharrt und dann vergessen, seine Musik vom damaligen neuen Lebens-gefühl an obskure Ränder verdrängt wurde, war der Weg zurück zu Bach, fast ein Jahrhundert später, ungeheuer weit.

Johann Nikolaus Forkel, mit dem ersten deutschen Aufruf für Bach, war zu national gesinnt. Die erste ästhetische Bach-Analyse von Friedrich Rochlitz konnte dem Thüringer Meister nur halb-wegs gerecht werden. Carl Friedrich Zelter, der vor dem Werk staunte, verstand das meiste noch nicht und wagte keine Werkaufführung. Felix Mendelssohn Bartholdy war wagemutig, leiden-schaftlich liebend und immerfort staunend, sah sich aber noch lange nicht in der Lage, die Mat-thäus-Passion zu begreifen, und hat das gigantisch erscheinende, rätselhafte Werk zurechtgestutzt, viele der tiefsinnigen Arien und Chöre weggelassen. Er vollbrachte dennoch eine grosse musikge-schichtliche Tat. (...)

Bach war sich in seinen zwei letzten Lebensjahrzehnten bewusst, dass er nicht mehr aktuell war. Er hatte begriffen, dass die Weltordnung, die er kannte, nach der er arbeitete, zu Ende ging und mit ihm in der Musik zu Ende gehen würde. Er war vielleicht kein Resignierter, zu stark lebte er in seinen herrlichen musikalischen Erfindungen. Mit seinen Zeitgenossen, die sich den neuen Be-dürfnissen leicht und schnell anpassten, war er durchaus kollegial verbunden. Er führte Werke von Telemann, Hasse, Graupner, Graun, Zelenka, Benda und anderen auf; die Genannten spielten in ihren Positionen kaum Bach-Werke (...). Nachdem Bach ein Jahrhundert beinahe vergessen war, entstanden vorerst falsche Bilder von ihm, reduziert auf den Kantor, versimpelt auf den frommen, väterlichen, objektiven Harmoniker. (...)

Über den Komponisten Bach gibt es von 1723 bis 1750 keine gewichtige Äusserung (...).

Seine Werke, die Kantanten, Passionen, Oratorien, wurden von der damaligen Publizistik nicht zur Kenntnis genommen. Gedruckt wurde nur sehr wenig von ihm. Es ist kein Lob, keine ausgespro-chene Anerkennung bekannt, keine eingehende Analyse oder Beschreibung seiner Kunst. Die Matthäus-Passion, die Johannes-Passion, die h-Moll-Messe gingen ohne Aufhorchen vorüber. Und den-noch hat dieser Mann unermüdlich weiter seine Musikwunder niedergeschrieben und aufgeführt. Diese selbstverständliche Beharrlichkeit und deren Früchte sind eines der grössten Kunstwunder der Geschichte.

Georg Friedrich Händel hat von Bach nie Notiz genommen. Telemann, fast so etwas wie ein Freund Bachs, es bestanden sogar familiäre Beziehungen, gab mit seiner unbedarften Einschät-zung von Bach als „dem Organisten“ den Ton an. Telemann war tatsächlich der Meinung, und er tat dies in einem Gedicht kund, der Sohn Carl Philipp Emanuel sei der bedeutendere Musiker als der Vater. Das Zeitalter hatte nicht die geringste Ahnung von Bachs Grösse. Die Söhne haben kaum Werke des Vaters aufgeführt, und wenn, dann haben sie diese geplündert und, um Geld zu machen, Partituren und Noten des Vaters verscherbelt.

Eine wesentliche Ursache für das Vergessen der Bachschen Werke sind die Äusserungen Scheibes von 1737, die natürlich in ihrer zugespitztesten, simpelsten Form weitergetragen worden sind: Nach Scheibe war Bach unnatürlich, schwülstig, verworren. Es ging in dieser Kritik um den Mu-sikgeschmack der damaligen Mehrheit. Darum brauchte sich Bach natürlich nicht zu kümmern. Seine Musik musste zusehends stärker zurücktreten, sie verschwand fast gänzlich, sie wurde durch neue Musik ersetzt, das war in der Zeit normal. Dass Bach als Klavier- und Orgelspieler, als Kom-ponist für Tasteninstrumente und als Kontrapunktiker weiterhin bewundert und bekannt blieb, ist ausserordentlich.

