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BIELEFELD | DETMOLD | GÜTERSLOH | PADERBORN | MINDEN | HANNOVER | PARIS | PEKING www.brandi.net Juli 2017 Öffentliches Recht Vergaberecht

Juli 2017 Öff entliches Recht • Vergaberecht · 2018-06-25 · bild der Veranstaltung mit ihrer Ladenöffnung maßgebend ist, und nicht ein einzelner Faktor über das Wohl oder

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Juli 2017 Öff entliches Recht • Vergaberecht

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Seite 2 Juli 2017

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Unser neuer KollegeUnser neuer KollegeUnser neuer KollegeUnser neuer KollegeUnser neuer KollegeDr. Sebastian Huck, LL.M. (Bristol)

verstärkt seit Mai 2017 das BRANDI Team in Bielefeld und wird Mitglied der Kompetenzgruppen Privates Baurecht, Immobilienplanung und -errichtung sowie Mietrecht, Immobilienvermarktung und -verwaltung.

Herr Huck ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht, war in den Jahren 2013 bis 2017 als Rechtsanwalt in einer internationalen Großkanzlei in Ham-burg tätig und hat dort nationale und internationale Mandanten umfassend im Immobilienrecht beraten.

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

Verkaufsoffene Sonntage – war’s das? Was hinter den zuneh-menden Absagen der Sonntagsöffnung steckt und mit wel-chen Vorbereitungen und Planungen das Sonntagsshopping weiterhin stattfinden kann, erfahren Sie in dem ersten Artikel der Kompentenzgruppe Öffentliches Recht.

Auch das Thema „Frauenförderung“ wird in diesem Man-dantenrundbrief aufgegriffen. Hierbei widmet sich ein Kollege der Frage, inwiefern die Frauenförderung vorangetrieben wird.

Seien Sie gespannt auf die Antwort, ob Betriebsgeheim-nisse bei den deutschen Behörden wirklich sicher sind oder ob der Trend zu größerer behördlicher Transparenz weitrei-chende Folgen für Unternehmen haben wird.

Lesen Sie außerdem Beiträge über die neue Gewerbeab-fallverordnung und die Entsorgung von Altkleidern, Altpapier & Co. außerhalb der kommunalen Entsorgung.

Die Kompetenzgruppe Vergaberecht befasst sich unter anderem mit den Themen der Änderungen öffentlicher Auf-träge während der Vetragslaufzeit und Neuigkeiten zur Ver-gabe von Stellplätzen.

Ganz besonders freuen wir uns, Ihnen unseren neuen Kollegen, Herrn Dr. Sebastian Huck, vorzustellen. Er wird u.a. unsere Fachbereiche Privates Baurecht, Immobilienpla-nung und -errichtung sowie Mietrecht, Immobilienvermark-tung und -verwaltung an unserem Standort in Bielefeld tat-kräftig unterstützen.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre und eine schöne Sommerzeit!

HerzlichstIhr BRANDI-Team

VeranstaltungenVeranstaltungenVeranstaltungenVeranstaltungenVeranstaltungenSave the Date!

Am 01.09.2017 fi ndet unser 11. Vergabe-rechtstag im LENKWERK statt!

Wir freuen uns, als externe Referentin die Vorsitzende der Vergabekammer Westfalen, Frau Diemon-Wies, begrüßen zu können.

Weitere Informationen folgen in Kürze!

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Juli 2017 Seite 3

Inhalt

Öffentliches Recht

Dr. Christoph WormsVerkaufsoffene Sonntage – war`s das? .......................................................................Seite 4

Andreas WiemannFrauenförderung – und kein Ende (?) .........................................................................Seite 5

Dr. Andreas PieperDie dienstliche Beurteilung von Personalratsmitgliedern ......................................Seite 6

Prof. Dr. Martin DippelDie „gläserne“ Behördenakte – Betriebsgeheimnisse in Gefahr? ...........................Seite 7

Kriemhild OttensmeierEntsorgung von Altkleidern, Altpapier & Co. außerhalb der kommunalen Entsorgung – Neues zu gewerblichen Abfallsammlungen ..............................................................Seite 8

Prof. Dr. Martin DippelDie neue Gewerbeabfallverordnung kommt! ............................................................Seite 10

Nina DrükeNeues aus dem Baurecht – Städtebaurechtsnovelle 2017........................................Seite 11 Dr. Jörg NiggemeyerZur Beurkundungsbedürftigkeit von Erschließungsverträgen ..............................Seite 14 Rechtssichere Gestaltung von Ablösevereinbarungen in Grundstückskaufverträgen .....................................................................................Seite 14 Zum Verzicht auf die Erhebung öffentlich-rechtlicher Beiträge .............................Seite 15

Vergaberecht

Dr. Christoph JahnDie neue Unterschwellenvergabeordnung – eine gelungene Vereinheitlichung der Vorgaben für Beschaffungen unterhalb der Schwellenwerte? ..................................................Seite 16

Prof. Dr. Martin DippelÄnderungen öffentlicher Aufträge während der Vertragslaufzeit – was geht, was geht nicht im novellierten GWB-Vergaberecht? ...............................Seite 17

Dr. Christoph Jahn Endlich: BGH schärft Rechtsschutz gegen ungewöhnlich niedrige Wettbewerbsangebote ......................................................Seite 20

Dr. Christoph WormsNeues zur Vergabe von Stellplätzen – Ein Zwischenbericht – .................................Seite 21

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Verkaufsoffene Sonntage – war`s das?

Man liest es derzeit fast täglich in den Gazetten der Republik und es betrifft nahezu alle Städte und Kommunen in Deutsch-land. Die vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di macht dem Einzelhandel und den Kommunen das Leben schwer. Landauf, landab klagt die Gewerkschaft gegen die kommunalen Genehmigungen zur Sonntagsöffnung. Ver-kaufsoffene Sonntage werden daher zunehmend abgesagt. Ist das nun das Ende des Sonntagsshoppings? Die Antwort vorweg: Nein! Das ist eine Frage von Vorbereitung und Pla-nung.

I. Hintergrund

Sonntage genießen in Deutschland verfassungsrechtlichen Schutz. An Sonntagen darf grundsätzlich nicht gearbeitet werden – auch nicht im Einzelhandel. Zum Wesen des Grund-satzes gehört aber die Ausnahme. Jeder weiß: Tankstellen, Bäckereien, Konditoreien, Cafés, Restaurants usw. haben sonntags geöffnet. Dennoch: Das Bundesverfassungsgericht und mit ihm das Bundesverwaltungsgericht haben in jüngerer Zeit den Sonntagsschutz bekräftigt. Freilich: Die Vorschrift zum Sonntagsschutz ist bald 100 Jahre alt. Trefflich kann man darüber streiten, ob der strikte Sonntagsschutz heute noch zu rechtfertigen ist. Die gesellschaftlichen Rahmenbe-dingungen haben sich gewaltig verändert. Das haben durch-aus auch einige Gesetzgeber erkannt. Die Bundesländer – zuständig für die Ladenöffnungszeiten – stoßen aber an ihre Grenzen: Politisch kann eine Änderung nachhaltig nur durch Änderung des Grundgesetzes erreicht werden.

Aktuell stellt sich die Situation so dar, dass die Bundes-länder, und so auch das Land Nordrhein-Westfalen, gesetz-liche Grundlagen dafür geschaffen haben, dass Verkaufs-offene Sonntage jährlich nur in begrenzter Anzahl und im Zusammenhang mit einer bestimmten Veranstaltung stattfin-den dürfen. Die Veranstaltung muss im Mittelpunkt stehen. Sie darf nicht bloß Feigenblatt für eine Verkaufsöffnung sein.

II. Anforderungen an einen Verkaufsoffenen Sonntag

Im Ergebnis spielt es keine Rolle, ob ein Verkaufsoffener Sonntag in Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Bayern, Berlin oder Schleswig-Holstein stattfindet. Überall gilt der Grund-satz: Der Verkaufsoffene Sonntag muss quantitativ die Aus-nahme bleiben und er muss an eine Veranstaltung geknüpft sein, die in ihrer Attraktivität den Schwerpunkt bildet.

Was dies im Einzelnen heißt, ist in der Rechtsprechung nach wie vor nicht abschließend geklärt. Es haben sich in der Vergangenheit aber immerhin zentrale Gesichtspunkte herausgebildet, die eine Orientierung erlauben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Gesamtgepräge bzw. das Gesamt-bild der Veranstaltung mit ihrer Ladenöffnung maßgebend ist, und nicht ein einzelner Faktor über das Wohl oder Wehe der Verkaufsöffnung entscheidet.

Zunächst braucht es stets eine Veranstaltung, die für sich genommen in der Lage ist, eine Vielzahl von Menschen anzu-ziehen und die auch ohne eine Verkaufsöffnung stattfinden würde. Dabei muss diese Veranstaltung nicht zwingend eine traditionsreiche Veranstaltung sein. Es dürfen auch neue Tra-ditionen begründet werden oder einmalige Veranstaltungen stattfinden. Entscheidend ist, dass eine Prognose darüber erstellt wird, die im Ergebnis ausweist, dass die Menschen in erster Linie ein Interesse daran haben, die Veranstaltung zu besuchen und für die Besucher sekundär ist, dass sie auch einkaufen können.

Bei der Bestimmung der Attraktivität einer Veranstaltung im Verhältnis zu der Verkaufsöffnung ist eine flächenmäßige Betrachtung aussagekräftig. So kann man erstens sagen, dass eine Veranstaltung, die in einem eng begrenzten inner-städtischen Bereich stattfindet nicht dazu geeignet ist, eine Verkaufsöffnung in der Peripherie zu rechtfertigen. Mit ande-ren Worten: Die Verkaufsöffnung darf nur in der räumlichen Umgebung der Veranstaltung stattfinden. Aussagekräftig kann – muss aber nicht – zweitens das Verhältnis der Laden-fläche zu der Veranstaltungsfläche sein. So kann eine sehr viel größere Ladenfläche Indiz dafür sein, dass die Ladenöff-nung im Mittelpunkt steht und nicht die Veranstaltung. Bei der Festlegung des räumlichen Bezugspunkts einer möglichen Ladenöffnung sind sog. Transitstrecken in die Betrachtung einzubeziehen. So können Läden an Zuwegungen – etwa von Parkplätzen zu der Veranstaltung – ebenfalls Gegen-stand der Sonntagsöffnung sein.

Aussagekräftig kann auch sein, wie sich die Umsätze der Einzelhändler an einem Sonntag im Verhältnis zu regulären Werktagen darstellen. Wenn also die Besucherzahlen an einem Verkaufsoffenen Sonntag im Verhältnis zu regulären Werktagen oder Samstagen weit überproportional hoch ist, so spricht dies für die Attraktivität der Veranstaltung. Wenn gleichzeitig die Ladenbesuche und die Umsätze der Ladenin-haber nicht in gleichem Maße von den Besucherzahlen profi-tieren, so spricht dies zumindest indiziell dafür, dass die Ver-anstaltung von besonderer Attraktivität ist und nicht in erster Linie die Einkaufsmöglichkeit. Zur Ermittlung dieser Gesichts-punkte sind ggf. Umfragen und Erhebungen durchzuführen.

Bei erstmals stattfindenden Veranstaltungen kann eine Prognose notwendigerweise nur weniger detailliert und datenbasiert ausfallen. Letztlich kann eine Prognose dann nur auf vorhandenem Material zu ähnlichen bzw. vergleich-baren Veranstaltungen aufgebaut werden.

III. Ausblick

Wenn im Vorfeld Verkaufsoffener Sonntage Erhebungen und Analysen durchgeführt werden und ein räumliches Konzept entwickelt wird, das den Anforderungen der Rechtsprechung entspricht, kann auch in Zukunft rechtskonform ein Verkaufs-offener Sonntag durchgeführt werden. Letztlich ist der Erfolg eine Frage der Vorbereitung. Es gibt keinen Grund zur Resi-gnation. Die Erfahrung in der Beratungspraxis zeigt, dass die

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Vertreter der Gewerkschaft ver.di durchaus zu konstruktiven Gesprächen bereit sind. So konnten Verkaufsoffene Sonn-tage häufig „gerettet“ werden.

Dr. Christoph WormsRechtsanwaltBRANDI Rechtsanwälte, Paderborn T +49 5251 7735-0E [email protected]

Frauenförderung – und kein Ende (?)

Aktuell wird umfassend versucht, das Thema Frauenförde-rung voranzutreiben. Auch der Gesetzgeber des Landes Nord-rhein-Westfalen war hier im Jahr 2016 aktiv. Aufgrund des Dienstrechtsmodernisierungsgesetzes vom 14.06.2016 be-stimmt § 19 Abs. 6 S. 3 Landesbeamtengesetz (LBG NRW), dass im Rahmen einer Beförderungsentscheidung nach dem Grundsatz der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz (GG), § 9 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG)) von einer im Wesentlichen gleichen Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung einer Bewerberin in der Regel auszuge-hen sei, wenn die jeweils aktuelle dienstliche Beurteilung der Bewerberin und des Mitbewerbers ein gleichwertiges Gesamturteil aufweise. Dem geneigten Leser ist bekannt, dass nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtspre-chung bei Beförderungsauswahlentscheidungen primär auf die aktuellen, vergleichbaren dienstlichen Beurteilungen der Bewerber abzustellen ist und in diesem Zusammenhang neben dem Gesamturteil auch die sonstigen Bewertungen in den dienstlichen Beurteilungen eine Rolle spielen. Die vorge-nannte Regelung in Satz 3 steht in untrennbarem Zusam-menhang mit § 19 Abs. 6 S. 2 LBG NRW. Danach sind Frauen bei im Wesentlichen gleicher Eignung, Befähigung und fach-licher Leistung bevorzugt zu befördern, sofern nicht in der Person eines (männlichen) Mitbewerbers liegende Gründe überwiegen.

Die Regelung zur Frauenförderung wies bereits in der Vorgängerregelung des § 20 Abs. 6 S. 2, 1. Halbs. LBG NRW a.F. eine „bewegte Historie“ (Öffnungsklausel) auf. Neu ist nunmehr gem. § 19 Abs. 6 S. 3 LBG NRW, dass das Tatbe-standsmerkmal der „im Wesentlichen“ gleichen Eignung im vorhergehenden Satz 2 eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber erfahren hat, wobei dabei allein auf die Gleich-wertigkeit des Gesamturteils einer jeweils aktuellen dienst-lichen Beurteilung abgestellt wird.

Bereits im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens waren vielfach deutlich rechtliche Stimmen gegen die geplante Neu-regelung vernommen worden. Im Kern richtete sich die Kritik gegen eine mangelnde Vereinbarkeit mit dem verfassungs-rechtlich verbürgten Grundsatz der Bestenauslese gem. Art. 33 Abs. 2 GG.

Wie danach nicht anders zu erwarten war, kam es nach Inkrafttreten der Neuregelung zu einer Vielzahl von verwal-tungsgerichtlichen Eilverfahren im Rahmen von Konkurren-tenstreitigkeiten. Nachdem bereits mehrere Verwaltungsge-richte Verstöße gegen den Grundsatz der Bestenauslese

gem. Art. 33 Abs. 2 GG und – teilweise auch die fehlende Gesetzgebungskompetenz des Landes – beanstandet hatten, hat in mehreren zweitinstanzlichen Verfahren das Oberver-waltungsgericht Nordrhein-Westfalen zweitinstanzlich in Beschlüssen vom 21.02.2017, unter anderem – 6 B 1102/16 –, sowie vom 28.02.2017 – 6 B 1424/16 – im Ergebnis die die Neuregelung in § 19 Abs. 6 S. 3 LBG NRW rechtlich ableh-nenden erstinstanzlichen Entscheidungen bestätigt.

