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Pädagogische Hochschule Zentralschweiz Kindgerechter (IF-) Unterricht – lediglich eine Frage der Rahmenbedingungen? Masterarbeit Studiengang Schulische Heilpädagogik Verfasser: Harald Birchler Nielsenstrasse 8 6033 Buchrain eingereicht am 21.Februar 2011 bei Sylvia Bürkler Fachkern Unterricht/Heilpädagogik

Kindgerechter (IF-) Unterricht – lediglich eine Frage der ......Erziehung und Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung im Kindergarten und in der allgemeinen Schule verstanden

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Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Kindgerechter (IF-) Unterricht – lediglich eine Frage der Rahmenbedingungen?

Masterarbeit Studiengang Schulische Heilpädagogik

Verfasser: Harald Birchler

Nielsenstrasse 8 6033 Buchrain

eingereicht am 21.Februar 2011

bei

Sylvia Bürkler Fachkern Unterricht/Heilpädagogik

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Abstract

Ausgehend von einem Verhaltensproblem bei Kindern mit Förderbedarf, untersucht

und bestätigt der Beitrag die Hypothese, ob bei den Probanden die Wechsel der

Lernorte tatsächlich in einem Zusammenhang mit der Verhaltensauffälligkeit im Lehr-

Lernprozess stehen. Daraus resultiert als zentraler Auslösefaktor der Aspekt, dass das

Förderkind in seiner vertrauten Unterrichtssituation gestört und in die Integrative

Förderung übergeben wird. Es muss in der Lage sein, den abrupten Wechsel zu

verarbeiten und sich in eine völlig andere Lehr-Lernsituation zu begeben. Ist das

kindgerechter IF-Unterricht? Angelehnt an heilpädagogische Modelle zu Aussonderung

und Integration besteht der Verdacht, dass sich dieser Wechsel der Lehr-Lernsituation

negativ auf das Verhalten des Kindes auswirken könnte. Diese Hypothese wird von mir

während zwei Jahren empirisch in einer dritten/vierten Klasse aus dem Kanton Luzern

untersucht. Erfasst werden die Auffälligkeiten im Verhalten unmittelbar vor und nach

dem Lokalitätenwechsel. Dem gegenüber wird das Verhalten unter den gleichen

Voraussetzungen untersucht, wenn kein Wechsel des Lernorts stattfindet. Die

Untersuchung bestätigt, dass sich dieser Wechsel negativ auf das Schülerverhalten

auswirkt. Es werden Möglichkeiten erörtert, wie die Verhaltensauffälligkeit des Kindes

im Umkreise der bestehenden Rahmenbedingungen positiv verändert werden kann,

beispielsweise durch das Zusammenlegen von Förderlektionen auf eine

Förderlehrperson.

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„Wir müssen das Kind verstehen, bevor wir es erziehen. Wo immer ein Kind versagt, haben wir nicht nur zu fragen: Was tut man dagegen? -Pädagogisch wichtiger ist die Frage: Was tut man dafür? – nämlich für das, was werden sollte und werden könnte.“ Paul Moor (1899 - 1977)

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ABSTRACT ......................................................................................................... 1

1 EINLEITUNG ....................................................................................................... 4

2 EMPIRISCHE PROBLEMSTELLUNG ............................................................... 13

3 THEORETISCHER HINTERGRUND ................................................................. 14

3.1 Begriffe ....................................................................................................... 15 3.2 Ausgangslage ............................................................................................. 19

3.2.1 Geschichtlicher Rückblick ....................................................................... 19 3.2.2 Eine persönliche (Erfahrungs-) Sicht) der Gegenwart ............................. 22 3.2.3 Ausblick in die Zukunft ............................................................................ 24 3.2.4 Integrationspädagogik ............................................................................. 25 3.2.5 Die Lernprozessanalyse beim (IF-)Kind .................................................. 32 3.2.6 Zum Störungsverständnis im Unterricht .................................................. 34 3.2.7 Schüler- Lehrerbeziehungen ................................................................... 36

3.3 Max - Ein theoretisches Extrembeispiel ..................................................... .38

4 METHODE ......................................................................................................... 45

4.1 Beschreibung der Stichprobe ...................................................................... 45

4.1.1 Beschreibung des Instruments ................................................................ 46 4.1.2 Beobachtung und Beobachtungsraster ................................................... 46 4.1.3 Probanden ............................................................................................... 48 4.1.4 Beschreibung der Durchführung.............................................................. 50

5 ERGEBNISSE ................................................................................................... 51

5.1 Darstellung der Ergebnisse ......................................................................... 51

6 DISKUSSION DER ERGEBNISSE .................................................................... 59

6.1 Lösungsansätze im Unterricht .................................................................... 59 6.2 Lösungsansätze in der Politik und der Lehrpersonenbildung ...................... 59 6.3 Lösungsansätze aus dem Umfeld des IF-Kindes ........................................ 60

7 ZUSAMMENFASSUNG ..................................................................................... 61

8 LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................... 65

ANHANG ...............................................................................................................

Erhebungsinstrument .......................................................................................... A

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1. Einleitung

Ich erlaube mir diese Thematik mit einer kritischen und persönlichen Vorbetrachtung

zu eröffnen.

Nicht selten werde ich im Schulalltag mit der Tatsache konfrontiert, dass sich

Klassenlehrpersonen Rat suchend an mich wenden, weil sie mit dem Verhalten von

„Schwierigen Schülern“ nicht mehr weiter wissen. Meistens sind dies Schüler oder

Schülerinnen, welche zusätzlich Integrative Förderung erhalten. Nach einem

klärenden Auswertungsgespräch mit der Lehrperson stellt sich vielfach heraus, dass

nicht der Schüler oder die Schülerin selbst das Problem ist, sondern dessen

Äusserung des Verhaltens in Bezug auf eine vorangegangene Aktion, Handlung oder

Situation. Fortlaufend reflektierte ich diese wertvollen Gespräche mit den

Klassenlehrpersonen. Wertvoll deshalb, weil offenbar nicht auf den ersten Blick

erkennbare Abläufe, Zustände oder Mechanismen das Verhalten der betroffenen

Kinder in dem Masse beeinflusst, das zu auffälligem und störendem Verhalten im

Unterricht führen kann. Es scheint fast so, als würde in diesen Fällen die Integrative

Förderung nicht genügen. Somit stellt sich die provokative Frage, auf die ich ich im

Verlaufe meiner Masterarbeit eingehen will: Liegt es vielleicht daran, dass es uns

nicht gelingt, kindgerecht integrativ zu arbeiten?

Beim Entschluss, diese Frage nach der Form und den Rahmenbedingungen des

kindgerechten IF-Unterrichts genauer unter die Lupe zu nehmen, wurde mir schnell

bewusst, wie schwierig es für mich sein wird eine treffende und erwünschte Antwort

darauf zu finden. In der einschlägigen Literatur traf ich oft nur auf einzelne Kapitel und

Zitate von Autorinnen und Autoren, welche darin vage Erkenntnisse zu meiner

gewählten Thematik beschreiben. Der Begriff „Schulische Integration“ oder

„Integrationspädagogik“ wird darin in so vielen Nuancen verstanden, dass es für mich

als angehender Heilpädagoge nahezu unmöglich ist, Integrationspädagogik als das

zu erkennen wofür sie in der Wissenschaftstheorie zu stehen scheint. Integrative

Beschulung und gemeinsames Lernen könnten ein Stück Normalität für die so

genannt Behinderten und Nichtbehinderten herstellen. Dadurch könnten ebenfalls

Vorurteile und Etikettierungen vermieden, Über-Therapien verhindert und

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Selbstbestimmung gefördert werden. Daran hat sich die pädagogische Theoriebildung

künftig zu orientieren. Dies heisst, den Behinderungsbegriff, die

Sonderpädagogisierung von Lernproblemen aufzugeben und pädagogisches Handeln

auf einen Nenner, das gemeinsam Lernen bringen. Damit ist nebst den stofflichen

Zielen die Förderung der Entwicklung, Identität und Autonomie aller Kinder zu

verstehen (vgl. Eberwein & Knauer, 2009, S. 26).

„Integration von Schülerinnen und Schülern mit oder ohne Behinderung meint, dass

sich Schulen und Schulsysteme strukturelle so verändern, dass ein gemeinsamer

Unterricht aller Kinder und Jugendlicher möglich wird“ (Hausotter, 2009, S. 471).

„Als Integrationspädagogik kann aber auch die vielfältige Praxis der gemeinsamen

Erziehung und Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung im Kindergarten

und in der allgemeinen Schule verstanden werden“ (Preuss–Lausitz, 1998, S. 122).

„Als ich den Begriff „Integrationspädagogik“ Mitte der 80er Jahre geprägt habe, war

mir klar, dass er ein Übergangsbegriff sein würde; denn Integrationspädagogik hat

dann ihren Auftrag erfüllt, wenn die Ausgrenzung von Menschen mit

Beeinträchtigungen in Schulen und allen gesellschaftlichen Bereichen überwunden

ist. Wenn Nichtaussonderung den Regelfall darstellt, bedarf es nicht mehr

verschiedener Pädagogiken“ (Eberwein & Knauer, 2009, S. 27).

Mit meiner Thematik über die Form der IF spielt die scheinbare oder verschieden

umgesetzte Integration innerhalb unserer Volksschule und unseren Schulhäusern

eine grundlegende Rolle. Scheinbar deshalb, weil ich in meiner mehrjährigen Tätigkeit

als Primarlehrer und Heilpädagoge die Erfahrung machte und immer noch machen

muss, wie schwer es unter den momentan vorherrschenden örtlichen, kantonalen und

politischen Rahmenbedingungen ist, integrativ zu unterrichten.

Denn offenbar erst jetzt wird vielen Beteiligten klar, dass Heterogenität und

Integrativer Unterricht doch aufwändiger wird, als bisher angenommen worden ist. Im

Zeitungsbericht von Kari Kälin (2010) wird in der Neuen Luzerner Zeitung

veranschaulicht, wie unterschiedlich die Perspektiven von Familie, Lehrpersonen und

Behörden zum Beispiel im Kanton Schwyz sind. Daraus schliesse ich, dass bei den

Beteiligten demnach die Unsicherheit in Bezug auf die Form der Integrativen

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Förderung sehr gross ist. In dieser Situation versuchen nun Familie und Schule

lösungsorientiert zu handeln. Meines Erachtens verhindern hier starre und viel zu

knapp bemessene Rahmenbedingungen eine mögliche, kindsgerechte Integration.

In einem vor zwei Jahren erschienene Zeitungsartikel der Neuen Zürcher Zeitung

publizierte die Redaktion eine Aussage des Stadtpräsidenten von Luzern. Demnach

würde „Integrativer Unterricht unter dem Strich zwar nicht viel teurer als bisher“ (Stu-

der, 2008, S. 1). Aber, was heisst das denn genau? Niemand scheint offenbar in der

Lage zu sein, verlässliche Fakten und Zahlen zu nennen. In einer Vernehmlassung

„zur vorgezogenen Einführung von Zusatzlektionen an belasteten Schulen“ (SVP

Aargau, 2010) will die Partei zusätzliche Kosten „zur Erhaltung des gescheiterten Ex-

perimentes des integrativen Unterrichts“ streichen. Dieses Beispiel aus dem Kanton

Aargau scheint aufzuzeigen, wohin der nationale Wille dieser Partei abzielt, zurück

zur alten homogen Struktur der Jahrgangsklasse in den Volksschulen, zurück zum

„Altbewährten“. In Bezug zum Integrativen Unterricht empfehlen die anderen

schweizweit grossen Parteien, SP, FDP und CVP den bereits beschrittenen Weg der

IF weiterzugehen. Sie fordern aber Massnahmen, um die Schulen nicht zu überlas-

ten. Die akute Knappheit an geeigneten Lehrpersonen verschärft die aktuelle Lage

erheblich. Die Volksschule wird damit zum nationalen Wahlkampfthema.

Herbert Wyss (2010, S. 28) von der Hochschule für Heilpädagogik Zürich kommt in

der These 10 zum Schluss, „Es besteht heute eine politische Einigkeit, dass sonder-

pädagogische Massnahmen zu teuer sind“.

Positive Bestrebungen und Umsetzungen zu Integration und Heterogenität sind schon

seit längerer Zeit im Gange. Mit „IS-Projekten“ sollen die Machbarkeit aber auch

deren Grenzen erkundet werden. „Höher begabte“ Kinder erhalten einmal die Woche

ausserhalb des Unterrichts die Gelegenheit, ihren Fähigkeiten entsprechend

zusätzlich gefördert zu werden. Lernschwache Kinder werden von den Noten befreit

und erhalten stattdessen speziell angepasste Lernziele und schliesslich wird

mehrsprachigen Kindern zusätzlich zum Unterricht ein Deutschkursus (DaZ)

angeboten. All diese Angebote laufen meist extern, d.h. ausserhalb des

Klassenverbandes und des Schulzimmers. Aufgrund dessen stellen sich mir zwei

Fragen: Ist diese Umsetzungsform integrative Schule? Oder verhindern wir gerade

mit dieser Praxis eine wirklich integrative Volksschule, bei der die Schulkinder

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innerhalb ihres geborgenen (Klassen-) Rahmens ihren Fähigkeiten entsprechend

unterrichtet werden können und somit von all den Lehrpersonen- und Schulwechsel

verschont bleiben? Dieser gegenwärtig vorhandenen Zerstückelung des Unterrichts

liegt immer noch ein vielleicht überholtes Teilfundament zugrunde, die Stundentafel.