Musik-Verleger kannten die Bachschen Instrumental- und Vokalwerke kaum, kamen sie ihnen unter die Augen, scheuten sie sich, sie zu verlegen, nicht nur wegen der „barocken“ Texte. Ein

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Geschäft war damit selten zu machen. Die Bach-Söhne, vor allem der älteste von ihnen, Wilhelm Friedemann, verschleuderten die Notenblätter. Anderes wurde wie Reliquien angeboten. Vieles, was im Besitz von „Friede“ war, wie er vom Vater liebevoll genannt wurde, ist verloren. Carl Phi-lipp Emanuel, der zweite Sohn, der in Berlin und später in Hamburg lebte, besass und verwaltete sorgfältig die Kunst der Fuge, die Johannes- und die Matthäus-Passion, viele Kantaten, die h-Moll-Messe sowie die Orchestersuiten. Diese singulären Stücke machten den Weg von Philipp Emanuel zu Forkel – auch zu Hans Georg Nägeli in Zürich – von Forkel zum Berliner Poelchau und später von diesem zur Berliner Singakademie und schliesslich in die Deutsche Staatsbibliothek zu Berlin.

Nie vergessen und immer vorbildhaft gegenwärtig blieben die Klavierwerke für die Spielpraxis und die Ausbildung. Kantaten waren nach Bachs Zeit wegen ihrer barocken Sprachgebung und aus theologischen Gründen schwer akzeptierbar. Funktionale Musik war wenig gefragt. Die Funktion der Kantate im Gottesdienst wurde bald abgeschafft. Als Konzertwerke mussten sich, konnten sich die Kantaten erst nach Jahrzehnten durchsetzen, sie mussten regelrecht aus der Versenkung geholt und entdeckt werden.

Mozart soll 1789 in Leipzig die Partitur der Motette Singet dem Herrn ein neues Lied (BWV 225) ge-sehen haben und soll hoch entzückt gewesen sein. Davon könne man viel lernen, habe er gesagt. Für Mozart und Joseph Haydn war Bach der „gelehrte Musiker“. Sie befassten sich, eher neben-bei, mit dem Kontrapunktiker Bach, kannten aber fast nur Klavierwerke des Meisters. Haydns „Lehrer“ das heisst sein Vorbild, war Philipp Emanuel Bach.

1803 wurden Bachsche Motetten publiziert. 1821 wurde in Preussen erstmals eine Kantate, be-zeichnenderweise Ein feste Burg ist unser Gott (BWV 80) aufgeführt. Ludwig van Beethoven kannte das Wohltemperierte Klavier, das er als Kind gespielt hatte. Auch die Kunst der Fuge war ihm vertraut, später Teile der h-Moll-Messe, die ihm für seine Missa solemnis Vorbild gewesen sein soll. Er befasste sich einige Jahre mit einem Plan zu einer Ouvertüre über „das Meer“ Bach.

Forkels Bach-Buch, 1802 erschienen mitten in der Periode, in welcher Bach vergessen war, ist eigentlich keine Biographie, sondern ein Aufruf, ein Manifest, ein Bekenntnis. Die Passionen und Kantaten erwähnt er nirgends. Zelter war einer der ersten, der einige von Bachs Vokalwerken kannte. Er besass Noten von hundert Kantaten, von Messen, Passionen, von Motetten und dem Magnificat. Mit seinem Chor, der Berliner Singakademie, probierte er einiges, führte aber nichts auf. Die Passion hielt er für unaufführbar. Für Zelter, den nüchternen Vertreter des Rationalis-mus, war Bach „klar, aber unerklärbar!“ – eine schöne Formel. Dass Bachs Kantaten leidenschaft-lich, dramatisch, ekstatisch, mystisch, lyrisch und episch sind, spürte er. Dennoch überarbeitete er sie, glättete und vereinfachte sie auf geradezu unverschämte Weise. Er hat sie regelrecht zugerich-tet. Was ihn zu Bach hinzog, war „die überwältigende, urmusikalische Kraft, die blutvolle Lebens-energie, die ja durch alle Adern Bachscher Musik schlägt“, wie der Musikhistoriker Friedrich Blu-me meinte.

Das Publikum in Berlin kannte bisher den Tod Jesu von Karl Heinrich Graun. Das Werk war ein-gänglich, einschmeichelnd, rührselig. Zelter hielt Bachs Passionen vor allem für das Publikum nicht aufnehmbar, zu umfangreich, zu schwierig, zu gewaltig. Der junge Mendelssohn wagte viel gegen das Vergessen Bachs. Vater Mendelssohn war ein Bach-Kenner und –Verehrer. Er hat sei-nen Sohn ermuntert, Bach in Erinnerung zu rufen, ja diesen Unvergleichlichen in die Gegenwart zu holen. Die Aufführung der Passion wurde ein einschneidendes Ereignis. (...).