Nach Auffassung des Obergerichts verstößt die Neurege-lung gegen Art. 33 Abs. 2 GG und lässt sich auch auf der Grundlage des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG nicht rechtfertigen. Das Gericht betont dabei, dass das Kriterium der Frauenförde-rung auch im Rahmen der Neuregelung ein Hilfskriterium bei der Auswahlentscheidung bleibe. Die Neuregelung in S. 3 greife jedoch im Vergleich zu der Vorgängerregelung deutlich früher zugunsten der Beamtinnen ein, indem die Vorschrift den Qualifikationsvergleich für den Regelfall auf die Gesamt-urteile aktueller dienstlicher Beurteilungen verenge. Dies steht nicht im Einklang mit Art. 33 Abs. 2 GG, wonach der Grundsatz der Bestenauslese ohne Einschränkungen und vorbehaltlos gelte. Das Gericht billigt dem Landesgesetzge-ber zu, mit der Neuregelung ein gesellschaftspolitisch durch-aus legitimes Ziel zu verfolgen. Die Rechtslage, die sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebe, sei aber für den Landesgesetzge-ber nicht disponibel. Das Gericht führt weiter aus, das Gesamturteil einer dienstlichen Beurteilung erschöpfe sich nicht in einer mathematischen Zusammenfassung der Einzel-bewertungen. Vielmehr komme im Gesamturteil die unter-schiedliche Bedeutung der Einzelbewertungen durch ihre entsprechende Gewichtung zum Ausdruck. Darüber hinaus betont das Gericht auch die Pflicht des Dienstherren bei im Wesentlichen gleichen aktuellen dienstlichen Beurteilungen auch vorhergehende dienstliche Beurteilungen der Bewerber in den Blick zu nehmen (sog. Grundsatz der Leistungsent-wicklung- bzw. Leistungskonstanz).

Der danach bestehende Eingriff in Art. 33 Abs. 2 GG sei auch nicht durch Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG gerechtfertigt. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-richts kommt das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfa-len zu dem Entschluss, dass die Förderung der Gleichbe-rechtigung nicht darauf gerichtet sei, die Geltung des Leistungsgrundsatzes generell einzuschränken. Eine Bevor-zugung bei Beförderungsentscheidungen ohne Rücksicht auf die bessere Qualifikation anderer (männlicher) Bewerber sei nicht statthaft.

Das Oberverwaltungsgericht hat ausdrücklich die Beant-wortung der Frage offengelassen, ob es bereits an der erfor-derlichen Gesetzgebungskompetenz des Landes fehle.

Bemerkenswert sind die weiteren Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts am Ende der Entscheidungen. Darin werden Überlegungen angestellt, in welcher Weise eine (tatsächliche) Durchsetzung der Gleichberechtigung gefördert werden könne, ohne dabei in Konflikt mit dem Anwendungsbereich von Art. 33 Abs. 2 GG zu geraten.

Prozessual hat das Gericht entschieden, dass, obwohl ein Grundrechtsverstoß festgestellt werde, es nicht verpflich-tend sei, die Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG auszu-

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setzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts einzuholen. Das Gebot effektiver Rechts- schutzgewährung gem. Art. 19 Abs. 4 GG gebiete eine ein-schränkende Auslegung des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG. Für die Effektivität des vorläufigen Rechtsschutzes sei es wesentlich, dass über Eilanträge sobald wie möglich entschieden werde. Die Verwaltungsgerichte seien danach nicht gehindert, in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren selbst zu entschei-den, da sich der Entscheidungsausspruch auf eine vorläufige Regelung beschränke.

Die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts schlie-ßen jeweils am Ende der Gründe, das Rechtsfolge der vom Senat als Fachgericht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren angenommenen Verfassungswidrigkeit von § 19 Abs. 6 S. 3 LBG NRW (n. F.) dessen Unanwendbarkeit sei. Dies bedarf eigentlich keiner weiteren Kommentierung.

Die Landesregierung hat sich am 25.04.2017 veranlasst gesehen, einen Normenkontrollantrag beim Verfassungsge-richtshof für das Land Nordrhein-Westfalen zu stellen (- VerfGH 5/17 -). Mit diesem Verfahren wird die Feststellung begehrt, dass die seit dem 01.07.2016 geltende Neuregelung in § 19 Abs. 6 S. 2 u. S. 3 LBG NRW mit der Landesverfas-sung vereinbar sei. Ausweislich der Internetseite des Verfas-sungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen stützt sich die Landesregierung zur Zulässigkeit des Antrages darauf, dass Gerichte eine Norm des Landesrechts nicht angewendet hätten, weil sie diese für mit der Landesverfas-sung unvereinbar hielten. Diese Situation bestehe im Hinblick auf die genannten Normen des LBG NRW. Mehrere Fachge-richte hätten die genannten Bestimmungen für formell oder materiell verfassungswidrig gehalten und sie nicht angewen-det. Damit bestehe ein Bedürfnis für eine verfassungsge-richtliche Überprüfung. Mit den Neuregelungen entspreche der Landesgesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Frauenförderung.

Hier darf man gespannt auf den Ausgang des Verfahrens, insbesondere im Hinblick auf den festgestellten Verstoß gegen Art. 33 Abs. 2 GG, warten. Von Interesse wird dabei sein, ob und wenn ja, inwieweit sich der Verfassungsgerichts-hof für das Land Nordrhein-Westfalen zur Vereinbarkeit mit Art. 33 Abs. 2 GG äußern wird.

Im Übrigen bleibt nach dem Ergebnis der jüngsten Land-tagswahl abzuwarten, ob die umstrittene Neuregelung beste-hen bleibt. Zurzeit ist aus Sicht der Verwaltungspraxis aller-dings festzustellen, dass seit den Entscheidungen des OVG eine „Hängepartie“ zu verzeichnen ist. Die vollziehenden Verwaltungen sehen sich wohl gehalten, die Neuregelung des § 19 Abs. 6 S. 3 LBG NRW einstweilen weiterhin anzu-wenden und laufen damit sehenden Auges Gefahr, aufgrund hierauf gestützter Auswahlentscheidungen in verwaltungs-gerichtlichen Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechts-schutzes zu unterliegen und die hierdurch entstehenden Pro-zesskosten tragen zu müssen. Dieser Befund irritiert! Hier ist eine klare und schnelle korrigierende Entscheidung des Landesgesetzgebers erforderlich. In anderem Zusammen-hang spricht die Rechtsprechung - meines Erachtens durch-aus vergleichbar - von in Anwendung legislativen Unrechts erfolgten administrativen Vollzugsakten.

Andreas WiemannRechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtFachanwalt für Bau- und ArchitektenrechtBRANDI Rechtsanwälte, MindenT +49 571 83706-31E [email protected]

Die dienstliche Beurteilung von Personalrats-mitgliedern

Der Zugang und der Aufstieg (Beförderung) im öffentlichen Dienst hängen in erster Linie von Beurteilungen ab. Ein Beamter hat in der Regel keinen Anspruch auf Übertragung eines bestimmten Amtes. Er hat aber ein Recht darauf, dass der Dienstherr eine rechts- und ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Vergabe eines Beförderungsamtes trifft. Der Dienstherr hat bei seiner Entscheidung darüber, wem oder welchen von mehreren Bewerbern er eine Stelle übertragen will, das Prinzip der Bestenauslese zu beachten und Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Konkur-renten zu bewerten und zu vergleichen. Ist ein Bewerber besser qualifiziert, so ist grundsätzlich er zu befördern. Dienstliche Beurteilungen sollen Grundlage für künftige Aus-wahlentscheidungen sein und daher eine möglichst lücken-lose Leistungsnachzeichnung gewährleisten. Bei der Aus- wahlentscheidung ist zunächst auf aktuelle Beurteilungen der Bewerber abzustellen.

Mitglieder des Personalrates sind indes von ihrer dienst-lichen Tätigkeit freizustellen, wenn und soweit es nach Umfang und Art der Dienststelle zur ordnungsgemäßen Durchführung ihrer Arbeiten erforderlich ist. Dies ist in der Praxis vielfach der Fall. Freigestellte Personalratsmitglieder werden daher regelmäßig nicht (aktuell) dienstlich beurteilt, da keine dienstlichen Leistungen erbracht werden.

Werden während des Beurteilungszeitraumes keine dienstlichen Leistungen erbracht, die Grundlage einer Beur-teilung sein könnten, kann der Dienstherr Benachteiligungen des betroffenen Beamten jedoch dadurch ausschließen, dass er die Fortschreibung vergangener Beurteilungen durch eine fiktive Nachzeichnung des beruflichen Werdeganges des freigestellten Beamten vornimmt. Die Freistellung eines Personalratsmitglieds vom Dienst darf nicht zu einer Beein-trächtigung des beruflichen Werdegangs führen. Es muss sichergestellt werden, dass die Mitglieder des Personalrats ihre Tätigkeit unabhängig wahrnehmen können und dass die-jenige berufliche Entwicklung ermöglicht wird, die sie ohne die Freistellung voraussichtlich genommen hätte.

Im Falle der Beteiligung eines Mitglieds der Personalver-tretung an einem Stellenbesetzungsverfahren sind das Erfor-dernis, das der vorzunehmende Qualifikationsvergleich auf einer hinreichend aussagekräftigen Grundlage zu erfolgen hat, und das personalvertretungsrechtliche Benachteili-gungsverbot in geeigneter Weise in Einklang zu bringen. Das Personalratsmitglied ist somit regelmäßig mit einem durch fiktive Laufbahnnachzeichnung ermittelten Leistungsstand bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigten.

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Die fiktive Nachzeichnung bereitet in der Praxis oftmals große Probleme. Denn für eine Nachzeichnung muss stets eine hinreichende Tatsachengrundlage vorhanden sein. Die fiktive Laufbahnnachzeichnung wird dem Benachteiligungs-verbot (nur dann) gerecht, wenn sie den Werdegang des frei-gestellten Personalratsmitglieds wie den beruflichen Werde-gang vergleichbarer Kollegen behandelt, die weder das Amt eines Personalratsmitglieds ausüben noch vom Dienst frei-gestellt sind. Zwar ist es sachgerecht, die letzte planmäßige Beurteilung nach Maßgabe der Entwicklung vergleichbarer Kollegen fortzuschreiben. Das sich danach ergebende Lei-stungsbild ist jedoch an der Leistungsentwicklung vergleich-barer Kollegen zu messen und entsprechend einzuordnen.

In diesem Zusammenhang musste das Verwaltungsge-richt Minden – 4 L 1852/16 - kürzlich folgenden Fall entschei-den:

Die Behörde hatte die Auswahlentscheidung zugunsten eines langjährigen Personalratsmitglieds getroffen. Dessen Leistungsstand war durch eine fiktive Laufbahnnachzeich-nung ermittelt worden. Der unterlegene Mitbewerber hatte (zunächst) das Nachsehen.

Für das Personalratsmitglied lagen indes keine Vorbeur-teilungen vor. Die Nachzeichnung der Beurteilung des Perso-nalratsmitglieds beruhte im Übrigen auf dem Vergleich mit nur einem (vergleichbaren) Kollegen, der ebenfalls Führungs-aufgaben wahrgenommen hatte. Das Verwaltungsgericht führte zutreffend aus, dass diese (nachgezeichnete) dienst-liche Beurteilung des Personalratsmitglieds fehlerhaft war. Der Vergleich mit nur einem anderen Beamten reiche nicht aus; die Bildung einer zu kleinen Referenzgruppe verstoße gegen das Benachteiligungsverbot.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts macht deut-lich, dass die fiktive Nachzeichnung der Leistungsentwick-lung eines Personalratsmitglieds sorgfältig vorbereitet und durchdacht sein muss. Gleichwohl hat das Verwaltungsge-richt die Auswahlentscheidung zugunsten des Personalrats-mitglieds im Ergebnis für rechtmäßig erachtet. Denn letztlich habe die Behörde auf - nicht leistungsbezogene - Hilfskrite-rien zurückgreifen dürfen.

Die Beschwerde des Mitbewerbers vor dem Oberverwal-tungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen - 6 B 81/17 - hatte Erfolg! Das Oberverwaltungsgericht führte aus, dass in Fällen, in denen eine fiktive Nachzeichnung der Leistungs-entwicklung nicht möglich sei, die Auswahlentscheidung zwar auf der Grundlage von Hilfskriterien getroffen werden könne. Allerdings müssten vor der Anwendung von nicht lei-stungsbezogenen Hilfskriterien zunächst leistungsbezogene Auswahlkriterien herangezogen werden. Dies war vorliegend nicht erfolgt, so dass die streitgegenständliche Beurteilung letztlich aufgehoben und der Mitbewerber befördert wurde. Das Oberverwaltungsgericht wies im Übrigen darauf hin, dass in dem vorliegenden Fall auch nicht ausgeschlossen gewesen sei, dass eine rechtmäßige fiktive Nachzeichnung des Personalratsmitglieds hätte erfolgen können. Auch bei einer zu kleinen Referenzgruppe könne eine fiktive Nach-zeichnung möglich sein, wenn andere Beamte, die zum Zeit-punkt der Freistellung dasselbe Statusamt innenhatten, aber

(noch) keine Führungsaufgaben wahrgenommen haben, ein-bezogen und die (zu kleine) Referenzgruppe damit „ausge-weitet“ werde.

Somit hat das Oberverwaltungsgericht noch einmal klar-gestellt, wie eine rechtmäßige Nachzeichnung hätte erfolgen können. Es bleibt abzuwarten, ob die rechtlichen Anforderun-gen künftig mehr Beachtung finden. Der bisherigen Beurtei-lungspraxis wäre es zu wünschen…

Dr. Andreas PieperRechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtBRANDI Rechtsanwälte, MindenT +49 571 83706-16E [email protected]

Die „gläserne“ Behördenakte – Betriebsgeheimnisse in Gefahr?

Viele Jahrzehnte lang galt für deutsche Behörden der Grund-satz des Amtsgeheimnisses. Er sicherte den Unternehmen, die z. B. bei der Stellung von Genehmigungsanträgen Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse gegenüber den Behör-den offenbaren mussten, den vertraulichen Umgang mit die-sen Daten zu. Der heute aufgrund zahlreicher gesetzlicher Informationsansprüche bestehende Trend zu größerer behördlicher Transparenz hat weitreichende Folgen für Unternehmen, die z. B. im Zuge von Genehmigungsverfah-ren oder im Rahmen der Überwachung solche sensiblen Informationen offenlegen müssen.

Zum Beispiel: Umweltinformationen

Ein sehr praxisrelevanter Fall solcher Informationen sind Umweltinformationen. Europarechtlich durch die EU-Umwelt-informationsrichtlinie geprägt, sind dies Daten über die Umweltbestandteile wie etwa Luft, Wasser und Boden, ebenso wie Angaben über die Freisetzung von Stoffen in die Umwelt oder über Maßnahmen und Tätigkeiten, die sich auf Umweltbestandteile auswirken. Auch Daten über den Zustand der menschlichen Gesundheit und Sicherheit fallen darunter. Liegen solche Informationen bei einer Behörde oder einer sonstigen auskunftspflichtigen Stelle vor, sind sie potentielles Ziel von Auskunftsanfragen durch Privatpersonen (beispiels-weise Nachbarn eines Industriebetriebs), durch Bürgerinitiati-ven, durch Umweltverbände oder auch durch Wettbewerber. Ein besonderes, rechtlich geschütztes Interesse muss für solche Auskunftsansprüche nicht vorliegen.

Information über Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse? Abwägungssache!

Ein Ablehnungsgrund kann bei solchen Anträgen auf Infor-mationszugang vorliegen, soweit durch das Bekanntwerden der begehrten Informationen Betriebs- oder Geschäftsge-heimnisse zugänglich gemacht würden. Darunter werden nach ständiger Rechtsprechung „alle auf ein Unternehmen bezogenen Tatsachen, Umstände und Vorgänge verstanden, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Perso-

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nenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Das „berechtigte Interesse“ eines Unternehmens an der Nichtverbreitung sol-cher Informationen setzt voraus, dass die Offenlegung der Informationen geeignet ist, exklusives technisches oder kauf-männisches Wissen den Marktkonkurrenten zugänglich zu machen und so die Wettbewerbsposition des Unternehmens nachteilig zu beeinflussen (BVerwG, Urteil vom 24.09.2009 – 7 C 2/09 –). Dabei muss die offengelegte Information nicht schon für sich genommen ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis offenbaren. Es genügt schon, wenn die Information Rückschlüsse auf Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse zulässt (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 06.09.2012 – 8 A 10096/12 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.093.2017 – 10 S 413/15 –). Betriebsgeheim-nisse umfassen im Wesentlichen technisches Wissen, Geschäftsgeheimnisse hingegen beziehen sich auf kauf-männisches Wissen.