Das verbindliche Vorschreiben von wöchentlich einzuhaltenen Lektionen in den

verschiedenen Fächern, die so genannte Stundentafel, beschneidet das Einpassen

von ergänzenden und unterstützenden Lektionen stark. Erschwerend kommt hinzu,

dass die zu formalisierte Umsetzung der Stundentafel an einigen Schulen diese

Beschneidung zusätzlich unterstützt. Ein Lösungsansatz wäre beispielsweise, die

Stundentafel gänzlich aufzuheben und die Lehrpläne so zu modifizieren, dass am

Ende des jeweiligen Schuljahres genau die verlangten Lernziele umgesetzt und

erreicht worden sind. Bei solchen Überlegungen wird mir klar, wie komplex und

schwierig es ist, den integrativen und heterogenen Weg der Volksschule zu begehen,

so viele Hürden müssen noch genommen werden. Ich erhoffe mir im Verlauf meiner

Arbeit Antworten oder zumindest Ansätze von Antworten darauf zu erhalten, wie

diese Hürden genommen oder entschärft werden können.

Vielen praktizierenden Lehrpersonen wird bei Besprechungen und Planungssitzungen

schnell klar, wie eingeschränkt gegenwärtig das Unterrichten für die Lehrenden und

Lernenden geworden ist. Es existiert praktisch kein Unterrichtshalbtag mehr, an dem

nicht ein oder mehrere Schüler ausserhalb der Klasse gefördert, geschult oder

therapiert werden; sei es in Deutsch als Zweitsprache (DaZ), Logopädie, IF oder

Psychomotorik und das sind beileibe noch nicht alle Unterrichts ergänzende

Angebote. Von einem Integrativen Unterricht sind wir unter solchen Voraussetzungen

noch weit entfernt.

In meiner Arbeit richte ich den Fokus hauptsächlich auf das lernende Kind. Sei es nun

das Kind, welches direkt betroffen ist und die Integrative Förderung besucht oder das

Regelklassenkind, das irgendwie im Fluss des Unterrichts mitkommt und für die

beteiligten Pädagogen am wenigsten zu tun gibt, sowie das höher begabte Kind, das

eigentlich mehr leisten soll. Das so genannte „Durchschnittskind“ gibt es bei mir nicht.

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Für das lernende Förderkind, der Verständlichkeit halber nenne ich es „IF-Kind“,

bedeutet das, dass es sich hohen persönlichen Anforderungen stellen muss. Ein

überdurchschnittlich hohes Mass an Selbstständigkeit, Flexibilität (Lehrpersonen und

Zimmerwechsel) und einen ausgeprägten Orientierungssinn, nur um drei dieser

ausserhalb des Unterrichts liegenden Anforderungen zu nennen. Dabei scheinen wir

zu vergessen, dass gerade IF-Kinder teils massive Probleme in Wahrnehmung,

Orientierung und Selbstständigkeit aufweisen. Sie sind deshalb dringend auf

heilpädagogische Unterstützung angewiesen.

Die übrigen Lernenden werden im Klassenzimmer mit einem häufigen Kommen und

Gehen konfrontiert. Sie müssen mit der daraus resultierenden Unruhe und Störung

des Unterrichtsflusses und der sozialen Unstetigkeit die Erwartungen der

anwesenden Pädagogen erfüllen. Gemeint sind vor allem diejenigen Lehrpersonen,

die häufig mit dem Kind zusammenarbeiten.

Welche Auswirkungen hat dieser Wechsel der Lokalitäten eigentlich auf das lernende

Kind selbst? Geht das spurlos an ihm vorüber oder beeinträchtigt dies das Kind

zusätzlich und erschwert so ein heilpädagogisches und integratives Lernen? Was

wird von den Lehrpersonen als „störendes Verhalten“ empfunden?

In meinem aktuellen Schulunterricht stelle ich eine stärker werdende Anhäufung von

Förderlektionen auf das einzelne zu unterstützende Kind fest. Es können dies sein:

Integrative Förderung, Deutsch als Zweitsprache, Logopädie, Psychomotorik oder

Begabten-und Begabungsförderung. Im Jahr 2002 ergaben interne Berechnungen der

Schulleitung an der Primarschule in Cham, dass im Extremfall bis gegen sechzehn

Lehrpersonen pro Woche mit dem gleichen Kind arbeiten würden!

Dabei ist gerade im Besonderen das IF- Kind auf Stetigkeit und Geborgenheit im

Lehr- und Lernrhythmus angewiesen. Ferner ist der Bezug zu möglichst wenigen

Lehrpersonen eine wichtige Voraussetzung dafür, damit ein Vertrauensverhältnis ent-

steht, welches ein Erreichen der Lernziele folglich nur begünstigen kann.

Aus meiner beobachtenden Untersuchung stellt sich heraus, dass ein solches Kind

auffällig negativ auf Unregelmässigkeiten reagiert. Häufige Zimmer- oder Szenen-

wechsel und das unweigerlich damit verbundene Um- und Einstellen auf neue Raum-

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oder Lernverhältnisse und Bezugspersonen wirkt sich nicht förderlich auf das Kind

aus. Im Gegenteil, lange und aufwändige „Überbrückungs- und Abholangebote“, so-

wie der Weg, den das Kind zum Beispiel in das Förderzimmer zurücklegen muss,

vermindern die eigentliche zur Verfügung stehende Unterstützungszeit beträchtlich.

Dieser Umstand schmälert die Zeit, die innerhalb des Klassenzimmers offensichtlich

direkter und effizienter genutzt werden könnte. Von der Warte des betroffenen Kindes

aus betrachtet, bedeutet dies ein Nicht-Dazugehören innerhalb „seiner“ Klasse. Die

Regelschüler ihrerseits reagieren darauf im besten Fall mit Nichtbeachtung. In vielen

Fällen jedoch zieht dieser offensichtliche Wechsel Hänseleien, Verächtlichmachen,

Blossstellen bis hin zu körperlichen Attacken nach sich (Knauer, 2008, S. 13). Augen-

scheinlich besitzt das Kind mit dieser Offensichtlichmachung seiner Besonderheit in

den Augen der Regelklassenschüler ein klares Leistungsdefizit, das oft mit „dumm“

und „behindert“ gleichgesetzt wird. Dieser Form der Stigmatisierung kann gerade

durch Teilhabe und Integration im Regelklassenunterricht erfolgreich begegnet wer-

den. Durch eine grösstmögliche Integration sehen und erkennen die Mitschüler des

Förderkindes die tatsächlichen Probleme, mit welchen sie vielleicht selber schon ein-

mal konfrontiert worden sind. Nicht selten entsteht deshalb sogar ein „Wir-Gefühl“,

dass wiederum dem gesamten Unterrichtsklima nützen kann.

Persönlich stimme ich mit Meyer (2004, S. 52) bezüglich der fünf „Klima-Stifter“ und

ihrer Effekte vollkommen überein. Sie haben für mich Vorbildcharakter.

Ich führe Meyers Gedanken weiter und wage die Behauptung zu formulieren, um

seinen Beitrag an ein lernförderliches Klima zu leisten, muss jedes Kind innerhalb der

Klasse über eine Möglichkeit verfügen, in der Klasse über einen längeren Zeitraum

präsent zu sein. Ich versuche mir die Situation vorzustellen wie das für den IF-Schüler

ist, aus seinem gewohnten Unterrichtsumfeld herausgenommen zu werden, um in

einem anderen Zimmer mit einer anderen Bezugsperson alleine weiterzuarbeiten und

nach einer Lektion wieder zurück ins Klassenzimmer zu müssen. Entspricht ein

solcher Vorgang dem Verständnis eines lernförderlichen Klimas? Nicht ganz.

Vielmehr muss dafür gesorgt werden, dass sich gerade ein Förderkind innerhalb der

Schule und des Unterrichts wohlfühlt. Es soll aber auch die Gelegenheit erhalten,

seinen eigenen Beitrag dafür zu leisten, ein lernförderliches Klima innerhalb seiner

Klasse zu schaffen. Dies kann dem Kind aber nur gelingen, wenn es beständig in der

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Klasse verbleiben kann und möglichst wenig daraus entfernt wird.

Abb. 1: Klimastifter (Meyer, 2004. S.52)

Ich bringe deshalb gerne das Beispiel des Unterrichtsklimas in Zusammenhang mit

der Verhaltensauffälligkeit des Kindes, weil dem Gedanken des „Integrierens“ oft zu

wenig Beachtung geschenkt wird. Dabei unterlegt Meyers Ansatz zum

lernförderlichen Klima meine Theorie, dass dem Förderkind mittels einer

hochgradigen Präsenz innerhalb der Klasse eine Verbesserung seines Verhaltens

ermöglicht werden kann. Ein lernförderliches Klima, in welchem sich das Kind

getragen und wohl fühlt, übt unwiderruflich einen positiven Effekt auf sein Verhalten

aus. Es fühlt sich sicher, getragen und will im Unterricht mitmachen.

„Wenn das Lernklima als positiv wahrgenommen wird, können die Schüler ihre

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Fähigkeiten und Interessen besser entfalten und dadurch zu besseren kognitiven,

methodischen und sozialen Lernleistungen kommen. Insbesondere die jüngeren und

die lernschwächeren Schüler sind auf ein positives Klima angewiesen“ (Meyer, 2004,

S. 53).

Somit ist das Klima ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts, insbesondere des

Integrativen Förderunterrichts.

Damit ich eine umfassende Sicht der Perspektive und klare Antworten auf meine

zentrale Fragestellung bezüglich der geeigneten Form oder der geeigneten

Rahmenbedingungen des Förderunterrichts erhalte, versuche ich einen Bogen aus

der Vergangenheit unserer Volksschule bis hinein in die nahe Zukunft zu ziehen. Ich

verspreche mir daraus wichtige Erkenntnisse auf meine Arbeit, ob die Form und die

bestehenden Rahmenbedingungen des heutigen IF-Unterrichts einen wesentlichen

Einfluss auf eine erfolgreiche Integrative Förderung haben kann und ob sich durch

eine allfällige Veränderung dieser Form das vormals auffällige und störende

Verhalten eines Förderkindes verbessert.

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„Die Formulierung 'zusätzlicher' oder 'besonderer' Förderbedarf ist problematisch,

denn jedes Kind hat auf Grund seiner Einmaligkeit einen besonderen, nämlich

individuellen Förderbedarf. Insofern ist jeder Förderbedarf ein anderer.“

(Eberwein und Knauer, 2009, S. 24)

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2. Empirische Problemstellung

Ausgehend von meiner Erfahrung, dass viele Lernende mit IF-Unterstützung häufig

ein schwieriges Verhalten innerhalb des Klassenverbandes aufweisen, möchte ich

der Frage nachgehen: Was kann wohl die Ursache dafür sein?

Im Schulgespräch mit allen Betroffenen, Lernende, Eltern, Klassenlehrperson und

Heilpädagoge, wieso das Kind genau dieses Verhalten aufweist, fällt wiederholt der

Allgemeinbegriff „Überforderung“. Die Begründung für diese Überforderung wird sehr

schnell im häufig vorhanden kognitiven Defizit des Kindes gesucht und gefunden. Im

Stillen fragte ich mich dann oft: Verhält es sich wirklich so? Oder besteht vielleicht die

Möglichkeit, dass wir dem Kind zu viel auf einmal zumuten? Kann dem

Verhaltensproblem des Kindes begegnet werden, indem wir es innerhalb des

Schulalltags mit Beständigkeit, Beachtung und Beziehungsaufbau stützen?

Oft höre ich in meinem unmittelbaren Berufsumfeld die Bemerkung, dass dieses oder

jenes Kind mit seinem auffälligen und schwierigen Verhalten den Unterricht im

Klassenverband empfindlich stört. Die Klassenlehrpersonen sind dabei oft ratlos und

reagieren gestresst und begegnen diesem schwierigen Verhalten vielfach mit

Resignation oder Ermüdungserscheinungen, im Extremfall sogar mit Burnout. Nicht

selten übernehmen zusätzlich andere Kinder eine parallele Rolle und fallen mit

ähnlichem, negativen Verhalten auf, welches die ohnehin angespannte Situation

weiter verstärkt. Eine Folge davon ist, dass die Lehrperson mittels verschärfter

Disziplinregelung versucht, die Klasse ordentlich zu führen. Vielfach mit Erfolg, denn

erfahrungsgemäss wollen in den wenigsten Fällen die betroffenen Lernenden der

Lehrperson schaden. Auch wollen sie nicht bei ihr in Ungnade fallen.

Die folgenden drei daraus resultierenden Fragen stellen den Kern dieser Arbeit dar.

Wirken sich eine hohe Anzahl von Förderlektionen und der damit verbundene

Aufwand im Wechsel der Unterrichtssituation, Lehrperson und Lokalität auf das

Verhalten und das Lernverhalten eines integrativ geförderten Kindes eher nachteilig

aus?

Inwiefern decken sich die Absichten und Ansichten über die IF in den Bereichen

Wissenschaft (Theorie), Unterricht (Praxis) und Politik/Gesellschaft überein?

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Welche Möglichkeiten haben alle Betroffenen (Verantwortliche des Kantons Luzern,

Lehrpersonen, Lernende und Eltern, Wissenschaftler) insbesondere die

Klassenlehrperson zur Auswahl, damit sich das schwierige Verhalten positiv

verändert?

Nachfolgend zeige ich Möglichkeiten auf, die im Rahmen der bestehenden

kantonalen und gemeindlichen Rahmenbedingungen kurz- und längerfristig

umgesetzt werden können.

3. Theoretischer Hintergrund

3.1 Begriffe

DaZ: Deutsch als Zweitsprache wird zur Zeit in der Schule Root als Deutschunterricht

in Kleingruppen praktiziert. Die Kinder, fast immer mit Migrationshintergrund, werden

ausserhalb der Klasse in einer anderen, neuen Gruppenzusammensetzung,

bestehend aus verschieden Klassenstufen, unterrichtet. Die Schule hat aber bereits

ein Projekt an der Unterstufe am Laufen, in welchem die DaZ – Lektionen ein fester

Bestandteil des IF-Angebots sind.

„Zwei- und mehrsprachige Lernende werden auch als fremdsprachige Lernende oder

Lernende mit Migrationshintergrund bezeichnet. Mit der Änderung der Bezeichnung

wird auf die Ressourcen dieser Lernenden verwiesen.