Mitte des 19. Jahrhunderts begann die wissenschaftliche Bach-Forschung und die Herausgabe der Werke im Rahmen der Bach-Gesellschaft. Sie wurden im Jahr 1900 mit dem 19. Band abgeschlos-sen. Johannes Brahms antwortete am Ende des 19. Jahrhunderts auf die Frage nach den wichtigsten Erlebnissen und Ereignissen des Jahrhunderts: „Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 und die Herausgabe der Werke von Johann Sebastian Bach.“ Für die Musiker des 19. Jahrhunderts war der Leipziger Musikdirektor Richtung und Mass. Bach war endgültig der Vergessenheit entrissen.

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Neuere Bibliographie zu Johann Sebastian Bach Zu Johann Sebastian Bach

— Arno Forchert: Johann Sebastian Bach und seine Zeit, Laaber: Laaber, 2000

— Martin Geck: Johann Sebastian Bach, dargestellt mit Selbstzeugnissen und Bilddoku-menten (Rowohlts Monographien 511), Reinbek: Rowohlt, 1993

— Martin Geck: Bach. Leben und Werk, Reinbek: Rowohlt, 2000

— Michael Heinemann (Hrsg.): Bach-Lexikon, Laaber: Laaber, 1999

— Hans-Joachim Hinrichsen/Michael Heinemann: Bach und die Nachwelt (3 von 4 Bänden erschienen), Laaber: Laaber, 1997 ff.

— Konrad Küster (Hrsg.): Bach-Handbuch, Kassel/Stuttgart: Bärenreiter/Metzler, 1999

— Siegbert Rampe/Dominik Sackmann: Bachs Orchestermusik. Entstehung – Klangwelt – Interpretation, Kassel: Bärenreiter, 2000

— Christoph Wolff: Johann Sebastian Bach, Frankfurt am Main; S. Fischer, 2000

Zu Bachs Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001-1006

— Clemens Fanselau: Mehrstimmigkeit in J. S. Bachs Werken für Melodieinstrumente ohne Be-gleitung (Berliner Musik Studien, 22), Sinzig: Studio, 2000

— Joel Lester: Bach’s Works for Solo Violin. Style, Structure, Performance, New York/Oxford: Oxford University Press, 1999

— Adolf Nowak: „Bachs Werke für Violine allein. Ihre Rezeption durch Aufführung, Theorie und Komposition“, in: Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte in der Musikwis-senschaft, Laaber: Laaber, 1991, S. 223–237

— Heinrich Poos: „J. S. Bachs Chaconne für Violine solo aus der Partita d-Moll, BWV 1004. Ein hermeneutischer Versuch“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikfor-schung, Preussischer Kulturbesitz, 1993, S. 151–203

— Reinhard Seiffert (Hrsg.): J. S. Bach: Sei Solo, Sechs Sonaten und Partiten für Violine. Inter-pretation, Aufführungspraxis, Authentizität, München: Edition Praxis und Hintergrund, 1991 (darin enthalten: Vorträge von Max Rostal, Georg von Dadelsen, Igor Ozim, Werner Scholz, Helga Thoene, Reinhard Goebel und Peter Kreyssig)

Literaturhinweise Warum komponierte Bach die Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001– 1006? Originalbeitrag von Dominik Sackmann, ©2005

Leben und Werk von Johann Sebastian Bach: "Bach, Johann Sebastian," Microsoft® Encarta® Online-Enzyklopädie 2002, http://encarta.msn.de ©1997-2002 Microsoft Corporation. Franz Rueb: 48 Variationen über Bach. 275 Seiten. Reclam Verlag Leipzig 2000. 1., 2. und 3. Auflage.

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Dank Theater Winterthur am Stadtgarten, Stadt Winterthur Ernst Göhner Stiftung Zug Kulturstiftung Winterthur Autoren der Beiträge in diesem Heft für die Abdrucksgenehmigung Bernhard Fleig, Cembalobau Basel Ballet Victor Ullate, Madrid Für allgemeine Unterstützungsbeiträge sind wir immer dankbar. Unser Post Konto: Theaterforum Zürich 70-48400-0

Inhalt Das Programm Seite 2 Die Beteiligten 3 Gian Gianotti, theaterforum.ch Bach 1720 4 Dominik Sackmann, Warum komponierte Bach die

Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001 – 1006 ? 5 Leben und Werk von Johann Sebastian Bach 14 Johann Sebastian Bach, Daten zu Leben und Werk 16 Franz Rueb, aus: 48 Variationen über Bach 18 Neuere Bibliographie zu Johann Sebastian Bach 20 Literaturhinweise 20 Weitere Informationen zum theaterforum.ch und zum Projekt finden Sie im Internet unter www.theaterforum.ch

Impressum Herausgeber: theaterforum.chDirektion: Dr. Rainer Metzger, Beatrice Calzaferri, Gian Gianotti Text: Dominik Sackmann, Gian Gianotti Premiere: 27. Mai 2005, Theater Winterthur