Insofern können Daten z. B. über bestimmte Produktions-verfahren, Rezepturen oder Anlagentechniken – also typi-scherweise betriebliches Know-how – zwar Umweltinformati-onen sein, auf deren Weitergabe Interessenten grundsätzlich einen Rechtsanspruch haben. Diese Informationen können aber auch als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse ge-schützt sein. Jedoch ist es allein mit der Behauptung, eine Information sei ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis (und einer ausführlichen Begründung, warum das der Fall sein soll) für den „Geheimnisträger“ oft nicht getan. Denn ein dadurch begründetes privates Interesse an der Nichtbekannt-gabe kann durch ein überwiegendes öffentliches Interesse quasi überlagert werden. Die Behörde muss hier also eine Abwägung zwischen den unterschiedlichen Interessen vor-nehmen. Die Entscheidungssituationen können in solchen Fällen also recht komplex sein. Das setzt voraus, dass Unter-nehmen, die bestimmte Informationen als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse geschützt sehen wollen, gegenüber der Behörde schon möglichst frühzeitig (beispielsweise in eingereichten Antragsunterlagen) solche Geheimnisse deut-lich kennzeichnen. Wird dann Einsicht in die Unterlagen von dritter Seite beantragt, muss die Behörde beim Unternehmen nachfragen. Dann kann im Zweifel noch näher begründet werden, warum ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis vor-liegen soll und wie wichtig der Geheimnisschutz ist.

Emissionsdaten: kein Geheimnisschutz

Daten über „Emissionen in die Umwelt“ können grundsätzlich keine Betriebsgeheimnisse sein. Der Europäische Gerichts-hof hat das in jüngerer Zeit noch weiter konturiert. Er hat Stoffe wie Pflanzenschutzmittel oder Biozid-Produkte (Glyphosat) und darin enthaltene Bestandteile unter den Begriff der „Emissionen in die Umwelt“ und damit als Umwelt-information eingeordnet. Dies gilt dann, wenn sie, wie der EuGH ausführt, bei „normalen oder realistischen Anwedungs- bedingungen“ (also bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eines zugelassenen Produkts!) freigesetzt werden - also gänzlich entkoppelt von einem Produktionsvorgang und der Produktionsanlage - (EuGH, Urteile vom 23.11.2016 - Rs. C-673/13 - und Rs. C-442/14 -). Daten auch über solche „Emissionen“ sind als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse nicht geschützt. Der Begriff „Emission“ bezeichnet die Frei-

setzung von Stoffen, Zubereitungen, Organismen oder Mikro- organismen in die Umwelt in Folge menschlicher Tätigkeit.

Auf dieser Linie liegt auch eine jüngere Entscheidung des VGH Baden-Württemberg. In dem entschiedenen Fall hatte eine Bürgerin beim Regierungspräsidium Stuttgart beantragt, ihr die beim Betrieb eines Zementwerks gemessenen Werte zum Abgasvolumen, zur Abgastemperatur, zum Sauerstoff-gehalt und zur Abgasfeuchte zugänglich zu machen. Das Unternehmen hatte dagegen geltend gemacht, diese Daten seien Betriebsgeheimnisse. Aus ihrer Kenntnis könnten Wett-bewerber Rückschlüsse auf die Produktionsmenge und die konkreten Betriebsweisen des betreffenden Werks ziehen, insbesondere bezüglich des Einsatzes von Sekundärbrenn-stoffen. Dies aber sei genau der Wettbewerbsvorteil, den sich das Unternehmen durch hohe Investitionen sowie Ent-wicklungsarbeiten erarbeitet habe. Der VGH Baden-Württ-emberg betont hingegen, Informationen über Emissionen müssten der Öffentlichkeit zugänglich sein, da sie die Öffent-lichkeit unmittelbar berührten. Es gelte das Prinzip: „Was aus der Anlage in die Umgebung gelangt, soll in keinem Fall ver-traulich behandelt werden können“.

Praxishinweis:

Die Rechtsprechung zeigt, dass Informationen, zu deren Erteilung Unternehmen gegenüber den Behörden verpflichtet sind oder verpflichtet werden können, in erhöhtem Maße öffentlich werden können. Deshalb müssen sich Unterneh-men von vornherein überlegen, welche Informationen sie herausgeben müssen bzw. wollen. Was einmal in der Behör-denakte ist, ist grundsätzlich „gläsern“. Müssen Informatio-nen erteilt werden, so sollten sie, wenn sie die Kriterien erfüllen, sorgfältig als Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse gekennzeichnet werden. Das sichert jedenfalls, dass das Unternehmen gefragt wird, bevor solche Informationen „ungefragt“ weiter gegeben werden. Daten über Emissionen in die Umwelt können nicht als Betriebs- oder Geschäftsge-heimnisse geschützt sein.

Prof. Dr. Martin DippelRechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtBRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

Entsorgung von Altkleidern, Altpapier & Co. außerhalb der kommunalen Entsorgung – Neues zu gewerblichen Abfallsammlungen

Im Juni des vergangenen Jahres hat sich das Bundesverwal-tungsgericht (BVerwG) grundlegend mit der Zulässigkeit gewerblicher Abfallsammlungen beschäftigt. In seinen rich-tungweisenden Urteilen vom 30.06.2016 legte es die maß-geblichen Vorschriften des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG) in der Tendenz zugunsten gewerblicher Abfallsamm-ler aus. Auch wenn das BVerwG die Gelegenheit genutzt hatte, einige Streitfragen im Zusammenhang mit gewerb-lichen Sammlungen zu beantworten, zogen diese Antworten

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auch neue Fragen nach sich. Unklar war daher, wie die Ober-gerichte die Rechtsprechung des BVerwG ausfüllen und wei-terentwickeln würden. Mittlerweile haben die ersten von ihnen zur Rechtsprechung des BVerwG Stellung bezogen.

1. Kein absoluter „Konkurrenzschutz“ des kommunalen Entsorgungsträgers gegen gewerbliche Sammlungen

Das BVerwG entschied durch Urteil vom 30.06.2016 – 7 C 4/15 –, dass § 17 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 KrWG als widerlegliche und nicht – wie zum Teil angenommen (VGH München, Urteil vom 10.02.2015 – 20 B 14.710) – als unwiderlegliche Vermu-tung ausgelegt werden müsse.

Diese Auslegung hat zur Folge, dass eine gewerbliche Sammlung nicht allein schon deshalb untersagt werden kann, weil der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger oder ein von ihm beauftragter Dritter neben der gewerblichen Sammlung eine haushaltsnahe oder sonstige hochwertige getrennte Erfassung und Verwertung der Abfälle durchführt. § 17 Abs. 3 S. 3 Nr. 1 KrWG vermittle gerade keinen absoluten Konkur-renzschutz zugunsten des öffentlich-rechtlichen Entsor-gungsträgers (so bereits VGH Mannheim, Beschluss vom 04.03.2014 – 10 S 1127/13 –). Danach ist eine Untersagung der gewerblichen Sammlung vielmehr nur dann möglich, wenn der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger durch den Marktzutritt des gewerblichen Sammlers zur wesentlichen Änderung oder Anpassung seiner Entsorgungsstruktur gezwungen wäre. Maßgeblich soll dabei die prognostizierte Einbuße des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers bei der Sammelmenge sein.

Das BVerwG geht davon aus, dass der öffentlich-recht-liche Entsorgungsträger zur wesentlichen Änderung oder Anpassung seiner Entsorgungsstruktur gezwungen ist, wenn die ihm voraussichtlich „entzogene“ Sammelmenge eine Irre-levanzschwelle von 10 bis 15 % des Gesamtabfallaufkom-mens überschreitet. Allerdings lässt sich dem Urteil nicht zweifelsfrei entnehmen, ob dabei auf die Sammelmenge abzustellen ist, die durch den jeweils zu prüfenden Sammler oder durch sämtliche gewerbliche und gemeinnützige Samm-ler im Sammelgebiet entzogen wird. Weiterhin stellte das BVerwG fest, dass ausnahmsweise „bei ganz außergewöhn-lichen Konstellationen“ das Überschreiten der „Irrelevanz-schwelle“ nicht dazu führe, dass der öffentlich-rechtliche Ent-sorgungsträger seine Entsorgungsstruktur wesentlich ändern oder anpassen muss. Welche Konstellationen „ganz außer-gewöhnlich“ in diesem Sinne sind, ließ es allerdings offen.

2. Interpretation durch die Obergerichte

Interessanterweise haben die Obergerichte, die sich bisher mit dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinander setzen mussten, das Urteil des BVerwG unterschiedlich inter-pretiert. Während das OVG Saarland (Urteil vom 12.01.2017 – 2 A 147/15 –) davon ausgeht, dass die „Irrelevanzschwelle“ überschritten ist, wenn alle privaten Sammlungen dem öffent-lich-rechtlichen Entsorgungsträger eine Sammelmenge von 10 bis 15 % des Gesamtabfallaufkommens entziehen, stellt der VGH München (Beschluss vom 30.01.2017 – 20 CS 16.1416) darauf ab, ob die zu erwartende Zusatzbelastung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers durch die kon-

kret zu prüfende Sammlung die „Irrelevanzschwelle“ über-schreitet. Die beiden Obergerichte gehen also bei der Prüfung, ob die „Irrelevanzschwelle“ überschritten ist, von völlig unterschiedlichen Bezugspunkten aus.

Überzeugender dürfte die Auffassung des VGH München sein. Zwar betonte das BVerwG, dass bei der Abschätzung der abfallwirtschaftlichen Auswirkungen nicht allein auf den Beitrag des jeweils zu prüfenden Sammlers abzustellen sei, sondern im Sinne einer Gesamtbelastung die Beiträge ande-rer berücksichtigungsfähiger Sammlungen in die Betrach-tung mit einzubeziehen seien. Allerdings führte es – gerade bezogen auf die „Irrelevanzschwelle“ – aus, dass die zusätz-lichen Sammelmengen eines oder mehrerer privater Samm-ler der erwarteten Sammelmenge des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers gegenüber zu stellen und auf dieser Grundlage etwaige Einbußen zu bewerten seien. Insofern können nur die Sammelmengen gemeint sein, die dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger durch neue, in sei-nem Sammelgebiet erstmalig in Erscheinung tretende private Sammlungen „entzogen“ werden. Auch vor dem Hintergrund des Zwecks des § 18 Abs. 5 S. 2 KrWG i.V.m. § 17 Abs. 3 S. 3 Nr. 3 KrWG überzeugt die Auffassung des VGH. Danach hat die zuständige Behörde die Durchführung der konkreten gewerblichen Sammlung zu untersagen, wenn die Funktions-fähigkeit des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers gefährdet ist. Deshalb leuchtet es ein, wenn bei der Entschei-dung darüber, ob die Funktionsfähigkeit des öffentlich-recht-lichen Entsorgungsträgers beeinträchtigt wird, darauf abge-stellt wird, ob gerade das Hinzutreten der fraglichen Sammlung wegen ihres Sammelausmaßes zur Gefährdung seiner Funktionsfähigkeit führt. Das BVerwG wird diese Frage in naher Zukunft in einem schon anhängigen Revisi-onsverfahren klären können.

3. Noch offene Fragen im Anzeigeverfahren

Auch wenn das BVerwG durch seine Urteile vom 30.06.2016 zur Lösung einiger Streitfragen beitragen konnte, bleiben dennoch nach wie vor einige Fragen offen.

Höchstrichterlich ungeklärt und in der obergerichtlichen Rechtsprechung umstritten ist beispielsweise die Frage, wel-che Anforderungen an die Neutralität der für die Untersagung gewerblicher Sammlungen zuständigen Behörde zu stellen sind. In der Rechtsprechung wird überwiegend die Auf- fassung vertreten, dass das Neutralitätsgebot gewahrt sei, wenn die Aufgabenbereiche des öffentlich-rechtlichen Ent- sorgungsträgers und die der im Anzeigeverfahren zuständi-gen Behörde organisatorisch und personell getrennt sind (so zum Beispiel OVG Münster, Urteil vom 07.05.2015 – 20 A 2670/13 –). Bei praxisnaher Betrachtung kann von einer ech-ten Neutralität der zuständigen Behörde jedoch nur ausge-gangen werden, wenn zwischen dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger und dem Rechtsträger der zuständigen Behörde Rechtsträgerverschiedenheit besteht (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 21.03.2013 – 7 LB 56/11).

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Ferner wird zwischen den Obergerichten die Frage, ob Sperrmüll als gemischter Abfall aus privaten Haushaltungen in den Anwendungsbereich des § 17 Abs. 2 S. 2 KrWG fällt und deshalb nicht Gegenstand einer gemeinnützigen oder gewerblichen Sammlung sein kann, uneinheitlich beantwor-tet (siehe dazu einerseits OVG Bautzen, Beschluss vom 18.02.2015 – 4 B 53/14 – und andererseits OVG Münster, Urteil vom 26.01.2016 – 20 A 318/14 –). In der Rechtssache des OVG Münster ist bereits ein Revisionsverfahren beim BVerwG anhängig (– 7 C 9/16 –). Insofern darf alsbald eine Stellungnahme des BVerwG auch zu dieser Thematik erwar-tet werden.

Ungeklärt ist weiterhin, ob bei der Erteilung einer straßen-rechtlichen Sondernutzungserlaubnis – etwa zur Aufstellung von Abfallcontainern – ausschließlich straßenrechtliche Belange in die Ermessensentscheidung eingestellt werden dürfen oder ob vor allem aus unionsrechtlichen Gründen zwingend auch Wettbewerbserwägungen berücksichtigt wer-den müssen (vgl. dazu einerseits OVG Münster, Urteil vom 16.06.2015 – 11 A 1131/13 – und andererseits OVG Lüneburg, Urteil vom 19.02.2015 – 7 LC 63/13 –).

Wie sich das BVerwG bei diesen Streitfragen positionie-ren wird, bleibt abzuwarten. Vor dem Hintergrund der Urteile vom 30.06.2016 würde es allerdings nicht überraschen, wenn es auch in diesen Fällen tendenziell zugunsten gewerblicher Sammlungen entscheidet.

Kriemhild OttensmeierWiss. Mitarbeiterin BRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

Die neue Gewerbeabfallverordnung kommt!

Im Bundesgesetzblatt vom 21.04.2017 ist die neue „Verord-nung über die Bewirtschaftung von gewerblichen Siedlungs-abfällen und von bestimmten Bau- und Abbruchabfällen (Gewerbeabfallverordnung – GewAbfV)“ veröffentlicht wor-den. Das Regelungswerk mit seinem etwas sperrigen Titel wird am 01.08.2017 in Kraft treten. Sie betrifft alle Erzeuger und Besitzer gewerblicher Siedlungsabfälle sowie bestimm-ter Bau- und Abbruchabfälle. Es handelt sich also um eine Verordnung, von der die Unternehmen „schon mal etwas gehört“ haben sollten.

Die GewAbfV dient der Verfeinerung der fünfstufigen Abfallhierarchie, wie sie im Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrwG) festgelegt ist und wie sie auf europarechtlichen Vor-gaben beruht. Die früher so geläufige Rangfolge „Vermei-dung vor Verwertung vor Beseitigung“ gilt in dieser Form nicht mehr. Abfälle sind heute (in dieser Reihenfolge)

- vorrangig zu vermeiden, - der Vorbereitung zur Wiederverwendung, - dem Recycling, - der energetischen Verwertung und - letztlich der Beseitigung zuzuführen.

Diese Hierarchie gilt grundsätzlich für alle Arten von Abfällen. Für gewerbliche Abfälle wird sie in der neuen GewAbfV nun detailliert geregelt. Grundlegend neu ist insbesondere, dass die Gleichrangigkeit von stofflicher und energetischer Ver-wertung von Gewerbeabfällen abgelöst wird durch den Vor-rang der stofflichen vor der energetischen Verwertung. Der Vorschriftengeber erhofft sich damit eine Stärkung des Recy-clings gewerblicher Siedlungsabfälle i. S. d. Ressourcen-schutzes.