Lernende aus fremdsprachigen Gebieten oder Lernende mit ungenügenden

Deutschkenntnissen bedürfen besonderer Förderung und Massnahmen“ (Riedweg,

2008, S. 1).

Heterogenität in der Schule: Das heutige Schulsystem zielt traditionell eher auf eine

Vermeidung von heterogenen Lerngruppen. Damit soll sichergestellt werden, dass

alle Schüler vom jeweiligen Unterricht profitieren können, indem niemand über- oder

unterfordert wird. Die Trennung nach Alter der Schüler ist aufgehoben. Behinderte

Kinder werden, unter Berücksichtigung der aktuell vorherrschenden Möglichkeiten der

Volksschule, in die Volksschule integriert.

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IF (Integrative Förderung): „IF ist eine Unterstützung für alle Schüler einer Klasse.

Unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen werden erfolgreiches

Lernen, situationsgerechtes Verhalten und ein klarer mündlicher und schriftlicher

Ausdruck angestrebt. Besondere Beachtung finden Lern- und Verhaltens-

schwierigkeiten, Spracherwerb sowie besondere Begabungen. Im Bewusstsein, dass

Schüler/innen mit ihren vielfältigen Eigenarten nicht in vordefinierte, starre Gruppen

eingeteilt werden können, erweitert die Integrative Förderung den Rahmen der

Klassengemeinschaft. Dabei verschiebt sich die integrative Unterstützung von einem

eher therapeutischen Ansatz hin zu einem generellen Förderverständnis in

heterogenen Klassen“ (Dienststelle Volksschulbildung Luzern, 2010a, S. 4).

Die Schule gewährleistet mit den integrativen Fördermassnahmen in den

Regelklassen eine angemessene Betreuung aller Schülerinnen und Schüler. Die

Form der Betreuung ist abhängig davon, wie das integrative Konzept der jeweiligen

Schule gestaltet ist. Da existieren individuelle Unterschiede. Die heilpädagogische

Unterstützung dieser Kinder wird generell von einer speziell dafür geschulten

Fachperson geleistet. In die individuelle Förderung mit einbezogen können auch

fremdsprachige Schüler sowie Lernende mit besonderen Begabungen werden.

IF-Kind/Förderkind: Damit werden im Berufsjargon der Schule diejenigen Kinder

bezeichnet, welche integrative Fördermassnahmen in Anspruch nehmen müssen und

auf heilpädagogische Unterstützung angewiesen sind.

IF-Unterricht: Im integrativen Förderunterricht ohne Lernzielanpassung wird bei

temporären Lernschwierigkeiten das Kind oder eine Kleingruppe meist innerhalb der

Klasse, oftmals separat in einem Zimmer ausserhalb des Klassenraums unterrichtet.

Die Eltern werden über den IF-Unterricht informiert und müssen dazu ihr

Einverständnis geben. Dieser Unterricht ist zeitlich klar befristet. Diese Unterstützung

muss ermöglichen, dass die Lernziele in der Regelklasse erreicht werden können.

Der IF-Unterricht mit Lernzielanpassung ist im Normalfall ein Einzelunterricht

(mindestens 2 Lektionen bei Promotionsfächern) mit individuell angepassten

Lernzielen. Die Lernziele in der Regelklasse werden vom Kind nicht erreicht und

müssen individuell den Fähigkeiten des Kindes angepasst werden.

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Begabungsförderung / Begabtenförderung ist für diejenigen Kinder gedacht, welche

kognitiv überdurchschnittlich stark sind. Das Angebot findet in der Schule Root

ausserhalb des Klassenzimmers statt.

„Im Zentrum der Integrativen Förderung steht der Klassenunterricht. Die IF-

Lehrperson stützt alle Kinder und wirkt präventiv auf Lern- und Verhaltensstörungen.

Die Stärken der Lernenden werden bewusst wahrgenommen und weiterentwickelt.

IF-Lehrperson und Klassenlehrpersonen planen und reflektieren den Unterricht,

arbeiten im Teamteaching und bauen gemeinsam Lernumgebungen auf. Innerhalb

der Klassengemeinschaft werden aufgrund von förderdiagnostischen Überlegungen

flexible Gruppen gebildet. So erleben Lernende je nach Situation Klassen-, Gruppen

oder Einzelunterricht“ (Dienstelle Volksschulbildung Luzern, 2010a, S. 5).

Inklusion: Inklusion heisst mit anderen gemeinsam lernen und mit ihnen bei

gemeinsamen Lernprozessen zusammenarbeiten. Es wird dabei nicht zwischen

„normal und nicht-normal“ unterschieden. Dies erfordert eine aktive Beteiligung am

Lernprozess und das Gespräch über die Lernerfahrungen. Es geht um die

Wahrnehmung, Akzeptanz und Wertschätzung eines jeden Individuums. Inklusion zu

entwickeln bedeutet gleichzeitig, Aussonderungsdruck zu reduzieren. Inklusion

beginnt bei der Wahrnehmung von Unterschieden zwischen den Schülern und

Schülerinnen. Ein inklusives Verständnis von Unterricht und Lernen baut auf diese

Unterschiede und kann tiefgreifende Veränderungen dabei bewirken, was im

Klassenraum, im Lehrerzimmer, auf dem Schulhof und in der Beziehung zu Eltern

geschieht. Inklusive Pädagogik nimmt Kinder und Jugendliche als ganze Person wahr

und macht keine Unterscheidungen (Booth & Ainscow, 2003, S. 11).

Laut der Dienststelle Volksschulbildung Luzern (2010a, S. 3), haben alle Kinder das

Recht auf die bestmögliche Unterstützung. Die Lehrpersonen tun alles, was in ihrer

Macht steht und akzeptieren, dass ihre Möglichkeiten beschränkt sind. Es gehört zu

den Aufgaben der IF-Lehrperson, den Klassenunterricht zu unterstützen, damit die

Kinder mit speziellem Förderbedarf auch im Klassenzimmer profitieren können. Wird

die innere Differenzierung im allgemeinen Unterricht gestärkt, können alle Kinder von

der verbesserten Unterrichtsqualität profitieren.

Inklusive Ideen sind keineswegs neu. Auch die Integration vertritt dasselbe

Gedankengut. Es zeigt sich jedoch, dass bei der Integration oft versucht wird, Kinder

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separat zu fördern, damit sie im Klassenunterricht mitkommen. Als Folge davon

können die Kinder stigmatisiert werden. Es besteht die Sorge, dass sie im

Klassenunterricht unterbetreut sind. Inklusion versucht, in erster Linie diesen

Klassenunterricht zu stärken, damit möglichst viele Kinder dem normalen Unterricht

folgen können.

IS-Unterricht: Integrative Sonderschulung ist für einzelne Kinder mit einer Behin-

derung oder einem umfassenden und ausgeprägten Förderungsbedarf bestimmt. Das

sind Schülerinnen und Schüler, die sowohl in der Regelschule mit integrativer

Förderung als auch in Kleinklassen nicht angemessen gefördert werden können.

Sonderschulung kann in einer Sonderschule oder mit einer intensiven Begleitung

einer heilpädagogischen Lehrperson auch in der Regelschule durchgeführt werden.

IS (Integrierte Sonderstufe): Kinder mit leichten bis sehr schweren Behinderungen

können seit kurzem in Regelklassen der öffentlichen Volksschule aufgenommen

werden und werden nicht in der heilpädagogischen Sonderschule unterrichtet. Sie

erhalten in der Regel pro Schulwoche eine heilpädagogische Unterstützung bis zu

neun Lektionen (oder weniger) durch eine eigens dafür ausgebildete Lehrperson.

LZA (Lernzielanpassung): Das Kind hat besondere Stärken oder Schwächen in einem

oder mehreren Bereichen. Die Lernziele werden in den entsprechenden Fächern

angepasst. Für Kinder mit besonderen Schwächen werden die regulären Noten durch

eine im Förderbericht festgehaltene Bewertung ersetzt. Bei Kindern mit besonderen

Stärken wird die Bewertung im regulären Notensystem durch einen Förderbericht

ergänzt (Schule Root, 2005, S.5). D.h. Fast alle Kinder mit Behinderungen,

Verhaltensauffälligkeiten oder Teilleistungsschwächen erreichen die verschiedenen

Ziele der Regelklasse trotz intensiver Unterstützung nicht. Für diese zum Teil massiv

überforderten Schülerinnen und Schüler müssen die Lernziele im Sinne einer

bestmöglichen individuellen und integrativen Förderung angepasst werden. Dazu ist

es nötig, dass diese Kinder durch Schulische Heilpädagoginnen oder -pädagogen

(SHP) zusätzlich gefördert werden. Vorausgehend wird gemäss dem behördlichen IF-

Konzept eine schulpsychologische Abklärung (Kognition, Dyskalkulie, Dyslexie usw.)

vorgenommen, damit der Förderbedarf des Kindes genau bestimmt werden kann

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(Schule Root, 2005, S.8).

Regelkind/Regelklassenkind: Schüler, welche keine integrativen oder zusätzlichen

(Begabungsförderung) Fördermassnahmen in Anspruch nehmen und streng

genommen keine zusätzliche Unterstützung durch IF-Lehrpersonen erhalten.

Regelschule/Regelklasse: Diese unter Lehrpersonen geläufige Bezeichnung meint die

als gemeinhin bekannte, öffentliche Volksschule (Primar- und Oberstufe). Es ist das

institutionelle Umfeld der obligatorischen Bildungsstufe mit sonderpädagogischem

Angebot.

SHP: Der Schulische Heilpädagoge, die Schulische Heilpädagogin unterrichten

Kinder, mit Behinderungen, Lernschwächen und Verhaltensauffälligkeiten. In der

Integrativen Schule arbeiten sie als unterstützende Fachlehrpersonen für Schüler,

Eltern und Klassenlehrperson.

Schüler: Zur Vereinfachung der Lesbarkeit wird in dieser Masterarbeit die männliche

Form, beispielsweise „Schüler“, bevorzugt. Diese schliesst aber auch die weibliche

Form mit ein.

Sonderpädagogik: Als Sonderpädagogik wird ein Teilbereich allgemeiner

pädagogischer Theorie und Praxis bezeichnet. Sie beschäftigt sich mit Menschen, die

einen besonderen Förderbedarf aufweisen, um ihr Recht auf eine ihren Möglichkeiten

entsprechende schulische Bildung und Erziehung zu verwirklichen. Die Sonder-

pädagogik unterstützt und begleitet die Menschen mit Förderbedarf durch individuelle

Hilfen, um für diese ein möglichst großes Maß an schulischer und beruflicher

Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbstständiger Lebensgestaltung zu

erlangen. Ihr Ziel liegt außerdem in der Erforschung und Verbesserung der auf die zu

Erziehenden gerichteten Maßnahmen. Sonderpädagogik ist sowohl wissenschaftliche

Disziplin als auch Praxis, die mit anderen Disziplinen, Professionen sowie Betroffenen

zusammenarbeitet. Sie ist bestrebt, den Menschen mit besonderen Bildungsbedürf-

nissen jeglichen Alters, jeglicher Art und jeglichen Grades mit adäquat ausgebildetem

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Fachpersonal eine bedürfnisgerechte und individuumsorientierte Bildung und

Erziehung sicherzustellen. Ziele der Bildung und Erziehung sind eine optimale

Persönlichkeitsentwicklung, Autonomie sowie soziale Integration und Partizipation.

Das Schulangebot des sonderpädagogischen Bereichs, das die Vereinbarungs-

kantone mindestens anbieten müssen, umfasst folgende Grundleistungen:

Heilpädagogische Früherziehung, Logopädie, Psychomotoriktherapie, Schulische

Integration (IF), (eventuell/noch) Unterricht in Sonderklassen, Unterricht in

Sonderschulen, Beratung bei Hör-, Seh- und Körperbehinderungen, fachliche

Unterstützung bei Hör-, Seh- und Körperbehinderungen, stationäre Unterbringung

und Betreuung in einer sonderpädagogischen Einrichtung, Transport (z.B. Taxi) des

Kindes vom Wohn- zum Schulort.

SPD: Der Schulpsychologische Dienst ist ausserhalb der Schule angesiedelt. Wo

unerwartete Entwicklungen als Störungen wahrgenommen werden, ist es Aufgabe der

Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, Familie, Gesellschaft und Schule bei

der Suche nach konstruktiven Formen des Umgangs damit zu begleiten.

3.2 Ausgangslage

3.2.1 Geschichtlicher Rückblick

Der Weg zum gemeinsamen Lernen aller Kinder begann schon vor 200 Jahren, als

die ersten Sonderschulen errichtet wurden; denn es waren die Sonderschulen selbst,

die den ersten Schritt zum gemeinsamen Leben darstellten. Die frühen

Sonderschulen holten behinderte Kinder aus den Wohnstuben heraus, wo sie vor der

Öffentlichkeit verborgen gehalten wurden und oft genug ein anregungsloses Dasein

fristeten. Die Institutionen oder Anstalten holten sie gar vom Betteln auf der Strasse

weg. Diese frühen Sonderschulen waren in Deutschland vor 200 und vor 150 Jahren

tatsächlich eine erste wichtige Etappe auf dem Weg zur Einbeziehung dieser Kinder

in die Gesellschaft (Sander, 1998, S. 117).

