Juni in Zuerich

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  • 7/26/2019 Juni in Zuerich

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    Jrgen Strohmaier

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    Es beruht keineswegs auf einem Zufall, da diese Aufzeichnung am Zrichsee ihren An-fang nimmt. Der Juni hat in dieser Stadt Einzug erhalten und der See hlt dem Himmel

    den Spiegel vor. Was sich als Naturschauspiel gebrdet, ist metaphorisch betrachtet Zeiter-leben unter der Lupe des am Seeufer sitzenden Betrachters. Vielleicht auch eine meditativeForm geladener Geistesgegenwrtigkeit. Auf dem See kruseln sich die Wellen und dieWolken spiegeln sich im See, luftige Spiegelungen, die kaum voneinander zu unterschei-den sind. Die Wolken tauchen als bekannte aber doch stndig neu modellierte Gebildewieder auf. Im Juni scheinen die Wolken auch hier ihre Hauptrolle zu spielen, nicht derwolkenlose Himmel zhlt, wie ihn sich viele im Sommer wnschen, sondern die Bewe-gung. So kommt es, da sich berwiegend weie Wolken, manche sind mit einem leichtenGrauschleier versehen, ber dem See sammeln und im Zusammenspiel mit der Sonne einwahres Schattentheater auf der Seeoberche veranstalten. Es ist, als zge die Gttin Juno

    auf diesen wattierten Gebilden ber den See hinweg.

    Und heute ist dies ein besonderes Schauspiel nicht nur, weil es am Zrichsee stattndet,sondern weil gestern den ganzen Tag ein Giekannenregen ber Zrich niederging, derdie Stadt im Vollwaschprogramm zu reinigen schien. Unwillkrlich elen mir Szenen ausFrischs Stiller oder Drrenmatts melancholiehaltigen Kriminalstcken ein. Die Cafswaren stark frequentiert und auch die aufgeschlagenen Zeitungen schienen den Regen-rausch drauen nicht sonderlich zu beeindrucken. Ja denken sie nur, es regnete - und eswar wie Jazz; die Tropfen-Tremolos der Regen-Combo prasselten - mal strker, mal schw-cher - rhythmisch gegen die Fensterscheiben. Ein in der Ferne tnendes Martinshorn hrtesich an wie ein Trompetensolo, ein bremsendes Auto wie der schrille Klang des Altsaxo-

    phons.

    Nun sieht man vom Seeufer aus die schneebedeckte Alpenreihe am Horizont aufragen,die Wolken knapp darber. Der Regenvorhang des gestrigen Tages ist gefallen und dieBhne ist fr die Berge frei geworden, eine meteorologische Programmnderung. Auf denWellen schaukeln Schwne, vereinzelte Reiher picken Fische aus der Uferstrmung. Hintermir rasselt eine der obskuren Tinguely-Maschinen, die noch aus der Phnomena brigsind und vor mir wird Boul gespielt. Zricher Frauen und Mnner suchen Gesellschaft inGesellschaft.

    Den Tag begannen wir mit einem Spaziergang unter Wolken durch die City: Bahnhofs-viertel mit Stippvisite im Bestseller, eine Buchhandlung, die verbilligte Bcher anbietet;Milchkaffee an der Rathausbrcke mit Blick auf die Fachwerkhauspromenade des Lim-mat. Anschlieend die Altstadt hinauf zur Froschgasse 7, zur ursprnglichen Buchhand-lung von Amalie und Theo Pinkus, die geschlossen ist. Der Laden ist zu vermieten. BeimWeiterbummeln entdecken wir Teile der Sammlung Pinkus in der Mnstergasse 20. Dortnden wir einen nicht wegzudenkenden Schatz an politischer Literatur und Dokumentesozialistischer Zeitgeschichte, die auch kuich erworben werden knnen. Die Exponatebilden gleichzeitig das Ambiente fr ein Reisebro, das - nicht zufllig - vor allem Osteu-ropareisen anbietet. Es geht dann weiter Richtung Mnster mit seinem berhmten Sechs-

    Uhr-Luten. Dort die Treppe hinunter geradewegs zum Bellevue-Platz und von dort mitder Tram in die Seefeldstrae 188 zu unserem Hotel.

    Was man in Zrich keinesfalls hat, ist der freie Blick zum Mittelmeer. Aber wozu auch,

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    denn die Kunst, die berschreiten will, sorgt schon dafr, da der Blick frei wird: ImKunsthaus ist eine gleichnamige Ausstellung zu sehen. Junge Schweizer Avantgardisten

    prsentieren dort eine profane Melange aus Video-Installationen und Labyrinthbauten. Esist eine etwas surrealistische Erfahrung gleich in eine Kunst-Welt zu fallen in einer Stadt,in der man gerade erst angekommen ist und noch nicht einmal seine Hemden an den B-gel gehngt hat. Stattdessen sitzen wir hier in einem der Videokinos, in dem schemenhafteund der menschlichen Kreatur sehr nahe kommende Puppen in lockerer Verteilung sitzen,so da der echte Mensch kaum von den Attrappen zu unterscheiden ist. Dies fhrt zurErheiterung derer, die den Trick erst spt bemerken und derer die dies beobachten. Der Be-obachter vom Beobachter des Beobachters... Ein Film luft brigens auch. Ein junges Paarverrenkt sich streitend ineinander und es scheint kein Entrinnen zu geben. Dieses Video isteines der einfallsreichsten Machwerke, die anderen drcken Monotonie aus, die moderne