Wer wird in die Pflicht genommen?

Die Verordnung richtet sich an Erzeuger und Besitzer gewerb-licher Siedlungsabfälle und bestimmter Bau- und Abbruchab-fälle. Schon die Definition der „gewerblichen Siedlungsabfälle“ ist nicht ganz einfach zu handhaben. Zunächst müssen es „Siedlungsabfälle“ sein, die nicht aus privaten Haushaltungen stammen. Das sind gewerbliche und industrielle Abfälle sowie Abfälle aus privaten und öffentlichen Einrichtungen, „die Abfällen aus privaten Haushaltungen aufgrund ihrer Beschaffenheit oder Zusammensetzung ähnlich sind“. Auch weitere gewerbliche und industrielle Abfälle, „die nach Art, Zusammensetzung, Schadstoffgehalt und Reaktionsverhal-ten“ den Abfällen aus Privathaushalten vergleichbar sind, sind gewerbliche Siedlungsabfälle. Da solche Abfälle in den meisten gewerblichen bzw. industriellen Betrieben – von der freiberuflichen Praxis über das Pflegeheim und den Hand-werksbetrieb bis hin zum Chemiepark – anfallen werden, ist die Bandbreite derer, die die GewAbfV zu beachten haben, sehr hoch. Praktisch jedes gewerbliche oder industrielle Unternehmen muss die neue Verordnung beachten. Fallen problematischere Abfallstoffe an (früher hießen sie oft „Son-derabfälle“), so unterliegen diese nicht den Vorgaben der neuen GewAbfV, weil sie nach Art, Zusammensetzung, Schadstoffgehalt und Reaktionsverhalten den Abfällen aus Privathaushalten eben nicht vergleichbar sind. Auch Erzeu-ger und Besitzer von Bau- und Abbruchabfällen (mineralische und nicht mineralische Abfälle) unterliegen der neuen Verord-nung. Die Pflichten der Erzeuger und Besitzer von Bau- und Abbruchabfällen sind in der Verordnung in einem geson-derten Abschnitt geregelt.

Was ist zu beachten?

Für gewerbliche Siedlungsabfälle gilt nach § 3 GewAbfV eine weitgehende Pflicht zur getrennten Sammlung und Beförde-rung sowie die Pflicht, diese Abfälle „vorrangig der Vorberei-tung der Wiederverwendung oder dem Recycling zuzuführen“. Insofern gilt die Getrenntsammlungspflicht für

- Papier, Pappe und Karton, - Glas, - Kunststoffe, - Metalle, - Holz, - Textilien, - Bioabfälle und - ggf. weitere Abfallfraktionen aus Gewerbe- und Siedlungs-

abfällen.

Diese Pflichten können entfallen, soweit die getrennte Samm-lung der jeweiligen Abfallfraktion „technisch nicht möglich

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oder wirtschaftlich nicht zumutbar ist, insbesondere dann, wenn für eine Aufstellung von Abfallbehältern für die getrennte Sammlung nicht genügend Platz zur Verfügung steht. Wirt-schaftlich kann die getrennte Sammlung unzumutbar sein, wenn die Kosten für die getrennte Sammlung außer Verhält-nis zu den Kosten für eine gemischte Sammlung und anschlie-ßende Vorbehandlung (Sortierung) stehen.

Die Freude über solche Ausnahmetatbestände währt nur kurz, wenn man sich ansieht, welche Dokumentationspflich-ten bestehen, um in den Genuss einer solchen Ausnahme zu kommen: Durch Lagepläne, Lichtbilder bzw. durch eine Dar-legung der technischen Unmöglichkeit der wirtschaftlichen Unzumutbarkeit ist das Vorliegen der Ausnahmevorausset-zungen zu dokumentieren. Es zeichnet sich ab, dass diese Regelung in der Praxis sehr viel bürokratischen Aufwand mit sich bringen wird. Das stellt nicht nur die Abfallerzeuger und Abfallbesitzer vor neue Herausforderungen. Es ist sogar fast anzunehmen, dass sich die zuständigen Behörden des Voll-zugs der Getrennthaltungspflichten wiederum (wie bei der alten GewAbfV) nur „mit spitzen Fingern“ annehmen werden.

Die „Pflichtrestmülltonne“

Die sog. „Pflichtrestmülltonne“ wird es auch nach der neuen GewAbfV weiterhin geben. Sie beruht auf der Annahme des Vorschriftengebers, es werde in jedem gewerblichen bzw. industriellen Betrieb einen Anteil von Abfällen geben, der nicht verwertet wird. Insofern hat jeder Erzeuger oder Besit-zer gewerblicher Siedlungsabfälle weiterhin eine „Pflichtrest-mülltonne“ seines kommunalen Entsorgers vorzuhalten, und zwar in einem Umfang, der sich „nach den näheren Festle-gungen des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers“, also nach der kommunalen Abfallsatzung, richtet. Das hat die Rechtsprechung schon grundsätzlich gebilligt – Widerstand dem Grunde nach ist also meistens sinnlos. Über das Behäl-tervolumen (und damit über die Höhe der anfallenden Gebüh-ren) lässt sich aber von Fall zu Fall diskutieren.

Bau- und Abbruchabfälle

Auch Bau- und Abbruchabfälle sind getrennt zu sammeln und zu befördern sowie vorrangig der Vorbereitung zur Wieder-verwendung oder dem Recycling zuzuführen. Hierbei geht es um Glas, Kunststoffe, Metall, Holz, Dämmmaterialien, Bitu-mengemische, Baustoffe auf Gipsbasis, Beton, Ziegel sowie Fliesen und Keramik. Dies sind sämtlich Abfallstoffe aus dem Abschnitt 17 des Anhangs der Abfallverzeichnisverordnung.

Auch hier kann die Pflicht zur getrennten Sammlung ent-fallen, wenn sie technisch nicht möglich oder wirtschaftlich nicht zumutbar ist. Technisch nicht möglich wird die Samm-lung häufig angesichts beengter Platzverhältnisse auf Bau-stellen sein, aber auch dann, wenn sie – wie die Verordnung selbst ausführt – „aus rückbaustatischen oder rückbautech-nischen Gründen ausscheidet“. Für den Fall, dass die Getrennthaltung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, trifft den Erzeuger und Besitzer solcher Abfallgemische die Pflicht zur Vorbehandlung und Aufbereitung.

Betreiber von Vorbehandlungsanlagen

Die Unternehmen der Entsorgungswirtschaft, die Vorbehand-lungsanlagen für gewerbliche Siedlungsabfälle oder Bau- und Abbruchabfälle betreiben, müssen die bei ihnen ankom-menden Abfälle kontrollieren. Die Vorbehandlungsanlagen unterliegen einer Eigenkontrolle des Betreibers und (selbst-verständlich) einer Fremdkontrolle durch die Aufsichtsbehör-den. Die Betreiber haben ebenfalls die Pflicht, ein Betriebstagebuch zu führen.

Praxishinweis:

Die GewAbfV enthält insgesamt eine Reihe neuer oder ver-schärfter Pflichten für Erzeuger und Besitzer von gewerb-lichen Siedlungsabfällen oder Bau- und Abbruchabfällen. Die Verletzung zahlreicher Pflichten wird in der Verordnung mit Bußgeld bedroht. Insofern ist jedem Erzeuger oder Besitzer gewerblicher Siedlungsabfälle oder Bau- und Abbruchabfälle zu empfehlen, sich mit der Vorschrift etwas genauer zu befas-sen, um seine eigenen Verpflichtungen einschätzen zu kön-nen. Im konkreten Anwendungsfall kann sich auch anwaltlicher Rat als sinnvoll erweisen, insbesondere um möglichen Buß-geldverfahren aus dem Weg zu gehen.

Wie schnell und wie konsequent die neue GewAbfV aber nun vollzogen wird, das ist noch nicht genau absehbar. Die bisherige, seit 2003 geltende alte GewAbfV war weitestge-hend das, was man einen „Papiertiger“ nennt. Wenn der Ver-ordnungsgeber nun die Rechtslage detaillierter regelt und Anforderungen verschärft, erfordert das zur Kontrolle einen höheren Aufwand. Kann dieser Aufwand von der dafür zuständigen Verwaltung nicht erbracht werden, so wird die neue Verordnung möglicherweise kein anderes Schicksal haben als die alte Verordnung. Die in Fachkreisen geäu-ßerten Erwartungen sind insofern ganz unterschiedlich.

Prof. Dr. Martin DippelRechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtBRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

Neues aus dem Baurecht – Städtebaurechtsnovelle 2017

Im März 2017 wurde vom Bundestag der „Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und zur Stärkung des neuen Zusammen-lebens in der Stadt“ beschlossen. Nach Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt ist die Novelle des BauGB am 13.05.2017 in Kraft getreten.

Angestoßen wurde die Gesetzesänderung maßgeblich durch die UVP-Änderungs-Richtlinie (Richtlinie 2014/52/EU über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten), die es bis zum 16.05.2017 in nationales Recht umzusetzen galt. Für die Umsetzung bedarf es aber nicht nur der bereits vorgenommenen Ände-

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rungen im BauGB für Bauleitplanverfahren; weitere Neue-rungen werden noch im UVPG und in der 9. BImSchV (Ver-ordnung über das Genehmigungsverfahren) vorzunehmen sein.

Ein weiterer Schwerpunkt der Städtebaurechtsnovelle wurde auf die „Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt“ gelegt. Umgesetzt werden soll das Konzept einer „Stadt der kurzen Wege“, in der wichtige Funktionen wie z.B. das Wohnen, das Arbeiten und die Versorgung räumlich nah beieinander liegen. Damit einhergehend werden auch die Ziele der Nachverdichtung in den Innenstädten sowie die Erleichterung des Wohnungsbaus verfolgt. Des Weiteren wurden durch die Novelle Regelungen geschaffen, mit denen – begleitend zur Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie – den Gefahren von Störfällen besser Rechnung getragen werden soll. Im Folgenden werden die wichtigsten Änderungen zu diesen Themenschwerpunkten kurz skizziert.

I. Änderungen aufgrund der UVP-Änderungs-Richtlinie

Obwohl die UVP-Änderungs-Richtlinie Hauptanlass für die Städtebaurechtsnovelle war, ist der hierdurch ausgelöste Umsetzungsbedarf noch als überschaubar zu bezeichnen. Denn bereits mit dem EAG-Bau aus dem Jahr 2004 wurde die Umweltprüfung eingeführt und diesbezüglich festgelegt, dass grundsätzlich alle Bauleitpläne einer Umweltprüfung zu unterziehen sind (§ 2 Abs. 4 BauGB). Vor diesem Hintergrund wurde insbesondere kein weiterer Umsetzungsbedarf im Hin-blick auf die umfangreichen neuen Richtlinienvorgaben zum Screening hervorgerufen. Zukünftig sind aber folgende Ände-rungen im Rahmen eines Bauleitplanverfahrens zu beachten:

1. Erweiterung des Katalogs der Umweltbelange und der Prüfkriterien für die Umweltprüfung

Der Katalog der zu berücksichtigenden Umweltbelange ist um das Schutzgut „Fläche“ erweitert worden (§ 1 Abs. 6 Nr. 7a) BauGB). Ein erheblicher Mehraufwand wird daraus aber in der Praxis nicht resultieren, da dieses Schutzgut im Regelfall unter dem Schutzgut des Bodens mit erfasst worden ist. Flä-chensparendes Bauen wurde – auch aufgrund der Boden-schutzklausel¹ – bereits in der Vergangenheit als Ziel der Bauleitplanung verfolgt. Änderungsbedarf ergibt sich somit vor allem in formaler Hinsicht, es ist auf eine explizite Erwäh-nung des „neuen“ Schutzgutes und eine entsprechend ange-passte Gliederung des Umweltberichtes zu achten.

¹ § 1a Abs. 2 S. 1 BauGB lautet wie folgt: „Mit Grund und Boden soll sparsam und schonend umgegangen werden; dabei sind zur Verrin-gerung der zusätzlichen Inanspruchnahme von Flächen für bauliche Nutzungen die Möglichkeiten der Entwicklung der Gemeinde insbe-sondere durch Wiedernutzbarmachung von Flächen, Nachverdich-tung und andere Maßnahmen zur Innenentwicklung zu nutzen sowie Bodenversiegelungen auf das notwendige Maß zu begrenzen.“

Als ein weiterer – aber auch letzter – Belang wurden in den Katalog die Auswirkungen von schweren Unfällen oder Kata-strophen mit aufgenommen (§ 1 Abs. 6 Nr. 7j) BauGB). Es wird eine Prüfung der Auswirkungen auf die im Katalog genannten Umweltbelange verlangt, die aufgrund der Anfäl-ligkeit der nach dem Bauleitplan zulässigen Vorhaben für schwere Unfälle oder Katastrophen zu erwarten sind. Beach-

tet werden muss jedoch, dass nicht jede theoretisch denk-bare Anfälligkeit in den Blick genommen werden muss. Es bedarf vielmehr – in Abhängigkeit vom Inhalt und Detaillie-rungsgrad eines Bauleitplanes² – einer gewissen Wahr-scheinlichkeit, dass das nach dem Bauleitplan zugelassene Vorhaben gegenüber bestimmten Unfällen risikobehaftet ist. Hierbei sind sowohl Ereignisse zu betrachten, die vom Vorha-ben selbst ausgehen (z.B. die Explosion einer Anlage), als auch externe Ereignisse (z. B. Hochwasser), die auf das Vor-haben einwirken und dadurch negative Umweltauswirkungen hervorrufen können. Anzumerken ist, dass auch diese Prü-fung für die Praxis nicht gänzlich neu ist; bei der Bauleitpla-nung müssen Auswirkungen von schweren Unfällen bereits im Sinne der Störfall-Richtlinie berücksichtigt werden.

² Siehe hierzu § 2 Abs. 4 S. 3 BauGB: „Die Umweltprüfung bezieht sich auf das, was nach gegenwärtigem Wissensstand und allgemein anerkannten Prüfmethoden sowie nach Inhalt und Detaillierungsgrad des Bauleitplans angemessenerweise verlangt werden kann.“

Ebenfalls wurden die Prüfungskriterien für die Umweltprüfung erweitert, es gelten höhere Anforderungen an den Inhalt des Umweltberichts (Anlage 1 zum BauGB). Neben der Einfüh-rung des Begriffs des „Basisszenarios“ für die Beschreibung des derzeitigen Umweltzustandes sind ergänzende Angaben zu dessen voraussichtlicher Entwicklung bei Nichtdurchfüh-rung des Projekts anzugeben. Entsprechend dem Rege-lungszweck der UVP-Änderungs-Richtlinie sind ferner Angaben zu tätigen, die sich auf konkrete Vorhaben beziehen. So ist zu beschreiben, welche möglichen erheblichen Auswir-kungen auf die Umweltbelange durch das geplante Vorhaben entstehen, insbesondere sind hier Bau und Vorhandensein des Vorhabens, die Nutzung der natürlichen Ressourcen, die Art und Menge an Emissionen von Schadstoffen sowie Art und Menge der erzeugten Abfälle durch das Vorhaben zu bewerten. Aber auch hier gilt, dass eine Prüfung nur insoweit durchzuführen ist, wie es nach Inhalt und Detaillierungsgrad des Bauleitplans angemessenerweise verlangt werden kann. Das bewährte System der Abschichtung zwischen den Umweltprüfungen im Rahmen der Bauleitplanung und eines anschließenden Genehmigungsverfahrens kann folglich bei-behalten werden.