Pestalozzi (1748 – 1827) wohl einer der bekanntesten Schweizer Schulentwickler in

der Vergangenheit, nahm sich ebenfalls der Thematik der Ausgestossenen und

Vernachlässigten an. Mit seinem zentralen Anliegen, die Schüler mit „Kopf, Herz und

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Hand“ zu unterrichten und lernen zu lassen, nahm Pestalozzi diesen

vorherrschenden Gedanken auf. Er unterstütze und förderte im 18. Jahrhundert diese

menschliche Sichtweise des Lehrens in der damaligen Gesellschaft. Eine

Gesellschaft, die sich ganz im industriellen Zeitalter vorwärts bewegte, in der aber

z.B. Prügelstrafen noch voll akzeptiert waren und in der Schule als normal und

notwendig angesehen wurden. Damals hiess Lernen im Rahmen der öffentlichen

Bildung, so viel Wissen wie möglich einzutrichtern (Knauer, 2008, S. 87). Die

Lernenden selbst wurden von den Lehrern als Schwamm betrachtet, die so viel

Wissen wie möglich in sich aufzusaugen und anzusammeln, um es später

wiedergeben zu können. Doch von welchen Lernenden ist hier die Rede? Wohl kaum

von den Kindern, welche bis in die späten Achtzigerjahre als „verhaltensgestört“

klassifizierten wurden (Schumacher,1974, S.22). Jahrelang versuchten die

pädagogisch Verantwortlichen (Lehrpersonen, Departemente, Politik), das

verhaltensgestörte Kind zu „heilen“. Wenn das unmöglich schien, wurde es in eine

ausgegliederte Institution ausgesondert, wo es sich unter „Seinesgleichen“ aufhalten

und speziell „gepflegt“ und betreut aufwachsen konnte. Der US-Amerikaner Edward

Lee Thorndike, Mitbegründer des Behaviorismus brachte auch den Schulen Europas

diese Auffassung eines optimalen Lernprozesses ein. Der angepasste, nicht der

mündige Mensch stand hiermit im Vordergrund. Der Unterricht war auf klar

messbares und beobachtbares Verhalten fixiert. Der Lehrer förderte vor allem durch

Lob und Anerkennung. Metakognition und Denkprozesse wurden damit eher

vernachlässigt.

Ich erinnere mich noch genau an die Lektionen im Fach Psychologie im Kantonalen

Lehrerseminar in Luzern während der Achtziger-/Neunzigerjahre. Dort wurde mir

beigebracht, dass sich in den Anfängen des 20. Jahrhunderts Jean Piaget (1896 –

1980) mit der Theorie der kognitiven Entwicklung beim Menschen voll im Zeitgeist von

damals bewegte. Diese Ansicht der Entwicklungspsychologie etablierte sich seither

sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft. Damit wurde der Allgemein-

heit eine neue Sichtweise bekannt gemacht, nämlich die, dass der lernende Mensch

bereits im Säuglingsalter zu lernen beginnt.

Abhängig davon, in welchem Entwicklungsstadium sich dieser befindet, gelingt es

bereits dem noch sehr jungen Menschen, laufend mehr dazuzulernen. Doch brauchte

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die deutschsprachige Schweiz viel Zeit, bis die Entwicklungspsychologie einen festen

Platz in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung bekam.

Ab den 1960er und 1970er Jahren wurde der Behaviorismus vom Kognitivismus

abgelöst. Nicht mehr der angepasste Mensch stand nunmehr im Vordergrund,

vielmehr verstärkte sich die Lehreraktivität im Unterricht. Vom einfachen

Lerngegenstand zum komplexen wurde zum zentralen didaktischen Mittel. Ein

extrinsisch motivierter Lernprozess etablierte sich, in welchem eine hohe

Gedächtnisleistung dominierte. Die Schüleraktivität war gering, passiv und sehr von

der Willensleistung des einzelnen Schülers abhängig. Dieser Frontalunterricht liess

sich nur bei möglichst homogenen Klassen durchführen. Von einer Integrativen

Schulungsform war damals in der Gesellschaft noch kaum die Rede.

Eigene Erfahrungen bringe ich aus meinem familiären Umfeld mit. In den gesamten

Achtzigerjahren herrschte eine gesellschaftlich anerkannte Homogenität in den

Volksschulen. In dieser Schule waren vielleicht die Immigrantenkinder aus

Italienischen Familien das exotischste, was mir auffiel. Geistig oder körperlich

behinderte Kinder sah ich in meiner Schulzeit nie im Schulhaus. Die Stadt Luzern bot

hierfür Hilfsschulen und Beobachtungsklassen an. In diesen Institutionen wurde den

regelklassenuntauglichen Kindern einerseits einen separaten Unterricht angeboten

und andererseits wurden sie von den regelklassentauglichen Lernenden ferngehalten.

Die angestrebte und praktizierte Homogenität in der Volksschule bot offenbar eine

geeignete Sicherheit für die Lernenden und Lehrenden in der breiten Bevölkerung.

Gesellschaftlich gesehen, war die Verteilung der Rollen in Bezug zur (Regel-)

Schultauglichkeit somit ziemlich klar umrissen.

Es kam vor, dass ich gelegentlich einen Knaben mit dem Down-Syndrom in meiner

Nachbarschaft antraf. Doch das geschah selten. Zwei in meiner Erinnerung

unauslöschlich haften gebliebene Erlebnisse zeigten mir auf, es leben um mich

herum offenbar Menschen, die „nicht normal“ sind. Diese Menschen entsprachen und

entsprechen auch heute noch nicht dem Status, was die Gesellschaft als normal

empfindet.

Zum einen waren das die behinderten Erwachsenen, welche regelmässig in der

Adventszeit vor unserem Einkaufscenter standen und den Behindertenkalender an

Passanten verkauften. Das typische Idiom klingt noch heute in mir nach. Zum

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anderen habe ich einen leicht körperlich und geistig behinderten Cousin, im fast

gleichen Alter wie ich. Heute käme er höchstwahrscheinlich dank des IS-Projekts in

eine Regelklasse. Damals besuchte er während seiner Kindheit ein Heim für schwer

geistig behinderte Kinder. Dass er dort fehlplatziert war, offenbarte sich mir sehr

drastisch im Alter von etwa sieben Jahren. Nach einem gelungenen

vorweihnächtlichen Besuchstag, an welchem mein Cousin und ich zusammen Kerzen

zogen, wollten uns meine Eltern und ich von ihm verabschieden. Es war Abend. Die

Pfleger, heute sagen wir Betreuer, zerrten meinen Cousin von mir weg in sein

Zimmer. Er wollte lieber mit mir mitkommen, denn, so argumentierte er höchst

differenziert, er habe hier niemanden, mit dem er normal reden könne. Ich bin heute

davon überzeugt, dass mich dieses Erlebnis massgeblich in meiner beruflichen

Laufbahn zum schulischen Heilpädagogen beeinflusst und geprägt hat.

3.2.2 Eine persönliche (Erfahrungs-)Sicht der Gegenwart

Gegen Ende der 1980er - und Anfang der 1990er Jahre verschob sich der

eingeschlagene Weg der Homogenität Schritt für Schritt in Richtung Heterogenität.

Die Hilfsschule hatte ausgedient, Kleinklassen entstanden. Aus heutiger Sicht ist also

das oben genannte Verständnis der Lernvorgänge nicht nur überholt sondern auch

nicht mehr anwendungstauglich. Nicht mehr allein der Wissensstand, die zentrale

Rolle der Lehrperson spielt eine wichtige Rolle, sondern die Fähigkeit, das erlangte

Wissen zu vernetzen und in der uns umgebenden Welt sinnvoll anzuwenden. Die

kognitivkonstruktivistische Auffassung, welche Lernen als aktiven, selbstgesteuerten,

konstruktiven und sozialen Prozess sieht, lässt hiermit mehr Raum für das Individuum

zu. Die ehemals im Zentrum stehende Lehrperson ist nicht mehr allein nur

Wissensvermittlerin. Vielmehr begleitet, steuert und fördert sie das einzelne Kind. Der

lernende Mensch ist aktiv, interessiert und bringt subjektives Wissen ein. Die

Lehrperson gestaltet einen Unterricht, der Konstruktionen ermöglicht und anregt. Es

besteht eine Balance zwischen Instruktion und Anregung zur Konstruktion. Unsere

kantonalen Lehrpläne verlangen nicht mehr ausschliesslich spezifisches Wissen,

sondern lassen viel mehr Spielraum offen.

Zum Beispiel ist es heute nicht mehr so relevant in Geschichte zu wissen, wann die

einzelnen Schlachten von den alten Eidgenossen geschlagen wurden, sondern

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welche Auswirkungen diese Vorkommnisse u.a. auf die spätere Entwicklung von

Land und Bevölkerung hatte.

„Heute kann niemand mehr alles wissen, sondern es kommt darauf an, die

Informationsflut geschickt zu filtern und Zusammenhänge zu erkennen“ (Knauer,

2008, S. 87).

Beim periodisch anstehenden Elterngespräch wird heute nicht selten von den Eltern

und den Regeklassen bemerkt, dass Lesen, Schreiben und Rechnen einfach „als

Grundlage der Bildung“ zu verstehen sind. Was soll denn alles Integrative und

Soziale, überhaupt die ganze Heterogenität, dazu beitragen? Der Vorwurf, welcher

wiederholt von Eltern, der Presse und nicht selten auch von Lehrpersonen zu hören

ist, dass die Schulabgänger weder richtig lesen, schreiben und rechnen können, wird

oft diesen veränderten Bedingungen der Anforderungen an diese Volksschule

zugeschrieben. Dass sich die Volksschule weiter verändern wird, löst bei einigen

Menschen Unbehagen aus. Zum Beispiel werde ich regelmässig von Eltern darauf

angesprochen, die Schule sei früher „besser“ gewesen als heute. Früher habe man

klare Verhältnisse gehabt (z.B. Regelschule, Hilfsschule, Sonderschule). Heute

würden unklare Lehr- und Lernverhältnisse vorherrschen, in welchen sich ihre

eigenen Kinder nur schlecht zurechtfinden können.

Die Verantwortlichen der Volksschulen scheuen sich, alte Strukturen wie z.B. den

Stundenplan ganz aufzuheben und mutig neue Wege zu gehen. Sie versuchen

krampfhaft an den alten Strukturen festzuhalten. Wichtige Neuerungen werden

deshalb auf diese bestehenden Strukturen aufgepfropft. Das führt oftmals zu solch

absonderlichen Verhältnissen, dass z. B. zu Gunsten des Fachs Englisch im Kanton

Luzern ab der 5. Klasse eine Lektion Mathe weniger unterrichtet wird, die Lehrmittel

und –pläne aber nicht darauf abgestimmt sind.

Momentan mache ich die gute Erfahrung, fast alle Lernenden werden, und das ist

erfreulich, möglichst in die Regelklasse integriert. Dazu fand ein Schülerabbau in den

kantonalen und den staatlich anerkannten Sonderschulen statt. Sämtliche

Einführungs- und Kleinklassen wurden oder werden gegenwärtig aufgelöst und die

darin vorkommenden Lernenden in die vorhandenen Regelklassen „integriert“. Sie

erhalten dafür von Schule und Kanton einzelne Lektionen zugeteilt. Meistens beläuft

sich diese zugesprochene Hilfe auf eine Lektion zusätzlicher Unterstützung durch

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eine IF-Lehrperson.

In dieser generierten Unruhe muss das lernende und werdende (IF-) Kind seinen

Platz finden und den Anforderungen der Schule gerecht werden können.

3.2.3 Ausblick in die Zukunft

Preuss-Lausitz (1998, S. 134) sieht in der Volksschule keinen Bedarf mehr an Noten.

In die integrative Pädagogik gehört der Verzicht auf Ziffernzensuren und die objektive

Beschreibung der individuellen Lernentwicklung. Die Lernentwicklungsberichte, im

Kanton Luzern Förderberichte genannt, stellen auch eine Leistungsmessung dar. Sie

dienen also der Feststellung eines Lernprozesses. Die Darstellung der individuellen

Lernentwicklung sagt mehr aus, als jede Ziffer. Für diese Didaktik, für diese Art

integrativer Pädagogik, brauchen wir keine Spezialausbildung, wir lernen diese in

unserer Ausbildung.

Ob die Kinder und Jugendlichen mit besonderen Problemen weiterhin in

Sonderschulen gefördert oder aus den Volksschulen nicht ausgesondert und

trotzdem ihren Problemen entsprechen gefördert werden, ist nunmehr keine rein

pädagogische, sondern auch eine politische Entscheidung (Furger & Häfliger, 2010).

Hinter diesen Bemerkungen sehe ich den visionären Grundgedanken der Inklusion. In

unserer Volksschule hat heute die Integration fast flächendeckend Fuss gefasst. Die

Kantone bieten Lehrgänge in Sonder- und Heilpädagogik an und die Schulen suchen

fieberhaft nach qualifizierten IF-Lehrpersonen. Doch vom Inklusionsansatz sind die

Volksschulen noch weit entfernt. Die Schwierigkeiten stecken vor allem in vielen,

kleinen Details wie kantonale Rahmenbedingungen, Raumnot, akuter

Personalmangel und fehlender Rückhalt in Politik und Gesellschaft. Denn Integration

und Heterogenität bedeutet die Abkehr vom alten und scheinbar bewährten

Schulsystem, der Homogenität.

Getzmann (2009, S. 25) vergleicht das Leben symbolisch mit einer

Aneinanderreihung von Stühlen. Das aktuelle Leben findet demnach auf dem

vordersten Stuhl statt. Erst unsere Erfahrungen und guten Verbindungen zu den

„hinteren Stühlen“ können uns unterstützen und ein solides Fundament bilden, für das

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was jetzt zu tun ist.

Abb. 2 (Getzmann, 2009)

Immerhin haben Schweiz weite Bestrebungen für eine integrative Volksschule bereits

Anfang der Neunzigerjahre mit dem Projekt HZU (Heilpädagogischer

Zusatzunterricht) begonnen. Anders als heute, ging man damals von einem

separativen Unterricht aus. Man wollte förderbedürftigen Kindern zusätzlich zum

Unterricht in der Regelklasse eine Lektion bei einer SHP-Lehrperson ermöglichen.

Wir können demnach auf fast 20 Jahre Erfahrung zurückblicken und diese in unsere

integrative Zukunft der Volksschule einbauen und sinnvoll umsetzen.