    Medien mithin erzeugen. Besucht man im Kontrast dazu einen anderen Flgel des Hausesund schaut sich etwa die zur stndigen Ausstellung gehrenden Italienischen Landschaf-ten des 17. Jahrhunderts an, so sprt man geradezu den freien Blick, den die Virtualitt derVideo-Kunst teilweise vergeblich auszudrcken versucht. Das utopisch-berschreitendeMoment des freien Blicks liegt mehr im Erschaffen eines Werkes, oft weniger in jenem, wasdarin zu sehen ist.

    Aber nicht nur im Kunsthaus kommen wir mit Kunstwerken in Berhrung, sondern auchin jedem Winkel der Stadt trifft man derzeit auf Kunst-Werke: Zrich bendet sich imZeichen der Kuh, denn im gesamten Innenstadtgebiet wurden 815 nicht ganz lebensgroePolyester-Khe aufgestellt und jede ist anders bemalt oder transportiert manchmal eine

    hhere Botschaft, wie etwa die Friedenskuh oder die Hippie-Kuh. Auch als Werbetrgerlassen sich die zuweilen in Gruppen vorkommenden Exponate prima verwenden. Gera-de dann, wenn sie vor entsprechenden Parfmerien oder Banken stehen, aber auch vorBckereien, Cafs oder Trdlerlden. Stndig trifft man auf die alpinen Tiere beim Gangdurch die Stadt. Und da diese Kuhiade bei den Zrichern auf unterschiedliche Weiseankommt, versteht sich von selbst. Man braucht nur die Neue Zricher Zeitung aufzu-schlagen und schon ndet man unter der Rubrik Leserbriefe sfsante Formulierungenzur Kuh-Kunst. Ein Herr B. aus Thalwill schreibt: Ich freue mich jeden Tag, wenn ichdie buntbemalten Khe sehe. Obwohl jede Kuh die gleiche Form hat, sind alle durch dieBemalung unterschiedlich. Sie verschnern das Stadtbild betrchtlich. Mit dieser angeb-

    lich kreativen Idee von Kuh-Sauglattismus den letzten Rest ffentlichen Raumes in Zrichzuzustellen, ist die Bezeichnung Kuh-Schweizer wieder salonfhig geworden!, echaufertsich Herr H. aus Zrich. Ein anderer vermit bei lauter Khen den Muni, den Stier: ....und sei es nur, damit das einheimische mnnliche Geschlecht nicht ganz in Vergessenheitgert!

    Manche lassen ihre Meinung ganz direkt an den Khen aus - sie werden Opfer von Van-dalismus, so gengt ein gezielter Tritt und das Polyester verformt sich, die Hrner bre-chen, die Euter gehen zu Boden ...manche werden durch Grafties entfremdet und es stelltsich die Frage nach dem Gebrauch und der Art der Auseinandersetzung mit der Kunst

    schlechthin. Uns bereiten die Khe eher Vergngen denn Verdru. Ich htte Lust, eine sol-che Kuh zu einer Rikscha umzubauen und mit ihr durch die Stadt zu fahren oder den Seezu umrunden.

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    Carlos Fuentes kam im Sommer 1950 zum ersten Mal nach Zrich. Er wurde von Wagen-knechts, einer ihm altbekannten deutsch-mexikanischen Familie eingeladen. Diese Einla-

    dung kam ihm - so schien es - gerade recht, da er sich zuvor in Genf aufhielt und dort einenicht sehr hoffnungsvolle Beziehung mit einer wunderschnen Schweizer Studentineingegangen war. Deren Eltern hatten aber einen Strich unter diese Liaison gezogen, da siebefrchteten, Fuentes kme aus einem Land, in dem es noch Menschenfresser gbe. Fuen-tes war damals als Sekretr des Botschafters Roberto Crdova in der mexikanischen Abtei-lung fr internationales Recht der Uno, auerdem arbeitete er fr die IAO (InternationaleArbeitsorganisation). Auch er lt in seiner Zricher Stadtbeschreibung1die Kuh nichtunerwhnt und zitiert eine Sequenz vom legendren Orson Welles im Dritten Mann: ...die Schweiz - das Land des Friedens, der Ordnung und der Khe - hat die Kuckucksuhrhervorgebracht. Es ist nichts Neues, da der Gegensatz dieser Charakterisierung auch

    Phnomene wie den Heroinkonsum ordnungsleidender Menschen und allen damit ver-bundenen Folgen hervorbringen kann: Der Kuckuck fllt aus der Kuckucksuhr.