2. Neue Vorgaben bei der Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung

Im Hinblick auf die Beteiligung der Öffentlichkeit ist nun darauf zu achten, dass die Auslegung der erforderlichen Unterlagen (Entwürfe der Bauleitpläne, Begründung etc.) bei der förm-lichen Beteiligung für die Dauer eines Monats, bei einem Fristbeginn im Monat Februar für die Dauer von mindestens 30 Tagen, erfolgt (§ 3 Abs. 2 S. 1 BauGB). Entsprechende Fristen sind den Behörden bei der Abgabe ihrer Stellungnah-men zu gewähren (§ 4 Abs. 2 S. 3 BauGB). Wichtig ist, dass diese Frist bei Vorliegen eines wichtigen Grundes angemes-sen verlängert werden muss. Ein wichtiger Grund kann z.B. dann angenommen werden, wenn umweltbezogene Fachgut-achten ausgelegt werden, die sich im Hinblick auf Art, Umfang und Komplexität deutlich von den üblicherweise im Rahmen einer Bauleitplanung auszulegenden Unterlagen unterschei-den.

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Änderungen ergeben sich bei den Beteiligungen aber nicht nur aufgrund der längeren Fristen, sondern auch im Hin-blick auf die Form der Veröffentlichung. Die Bekanntma-chungen sind samt Unterlagen zusätzlich in das Internet ein-zustellen und über ein zentrales Internetportal des Landes zugänglich zu machen (§ 4a Abs. 4 BauGB); die vormals fakultative Möglichkeit der zusätzlichen Veröffentlichungs-form ist somit nun verbindlich vorgeschrieben.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen ein Verstoß gegen die neuen Verfahrensvor-schriften zur Folge hat. Werden die Unterlagen trotz Vorlie-gen eines wichtigen Grundes nicht für die Dauer einer ange-messenen längeren Frist ausgelegt, ist diese Fehleinschätzung unbeachtlich, wenn die Gemeinde nachvollziehbar davon ausgehen konnte, dass kein wichtiger Grund vorgelegen hat (§ 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BauGB). Impliziert wird hiermit, dass im Bauleitplanverfahren eine Bewertung und eine entspre-chende Dokumentation über das (Nicht-)Vorliegen eines wichtigen Grundes für die Fristbestimmung vorzunehmen ist. Ein weiterer unbeachtlicher Fehler wird angenommen, wenn zwar die Bekanntmachung nebst Unterlagen in das Internet, nicht aber über das zentrale Internetportal des Landes einge-stellt worden ist.

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur im Rahmen der Beteiligungsverfahren die zusätzlichen Ver-öffentlichungsformen zu nutzen sind; auch die in Kraft getre-tenen Bauleitpläne sollen mit Begründung und zusammenfas-sender Erklärung hierüber zugänglich gemacht werden (§§ 6a Abs. 2, 10a Abs. 2 BauGB).

3. Überwachungspflichten nach Abschluss des Bauleitplanverfahrens Als letzte Änderung zur Umsetzung der UVP-Änderungs-Richtlinie ist noch die Ausweitung der nach Abschluss des Bauleitverfahrens vorzunehmenden Überwachung zu erwäh-nen, die sich nunmehr auch auf die Durchführung von Aus-gleichsmaßnahmen erstreckt (§ 4c BauGB).

II. Änderungen aufgrund der Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt

Um das neue Zusammenleben in der Stadt und damit das Konzept einer „nutzungsgemischten Stadt der kurzen Wege“ zu realisieren, wurden ebenfalls einige Änderungen vorge-nommen. Als Hauptinstrument wurde das „Urbane Gebiet“ in der BauNVO als neuer Baugebietstyp eingeführt (§ 6a BauNVO) und systematisch zwischen dem Misch- und dem Kerngebiet verankert. Der Zweckbestimmung nach dient es dem Wohnen sowie der Unterbringung von Gewerbebetrie-ben und sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen, die die Wohnnutzung nicht wesentlich stören. Im Vergleich zum Mischgebiet muss diese Nutzungsmischung im Urbanen Gebiet jedoch nicht gleichgewichtig sein, vom Kerngebiet grenzt es sich durch die allgemein zulässige Wohnnutzung ab.

Besonderes Augenmerk ist beim Urbanen Gebiet den ver-schiedenen Differenzierungsmöglichkeiten zu schenken (§ 6a Abs. 4 BauNVO). Hiernach kann im Bebauungsplan

festgesetzt werden, dass z.B. im Erdgeschoss an einer Stra-ßenseite eine Wohnnutzung nicht zulässig ist oder dass ein bestimmter Anteil der zulässigen Geschossfläche nur für Wohnungen oder nur für gewerbliche Nutzungen verwendet werden kann. Da kurze Wege auch eine größere bauliche Dichte erfordern, wurde die Grundflächenzahl für das Urbane Gebiete mit 0,8 (Mischgebiete: 0,6/ Kerngebiet: 1,0), die Geschossflächenzahl mit dem maximal zulässigen Wert nach der BauNVO von 3,0 (Mischgebiete: 1,2/ Kerngebiet: 3,0) festgesetzt. Insoweit wird sowohl eine dichtere Bebauung als auch ein maximales Bauen in die Höhe ermöglicht. Eine Ent-schärfung der mit dieser Verdichtung einhergehenden Immis-sionskonflikte soll noch durch die TA Lärm geschaffen wer-den, hier ist für das Urbane Gebiete im Vergleich zu Mischgebieten ein um 3 dB(A) höherer Immissionsrichtwert für den Tag angedacht. Im Ergebnis werden damit im Urbanen Gebiet – in Annäherung zum Gewerbegebiet – tagsüber 63 dB(A) an Lärmimmissionen zulässig sein.

III. Erleichterung des Wohnungsbaus

Im Hinblick auf die angestrebte Erleichterung des Wohnungs-baus sind folgende Änderungen in Kraft getreten:

Im nicht beplanten Innenbereich wird vom Erfordernis des Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung abgesehen, wenn eine Nutzungsänderung einer baulichen Anlagen zu Wohnzwecken erfolgen soll (§ 34 Abs. 3a S. 1 Nr. 1c) BauGB). Während die Regelung nun die Nutzungsänderung sämtlicher baulicher Anlagen erfasst, war vor Inkrafttreten der Städte-baurechtsnovelle diese erleichterte Zulässigkeit nur bei Nut-zungsänderungen von Gewerbe- oder Handwerksbetrieben zu Wohnzwecken vorgesehen.

Des Weiteren wurde zur Erleichterung des Wohnungs-baus der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfah-rens erweitert. Erfasst werden von der Regelung jetzt auch Bebauungspläne, durch die die Zulässigkeit von Wohnnut-zungen auf Flächen begründet werden soll, die sich an im Zusammenhang bebaute Ortsteile anschließen (§ 13b BauGB). Der Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens und der Inanspruchnahme der damit einhergehenden Vor-teile – keine Umweltprüfung, keine Anwendung der Eingriffs-regelung, keine Entwicklung aus dem Flächennutzungsplan – sind aber flächenmäßige und zeitliche Grenzen gesetzt: So darf sich der aufzustellende Bebauungsplan nur auf eine Grundfläche von bis zu 10.000 Quadratmetern erstrecken, die Anwendbarkeit des beschleunigten Verfahrens für diese Pläne ist bis zum 31.12.2019 hin begrenzt.

IV. Flankierende Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie

Als letzter Themenkomplex sind die Regelungen im Bau-gesetzbuch zu nennen, die – flankierend zur Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie u.a. durch Änderungen des BImSchG und des UmwRG – den Gefahren von Störfällen Rechnung tragen sollen. Es sind nun im Bebauungsplan gezielte Fest-setzungen für bauliche und sonstige technische Maßnahmen an Gebäuden möglich, die der Vermeidung oder Minderung der Folgen von Störfällen dienen (§ 9 Abs. 1 Nr. 23 BauGB). Zuzüglich ist eine Steuerungsmöglichkeit für die Ansiedlung von Nutzungen bzw. Gebäuden in der Nähe von Störfallbe-

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trieben geschaffen worden (§ 9 Abs. 2c BauGB); hier sind Festsetzungen z.B. zu Abständen zur Nachbarschaft oder generell zur Zulässigkeit möglich.

V. Praxishinweise

Für die Praxis bleibt daher zusammenfassend festzuhalten:

- Der Katalog der Umweltbelange und die Prüfkriterien der Umweltprüfung sind erweitert und konkretisiert worden,

- die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Bauleitplanung hat mindestens 30 Tage zu erfolgen, entsprechende Fristen sind den Behörden bei der Abgabe ihrer Stellungnahmen zu gewähren,

- die Entwürfe der Bauleitpläne sind - ebenso wie die in Kraft getretenen Bauleitpläne - über das Internet und ein landes-zentrales Internetportal zugänglich zu machen,

- in Bebauungsplänen können sowohl ein neuer Baugebiets-typ samt Vorgaben zu einer höheren Bebauungsdichte als auch Regelungen zum Schutz vor Störfällen festgesetzt werden und

- für die Überplanung von Außenbereichsflächen von weniger als 10.000 Quadratmetern kann befristet bis zum 31.12.2019 das beschleunigte Verfahren verwendet wer-den.

Im Ergebnis werden somit durch die Städtebaurechtsnovelle nicht nur neue Vorgaben für Bauleitplanverfahren aufgestellt, es wurden zugleich auch neue planungsrechtliche Gestal-tungsmöglichkeiten eröffnet.

Nina DrükeRechtsanwältinBRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

Zur Beurkundungsbedürftigkeit von Erschließungsverträgen

Eigentlich schon lange geklärt, aber irgendwie nicht „Tot zu kriegen“. Aus aktuellem Anlass soll nochmals darauf hinge-wiesen werden, dass sich bei Erschließungsverträgen, also Verträgen, bei denen eine Gemeinde oder Stadt Erschlie-ßungsarbeiten zur Baureifmachung von Grundstücken auf einen privaten Erschließungsunternehmer auf dessen Kosten überträgt, sehr häufig die Notwendigkeit besteht, den Erschließungsvertrag bei einem Notar beurkunden zu lassen. In der Praxis erfolgt die Beurkundung jedoch häufig nicht. Dies kann dazu führen, dass der Vertrag insgesamt nichtig ist und auch – im Grunde wirtschaftlich bedeutsamer als die Nichtigkeit des Erschließungsvertrages – auch eingeräumte Bürgschaften unwirksam sind. Denn Bürgschaften sind nach dem Gesetz immer von einem anderen Geschäft (der sog. Hauptverbindlichkeit) abhängig. Dieses Geschäft stellt der Erschließungsvertrag dar.

Nach § 11 Abs. 3 BauGB unterliegt der Erschließungsver-trag zwar nur einem Schriftformerfordernis. Das gilt allerdings nur insoweit, als nicht durch Rechtsvorschrift eine andere

Form vorgeschrieben ist. Eine andere Rechtsvorschrift in die-sem Sinne ist § 311b Abs. 1 BGB. Danach muss ein Vertrag, durch den sich der eine Teil verpflichtet, das Eigentum an einem Grundstück zu übertragen oder zu erwerben, notariell beurkundet werden. Durch den Erschließungsvertrag ver-pflichtet sich üblicherweise der Erschließungsträger, der gleichzeitig Eigentümer der zu erschließenden Grundstücks-flächen und auch der Verkehrsflächen ist, zur Übertragung des Eigentums an eben jenen Verkehrsflächen, in denen sich in der Regel insbesondere auch die Entwässerungsanlagen befinden. Der Erschließungsträger hat regelmäßig kein Inte-resse daran, Eigentümer der Verkehrsflächen zu bleiben, weil den Eigentümer die Unterhaltungskosten und Verkehrssiche-rungspflichten treffen. Selbst wenn der Erschließungsvertrag nicht unmittelbar eine Übereignungspflicht beinhalten, son-dern nur in untrennbarem sachlichen und/oder rechtlichen Zusammenhang mit einem weiteren Grundstücksübertra-gungsvertrag stehen würde, wäre ein derartiger Erschlie-ßungsvertrag nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts-hofs beurkundungspflichtig. Denn dem § 311b Abs. 1 BGB und damit der Beurkundungspflicht unterfallen alle Rechtsge-schäfte, die eine rechtliche Einheit bilden, also miteinander stehen und fallen. Vor diesem Hintergrund ist auch eine künstliche Aufspaltung des Erschließungsvertrages in einem grundstücksbezogenen Teil und einem erschließungsbezo-genen Teil rechtlich fragwürdig.

Selbstverständlich fallen für die Beurkundung des Erschließungsvertrages Notarkosten an. Dies ist unvermeid-lich. Allerdings sollte angesichts des geschilderten Risikos die Nichtbeurkundung des Erschließungsvertrages für den Fall, dass dieser entweder selbst die Übertragungsverpflich-tung im Hinblick auf Grundstücks-/Straßenflächen oder zumindest mit einem derartigen Vertrag in untrennbarem Zusammenhang steht, wohl bedacht sein. Die Insolvenz eines Erschließungsträgers kommt nicht selten vor. In diesem Fall ist die Gemeinde nach der Rechtsprechung des Bundesver-waltungsgerichts in der Regel gehalten, die Erschließungsan-lagen zu Ende auszubauen, um dann ggf. Erschließungsbei-träge zu erheben. Es wäre zumindest ein Politikum, wenn man Bürgerinnen und Bürgern erklären müsste, dass man an diese an sich einfache Vorsorge nicht gedacht hat.

Dr. Jörg Niggemeyer, BRANDI Rechtsanwälte

Rechtssichere Gestaltung von Ablöseverein-barungen in Grundstückskaufverträgen

Nicht wenige Grundstückskaufverträge, welche Gemeinden/Städte mit Grundstücksinteressenten schließen, beinhalten auch die Verpflichtung, die zur Baureifmachung der Kauf-grundstücke anfallende öffentlich-rechtliche Beiträge, insbe-sondere Erschließungsbeiträge und Kanalanschlussbeiträge, durch eine Geldzahlung abzulösen. Typischerweise finden sich diese Vereinbarungen in Verträgen, die im Zuge einer Baulandentwicklung der Gemeinde und der damit einherge-henden Abverkäufe der Grundstücke an Bauwillige geschlos-sen werden. Damit eine derartige Vereinbarung rechtssicher gelingt, sind einige Vorgaben zu beachten, die allerdings in der Praxis häufig nicht eingehalten werden.

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Zunächst einmal ist festzuhalten, dass eine derartige Ablösevereinbarung zusammen mit dem Kaufvertrag beur-kundungspflichtig ist, wenn sie mit dem Verkauf in einem untrennbaren rechtlichen Zusammenhang steht, also mit dem Kaufvertrag „stehen und fallen“ soll. Das wird häufig der Fall sein. Denn die Gemeinde möchte sich in der Regel ein auf-wendiges öffentlich-rechtliches Beitragserhebungsverfahren sparen und schließt nur aus diesem Grund eine Ablöseverein-barung, die als öffentlich-rechtliche Vereinbarung im privat-rechtlichen Grundstückskaufvertrag mit enthalten ist. Dies wird in der Praxis gelegentlich nicht beachtet. Vielmehr wird in solchen die Ablösevereinbarung außerhalb des Kaufver-trags geschlossen. Diese Vorgehensweise kann gegen § 311b BGB verstoßen und damit u. U. auch den Kaufvertrag unwirksamen machen, vgl. § 125, 139 BGB.

Hinzu kommt, dass eine Vereinbarung in einem Grund-stückskaufvertrag, mit der die Ablösung/Abgeltung kommu-naler Beiträge geregelt wird, nach der geltenden Rechtspre-chung nur dann rechtmäßig und damit wirksam ist, wenn

- die Kommune wirksame Ablösebestimmungen getroffen hat,

- die vereinbarte Ablösung mit diesen Ablösebestimmungen in Einklang steht

- und der Ablösebetrag offengelegt ist.

Es geht also insbesondere nicht an, den Ablösebetrag schlicht im Kaufpreis „zu verstecken“. Damit eine wirksame Ablöse-vereinbarung gelingt, muss der Betrag zumindest rechnerisch offengelegt werden.