Wenn sich also z.B. die Erkenntnis an eine gelungene und wirklich integrativ geführte

Volksschule positiv in Politik und Gesellschaft manifestiert, stehen die Chancen für

alle Schüler gut, in einer soliden und professionellen Schule lernen zu können.

Deshalb erachte ich es als äusserst wichtig und sinnvoll, dass wir mittels einer

geeigneten Form dem integrativen Unterricht zum Weiterbestehen verhelfen.

3.2.4 Integrationspädagogik

“Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes!" Paul Moor (1899 -1977)

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Dieses bekannte Zitat des in Basel geborenen Pädagogen sollte uns ursprünglich die

Natürlichkeit des Unterrichtens näher bringen und begreiflich machen. Einschränkend

muss ich anfügen, dass die Meinungen in Fachkreisen nicht immer klar ersichtlich

sind. Die Botschaft, die in allen Beiträgen steckt, scheint mir immer wieder dieselbe

zu sein: Es besteht dringender Handlungsbedarf an unseren Schulen

Integrationspädagogik wirklich zu praktizieren.

Als ich in den verschieden Werken recherchierte um herauszufiltern, was die

verschiedenen Autorinnen und Autoren unter Integrations- oder Sonderpädagogik

verstehen, erhielt ich keine einheitlichen Antworten. Ich will hiermit die Diversität und

Vielfalt in der Literatur der Heilpädagogik begreiflich machen und gleichzeitig durch

meine Arbeit die Verbindungen innerhalb dieser unterschiedlichen Ansichten

aufzeigen. Deshalb wähle ich fünf Sichtweisen von namhaften Autorinnen und

Autoren aus, die diesen Umstand der Verschiedenheit aufzeigen und für mich eine

breite Erklärung bieten:

1. Iben (2009, S. 69) vertritt in Anlehnung an die in Deutschland ansässige

Arbeitsgruppe Schulforschung 1980 ebenfalls die folgende Ansicht: 'Erfolg und

Misserfolg in der Schule sind heute von lebensgeschichtlicher Bedeutung. Schulen

verfügen über das gesellschaftliche Monopol der Vergabe von Abschlüssen, die

weiterführende Ausbildungen und spätere Berufs- und Lebenschancen

vorbestimmen' (S. 7).

Die Arbeitsgruppe will damit unter anderem auf den monopolistischen Selektions-

auftrag der Volksschule aufmerksam machen. Was passiert aber, wenn dieser

Auftrag beim Lernenden mangelhaft und zu dessen Ungunsten ausgeführt wird?

Die Folgen begleiten den Schüler unter Umständen ein Leben lang.

Nicht direkt auf den Integrationsunterricht bezogen sieht Iben (2009, S. 69) die

Sachlage auf die gesamte Schule bezogen. Er will damit keinesfalls bestreiten,

dass Schulerfolg oder Versagen vom einzelnen Schüler oder von seinem

Elternhaus mit verantwortet wird. Aber er stellt hierbei die Frage, ob nicht auch zu

untersuchen sei, welchen Part die Schule als Institution mit ihren Lehrern,

Methoden, Inhalten und ihrer Lernatmosphäre beim Schulversagen spielt.

Iben (2009) sieht im Schulversagen des Lernenden ein Versagen der Schule, die

Schulschwäche ist eine Schwäche der Schule. „Deshalb soll hier auch die Frage

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nach dem „schulgerechten Kind in die nach der „kindgerechten“ Schule

umgemünzt werden“ (Iben, 2009, S. 69). Durch diese Sichtweise fühle ich mich

meiner zentralen Frage bestärkt: Wie kindgerecht ist unser praktizierter IF-

Unterricht wirklich? Beinahe in jeder Schulklasse treffe ich ein Kind in der

integrativen Förderung an, das entweder Angst hat im Unterricht zu versagen,

hochgradig gestresst ist oder ein hohes Mass an Schulunlust in sich trägt.

2. Eberwein und Knauer (2009) wiederum sehen im Begriff „Integrationspädagogik“

selbst schon einen Widerspruch:

Integrationspädagogik ist ein Substitutionsbegriff; in ihm ist die Aufhebung der

Sonderpädagogik begriffslogisch enthalten. Als Ziel verfolgt Integrationspädagogik

die Überwindung aussonderenden Einrichtungen sowie deren pädagogischer Kon-

zeptionen zu Gunsten gemeinsam Lernens und Lebens. Damit verbinden sich weit

reichende strukturelle Veränderungen im Schul- und Bildungswesen der

Bundesrepublik (S. 17).

Diese Ansicht kann meines Erachtens durchaus auf schweizerische Verhältnisse

übertragen werden. Auch in der Schweiz werden gegenwärtig die Leistungen der

Sonderschulen abgebaut. Was dabei aber nicht vergessen werden darf ist die

Tatsache der ungenügenden Ausstattung der Infrastruktur an unzähligen

Regelschulen. Trotz des vorhandenen Bewusstseins in Gesellschaft und Politik

über das Einführen von heterogenen und integrativ geführten Regelklassen, sind

viele Schulhäuser ungenügend darauf vorbereitet, behinderte Kinder

entsprechend zu unterrichten und zu fördern. Es fehlt zum Beispiel an geeigneten

Räumlichkeiten, die dem Klassenzimmer angegliedert sind, damit ein

Lokalitätenwechsel vermieden werden und innerhalb der Klasse gefördert werden

kann. Notlösungen wie schnell bereit gestellte Container oder in Schulnähe dazu

gemietete Räumlichkeiten sollen die Raumnot mindern und gleichzeitig nach

aussen den Eindruck vermitteln, die Schule sei nun bereit integrativ zu arbeiten.

Viele wie der örtlichen Behörden sind ernsthaft bemüht, die vorgeschrieben

baulichen Rahmenbedingungen von Bund und Kanton umzusetzen aber es fehlt

an Zeit und Geld.

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In der Umsetzung der Integrationspädagogik scheinen grosse Probleme zu

existieren (Knauer, 2009, S. 56), denn sie sieht in der unübersichtlichen

Rechtslage, den unklaren Organisationsvorgaben und in der personellen und

materiellen Mangelversorgung eine Hintenanstellung und Vernachlässigung des

Integrationsgedankens seitens der Administration. Diese Ansicht scheint meine

Vermutungen bezüglich mangelnder Bereitstellung von Ressourcen der einzelnen

Gemeinden sowie des Kantons Luzern zu bestätigen. Insbesondere denke ich

dabei an eine spürbare Aufstockung der Kapazitäten für Förderstunden und

Besprechungszeiten für Lehrpersonen. Einige von Luzerns Nachbarkantonen, wie

zum Beispiel der Kanton Zug, zeigen, dass die Regierungsverantwortlichen die

Dringlichkeit zur Aufstockung der Ressourcen erkannt haben.

3. Knauer (2009, S. 57) will uns denn auch plastisch vor Augen führen, dass sich

unsere Gesellschaft bezüglich ihrer Heterogenität neu zu ordnen scheint und dass

die Schulen nicht darum herumkommen, diese Neuorientierung zu thematisieren,

aufzuarbeiten und zu bewältigen.

Äusserst treffend meint Knauer (2009) hierzu:

Die Integrationspädagogik muss sich heute neuen Aufgabenfeldern öffnen. Durch

das Auseinanderfallen in extrem heterogene und spezialisierte Lebensbereiche

und infolgedessen Lebensumfelder und –erfahrungen ist derzeit eine zunehmende

gesellschaftliche Desintegration zu beobachten, die sich äusserst in allfälligen

Beeinträchtigungen von Kommunikation und Interaktion zwischen Kindern und

Jugendlichen unterschiedlicher sozialer Identität. Diese Problematik ist zu

thematisieren, aufzuarbeiten und zu überwinden (S. 56).

Für die weitere schulische Zukunft malt Knauer (2009, S. 59) ein eher düsteres

Szenario bezüglich der Einführung und Umsetzung der Integrationspädagogik in

den staatlichen Schulen auf.

Knauer (2009) hegt denn auch die Befürchtung:

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Ihre pädagogischen Einflussmöglichkeiten wird die Integrationspädagogik nur

verwirklichen können, wenn sie ihr Augenmerk verstärkt auch auf jene Schüler

und Schülerinnen richtet, die keine Behinderung im medizinischen,

sozialrechtlichen oder sonderpädagogischen Verständnis aufweisen. Denn auch

all jene sogenannten „normalen“ Kinder und Jugendlichen haben ein Anrecht auf

eine Schule, die Ihre Bedürfnis- und Interesselage berücksichtigt, auch sie leiden

unter Leistungsdruck, Über-/Unterforderung sozialen Spannungen in Familie und

Schulklasse, unter Ungerechtigkeiten, Aussenseiterpositionen [Hervorhebung d.

Verf.] und so fort (S. 59).

Ich führe viele Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern darauf zurück, dass sie unter

enormem Druck stehen. Oft kann ich nur in einem persönlichen Gespräch mit

dem Kind herausfinden, was die Ursache des auffälligen Verhaltens ist. Wenn sich

mir gegenüber ein Kind öffnet, muss ich oft feststellen, dass das Kind zum Beispiel

Ernst zu nehmende Spannungen in der Familie auszuhalten hat oder zum Beispiel

unter enormen Erfolgsdruck wegen des kantonalen Übertrittsverfahrens steht.

Aufgrund dieser oder ähnlicher Äusserungen scheint für mich eines klar zu sein:

Ich kann solchem Druck nicht allein mit Gegendruck begegnen.

Gute Erfahrungen machte ich mit offenen Gesprächen in entspannter Atmosphäre.

Nachdem sich mir ein Kind anvertraut, hat dies zur Folge, dass der vorhandene

Druck sichtlich abnimmt und sich das Verhalten unmittelbar danach stark bessert.

Damit aber dieser positive Fall auftritt, braucht es vor allem Zeitgefässe und diese

sind in der aktuellen Praxis zu knapp bemessen.

4. Preuss-Lausitz (1998, S. 122) sieht die Integrationspädagogik als eine

„modernisierte Reformpädagogik zwischen Individualisierung und sozialem

Lernen“. Tatsächlich mache ich in der Schule die Erfahrung, dass wir über die

innere Differenzierung, erweiterte Lernformen und die unterschiedlichsten

Sozialformen das Lernen kindgerechter und zugleich lernzielgerechter gestalten

wollen, als dies noch vor ein paar Jahren der Fall war. Hierbei stelle ich fest, dass

wir wohl den Unterrichtsinhalt „integrativer“ gestalten, jedoch die Lernenden nicht

viel anders im Lehr-Lernverhalten sind als noch vor ein paar Jahren.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass in früheren Jahren den

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Schülerinnen und Schülern ein gewisser Lehr-Lernstatus zugestanden wurde.

Beispielsweise „durfte“ ein Kind seine Grenzen oder schwachen Leistungen

bezüglich eines Themas oder Faches aufweisen, ohne dass gleich über die

Notwendigkeit von Förderbedarf diskutiert wurde. Trotz der damals weit

verbreiteten Homogenität in den Klassen hatte ich mich trotzdem mit einer sehr

breiten Streuung an Lernleistungen meiner Schüler zu befassen. Für

verhaltensauffällige und lernschwache Kinder war die Kleinklasse da. Heute, so

behaupte ich, ist das anders. Durch die Sensibilisierung von Verbänden und

diversen kantonalen Arbeitsgruppen welche uns Lehrpersonen darauf

aufmerksam machen, dass wir die Heterogenität als Tagesordnung in unseren

Klassenzimmern betrachten müssen, versuchen wir möglichst alle Lern- und

Verhaltensdefizite bei den Kindern in Form von Fördermassnahmen aufzufangen.

Was in früheren Schuljahren an individuellen Massnahmen vielleicht eher zu spät

angepackt worden ist, wird heute tendenziell viel schneller in die Tat umgesetzt.

Ich will damit behaupten, dass wir zumindest in den oberen Stufen der

Primarschule noch nicht viel mit Behinderungen konfrontiert worden sind, dass

sich aber dennoch unser Bewusstsein über die Verschiedenheit der Schüler

markant verfeinert hat, zumal von den verschiedenen kantonalen Stellen aktuell

immer wieder darauf hingewiesen wird. Die Folge davon ist, dass Kinder, die noch

vor ein paar Jahren Regelschüler gewesen wären, zu Förderschüler werden und

auf heilpädagogische Unterstützung angewiesen sind. Die Sonderschulen aber

unterrichten nach wie vor „ihre Sonderschüler“. Wir haben plötzlich mehr zu

fördernde Kinder als die Jahre zuvor. Dies hat auch Auswirkungen auf die

Schulkosten. Sie steigen kontinuierlich.

5. Zur Finanzierung der integrativen Schule meint Preuss-Lausitz (1998):

Notwendig ist auch die Abkehr von einer reinen input-orientierten Finanzierung für

gemeinsamen Unterricht, während gleichzeitig das Sonderschulsystem erhalten

und seine Schulplätze immer wieder „gefüllt“ werden. Das führt insgesamt zu

steigenden Behindertenquoten. Stattdessen ist die Festlegung einer an den

Altersjahrgang festgemachten Quote für alle Sonderpädagogisch zu fördernden

Kindern nötig (S. 122).

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Integration ist keine spezifische Pädagogik, sondern drückt aus, dass bei

gemeinsamer Erziehung bestimmte Elemente der allgemeinen Schulpädagogik

aufgegriffen werden müsste. Was zudem im Regelklassenunterricht zwar

wünschenswert ist, oft jedoch leider nicht praktiziert wird, ist bei gemeinsamem,

integrativem Unterricht unverzichtbar.

Integrationspädagogik kann also als die Bündelung moderner pädagogischer

Prinzipien betrachtet werden(Preuss-Lausitz, 1998, S. 123).