    Carlos Fuentes wei auch Interessantes ber Thomas Mann zu berichten. Er hatte dasVergngen, Mann beim Essen mit drei Frauen zu beobachten; Mann im weien Zweirei-her, mit makellosem Hemd und Krawatte, aber auch wie Mann junge Tennisspieler beimSpiel beobachtete: ...doch er hatte nur Augen fr einen von ihnen, als sei er ein Auser-whlter, ein Apoll. Fuentes zog bei dieser Szene Parallelen zu Manns Tod in Venedig.Da aber der Roman dem gelebten Leben unterworfen sein kann, da die Begierde, dasBegehren, das Dionysische vom kulturellen Habitus berformt sein kann, erzhlt Fuentessehr anschaulich: Dann tauchte eine junge Frau auf (Erika Mann), die ihren Vater dazu

    zwang, seine verliebten Avancen aufzugeben und mit ihr zurckzukehren. Zurckzukeh-ren nicht nur in den Alltag des Hotels, sondern auch in den Alltag des unglaublich diszip-linierten Schriftstellers, der seine dionysischen Impulse immer dem apollinischen Gesetzunterwarf, das besagt, man drfe das Leben nur unter der Bedingung genieen, da manihm eine Form gibt. Nun, was wre passiert, wenn Thomas Mann sich vom hellenischenArm seiner wachenden Tochter losgerissen und dem jungen Adonis Avancen gemachthtte?

    Andere groe Namen wie Frisch und Drrenmatt als Schweizer Eingeborene, James Joyce,der einst feststellte, Zrich sei so sauber, da knne man die Minestrone vom Boden essen -

    oder Jorge Semprun, der nach seiner Gefangenschaft in Buchenwald in Zrich sein Gesichtwieder fand, stehen fr die Innenschau dieser kuckucksuhrenhaften Weltstadt. Sie stehenfr die Betrachtung der Details im Kosmopolitischen, fr das Kleine im Groen und frdas Groe im Kleinen. Und beides ist in dieser Stadt, die vielleicht so etwas ist, wie derSchlssel zu sdlicheren Gelden, gleichzeitig anzutreffen. Hier beginnt der Sommer undffnet sein Terrain mit dem Flgelschlag eines Zugvogels.

    Wer auf die gegenberliegende Seite des Seeufers fhrt, kann den Wunsch nach einem -wie auch immer - anderen Leben oder besser gesagt: nach einer anderen Lebensform inund um diese Stadt erspren. Dort liegt das Kulturzentrum Rote Fabrik, in der jene anzu-

    treffen sind, die nicht unbedingt zum ordentlichen Stadtbild gehren wollen. Es gibt hierZirkus, Jazz, Theater, Hunde, Bier, kleine Mahlzeiten, Flugbltter, viele Rume fr Kreati-

    1 Carlos Fuentes Zrich: Eine Erzhlung in: Beilage der Sddeutschen Zeitung Nr. 124, 02. Juni 1998

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    vitt; aber auch punkische Langeweile, Kulturkonsum, Selbstverachtung, Vorurteile undgetrumte, vertrumte Trume vom besseren Leben. Es hallt noch etwas vom 68er Pro-

    testslogan Weg mit den Alpen, freie Sicht zum Mittelmeer in den Wnden des Industrie-denkmals nach. Aber dort wird - im Unterschied zum Kunsthaus, wo er eine Technologiegesttzte Nchternheit bis hin zum Nihilismus erfuhr - das Experiment wrmestromiger,kultureller Praxis alltglich wiederholt, auch wenn gewisse Sachzwnge es permanentkolportieren.

    Nach diesen Eindrcken komme ich wieder zurck zu den Wolken ber dem See. Zwi-schendurch haben sie oft und fast unbemerkt ihre Form verndert und verschiedene, zumTeil bizarre Formationen gebildet. Vorbergehend verdecken sie die Sonne und leuchtenmit ihren Schattenspielen den See und seine Stadt drum herum aus. Mit Leichtigkeit bringt

    es dieses Wechselspiel von Licht und Schatten fertig, das Wasser wie Kristalle glitzern zulassen, ein kurzes Illuminieren und schon zieht der Schatten wieder sein Tuch ber dieverspielten Wellen. Dann wird der Blick wieder nach oben gelenkt und fokussiert eineWolke, die sich vor die Sonne geschoben hat. So verndern sich stndig die Konstellati-onen und sorgen fr Abwechslung am lichten Junihimmel. Hier scheint es angemessen,zu sagen, da Wolken ziehen. Sie ziehen vorber, manchmal hintereinander in eine be-stimmte Richtung, sie ziehen aber auch meine Aufmerksamkeit auf sich. Ziehende Wol-ken im Juni knden von Aufbruch, von Fernweh und Heimweh, von der Leichtigkeit desSommers - von der Schwere seiner Vergnglichkeit -, vom Optimismus und kurzzeitigerEuphorie, neue Wege zu gehen; vom Regen, den sie hin und wieder mit sich fhren unddavon, da sie niemals wieder dieselbe Form erhalten werden, die sie einmal hatten. Wol-

    ken bilden Nuancen des Glcks und beinhalten dessen freien, feinen Gang. A la Recherchedu Temps Perdu. An diesem ruhigen Nachmittag am Zricher See ist das Glck ber mirhinweg gezogen, nicht zu fassen.

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