Nicht selten kommt es auch vor, dass die Kommune Bei-träge ablösen will, aber gar nicht über wirksame Ablösebe-stimmungen verfügt. Dabei handelt es sich um Regeln, die die Gemeinde, in der Regel der Rat, aufstellt und die vorge-ben, wie im Einzelnen abzulösen ist. Denn die Ablöseverein-barung ist von ihrer Rechtsnatur her eine Regelung, welche die hoheitliche Abgabenerhebung ersetzen soll. Deshalb muss – vorab – feststehen, nach welchen Regeln abgelöst wird. Häufig finden sich in den kommunalen Beitragssat-zungen Ablösebestimmungen des Inhalts, dass die Gemeinde nach der Höhe des voraussichtlich entstehenden Beitrags ablösen kann, was nicht zu beanstanden ist.

Schließlich muss die vereinbarte Ablösung (also die Regelung im Kaufvertrag) mit diesen Ablösebestimmungen inhaltlich konform gehen. Unzulässig wäre es etwa, wenn eine Ablösung abweichend von den Ablösebestimmungen erfolgt, also beispielsweise eine niedrigere als die voraus-sichtliche Beitragshöhe als Ablösebetrag vereinbart wird.

Gerne sind wir Ihnen bei einer entsprechenden Formulie-rung derartiger Ablösevereinbarungen behilflich!

Dr. Jörg Niggemeyer, BRANDI Rechtsanwälte

Zum Verzicht auf die Erhebung öffentlich- rechtlicher Beiträge

Wenn eine Gemeinde oder Stadt Bauland entwickeln will, benötigt sie insbesondere die für die Erschließung der Bau-grundstücke notwendigen Erschließungsflächen/Verkehrsflä-chen. Diese Flächen befinden sich mitunter in privater Hand, so dass die Gemeinde/die Stadt diese Flächen käuflich erwerben muss, da sie in der Regel den aufwändigen, aber zulässigen Weg der Enteignung nicht gehen will. Die Eigentü-mer dieser Flächen sind nicht selten nur dann zu einer Veräu-ßerung an die Gemeinde/die Stadt bereit, wenn „gleichsam im Gegenzug“ die Gemeinde erklärt, dass die übrigen Flä-chen der Verkäufer (Baugrundstücke) nicht mit einem Erschließungsbeitrag belastet werden. Derartige Vereinba-rungen sind problematisch. Gleichwohl sind sie in der Praxis nach wie vor gelegentlich anzutreffen, obwohl die Rechtspre-chung die Rahmenbedingungen für derartige Klauseln an sich geklärt hat.

Das OVG NRW hat sich mit Beschluss vom 21.03.2017 (15 A 2153/16) mit einer derartigen „Verzichtsvereinbarung“ befassen müssen. Die Entscheidung ist lesenswert, da in ihr die grundsätzlichen Anforderungen der Rechtsprechung noch einmal umfassend dargestellt werden. Es ist nämlich so, dass wegen der grundsätzlich bestehenden Beitragserhe-bungspflicht der Kommunen das Absehen von der Beitragser-hebung nur unter ganz besonderen, atypischen Umständen gerechtfertigt ist. Dies ergibt sich vor allem aus der Gesetzes-gebundenheit der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG und dem Gebot der Gleichmäßigkeit der Abgabenerhebung nach Art. 3 Abs. 1 GG. Das OVG NRW geht davon aus, dass ein gegenleistungsloser Abgabenverzicht ohne Vorliegen eines gesetzlichen Erlassgrundes unzulässig ist. Etwas anderes gilt nur, wenn allein auf die Beitragserhebung durch Abgaben-bescheid verzichtet wird, der gesetzlich zu fordernde Beitrag aber wirtschaftlich vereinnahmt wird (Beitragsanrechnung). Damit sind die Fälle gemeint, in denen sich die Gemeinde die Erschließungsleistung nicht in Geld, sondern durch eine andere Gegenleistung bezahlen lässt. Auch die Hingabe eines Grundstücks, auf dem die Erschließungsstraße errich-tet werden soll, kann eine derartige Gegenleistung sein. Aller-dings wird hierdurch in der Regel nicht der gesamte Beitrag wirtschaftlich vereinnahmt, so dass nur eine teilweise Anrech-nung gelingen dürfte.

Gemeinden ist also zu raten, sehr vorsichtig mit derarti-gen Vereinbarungen umzugehen. In der Regel dürften sie unzulässig sein. Dies führt dazu, dass eine entsprechende vertragliche Vereinbarung in einem Grundstückskaufvertrag unwirksam und die Gemeinde insbesondere nicht daran gehindert wäre, nachträglich Erschließungsbeiträge erheben zu können, was nicht selten zumindest ein Politikum wäre.

Dr. Jörg NiggemeyerRechtsanwalt und NotarFachanwalt für VerwaltungsrechtBRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

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Die neue Unterschwellenvergabeordnung – eine gelungene Vereinheitlichung der Vorgaben für Beschaffungen unterhalb der Schwellenwerte?

Am 07.02.2017 ist die neue Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) im Bundesanzeiger bekannt gemacht worden. Sie ersetzt die VOL/A (Abschnitt 1) für Beschaffungen, deren Wert geringer ist als der für Liefer- und Dienstleistungen gel-tende Schwellenwert von 209.000,00 €. Im Folgenden soll skizziert werden, was diese Neuregelung bedeutet.

1. Inkrafttreten

Die UVgO ist in Vergabeverfahren erst dann zu beachten, wenn das Bundesministerium und die einzelnen Landesmini-sterien einen „Anwendungsbefehl“ auf haushaltsrechtlicher Grundlage geben. Der Bund hat die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen bereits geschaffen, mit dem Gesetz über die „Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs-systems“. Die Bundesländer werden ihr Haushalts- und Lan-desvergaberecht wohl erst ab 01.01.2018 ändern, um den Weg für die neue UVgO frei zu machen. Und es ist nicht ein-mal sicher, dass alle Bundesländer sie in Kraft setzen. Des-halb besteht das Risiko, dass keine einheitliche Rechtslage für Unterschwellenvergaben entsteht. Für Nordrhein-Westfa-len und Niedersachsen ist jedoch damit zu rechnen, dass sie den „Anwendungsbefehl“ recht bald geben werden.

2. Licht und Schatten – inhaltliche Anmerkungen

Die UVgO zeigt gegenüber den bisherigen Regelungen des unterschwelligen Vergaberechts für Dienst- und Lieferlei-stungen einige deutliche Verbesserungen, aber auch Unstim-migkeiten und verpasste Chancen sind zu kritisieren:

- Anwendbar ist die UVgO. Diese gilt für Dienst- und Liefer-leistungen mit denselben Ausnahmen, die das UWG für Beschaffungen mit Auftragswerten regelt, die die Schwel-lenwerte erreichen und übersteigen. In Vergaben im Rahmen öffentlich-öffentlicher Zusammenarbeit gilt sie bei-spielsweise nicht. Anders als die VOL/A gilt die UVgO aber für freiberufliche Leistungen. Unklar ist nur, ob der darauf bezogene § 50 UVgO neben oder anstelle der übrigen Regelungen gilt. Nach dem Wortlaut ist ersteres, nach der Systematik und Entstehungsgeschichte letzteres richtig. Die Rechtsprechung wird hier Klarheit schaffen müssen. Wichtig auch: Bauaufträge unterfallen der UVgO insgesamt nicht; dafür gilt die VOB/A (Abschnitt 1). Die Chance einer weitergehenden Vereinheitlichung vergaberechtlicher Vor-schriften wurde damit verpasst.

- Öffentliche Auftraggeber haben nun auch bei Vergaben im unterschwelligen Bereich eine freie Wahl, ob sie die Ver-gabeart einer Öffentlichen Ausschreibung oder eine Beschränkten Ausschreibung (mit Teilnahmewettbewerb!) wählen. Die Vergabeart einer freihändigen Vergabe bleibt nachrangig, sie wird nun als „Verhandlungsvergabe“

bezeichnet. Die neue Bezeichnung soll verdeutlichen, dass es sich um ein wettbewerbliches Verfahren handelt. Wie bisher kann – im Gegensatz zum GWB-Vergaberecht – auf einen Teilnahmewettbewerb verzichtet werden, wenn die Verhandlungsvergabe zulässig ist. Die Voraussetzungen dafür wirken zusammen gewürfelt. Man wird genau hinzu-schauen haben. Zuletzt ist zu erwähnen, dass für Vergaben mit einem Auftragswert von bis zu 1.000,00 € (ohne Umsatzsteuer) ein Direktauftrag erteilt werden kann.

- Die eVergabe ist inhaltsgleich aus der VgV übernommen worden. Auftragsbekanntmachungen sind nach der UVgO zum einen auf den Internetseiten des Auftraggebers oder auf Internetportalen zu veröffentlichen, zum anderen müs-sen sie auch zentral über www.bund.de ermittelt werden können. Die Vergabeunterlagen müssen unentgeltlich, uneingeschränkt, vollständig und direkt abrufbar sein (§ 29 Abs. 1 UVgO), ebenso wie für Vergaben im oberschwelligen Bereich. Soweit ist das Ziel erreicht wor-den, ein einheitliches Rechtsregime zu schaffen. Verfehlt wurde dieses Ziel im Hinblick auf die zu beachten-den Übergangsfristen für die eVergabe. Ab dem 01.01.2019 müssen elektronisch eingereichte Teilnahmeanträge und Angebote akzeptiert werden. Ab dem 01.01.2020 muss ausschließlich diese Formvorgabe gelten, sodass Ange-bote in schriftlicher Form nicht mehr zulässig sind. Diese Fristen weichen von den Übergangsfristen sowohl der VgV als auch der VOB/A ab. Das wird zu Rechtsunsicherheit und zu Fehlern führen.

- Die Dauer der Fristen im Vergabeverfahren ist nach der neuen UVgO weiterhin nicht über Mindestfristen geregelt worden (wie in der VgV). Vielmehr gilt unverändert, dass der Auftraggeber „angemessene“ Fristen zu setzen hat. Das ist flexibler und ermöglicht es, den Besonderheiten von Vergabeverfahren für kleinere Aufträge besser zu entspre-chen, schafft aber auch die Gefahr einer Überforderung der Bieter und führt in Beschaffungssituationen mit einem Nachfrageüberhang letztlich zu Nachteilen für die Auftrag-geber – ein bekannter Erfahrungswert.

- Die zulässige Laufzeit von Rahmenvereinbarungen ist von vier auf sechs Jahre ausgeweitet worden. Im Gegen-satz dazu halten die Vorgaben für oberschwellige Dienst- und Lieferleistungen der VgV sowie für Bauaufträge in der VOB/A an der grundsätzlichen Beschränkung für die Lauf-zeit von Rahmenvereinbarungen von vier Jahren fest. Die Abweichung der UVgO ist nicht überzeugend.

- Für Nebenangebote gelten nach der neuen UVgO einige wichtige Abweichungen gegenüber den Vorgaben, die im Anwendungsbereich der VgV zu beachten sind: Erstens ist der Auftraggeber darauf beschränkt, Nebenan-gebote zuzulassen, er kann sie aber nicht ausdrücklich vorschreiben. Zweitens ist der Auftraggeber im unter-schwelligen Vergabebereich nicht verpflichtet, Mindestan-

Vergaberecht

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forderungen zu stellen, er ist dazu lediglich berechtigt. Geschieht das nicht, wird eine diskriminierungsfreie Ange-botsprüfung und Wertung allerdings erheblich erschwert.

- Geplante Unteraufträge kann der Auftraggeber mit dem Angebot benennen lassen. Er ist ferner berechtigt, den Bie-tern vorzuschreiben, dass alle oder bestimmte Aufgaben der Leistungserbringung unmittelbar von ihnen selbst aus-geführt werden müssen. Die VgV dagegen beschränkt sol-che Vorgaben auf bestimmte kritische Aufgaben bzw. Arbeiten. Hier räumt die UVgO den Auftraggebern größere Spielräume ein.

- Die Eignungsprüfung setzt wie im Oberschwellenbereich voraus, dass die Bieter fachkundige und leistungsfähige Unternehmen sind. Der Begriff der „Zuverlässigkeit“ ist auch in der UVgO aufgegeben worden. In der Sache bleibt es aber dabei, dass ein wertungsfähiges Angebot nur von Unternehmen abgegeben werden kann, die nicht aus straf-rechtlichen oder anderen schwerwiegenden Gründen nach §§ 123, 124 GWB auszuschließen sind. Ebenso gilt im Unterschwellenbereich der Vorrang von Eigenerklärungen, um Eignungsanforderungen nachzuweisen. Welche dies sind, ist in der Auftragsbekanntmachung oder in der Auffor-derung zur Angebotsabgabe klarzustellen. Jedoch eröffnet die UVgO dem Auftraggeber einen größeren Spielraum. Er kann beispielsweise eine Einheitliche Europäische Eigen-erklärung (EEE) verlangen – ohne dass er sie akzeptieren muss, wenn sie nicht verlangt wurde.

- Vorgaben zum Zuschlag und zu den Zuschlagskriterien sind wie im Oberschwellenvergaberecht des GWB geregelt. Damit kann auch die Organisation, Qualifikation und Erfah-rung des Personals bei der Zuschlagserteilung berücksich-tigt werden, wenn dies auf die Auftragsausführung erheblichen Einfluss haben kann. Die Anforderungen der jüngsten Rechtsprechung an die Transparenz der Kriterien, ihrer Gewichtung etc. sind gleichermaßen im Anwendungs-bereich der UVgO zu beachten. Bewertungssysteme nach „Schulnoten“ können deshalb zulässig sein.

- Änderungen (auch Verlängerungen) bestehender Auf-träge sind im Unterschwellenbereich nun ebenso zu bewer-ten wie nach Maßgabe des GWB. Die UVgO verweist auf § 132. Allerdings gilt eine Erleichterung: Ohne Durchfüh-rung eines neuen Vergabeverfahrens ist eine Auftragsän-derung von bis zu 20 % des ursprünglichen Auftragswertes (im GWB: nur bis zu 10 % für Liefer- und Dienstleistungen) zulässig, wenn sich der Gesamtcharakter des Auftrags nicht ändert. Es ist ein großer Fortschritt, dass sich die Prü-fung der zahlreichen mit diesem Thema verbundenen Pra-xisfragen nun an einer Regelung „abarbeiten“ kann und eine normative Grundlage existiert. Auch wird die weitere Rechtsprechung zu offenen Fragen für den Unterschwel-lenbereich direkter verwertbar.

3. Erste Bewertung der UVgO

Mit der UVgO gelingt eine weitgehende Angleichung der Ver-fahrensvorschriften, die unterhalb der Schwellenwerte gelten, an den Oberschwellenbereich des GWB. Das trägt zur Rechtssicherheit in der Praxis bei, weil Abweichungen immer

Anwendungsfehler provozieren. Ferner kann die Vergabe-praxis unterhalb der Schwellenwerte nun auf Klarstellungen und Vorgaben zurückgreifen und sich daran orientieren, die in Nachprüfungsverfahren vor den Vergabekammern und -senaten entstanden sind. Der umgekehrte Fall wiegt weniger schwer, dass offene Fragen aus dem seit April 2016 neu gere-gelten GWB-Vergaberecht in den Unterschwellenbereich „importiert“ werden. Leider werden einige Sonderprobleme zu lösen sein, die die neue UVgO – zum Teil ohne Not – geschaf-fen hat.

Wir halten Sie auf dem Laufenden!

Dr. Christoph Jahn RechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtFachanwalt für Vergaberecht BRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

Änderungen öffentlicher Aufträge während der Vertragslaufzeit – was geht, was geht nicht im novellierten GWB-Vergaberecht?

Sind die Verträge über ausschreibungspflichtige öffentliche Aufträge erst einmal „festgezurrt“, stellt man trotz aller Sorg-falt bei der Vorbereitung der Ausschreibung gar nicht selten fest, dass Änderungen an der Leistung erwünscht oder gar erforderlich sind. Die Frage ist nur: sind Änderungen über-haupt vergaberechtlich zulässig, oder braucht man eine neue Ausschreibung?