Zur Frage, wie Integrationspädagogik praktiziert werden sollte, meint Preuss-

Lausitz (1998) weiter:

Integration kann auch von allen Lehrerinnen und Lehrern praktiziert werden: Sie

machen dabei ja nichts anderes, als was sie in Aus- und Fortbildung empfohlen

bekommen haben zu tun: Die Kinder dort abholen, wo sie sind; mit den Kollegen

sich absprechen und kooperieren; beobachten und diagnostizieren; die Kinder zu

Wort und zur Tat kommen zu lassen, also learning-by-doing ermöglichen, mit den

Eltern, ggf. mit den Fürsorgestellen, Ärzten, Schulpsychologen,

Sonderpädagogischen Beratungsstellen und den Horten kooperieren, kurzum: Sie

machen moderne Schule und stellen sich auf den Pluralismus in den

Lernvoraussetzungen und Lebensbedingungen heutiger Kinder ein (S. 123).

Schliesslich ist Heil- Sonder- oder Integrationspädagogik trotz diesen unterschied-

lichen Auffassungen und Beschreibungen, nichts anderes als Pädagogik.

Aber die Form und die damit verbundenen behördlichen Rahmenbedingungen, die

diese Pädagogik bestimmen und prägen, scheinen mir sehr grosse Unsicherheits-

faktoren zu sein, zumal innerhalb der föderalistischen Schweiz zu wenig einheitliche

Vorgaben bezüglich der Form des Integrationsunterrichts existieren. Zum Beispiel

werden an unzähligen Schulen innerhalb der Kantone IF-Konzepte entwickelt und

umgesetzt. Das Ziel, das alle dabei verfolgen ist am Ende für alle dasselbe:

Integration. Wäre es denn hier nicht sinnvoller, dass Bund und Kantone ihre Kräfte

bündeln und die Form Integrationspädagogik gemeinsam entwickeln und umsetzen

würden?

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„Die Form“ der Integrationspädagogik scheint es demnach nicht zu geben. Aber

gemeinsam eine Form zu entwickeln, die sich mit den vorherrschenden Verhältnissen

und Rahmenbedingungen verträgt oder diese sogar zu Gunsten einer erfolgreichen

integrativen Schule positiv zu beeinflussen und zu verändern vermag, sollte doch

möglich sein.

Alle diese Ausführungen und Ansätze der Autorinnen und Autoren sollen uns

Denkanstösse und Umsetzungshilfen bieten, den Lernenden eine optimale Schule mit

einem professionellen Unterricht zu verschaffen. Sie wollen uns darin unterstützen,

jeden Menschen in die Volksschule aufzunehmen und diesen möglichst optimal

fördern und lehren zu können. Vorkommenden Verhaltensschwierigkeiten könnte

damit vielleicht viel besser vorgebeugt und begegnet werden.

3.2.5 Die Lernprozessanalyse beim (IF-) Kind

Beginnend möchte ich mit einem Beispiel aus meinem aktuellen Studienalltag

aufwarten. Unser Studiengang zählt gegen fünfzig Teilnehmende. Auch hier in der

Erwachsenenbildung lassen sich Überforderungen in kognitiver, emotionaler und

sozialer Hinsicht bei Studierenden beobachten. Wenn sich einerseits die

Studierenden mit dem stetig vorkommenden Lokalitätenwechsel schwertun und

andererseits ihre Abneigung mit mangelnder Aufmerksamkeit und lautem, auffälligen

Verhalten gegenüber den Dozierenden und anderen Anwesenden kundtun, erkenne

ich darin klare Parallelen zur Volksschule.

Wie kann eine Lehrperson darüber befinden, was für den Schüler, insbesondere für

den IF-Schüler, einfach ist und was nicht? Welche Lernschritte sind nötig, damit ein

Kind begreifen lernt, damit es lernt zu lernen?

Viele der vorkommenden Lern- und Verhaltensprobleme können als kognitiv bedingt

gedeutet werden. Faktisch betrachtet, haben sie wahrscheinlich primär keine

kognitive Ursache. Schliesslich lassen sich extrinsisch gesehen, die kognitiven

Prozesse eines Kindes nicht sichtbar und lückenlos beobachten.

Die Gefahr vorgefertigter „Beobachtungsinstrumente“ liegt in der damit möglichen,

vorzeitigen Festlegung einer Intervention, welche den relevanten Lebenslauf des

betroffenen Schülers nicht mit einbezieht. So werden wichtige Lernvoraussetzungen

und -möglichkeiten ausgelassen und nicht beachtet. Eine weitere Gefahr liegt in der

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mangelhaften Berücksichtigung der Beobachtungsbreite und –intensität von

individuellen Lernprozessen. Somit könnten tatsächlich wirksame und bedeutsame

Verhaltensbedingungen ausser Acht gelassen werden. Vor allem eine unreflektierte

Übernahme von festgelegten Beobachtungsinstrumenten und –kategorien könnte

sich verfälschend auf den weiteren Lernprozess auswirken.

Bisweilen liegen die Schwierigkeiten schon darin, Wahrnehmungen aufzunehmen,

sich selbst mitzuteilen und mit anderen zu kommunizieren. Auf der Seite des Schülers

können sich Probleme ergeben, solche gesendeten Mitteilungen wahrzunehmen, zu

decodieren und zu verstehen. Eine Folge daraus könnte beispielsweise ein auffälliges

Verhalten des Kindes sein. Lernprozessanalysen sind teilweise sehr Zeitintensiv und

oberflächlich betrachtet wenig ökonomisch. Man muss aber dabei bedenken, dass

Fragen nach der Ökonomie im Rahmen der Bildung nicht erkenntnisbringend sind.

Die Lernprozessanalyse erweist sich als notwendiger, integraler Bestandteil jeglichen

pädagogisch-didaktischen Handelns im weiten Sinne. Daher sollte die Zielrichtung

lauten: Erweiterung der Handlungskompetenz für Lernende und Lehrende sowie

Unterstützung des möglichst selbstständigen Lernen und der Aneignung weiterer

notwendiger Bewältigungsstrategien von Lehrenden und Lernenden.

Lernprozessanalysen sollten demnach beobachten, was ein Kind schon kann und

nicht kann und inwieweit der Lernprozess bereits fortgeschritten ist. Ebenfalls ist zu

beachten, ob sich Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung zwischen Lehrperson

und Schüler ergeben.

Konkret heisst das, die Lernprozessanalyse muss von den Möglichkeiten, Fähigkeiten

und vor allem von den Stärken ausgehen. Diese Standortbestimmung kann zum

Beispiel sehr gut mit einer am Anfang des Schuljahres durchgeführten

Lernstandsanalyse festgestellt werden. Die in der Lernstandsanalyse vorkommenden

Fehler als Ansatzpunkte eines Lösungsprozesses ansehen und nicht als Defizit

betrachten. Bedingungen, welche das Kind seinem Lernprozess hindern oder

bremsen, müssen entweder durch die Lehrperson oder noch besser gemeinsam

herausgefunden und beseitigt oder zumindest verkleinert werden können. Wenn sich

zum Beispiel Störungen in der Wahrnehmung zeigen, müssen neue Lernwege

erschlossen werden. Welche Sinnes- und Informationskanäle benutzt das Kind?

Gemeinsame Kommunikationsformen müssen gefunden und erweitert und Strategien

zur Selbsthilfe sollen gemeinsam eruiert und auf die Perspektive des Kindes

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ausgerichtet werden. Dadurch wird das Kind in seinen Stärken bestätigt, es fasst Mut

und kann sich damit für den weiteren Verlauf des Lernprozesses selbst motivieren.

Knauer (2008) meint dazu: „Eine Pädagogik aus der Perspektive der Kinder schürt

die Hoffnung auf eine Schule der Zukunft, die integrativ-ganzheitliche Bildung ernst

nimmt“ (S. 64).

Abschliessend und zusammenfassend darf behauptet werden, dass sich ein

motiviertes Kind in der Schule weniger verhaltensauffällig und störend verhält.

3.2.6 Zum Störungsverständnis im Unterricht

Ein kindgerechter IF-Unterricht hat mit dem gegenseitig unterschiedlichen

Verständnis zu tun, wie viel persönliche Freiräume sich ein Schüler geben möchte

und wie viele Freiräume ihm von der verantwortlichen Lehrperson tatsächlich

zugestanden wird.

Im Verlaufe meiner Praxis stellte ich fest, dass sehr heterogene Ansichten bezüglich

Schülerverhalten bei den Lehrpersonen vorhanden sind. Das Störungsverständnis im

Zusammenhang mit auffälligem Verhalten bei Schülern ist bei jeder Lehrperson

anders gelagert. Zusätzlich ist es abhängig vom gegenwärtigen Befindlichkeitsstatus

derselben. Befindet sich die Klassenlehrperson in einer Phase, in welcher sie

erhöhtem Stress ausgesetzt ist, zum Beispiel Eltern- und Übertrittsgespräche,

verharrt ihr Störungsverständnis auf niedrigerem Niveau als wenn sie sich in einer

Phase mit niedriger Anspannung befindet.

Müller (1991) ist in Bezug zu dieser Thematik der Meinung:

…Dabei sind das Störungsverständnis und die „erklärenden“

Persönlichkeitstheorien der Lehrerin nicht als willkürlich oder gar boshaft

anzusehen, sondern müssen ihrerseits im Zusammenhang mit der

gesellschaftlichen Vordefinition über Zweck und Funktion der Institution Schule

betrachtet werden, wie sie auf anderen, übergeordneten Ebenen (Bildungs- und

Gesellschaftspolitik, Ökonomie) getroffen und verstärkt (Lehrpläne,

Erziehungswissenschaft, Lehrerausbildung, Schulverwaltung) getroffen wird (S.

215).

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Ich will mit diesen Betrachtungsweisen aufzeigen, dass nebst den

Rahmenbedingungen wie, Klassengrösse, Zuteilung der IF-Unterstützungslektionen

gemäss kantonalen Richtlinien und geeigneten Räumlichkeiten, die

Klassenlehrperson einen wesentlichen Faktor darstellt, den IF-Unterricht kindgerecht

zu gestalten.

„Die Praxis hat Angst vor den Störern und möchte sie zuweilen gerne los sein. Dieses

Ansinnen offenbart die strukturelle Ohnmacht der Institutionen als auch den

wachsenden Bedarf nach genügend Unterstützung“ (Gerspach, 1998, S. 182). Den

Begriff „Praxis“, den Gerspach erwähnt, bringe ich vor allem mit der

Klassenlehrperson in Verbindung. Denn sie ist es, die in erster Instanz darüber zu

entscheiden hat, welches Kind integrativ zu fördern ist. Dies geschieht meistens in

Absprache und Zusammenarbeit des zuständigen Heilpädagogen.

Zum Regelklassenunterricht meint Gerspach (1998) weiter:

Es ist eine unumstössliche Tatsache, dass manche Kinder vor allem in

gruppenpädagogischen Zusammenhängen zur Belastung werden. Hier gilt es,

zum einen den normativen, den institutionellen und insbesondere auch

Gruppenzwang zu reflektieren, um nicht unaufgeklärten Vorgaben, die ausserhalb

des Kindes liegen, aufzusitzen und zu einem Problem zu machen, was seines

nicht ist. Zu anderen aber darf es damit nicht zu einer rationalisierenden

Rechtfertigung seiner antisozialen Tendenzen kommen. Indem wir die Störung im

Rahmen des Dialogs thematisieren, in dem sie wiederbelebt wird, erhält sie einen

Namen, der ihre Erlebnisqualität sichert“ (S. 185).

Gerspach (1998) benennt damit nichts anderes als die Tatsache, dass sich die

Lehrperson mit dem störenden, sich auffällig verhaltenden Kind intensiv zuzuwenden

hat. Er beschreibt aber auch sehr treffend, dass das Problem vor allem dann auftritt,

wenn viele Schüler im Klassenzimmer anwesend sind. Aus der eigenen Erfahrung

heraus behaupte ich, nur einer im Schulzimmer anwesenden Klassenlehrperson

allein gelingt es oftmals nicht, mittels dialogischem Vorgehen eine spontan

entstandene Konfliktsituation befriedigend zu entschärfen. Dazu reicht

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erfahrungsgemäss just in dem Moment die Zeit nicht, in dem dieser Vorfall passiert.

Vielmehr ist die Lehrperson darauf angewiesen, dass eine zweite anwesende

Lehrperson, ein Heilpädagoge, sich dieser Situation, „dem Störer“, annimmt. Ist dieser

Heilpädagoge hingegen nur in drei Lektionen pro Woche in der Klasse anwesend,

wird er dieser Aufgabe nur unzureichend gerecht werden können, weil

erfahrungsgemäss die Konfliktsituation just in einem Moment auftritt, in dem dieser

nicht in der Klasse anwesend ist.

Interessant scheint mir die Frage, was eigentlich als Störung empfunden wird.

„Störung“ an sich ist, wie wir wissen, eine äusserst subjektive Wahrnehmung und

diese wird von den Lehrpersonen dementsprechend unterschiedlich aufgefasst. In

diesem Zusammenhang ist es wichtig zu ergründen, welches Störungsverständnis im

schulischen Kontext vorherrscht und welche pädagogischen Erklärungen dafür

gegeben werden. Zudem muss ich mir als Lehrperson im Klaren sein, welche

Interventionen ich daraus ableiten will.

Als zentralen Punkt des Störungsverständnisses sieht Müller (1991) folgenden

interessanten Aspekt: „Ansatzpunkt hierführ ist zunächst die Frage danach, wer

definiert, was Störung konstituiert, d.h. wem die Durchsetzungsfähigkeit verbindlicher

Definitionen eignet und aufgrund welcher Voraussetzung. Erst auf dem Hintergrund

dieses Verständnisses werden Ansatzpunkte für Veränderungen sichtbar“ (S. 212).