Die Diskussion darüber, wann Änderungen an öffentli-chen Aufträgen so wesentlich sind, dass sie sich wirtschaft-lich wie der Abschluss eines neuen Vertrages darstellen und deshalb eine Ausschreibungspflicht auslösen, ist fast so alt wie das seit 1999 geltende GWB-Vergaberecht selbst. Die Rechtsprechung hatte zunächst mangels einer ausdrück-lichen Regelung im GWB-Vergaberecht eine Abgrenzungsli-nie gefunden, wonach Auftragsänderungen während der Ver-tragslaufzeit wie eine ausschreibungsbedürftige Neuvergabe zu werten sind, wenn die geänderten Vertragsbestimmungen „wesentliche andere Merkmale aufweisen als der ursprüng-liche Auftrag“ und wenn sie in Folge dessen „den Willen der Parteien zur Neuverhandlung des Vertrages erkennen lassen“ (EuGH, Urteil vom 19.06.2008 – Rs. C-454/06 – „Pressetext“; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.02.2001 – Verg 13/00; OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 30.08.2011 – 11 Verg 3/11). Die praktische Bedeutung dieser Fragestellung ist gerade bei längerfristigen Leistungsverhältnissen enorm, die Abgrenzung zwischen dem, was in diesem Sinne wesentlich ist und dem, was nicht als wesentliche Vertragsänderung zu gelten hat, ist nach wie vor in Einzelfällen schwierig. Der euro-päische Vorschriftengeber sah insofern erhebliche Rechtsun-sicherheiten bei der Anwendung der für die Abgrenzung „wesentlich/unwesentlich“ geltenden Grundsätze und hat in der europäischen Vergaberichtlinie 2014/24/EU einen Rechtsrahmen für die Beurteilung von Auftragsänderungen geschaffen. Das ist mit Wirkung ab April 2016 im novellierten GWB-Vergaberecht (§ 132 GWB n.F.) umgesetzt worden.

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Dr. Jörg König

Dr. Christoph Rempe

Dr. Hans-Jürgen Buchmüller

Dr. Kevin Kruse

Dr. Annette Mussinghoff-Siemens

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Grundsatz der Ausschreibungspflicht wesentlicher Auftragsänderungen

§ 132 Abs. 1 GWB n. F. stellt wesentliche Änderungen eines Auftrags während der Vertragslaufzeit unter ein Neuaus-schreibungserfordernis. Wesentlich sind danach Ände- rungen, die dazu führen, dass sich der öffentliche Auftrag erheblich von dem ursprünglich vergebenen öffentlichen Auf-trag unterscheidet. § 132 Abs. 2 und 3 GWB n. F. definieren „unbeschadet“ von Abs. 1, unter welchen Bedingungen keine Ausschreibung erforderlich ist.

Aber: sechs Ausnahmetatbestände!

1. Überprüfungsklauseln oder Optionen im Ursprungsvertrag

Der erste Ausnahmetatbestand von der Ausschreibungs-pflicht (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 GWB) liegt vor, wenn in den ursprünglichen Vertragsunterlagen „klare, genaue und eindeutig formulierte Überprüfungsklauseln oder Optionen vorgesehen sind“, die Angaben zu Art, Umfang und Voraus-setzungen von möglichen Auftragsänderungen enthalten, und wenn danach von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird. Eine Option ist ein einseitiges Gestaltungs-recht des Auftraggebers. Nimmt dieser die Option in Anspruch, so muss der Auftragnehmer unmittelbar die Leistungsausfüh-rung zu den im ursprünglichen Vertrag festgelegten Konditi-onen beginnen. Der Begriff der Überprüfungsklauseln ist etwas weiter als der Begriff der Option. Er ist aber gesetzlich nicht definiert. Gemeint sein dürften damit alle Klauseln, die eine spätere Änderung des Leistungsgegenstands, der Ver-gütung oder der vertraglichen Bedingungen zulassen. Ferner darf sich der Gesamtcharakter des Auftrags dadurch nicht ändern. Das Gesetz verlangt bei diesen Gestaltungen eine hohe Transparenz. Die Rechtsprechung fasst das so auf, dass „bereits aus der ursprünglichen Ausschreibung (bzw. dem ursprünglichen Text) klar hervorgehen muss, unter welchen Umständen der Vertrag wann und wie geändert wer-den kann“ (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.07.2011 – Verg 20/11). Ein solcher Fall kann beispielsweise vorliegen, wenn ein öffentlicher Entsorgungsauftrag für einen Zeitraum von fünf Jahren ausgeschrieben wird und dem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger (Auftraggeber) das Recht ein-geräumt wird, rechtzeitig vor Ablauf dieser Vertragsdauer einseitig zu bestimmen, dass der Vertrag für einen weiteren Zeitraum gelten soll.

2. Erforderlichkeit zusätzlicher Leistungen

Ein weiterer Ausnahmetatbestand von der Ausschreibungs-pflicht liegt vor, wenn zusätzliche Liefer-, Bau- oder Dienst-leistungen erforderlich geworden sind, die nicht in den ursprünglichen Vergabeunterlagen vorgesehen waren, und wenn außerdem ein Auftragnehmerwechsel aus wirtschaftli-chen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann oder mit erheblichen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzko-sten verbunden wäre (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 GWB). Diese Fall-gruppe ist insbesondere in zwei Fällen von praktischer Bedeutung: Ein Anwendungsfall liegt in der Unmöglichkeit des Wechsels des Auftragnehmers. Ein technischer Grund,

der einen solchen Wechsel unmöglich macht, wäre z. B. die Unvereinbarkeit eines neuen, andersartigen Produkts mit den bisher vom Auftraggeber erworbenen und bei ihm genutzten Produkten (z. B. Softwareprodukte, mit denen neuartige Pro-dukte nicht kompatibel wären). Ein weiterer Anwendungsfall liegt nicht in der absoluten, sondern in der relativen Unmög-lichkeit der Ausführung. Davon sind unverhältnismäßige wirt-schaftliche Auswirkungen umfasst, die z. B. dann vorliegen können, wenn das Personal des Auftraggebers mit großem Aufwand auf ein neuartiges Produkt geschult werden müsste, sodass deshalb an dem bisherigen Produkt festgehalten wird. Dieser Ausnahmetatbestand von der Ausschreibungspflicht ist in seinem Wert allerdings eingeschränkt. Nach § 132 Abs. 2 S. 2 GWB darf nämlich der Preis um nicht mehr als 50 % des Wertes des ursprünglichen Auftrags erhöht werden. Erfolgt eine „stufenweise Änderung“, so gilt diese Beschrän-kung für den Wert jeder einzelnen Änderung, sofern die Änderungen nicht mit dem Ziel vorgenommen werden, die Vorschriften des GWB-Vergaberechts zu umgehen (was in der Praxis eine schwierige Nachweisfrage ist).

3. Unvorhersehbare Änderungen

Der dritte Ausnahmetatbestand von der Ausschreibungs-pflicht betrifft unvorhersehbare Änderungen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB). Er greift bei erforderlichen Änderungen ein, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte. Der Gesamtcharakter des Auf-trags darf sich durch die Änderungen nicht verändern. Bei-spielsweise darf aus einem Dienstleistungsauftrag durch die Änderung kein Bauauftrag werden, aus einem befristeten Auftrag darf kein unbefristeter werden, aus einem Dienstlei-stungs- oder Bauauftrag darf keine Konzession werden.

4. Wechsel des Auftragnehmers

Ein weiterer Ausnahmetatbestand betrifft den Wechsel des Auftragnehmers, der in bestimmten Fällen „vergaberechtsfrei“ bleiben kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 4 GWB). Diese Ausnahme greift ein in Fällen der Unternehmensumstrukturierung (z. B. durch Übernahme, Zusammenschluss, Erwerb oder Insol-venz des ursprünglichen Auftraggebers), wenn ein anderes Unternehmen, welches die ursprünglich festgelegten Anfor-derungen an die Eignung erfüllt, ganz oder teilweise an die Stelle des ursprünglichen Auftragnehmers tritt und dies keine weiteren wesentlichen Änderungen zur Folge hat (z. B. beim Leistungsumfang oder beim Leistungspreis). Dieser Ausnah-metatbestand macht mit seinen Einschränkungen auch deut-lich, dass nicht jeder Auftragnehmerwechsel „vergaberechtsfrei“ ist. Es ist also weiterhin nicht möglich, außerhalb der Umstrukturierung beim Auftragnehmer den Vertragspartner des öffentlichen Auftraggebers einfach aus-zuwechseln. Die „freie“ Übernahme eines öffentlichen Auf-trags durch ein anderes Unternehmen als Auftragnehmer ist deshalb auch weiterhin als wesentliche Änderung zu qualifi-zieren, weil die besonderen Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 4 GWB n. F. nicht erfüllt sind.

5. „Bagatell-Regel“

Ein sehr praxisbedeutender Ausnahmetatbestand von der Ausschreibungspflicht von Auftragsänderungen während der

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Dr. Carsten Hoppmann

Andreas Wiemann

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Juli 2017 Seite 19

Vertragslaufzeit ist die sogenannte „Bagatell-Regel“ des § 132 Abs. 3 GWB. Danach ist die Änderung eines öffentlichen Auftrags ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens zulässig, wenn sich der Gesamtcharakter des Auftrags nicht ändert, der Wert der Änderung die jeweiligen Schwellenwerte nach § 106 GWB nicht übersteigt (das sind die Schwellen-werte, die zur Ausschreibungspflicht von Auftragsvergaben nach dem GWB führen) und wenn der Wert der Änderung bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen nicht mehr als 10 % und bei Bauaufträgen nicht mehr als 15 % des ursprünglichen Auftragswertes beträgt. Bei mehreren aufeinander folgenden Änderungen ist der Gesamtwert der Änderungen maßgeblich (Achtung: In den Ausnahmefällen des § 132 Abs. 2 Nr. 3, 4 GWB ist dies anders geregelt!). Diese jetzt ausdrücklich im Gesetz normierte Regelung ist in der Rechtsprechung aller-dings nicht neu. Sie wurde bereits vor der GWB-Novelle 2016 in der Rechtsprechung angewandt. Die Gerichte orientierten sich bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Auftragsän-derung während der Vertragslaufzeit daran, ob die Ände-rungen die Schwellenwerte überschritten waren und wie hoch ihr Anteil an dem ursprünglichen Gesamtauftrag war (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 29.10.2009 – 13 Verg 8/09; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.02.2014 – Verg 32/13).

6. Änderung ist für sich betrachtet unwesentlich

Schließlich ist eine Auftragsänderung während der Vertrags-laufzeit nach § 132 Abs. 1 GWB von der Ausschreibungs-pflicht frei, wenn sie für sich gesehen nicht wesentlich ist. Damit bleiben die Auftragsänderungen ohne Ausschreibung möglich, die die vom EuGH in seiner „Pressetext-Entschei-dung“ aus 2008 aufgeführten Kriterien der Wesentlichkeit nicht erfüllen. Diese Kriterien sind jetzt in § 132 Abs. 1 GWB gesetzlich normiert. Danach liegt eine wesentliche Änderung insbesondere dann vor, wenn mit der Änderung neue Bedin-gungen eingeführt werden, die die Zulassung anderer Bewer-ber oder Bieter ermöglicht hätten, die Annahme eines anderen Angebots ermöglicht oder das Interesse weiterer Teilnehmer am Vergabeverfahren geweckt hätten. Wesentlich ist eine Änderung danach auch dann, wenn das wirtschaftliche Gleichgewicht des öffentlichen Auftrags zugunsten des Auf-tragnehmers in einer Weise verschoben wird, die in dem ursprünglichen Auftrag nicht vorgesehen war. Gleiches gilt, wenn mit der Änderung der Umfang des öffentlichen Auftrags erheblich ausgeweitet wird oder wenn ein neuer Auftragneh-mer den anderen Auftragnehmer ersetzt, es sei denn, es han-dele sich um eine nach § 132 Abs. 2 S: 1 Nr. 4 GWB zulässige Ersetzung des ursprünglichen Auftragnehmers.

Abschließend sei erwähnt, dass die vergaberechtliche Beurteilung von Auftragsänderungen auch unterhalb der GWB-Schwellenwerte anhand der o. g. Wesentlichkeitskrite-rien aus der „Pressetext-Entscheidung“ des EuGH vorge-nommen werden kann.

Praxishinweis

Sowohl für öffentliche Auftraggeber (z. B. öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger) als auch für Auftragnehmer eines öffentli-chen Auftrags empfiehlt sich zur Vermeidung unnötiger Nach-prüfungsverfahren eine sorgfältige Prüfung, ob Auftrags- änderungen während der Vertragslaufzeit vergaberechtlich

zulässig sind oder nicht. Um zu belastbaren Ergebnissen zu kommen, empfiehlt es sich, dabei eine bestimmte Prüfungs-reihenfolge einzuhalten:

- Zunächst ist die „Bagatell-Regel“ des § 132 Abs. 3 GWB zu prüfen. Sind die Voraus-setzungen erfüllt, ist eine Auftrags-änderung ohne erneute Ausschreibung zulässig.

- Führt die Bagatellregel zu keinem positiven Ergebnis, ist sodann zu prüfen, ob einer der Ausnahmetatbestände des § 132 Abs. 2 GWB vorliegt. Danach wäre eine Auftragsän-derung ohne erneute Ausschreibung zulässig, selbst wenn sie wesentlich ist. Dies gilt aber nur in den in § 132 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 GWB ausdrücklich geregelten Ausnahmetatbe-ständen.

- Kann auch am Maßstab des § 132 Abs. 2 GWB nicht bestimmt werden, dass eine Auftragsänderung ohne erneute Ausschreibung zulässig ist, ist eine Prüfung am Maßstab des § 132 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 bis 4 GWB vorzuneh-men, also an den Kriterien, die ursprünglich der „Presse-text-Entscheidung“ des EuGH aus 2008 entstammen und die ebenfalls die Grenze zwischen Unwesentlichkeit und Wesentlichkeit einer Auftragsänderung während der Ver-tragslaufzeit normieren. Wenn keines der dort genannten Wesentlichkeitskriterien erfüllt ist, spricht vieles für die Unwesentlichkeit der Vertragsänderung.

- Kommt man auch an diesem Maßstab nicht zu einer abschließenden Bewertung, ist die sogenannte „offene Wesentlichkeitsprüfung“ einer Auftragsänderung am Maß-stab des § 132 Abs. 1 S. 2 GWB vorzunehmen.

Die Konkretisierung des Wesentlichkeitsmerkmals bei Ver-tragsänderungen innerhalb des novellierten GWB-Vergabe-rechts ist aus Sicht des Praktikers eine sinnvolle Regelung. Sie führt zu größerer Rechtssicherheit, obwohl sie nicht alle Zweifelsfälle berücksichtigen bzw. regeln kann. Sie gibt öffentlichen Auftraggebern künftig auch einen etwas größe-ren Handlungsspielraum als nach der alten, durch die Recht-sprechung geprägten Rechtlage. Dennoch bildet sie keinen „Freifahrtschein“ für beliebige Auftragsänderungen.

Prof. Dr. Martin DippelRechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtBRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

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Endlich: BGH schärft Rechtsschutz gegen ungewöhnlich niedrige Wettbewerbsangebote

Das Unerwartete passiert in der Praxis immer wieder: Obwohl ein Bieter sein Angebot äußerst niedrig kalkuliert und auf einen unternehmerischen Gewinn nahezu verzichtet hat, obwohl die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Teil-nahme an einer Ausschreibung optimal waren, soll der Zuschlag auf das Angebot eines Wettbewerbers erteilt wer-den, der einen noch niedrigeren Preis angeboten hat. So teilt es jedenfalls der öffentliche Auftraggeber in seiner Mitteilung über die beabsichtigte Zuschlagserteilung mit. Das kann man in einem wettbewerblichen Verfahren sportlich nehmen. Aber wenn der unterlegene Bieter gleichzeitig vermutet oder gar aus sicherer (?) Quelle weiß, dass das Wettbewerbsangebot zu dem eigenen, bereits ehrgeizig kalkulierten Angebot noch einen erheblichen Preisabstand hat, schwindet die Akzeptanz für dieses Ergebnis des Vergabeverfahrens.