3.2.7 Schüler- Lehrerbeziehung

In der Schule lernen die Schüler besser (ganz besonders IF-Kinder), wenn ihre

Beziehungen dort gut sind, das heisst wenn das Klima für sie stimmt und sie sich

wohlfühlen. Diese geläufige pädagogische Erkenntnis lässt sich denn auch

bindungstheoretisch begründen (Süess, 2003, zit. nach Schleiffer, 2005, S. 159):

„Insofern ist die Bindungstheorie eine Beziehungswissenschaft, die nicht nur als

Erklärungsrahmen für Dynamik von Eltern-Kind-Dyaden, sondern für vielfältige

Beziehungsnetzwerke im Laufe der Entwicklung dient“. Hier stelle ich mir die Frage,

wie es mir in der Schule wohl am besten gelingen mag, eine lernförderliche

Beziehung zum IF-Kind herzustellen. Zentral dabei scheinen mir dabei zwei Faktoren

nützlich zu sein. Unterricht ist vor allem direkte und wechselseitige Kommunikation

von Lehrperson zum Schüler oder umgekehrt. Wir kommunizieren mit den

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unterschiedlichsten uns zur Verfügung stehenden Formen: Verbal, schriftlich,

gestikulierend oder mit Verhalten, um nur einige zu nennen. Des Weiteren ist es von

erheblichem Vorteil, wenn ein regelmässiger Kontakt zwischen dem IF-Kind und dem

Heilpädagogen stattfindet, damit eine Lehr-Lernbeziehung aufgebaut werden kann.

Dieser Kontakt muss aber innerhalb nützlicher Zeit erfolgen. Erfahrungsgemäss ist

ein einmaliges Treffen pro Woche eine minimale Zeitspanne um einen

lernförderlichen Beziehungsaufbau zu bilden. Je höher die Anzahl Kontakte pro

Woche ist, desto stabiler kann eine solche Beziehung werden. Damit sich IF-Schüler

wohler fühlen, sich angemessen sowie erwünscht verhalten und dazu noch bessere

Schulleistungen erbringen setzt voraus, dass zu ihren Lehrerinnen und Lehrern gute

Beziehungen bestehen. Ausserdem ist es unumgänglich, dass die Institution Schule

der Entwicklung eines beziehungsfördernden Schulklimas besondere Bedeutung

beimisst. Dies gilt natürlich sowohl für Regelklassenschüler und IF-Schüler, als auch

für die Lehrpersonen in gleichem Masse.

Insofern muss sich die Institution Schule sowohl für alle Schüler einen sicheren Ort

zum Lernen wie auch für die Lehrpersonen einen sicheren Ort zum Lehren

bereitstellen (vgl. Schleiffer, 2005, S. 174).

Zu einem beziehungsfördernden Schulklima gehören die kantonalen und

gemeindlichen Rahmenbedingungen, welche die Integrative Förderung zu

unterstützen und zu professionalisieren vermögen. Wenn ein Heilpädagoge mit einem

Pensum von 80% pro Woche in drei Schulhäusern arbeiten und sich mit sieben

Lehrpersonen absprechen soll, spricht das nicht gerade dafür, ein sicherer Ort zum

Lehren zu sein.

Beziehung und Lernen scheinen mir deshalb in direktem Zusammenhang mit dem

Schülerverhalten zu stehen. Unsere Volksschule hat sich in den letzten Jahrzehnten

rasant verändert. Die pädagogische Situation im Klassenzimmer hat sich in Richtung

Demokratisierung verschoben. Wo früher die Lehrperson das Sagen hatte, herrscht

jetzt ein partnerschaftliches Nebeneinander. Alle Schüler erhalten mehr Raum für

eigenverantwortliches Handeln. Die alten autoritären Muster und Schemata reichen in

der heutigen Schulform nicht mehr aus oder wurden aufgehoben. Die Lehrperson ist

zudem angreifbar geworden. Durch neue Gesetzgebungen drohen den Lehrpersonen

bei „Übergriffen“ strafrechtliche Konsequenzen. Deshalb fühlen sich viele

Lehrpersonen gezwungen, abweichendes und auffälliges Verhalten von Schülern

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nach „aussen“ zu melden, um andere Konfliktlösungseinrichtungen (Schulleitung,

Sozialarbeit etc.) einzuschalten. Daraus resultiert eine gewisse Machtlosigkeit der

Lehrperson gegenüber unerwünschtem Schülerverhalten. Dies kann eine

Unzufriedenheit der Lehrperson hervorrufen oder steigern und das Klassenklima

verschlechtern. Diese Steigerung der Unzufriedenheit kann weiter dazu beitragen,

dass die Schwelle, ab welcher ein Schülerverhalten als störend oder abweichend

empfunden wird, deutlich herabsetzen. So können schon geringfügige Verhaltensab-

weichungen von Schülern unnötig harte Massnahmen nach sich ziehen.

Diese Entwicklung lässt darauf schliessen, dass sich eine intensive Beziehungsarbeit

innerhalb des Klassenraums positiv auf erwünschtes Schülerverhalten auswirken

wird.

3.3 Max - Ein theoretisches Extrembeispiel

Laut Heyer (2009, S.191) hat die Grundschule die Aufgabe, die Gesamtentwicklung

aller Kinder zu fördern, sie kann dieser Aufgabe nur gerecht werden, wenn sie die

vor- und ausserschulischen Lebens- und Bildungserfahrungen aller Kinder als

Grundlage für schulisches lernen respektiert als Basis, auf der es aufzubauen gilt.

Spinnen wir diesen interessanten Ansatz weiter, stosse ich unwillkürlich auf die

Frage: Wie verhält es sich mit den innerschulischen Erfahrungen?

In Anlehnung an die Weiterbildungskonferenz der Schulen Cham ZG (2002) habe ich

ein Beispiel konstruiert, welches ich in dieser Form zum Glück noch nie miterleben

musste. Damit will ich aufzeigen, wie basis- und kindsfremd unsere Volksschule trotz

vielen guten Willens und durchdachten Rahmenbedingungen agiert und wie komplex

die innerschulische Situation in den verschiedenen Schulhäusern sein kann, ihre

kindsgerechte Aufgabe zu erfüllen. Denn dabei wird von allen Verantwortlichen leicht

übersehen, wie viel (IF, Therapien etc.) dem einzelnen Kind zugemutet wird. Deshalb

darf davon ausgegangen werden, dass in einer Primarschule innerhalb der Schweiz

durchaus ein ähnliches Szenario stattfinden könnte.

Die folgende, konstruierte Lernbiographie entwickelte ich anhand tatsächlicher und

alltäglicher Schülerprofile, die ich in meiner Tätigkeit antreffe und summierte diese

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verschiedenen Profile auf ein Kind.

Max wächst in einer Familie mit Migrationshintergrund auf. Seine drei jüngeren

Geschwister gehen noch nicht alle zur Schule. Sein Vater arbeitet viel und kommt erst

spät nach Hause. Die Mutter ist der deutschen Sprache nicht mächtig und spricht

deshalb in ihrer Heimatsprache. Hauptsächlich kümmert sie sich um die drei jüngeren

Geschwister. Max wird somit von Vater und Mutter vernachlässigt. Seine Eltern

wünschen, dass er einmal pro Woche die Schule in heimatlicher Sprache und Kultur

besucht.

Er erledigt seine Hausaufgabe nur sehr selten, höchstens einmal pro Woche.

Schlechte Schulleistungen ziehen zu Hause oft Körperstrafen nach sich. Im Zeugnis

findet sich eine hohe Anzahl an Absenzen. Max ist oft krank. Er hat an 32 Halbtagen

die Schule nicht besucht. Die Lehrperson in der 4. Klasse verwies ihn deswegen an

die Schulsozialarbeit. Sein Sozialverhalten kann als aufbrausend und gewaltbereit

beschrieben werden. Seine Schulleistungen sind über alle Fächer hinweg eher

schwach. Er hat in den Fächern Mathematik und Deutsch angepasste Lernziele und

besucht deshalb den IF-Unterricht. Im Regelklassenunterricht fällt Max durch sein

unkonzentriertes und auffälliges Verhalten auf. Offenbar reagiert Max positiv auf

konstante Beziehungen, denn im IF-Unterricht (Kleingruppe von 4 Kindern) gelingt es

ihm viel besser sich zu konzentrieren. Damit er in der Regelklasse nicht zu häufig

auffällt, stellt ihm die IF-Lehrperson eine persönliche Arbeitsmappe zusammen, die er

dort selbstständig zu lösen hat.

Erst in der dritten Klasse stellt sich heraus, dass Max Probleme in der Feinmotorik

hat. Eine zusätzliche IQ-Abklärung ergibt einen Wert von 85.

Max besucht zur Zeit die 5. Primarklasse. Erschwerend kommt hinzu, dass die Klasse

von zwei Lehrpersonen im Teilpensum unterrichtet wird. Im Englischunterricht hat die

Klasse eine zusätzliche Fachlehrperson, weil die beiden Klassenlehrpersonen die

Englischbefähigung nicht besitzen. Turnen wird ferner von einem Sportlehrer

unterrichtet. Max singt gerne und gut, deswegen darf er einmal in der Woche ins zur

Vertiefung seiner Stärke ins Begabtenatelier.

Auf den ersten Blick scheint dieses Schülerprofil für Bildungsfachleute nicht sehr

aussergewöhnlich zu sein, sind doch alle involvierten Personen entweder direkt oder

indirekt mit der Schule verbunden.

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Bei den regelmässigen Planungssitzungen zwischen den Klassenlehrpersonen und

den SHP wird immer wieder sichtbar, wie oft das einzelne IF-Kinder spezielle

Förderangebote zu besuchen hat und deshalb in der Klasse fehlt.

Versucht man dieses übertriebene Schülerprofil nun auf die Anzahl Personen zu

reduzieren, mit denen Max jede Woche in Kontakt zu treten hat, wird sichtbar welche

grosse Anforderungen an ihn gestellt werden. Er sollte eigentlich unterstützt und

gefördert werden, wird aber zu Leistungen gezwungen, die sein Mass an gezeigtem

Können massiv übersteigen. Wieso verlangen wir Lehrpersonen und Fachleute es

trotzdem von ihm, mit dem Bewusstsein dass dem gerade so ist?

Die heilpädagogische Behandlung und Förderung setzt eine Beziehung voraus, in der

Max vorbehaltlos angenommen, in seiner Einzigartigkeit akzeptiert und verstanden

wird. Wie aber soll es dem Knaben und den Fachkräften, überhaupt allen Beteiligten

gelingen, in einem solch vorherrschenden Umfeld die notwendige Beziehungsarbeit

zu leisten? Als Förderlehrperson werde ich vor eine schwer zu lösende Aufgabe

gestellt, dem Schüler eine kindgerechte Förderung zukommen zu lassen. Zu viele

Störfaktoren stehen dazwischen und verhindern diese. Eine Lernprozessanalyse

kann vielleicht symptomatische Verbesserungen im Lernprozess bringen, aber die

ursächlichen Mängel (fehlende Ruhe, Geborgenheit etc.) werden sich immer wieder

störend dazwischen stellen.

Integration auf der Beziehungsebene meint also eine ganzheitliche Begegnung

verschiedener Menschen, oder mit den Worten des Philosophen Martin Buber (1878 -

1965) eine „Ich-Du-Beziehung“.

Eine Ich-Du-Beziehung ist durch ein Verhältnis der Gegenseitigkeit gekennzeichnet.

Auf der interaktionellen Ebene bedeutet folglich Integration, dass sich die

unterschiedlichen Personen begegnen und einen ganzheitlichen Kontakt miteinander

haben (Rosenberger, 1998, S. 178). Die Personen nehmen sich wechselseitig in

ihrer vollen Wirklichkeit war. Dies kann aber nur gelingen, wenn eine passende

Grundlage dafür geschaffen wird. Eine Häufigkeit des „Sich- gegenüber-seins“ ist

ebenso wichtig, wie das Entstehen von Vertrauen und Akzeptanz. Mit Häufigkeit

meine ich eine Lehr-Lernsituation, die eine Regelmässigkeit und eine möglichst lange

Zeitspanne aufweist.

Ganz klar ist es für mich als Heilpädagoge sehr erschwerend, eine förderliche Lehr-

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Lernbeziehung zum Kind aufzubauen, wenn ich das Kind höchstens einmal

wöchentlich in nur einer Lektion antreffe. Denn fast jedes Mal ist ein Lektionseinstieg

als Übergang nötig, um das Kind für den unmittelbar bevorstehenden Unterricht

vorzubereiten. Dieser Einstieg schafft ein lernförderliches Klima, in dem gerade die

Lehrer-Schülerbeziehung einen wichtigen Bestandteil darstellt.

„Mit dem Begriff Klima bezw. Unterrichtsklima wird die humane Qualität der Lehrer-

Schüler- und der Schüler-Schüler-Beziehungen beschrieben. Es geht dabei nicht um

Wellness, auch nicht um Kuschelpädagogik, sondern um die empirisch zu

beantwortende Frage, welches Klima am besten beim Lernen Hilft“ (Meyer, 2004, S.

47).

Abb. 3: Max, ein Extrembeispiel

Innerhalb einer Woche tritt Max demnach mit mind. 16 Lehrpersonen in Beziehung.

Er hat während der wöchentlichen Unterrichtszeit 21 Lokalitätenwechsel

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vorzunehmen. Des Weiteren muss er in der Lage sein, sich flexibel auf die jeweilig

neue und veränderte Lehr-Lernsituation einzustellen. Auch wenn der Schüler

versucht Beziehungen zu den jeweiligen Lehrpersonen herzustellen, wie soll er

vorgehen? Wie kann er sich bemerkbar machen? Wahrscheinlich versucht er es bei

jeder Lehrperson ähnlich und doch ein bisschen anders. Auch ohne viel

Hintergrundwissen und Schulerfahrung wird anhand dieses Beispiels

augenscheinlich, dass es sogar einem Regelklassenschüler schwer fallen würde,

seine erforderlichen Schulleistungen unter solchen Voraussetzungen zu erfüllen.

Für Max kann sich mit einem solch breit gestreuten Lernangebot in seinem Lehr-

Lernprozess nicht viel positiv verändern, da ihn diese Situation hoffnungslos

überfordert.