1. Das Problem

Bis zum 31.01.2017 musste die vergaberechtliche Beratung dem unterlegenen Bieter vermitteln, dass man die beabsich-tigte Zuschlagserteilung kaum erfolgreich angreifen könnte. Denn die Rechtsprechung zur Prüfung und zum Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote war sehr zurückhaltend. Schon die sogenannte „Aufgreifschwelle“, die den Preisab-stand des niedrigsten Angebots zum nächsthöheren Wettbe-werbsangebot beschreibt, wurde mit wenigstens 15 %, nach überwiegender Meinung sogar mit 20 % angesetzt. Das größte Hindernis für einen erfolgreichen Angriff auf die Zuschlagserteilung lag jedoch darin, dass die entsprechenden Vorschriften der VOL/A, der VOB/A und auch der seit April 2016 geltenden Regelung der neuen VgV nicht als bieter-schützend angesehen wurden. Ein unterlegener Bieter konnte sich damit auf eine Verletzung der Prüfpflicht durch öffent-liche Auftraggeber ebenso wenig berufen wie verlangen, dass der Zuschlag entgegen der mitgeteilten Absicht nicht auf das ungewöhnlich niedrige Angebot erteilt werde.

Nur zwei Ausnahmen kamen in Betracht:

- Der Bieter des ungewöhnlich niedrigen Angebotspreises zielte auf eine Marktverdrängung ab – was kaum je nach-weisbar war, weil es sich um eine subjektive, innere Tat-sache handelte, die immer bestritten wurde.

- Oder der Bieter würde aufgrund seiner unauskömmlichen Kalkulation in der Ausführung des Auftrags voraussichtlich in so große wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, dass die Leistungsbeschaffung aus Sicht des öffentlichen Auf-traggebers unsicher scheinen musste – was dieser aus eigenem wirtschaftlichen Interesse an einer zunächst mög-lichst niedrigen Kostenbelastung durch den Auftrag fast nie befürchtete.

2. Der BGH öffnet die Tür

Am 31.01.2017 hat der BGH diese restriktive Rechtsprech-ung der Vergabesenate beendet (Beschluss vom 31.01.2017 – X ZB 10/16 – „Rettungsdienst“). Was die „Aufgreifschwelle“

angeht, gab es zwar keinen Anlass, die bisher angenom-menen Werte von 15 %, eher 20 % zu korrigieren, weil der Preisabstand in dem zugrunde liegenden Verfahren sogar 30 % betrug. Dennoch stellt der BGH klar, dass auch „eine Schwelle von 20 % als unverrückbare Untergrenze“ fraglich sei; im Einzelfall könnten auch geringere Preisabstände einen Aufklärungsbedarf indizieren. Und ein Preis sei nicht nur dann unangemessen, wenn der Abstand zum nächsthöheren Wettbewerbsangebot desselben Verfahrens darauf hindeute, sondern auch „bei augenfälliger Abweichung von in vergleich-baren Vergabeverfahren oder sonst erfahrungsgemäß verlangten Preisen“. Das erweitert die Argumentations- möglichkeiten unterlegener Bieter.

Die besondere Bedeutung der Entscheidung des BGH liegt sodann darin, dass den unterlegenen Bietern in einem Vergabeverfahren ein eigenes Recht zuerkannt wird zu ver-langen, dass der Auftraggeber die Gründe für ein ungewöhn-lich niedriges Angebot aufklärt. Denn der Zuschlag auf ein ungewöhnlich niedriges Angebot sei ein Verstoß gegen den Wettbewerbsgrundsatz, wenn der Bieter die Gründe dafür nicht aufklären kann oder nicht aufklären will. Aus dieser Rückkopplung auf den Wettbewerbsgrundsatz wird der bisher in der Rechtsprechung nicht anerkannte Drittbieterschutz zu Recht abgeleitet.

Damit aber nicht genug: Der BGH hält den öffentlichen Auftraggeber zudem für verpflichtet, ein ungewöhnlich nied-riges Angebot von der weiteren Wertung auszuschließen, wenn nicht aufgeklärt werden kann, aus welchen Gründen der angebotene Preis so niedrig ist. Sein Entscheidungsermes-sen sei rechtlich gebunden. Der BGH begründet dies mit dem Schutz der öffentlichen Interessen, die nicht erst bei gravie-renden Gefährdungen durch wirtschaftliche Schwierigkeiten des Auftragnehmers einsetzen. Vielmehr seien öffentliche Interessen schon dadurch gefährdet, dass ein Auftragnehmer, der ein zu niedrig kalkuliertes Angebot nach Zuschlagsertei-lung erfüllen muss, versuchen könnte, den Auftrag „so unauf-wändig wie möglich“ und nicht vertragsgerecht abzuwickeln, durch Nachträge eine entstehende Kostenunterdeckung zu kompensieren oder seine Ressourcen auf besser bezahlte Aufträge zu verlagern. Diese Auslegung des Entscheidungs-ermessens durch den BGH ist erstaunlich praxisnah ausge-fallen.

Die Entscheidung behandelt des Weiteren ein verfahrens-rechtliches Problem des Bieters, der sich gegen ein unge-wöhnlich niedriges Angebot im Nachprüfungsverfahren wehrt: Konkrete Informationen über den Inhalt des Wettbe-werbsangebots, das den Zuschlag erhalten soll und das nach seiner Meinung ausgeschlossen werden muss, werden ihm regelmäßig nicht bekannt sein. Sein Antrag droht deshalb zu scheitern, weil er entweder nicht ausreichend oder nur „ins Blaue“ begründet werden kann. Ein Antrag auf Akteneinsicht hat meist keinen Erfolg, weil der Wettbewerber ihm Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse entgegenhält. Das wirft die Frage auf, ob die Nachprüfungsinstanz eine Entscheidung zu Gunsten des Ausschlusses eines ungewöhnlich niedrigen Angebots begründen kann, wenn sie sich auf Tatsachen (Angebotsinhalte) stützen muss, die aber im Nachprüfungs-verfahren nicht offengelegt werden.

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Der BGH hält dies in seinem Beschluss vom 31.01.2017 für zulässig: Die Vergabekammer müsse in einem Zwischen-verfahren klären, ob Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse einer beantragten Akteneinsicht in die Inhalte des unge-wöhnlich niedrig kalkulierten Angebots entgegenstehen. Dabei sei abzuwägen, ob die Nachteile, die eine Offenlegung für diesen Bieter in zukünftigen Wettbewerben hat, stärker ins Gewicht fallen als das Interesse des antragstellenden Bieters, seinen Vorwurf begründen zu können. Dabei ist die Entscheidung der Vergabekammer über die Akteneinsicht rechtsmittelfähig, obwohl sie in einem Zwischenverfahren ergeht und Verfahrensentscheidungen grundsätzlich nicht selbstständig angreifbar sind.

Jedoch darf die Vergabekammer nach der Entscheidung des BGH auch diejenigen Umstände berücksichtigen, die in dem Zwischenverfahren aufgrund von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen nicht offengelegt wurden. Andern-falls treffe den antragstellenden Bieter stets die Beweislast, ohne eine Möglichkeit, sie zu erfüllen.

3. Ausblick

Auseinandersetzungen über die Zuschlagsfähigkeit unge-wöhnlich niedriger Angebote werden nun zunehmen. Der BGH hat die „Spielregeln“ für solche Streitigkeiten verändert, zu Gunsten der Bieter, die sich gegen solche Angebote weh-ren – eine richtige Entscheidung, die seit Jahren überfällig war.

Dr. Christoph Jahn RechtsanwaltFachanwalt für VerwaltungsrechtFachanwalt für Vergaberecht BRANDI Rechtsanwälte, PaderbornT +49 5251 7735-0E [email protected]

Neues zur Vergabe von Stellplätzen – Ein Zwischenbericht

I. Überblick

Die Vergabe von Stellplätzen durch die öffentliche Hand berührt für viele Unternehmen den Kernbestand ihrer wirt-schaftlichen Tätigkeit. Ohne Stellplätze im öffentlichen Raum können beispielsweise Schausteller auf Jahrmärkten aber auch viele Unternehmen aus der Abfallbranche ihre Tätigkeit kaum sinnvoll ausüben. Gerade die lukrativen Stellplätze befinden sich zumeist im öffentlichen Raum und unterstehen damit dem Bestimmungsrecht der öffentlichen Hand. Dabei muss man feststellen, dass die öffentliche Hand sich in der Vergangenheit oftmals über Maßgaben der Transparenz und Fairness hinweggesetzt und einseitig nach eigenen politi-schen oder wirtschaftlichen Interessen Stellplätze vergeben hat. Bestehen Kooperationen von Kommunen mit bestimmten Wirtschaftsunternehmen, so werden Stellplätze oftmals ein-seitig ohne jeden Wettbewerb zu Gunsten dieser Unterneh-men vergeben. Zunehmend fallen die Gerichte den

zuständigen Körperschaften hierbei allerdings in die Arme. Auf dem Weg zu einem fairen, transparenten und diskriminie-rungsfreien Verfahren zur Vergabe von öffentlichen Stellplät-zen sind mittlerweile Etappenziele erreicht. Wichtige Entscheidungen stehen bevor. Es ist Zeit, eine Bestandsauf-nahme zu machen.

II. Bestandsaufnahme, was entschieden ist

Es ist zu unterscheiden: Erst bei einem objektiv zu erwar-tenden Gesamtumsatz (netto) von etwa 5,2 Mio. Euro beginnt die Verpflichtung des Konzessionsgebers, Konzessionen europaweit förmlich auszuschreiben. Dieser Schwellenwert wird regelmäßig bei der Vergabe von Stellplätzen nicht erreicht. Anders mag dies im Bereich besonders werthaltiger Abfälle sein oder im Bereich der Vergabe von Konzessionen zur Aufstellung von Getränkeverkaufsstellen auf Weihnachts-märkten oder großen Jahrmärkten usw. Der weit über- wiegende Teil der Vergabeverfahren wird sich im Unter-schwellenbereich bewegen und unterliegt daher allgemeinen Maßgaben von Transparenz und Fairness. Insofern spielt es auch keine entscheidende Rolle, ob es sich bei der Vergabe von Stellplätzen – dem Begriff nach –um die Vergabe von Konzessionen handelt oder nicht. Diese Frage ist noch unge-klärt.

Durch die jüngste Rechtsprechung des Oberverwaltungs-gerichts NRW – insbesondere durch Urteil vom 07.04.2017 – sind wesentliche Fragen der Stellplatzvergabe obergericht-lich geklärt. Hierzu gehört beispielsweise die klare Vorgabe, dass auch bei einer langjährigen Zusammenarbeit einer Kommune mit einem Wirtschaftsunternehmen und einer im Wege der Ausschreibung durchgeführten Drittbeauftragung dieses Unternehmens, das Unternehmen förmlich Stellplätze beantragen muss. Das gilt zumindest dann, wenn die Stell-plätze nicht bereits selbst Gegenstand einer Ausschreibung gewesen sind.

So muss auch ein abfallrechtlich beauftragtes Unterneh-men im Rahmen eines formgebundenen Antrags im Einzel-nen auflisten, an welchen Stellen und in welchem Umfang öffentlicher Verkehrsraum in Anspruch genommen werden soll. Der daraufhin folgende Bescheid hat in gleicher Hinsicht inhaltlich bestimmt zu sein und diese Stellplätze einzeln auf-zuführen. Auf diese Weise muss auch für Dritte erkennbar sein, worauf genau sich die Genehmigung bezieht.

Ebenso klar ist mittlerweile, dass bei der Vergabe von Stellplätzen die Frage der Drittbeauftragung keine Bevorzu-gung rechtfertigt. Ebenso wie die Frage nach der Gemeinnüt-zigkeit eines Unternehmens oder einer Einrichtung ist es straßenrechtlich gleichgültig, ob ein Unternehmen in abfall-rechtlicher Hinsicht Drittbeauftragter ist oder nicht. Dies darf bei der Vergabeentscheidung bezogen auf die Stellplätze keine Rolle spielen.

Wenn sich also die öffentliche Hand dazu entschließt, öffentlichen Raum Privaten zur Verfügung zu stellen, beispielsweise um dort Container für bestimmte Abfallfrakti-onen aufzustellen, so muss die Kommune im vorhinein deut-lich machen, nach welchen straßenbezogenen Kriterien eine Ausfallentscheidung stattfinden soll. Nur wenn straßenrecht-

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lich keine Kriterien vorliegen oder kein Unterschied zwischen Bewerbern besteht, kann eine Vergabe nach dem Prioritäts-grundsatz stattfinden.

III. Was zur Entscheidung ansteht – ein Ausblick

Die soeben herausgearbeiteten Maßgaben sind Ergebnis mehrjähriger Verfahren, welche durch unsere Kanzlei im Ergebnis erfolgreich obergerichtlich geführt wurden. Andere Verfahren sind vor dem Oberverwaltungsgericht NRW noch anhängig und stehen zur Entscheidung an. Mit einiger Über-zeugung gehen wir davon aus, dass diese im Sinne von Transparenz und Fairness entschieden werden. Im Einzelnen:

In einem Verfahren ist vor dem Oberverwaltungsgericht NRW die Frage zu entscheiden, ob sogenannte Exklusivver-träge zwischen Unternehmen und Kommunen zulässig sind. In einem Urteil aus den 1990er Jahren hat das Oberverwal-tungsgericht NRW entschieden, dass Exklusivvereinba-rungen einer Kommune mit einem Wirtschaftsunternehmen über die Aufstellung von Werbetafeln zulässig sind. Durch diese Vereinbarungen binden sich Kommunen dauerhaft an dieses Unternehmen und reduzieren das eigene Auswahler-messen bei der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen „auf Null“. Anträge Dritter mussten dementsprechend zwin-gend abgelehnt werden. Nachdem andere Obergerichte in Deutschland diese Frage in jüngerer Vergangenheit anders beantwortet haben, ist beim Oberverwaltungsgericht NRW die Tendenz erkennbar, dass auch das Oberverwaltungsge-richt NRW von der alten Rechtsprechung abrücken wird. Wir sind sehr zuversichtlich, dass sich im Rahmen der anhän-gigen Verfahren das Oberverwaltungsgericht NRW den anderen Obergerichten anschließen und derartige Exklusiv-vereinbarungen für unzulässig halten wird. Dies bedeutet, dass eine vertragliche Bindung einer Kommune mit einem Wirtschaftsunternehmen nicht dazu führen kann, dass stra-ßenbezogene Anträge Dritter zwingend abgelehnt werden könnten.

Noch ungeklärt ist auch die Frage, inwiefern die Erwä-gung, eine Abfallsammlung „aus einer Hand“ durchfuhren zu wollen, straßenrechtlich tragfähig ist. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hatte dies bejaht, das Oberverwaltungsgericht NRW hatte sich skeptisch geäußert, diese Frage aber nicht abschließend entschieden. Auch in den jüngsten Entschei-dungen konnte die Frage offen bleiben. Insofern bleibt abzu-warten, wie sich das Oberverwaltungsgericht im Einzelnen positionieren wird. Es ist zu erwarten, dass das Oberverwal-tungsgericht die Erwägung, eine Sammlung „aus einer Hand“ solle durchgeführt werden, jedenfalls nicht unkritisch und ohne Einschränkung akzeptieren wird. Nur in den Fällen, in denen tatsächlich, etwa aufgrund der Größe der Kommune, nur ein einziger Sammler effektiv die Sammlung durchführen kann, mag diese Erwägung durchgreifen.

IV. Fazit

Es zeigt sich: Wichtige Fragen sind noch offen, andere sind bereits geklärt. Für die Kommunen bedeutet die aktuelle Rechtsprechungstendenz, dass sie die Praxis der Vergabe von Stellplätzen umstellen müssen. Für die Unternehmen bedeutet sie, dass Mut gefordert ist, Anträge in den Kommu-nen zu stellen. Es hat sich gezeigt: Der Weg zu öffentlichen Stellplätzen lässt sich erstreiten!

Dr. Christoph WormsRechtsanwaltBRANDI Rechtsanwälte, Paderborn T +49 5251 7735-0E [email protected]

Dr. Sebastian Meyer, LL.M.

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Dr. Jörg NiggemeyerDr. Christoph Worms

Dr. Andreas Pieper

Dr. Christoph Jahn

Nina Drüke

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Prof. Dr. Martin Dippel

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