Über Gründe, warum es in Wirklichkeit zu solch ähnlichen, zu Stress produzierenden

Situationen kommen kann, vermag ich nur zu vermuten. Ich möchte deshalb auch

nicht zu explizit darauf eingehen. Vordergründig könnte es ein Delegieren von

Verantwortung der zuständigen Lehrperson an Fachpersonen sein oder ein gut

gemeintes „Reparier-Bedürfnis“, um dem Kind das vorhandene Lern- oder

Verhaltensdefizit mittels Nachhilfeunterricht aufzufüllen.

Abb. 4: Max‘ Stundenplan

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Wie dieser Status positiv verändert werden könnte oder wie eine mögliche Lösung

aussähe ist nicht Bestandteil dieser Ausführung. Vielmehr kann daraus für uns

Schulverantwortliche und Eltern vielleicht die Lehre gezogen werden, unsere Arbeit

am und mit dem Kind laufend kritisch zu durchleuchten, zu evaluieren und versuchen

unser Tun und Handeln anhand der vorherrschenden Rahmenbedingungen zu

optimieren. Aber selbst wenn ein Schüler „nur“ mit der Hälfte dieser Menge an

Kontakten in Beziehung zu treten hat, hat er damit eine übergrosse Leistung zu

vollbringen. Anhand dieser Ausführungen stelle ich die folgende These auf:

Ein häufiger Beziehungs- und Lokalitätenwechsel wirkt sich auf das Förderkind,

welches ausdrücklich auf Halt und Beständigkeit angewiesen ist, überhaupt nicht

förderlich aus und setzt es zusätzlich zum bereits vorhandenen Lerndefizit unter

starken Druck. Was bleibt dem Kind anders übrig, als dies mit seinem Verhalten, dass

von der Lehrperson als schwierig gewertet wird, zu signalisieren?

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„Seid ihr wirklich im Fluss des Geschehens? Einverstanden mit

Allem was wird? Werdet ihr noch? Wer seid Ihr? Zu wem

Sprecht Ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und nebenbei:

Lässt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?

Ist es auch angeknüpft an Vorhandenes? Sind die Sätze, die

Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens wiederlegt? Ist alles belegbar?

Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem

Immer wieder vor allem andern. Wie handelt man

Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?“

Bertolt Brecht: Der Zweifler

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4. Methode

4.1 Beschreibung der Stichprobe

Meine empirische Untersuchung (Kasuistik) beschränkt sich auf nur wenige Kinder.

Ich habe mich für eine 3./4. Primarklasse entschieden. Als Probanden wählte ich

sechs IF-Schülerinnen und -Schüler aus, die sich meiner Meinung nach bestens für

meine Beobachtungen eigneten. Damit ich meine Stichprobe repräsentativ und

zuverlässig durchführen konnte, mussten für mich die von mir erstellten Kriterien wie,

Regelmässigkeit, eine normale, durchschnittliche Klassengrösse, eine stetige Lehr-

Lernbeziehung, die vorhandene Lektionszahl und die Heterogenität der Probanden

stimmen.

Ich besuchte die ausgewählte Klasse wöchentlich während zwei Schulstunden

innerhalb der Klasse. Eine Schulstunde (Lektion) dauert 45 Minuten. Dort übernahm

ich vorwiegend eine unterstützende und beobachtende Tätigkeit für die ganze

Regelklasse. Meine Präsenz im Hintergrund gestattete mir eine genaue und

unauffällige Beobachterrolle. Ergänzend dazu unterrichtete ich die Probanden in

zusätzlichen zwei Lektionen pro Woche separat in einem eigens dafür eingerichteten

Förder-zimmer. Dieses befindet sich innerhalb des Schulhauses eine Etage höher.

Die Klasse beinhaltet einundzwanzig Lernende. Dies entspricht meiner Meinung nach

einer optimalen und normalen Klassengrösse. Eine Schulkklasse mit weniger als

zwanzig Lernenden würde mehr den Charakter einer Kleinklasse beanspruchen oder

einem Gruppenunterricht ähneln. Wäre die Schülerzahl markant höher und würde

beispielsweise bei sechsundzwanzig Kindern liegen, so könnte die Untersuchung

durch zu engen Raum oder einer zusätzlich anwesenden Klassenhilfe verfälscht

werden.

Durch meine regelmässigen Besuche und die Teilnahme an diversen Schulaktivitäten

(zum Beispiel Schulreise etc.), konnte ich zu der Klasse und den sechs Probanden

eine stabile Lehr-Lernbeziehung aufbauen. Diese zeichnete sich besonders durch ein

wachsendes Vertrauens- und Beziehungsverhältnis zwischen mir und den IF-Kindern

aus, das sich unter anderem dadurch bemerkbar machte, dass sie mir Erlebnisse aus

ihrem Privatleben mitteilten.

Die vorhandene Lektionszahl, insgesamt vier, ermöglichte mir eine ökonomische

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Einteilung meiner Forschungsarbeit. Ich konnte die IF- Lernenden vor- und nach den

separaten Lektionen differenziert beobachten.

Die sechs von mir ausgewählten IF-Kinder weisen in sich eine hohe Heterogenität

auf. Diese Unterschiedlichkeit wird später noch genauer in dieser Arbeit erläutert.

4.1.1 Beschreibung des Instruments

Die Beobachtung des Schülerverhaltens zählt zur fundamentalsten pädagogischen

Tätigkeiten. Lehrpersonen besitzen eine optimale Wahrnehmung und gelangen

schnell einmal zu Einschätzungen und Beobachtungen, auf die sie ihren Unterricht

auslegen können.

Im Schulalltag findet oftmals ein autonomer Kreislauf von Beobachtungen, der

Interpretationen und dem daraus abgeleiteten pädagogischen Handeln statt. Jede

Lehrperson besitzt verschiedenste Instrumentarien dafür, wie sie Ihre Betrachtungen

des Unterrichts oder des Schülerverhaltens festhalten kann.

4.1.2 Beobachtung und Beobachtungsraster

Meine Absicht war ein Beobachtungsinstrument zu entwerfen, das aussagekräftig,

nachvollziehbar und praktisch in Ausführung und Auswertung ist. Der Aufbau musste

einen tabellarischen Charakter aufweisen, damit während der Beobachtungsphase

möglichst viele kongruente Beobachtungen kurz und prägnant festgehalten werden

können (eine Art Photo). Hochgradige Authentizität und Qualität hatten bei mir

oberste Priorität. Die Probanden wurden von mir nicht in Kenntnis davon gesetzt,

dass ich sie speziell und umfassend beobachte. Die Regelklassenschüler hatten

ebenfalls keine diesbezüglichen Informationen.

Mir war ein möglichst normaler und alltäglicher Unterrichtsverlauf wichtig, der nicht

aufgrund von meinen beinflussenden Bemerkungen verfälscht werden konnte. Ich

wollte damit verhindern, dass die Schulstunden, an denen ich anwesend bin, zu einer

„Vorspielstunde“ führten und so weder Authentizität noch Aussagekraft besitzen

würden.

Ich beschloss eine stille und unauffällige Form der Beobachtung durchzuführen, von

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der nur die anwesende Klassenlehrperson in Kenntnis gesetzt wurde.

Knauer (2008) benennt diese Beobachtungsform: „Reflektierte, teilnehmende

Beobachtung“( S.121).

Abb. 4: Der Kreislauf zwischen Beobachtung, Reflexion und Handeln auf der

Grundlage kommunikativer Rückkoppelung (Knauer, 2008, S. 122)

Basierend auf dieser Form der Beobachtung entwickelte ich mein Erhebungsraster. In

der „reflektierten, teilnehmenden Beobachtung“ besteht ein Kreislauf, dem

verschiedene Schritte zwischengeschaltet sind. Die Anlehnung an dieses Schema

ermöglicht mir eine Rückkoppelung mit den Probanden und die Abstimmung meiner

jeweiligen Sichtweisen. Diese Rückkoppelung und die situative Abstimmung

reduzieren die Gefahr, dass aus einer unmittelbaren Beobachtung Rückschlüsse

gezogen werden, die sich auf die Verhaltensweisen der IF-Schüler gegenüber meiner

Zielrichtung zwangsläufig bestätigen müssen. Ich entnehme meinen Beobachtungen

damit den Sinn und schreibe ihn interpretierend meinen Notizen zu. Ich kann damit

eher nachvollziehen, warum sich die Probanden so oder anders verhalten, wie sie

leichter lernen und warum sie mit gewissen Lerninhalten, Methoden und

Arbeitsrhythmen Schwierigkeiten haben.

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Die „Teilnehmende Beobachtung“ erscheint mir als besonders nützliche und

geeignete Methode, individuelle Lernangebote bestimmen zu können. Auf persönliche

Wertungen oder Urteile verzichte ich erfolgreich, denn ich beschreibe lediglich das

direkt beobachtbare Verhalten innerhalb des Unterrichts.

4.1.3 Probanden

Die Kinder weisen alle ein ähnliches Alter auf und befinden sich höchstens ein Jahr

auseinander. Alle besuchen den IF-Unterricht und haben zusätzliche Förderangebote

entweder während des Unterrichts oder nach der Schule.

Die von der Untersuchung betroffenen Kinder sind mit einem Code versehen. L hat

die Bedeutung für Lernende und das Geschlecht ist anhand der Buchstaben M

(Mädchen) und K (Knabe) ersichtlich. Die Nummer dient zur Unterscheidung und

Identifizierung der jeweiligen Kinder.

LM 1: Mädchen, Lernzielanpassung im Fach Mathe, mehrsprachig, auffallend stark

Introvertiert und deshalb verhaltensauffällig, wird von mir als einziges Kind

in einer Einzellektion unterrichtet, geht in die Hausaufgabenhilfe & Logopädie

LM 2: Mädchen, ohne Lernzielanpassung, deutschsprachig; mit

Teilleistungsschwächen insbesondere im Fach Deutsch; gutes

Arbeitsverhalten

LK 3: Knabe, ohne Lernzielanpassung, zweitsprachig, vom SPD diagnostiziertes,

stark ausgeprägtes ADHS verbunden mit Teilleistungsschwächen vor allem in

den Fächern Mathe und Deutsch; besucht einmal wöchentlich das Fach DaZ

und die Hausaufgabenhilfe; geht zusätzlich einmal die Woche in die

Psychomotorik und absolviert ausserdem samstags die Portugiesische Schule

Wird von der Klassenlehrperson als verhaltensschwierig bezeichnet

LK 4: Knabe, ohne Lernzielanpassung, zweitsprachig, mit Teilleistungsschwächen

im Fach Deutsch; vom SPD diagnostiziertes starkes ADHS; ungenügendes

Arbeitsverhalten; fahrig, besucht einmal wöchentlich das Fach DaZ und die

Hausaufgabenhilfe

Wird von der Klassenlehrperson als verhaltensschwierig bezeichnet

LK 5: Knabe, ohne Lernzielanpassung, deutschsprachig; mit

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Teilleistungsschwächen insbesondere in den Fächern Mathe und Deutsch,

passables aber langsames Arbeitsverhalten

LK 6: Knabe, Regelklassenschüler; guter Freund von L 3 und L 5, auffälliges,

störendes Verhalten im Unterricht; besucht einmal pro Woche die

Hausaufgabenhilfe (ausserhalb der Klasse)

Wird von der Klassenlehrperson als sehr verhaltensauffällig bezeichnet

Alle sechs Probanden besuchen die 3./4. Klasse zusammen mit fünfzehn anderen

Lernenden. Diese Klasse zählt somit 21 Kinder.

Die behördlichen Rahmenbedingungen und das schuleigene IF-Konzept sehen in

diesem Fall vor, dass LM 1 mit Anpassung in Mathematik sowohl von der Klasse

ausgegliedert und separat eine Lektion pro Woche Einzelunterricht beim SHP erhält,

als auch innerhalb der Klasse gefördert werden soll. In der vorliegenden Klasse

wünscht die Klassenlehrperson bei allen sechs Kindern einen separierenden

Unterricht mit der Begründung, so könne sie alleine, also ohne die IF-Kinder, zwei

Lektionen pro Woche die Regelklassenkinder gezielter unterrichten.

Bei LM1 sind die kognitiven Defizite v.a. im mathematischen und abstrakten Denken

sehr hoch. In der jeweiligen Lektion wird das Kind vom Heilpädagogen gemäss den

mit der Klassenlehrperson und den Eltern abgesprochenen, individuellen Lernzielen

unterstützt und gefördert.

Die anderen Kinder werden in einer ganzen Gruppe unterrichtet, denn das

schuleigene IF-Konzept sieht hierbei einen solchen vor. Dieser Unterricht findet

ebenfalls einmal wöchentlich und ausserhalb der Klasse statt. Hier vermittelt der

Heilpädagoge den Basisstoff, an welchem auch die Regelklassenschüler zeitgleich

arbeiten. Damit will man verhindern, dass diese fünf Kinder wegen des

obligatorischen IF-Unterrichts eine Lücke im Unterrichtsstoff bekommen.

Bei diesen sechs Kindern beobachte ich während zwei Jahren speziell genau das

Verhalten vor und nach den jeweiligen Wechseln der Lokalitäten. Hauptsächlich

betroffen waren die Wechsel vom Schulzimmer in das IF-Zimmer und umgekehrt.

Ebenfalls beachte ich den Wechsel der beiden Knaben LK 4 und LK 5 von der Klasse

weg in den DaZ-Unterricht und zurück.

Ich begleite alle sechs Kinder bei den jeweiligen Zimmerwechseln. Folglich ist es mir

bestens möglich, ihr Verhalten in der Regelklasse vorher und nachher genauestens

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zu beobachten und zu protokollieren.

Deshalb komme ich auf meine drei zu Beginn der Arbeit formulierten Kernfragen

zurück:

Wirken sich eine hohe Anzahl von Förderlektionen und der damit verbundene

Aufwand im Wechsel der Unterrichtssituation, Lehrperson und Lokalität auf das

Verhalten und das Lernverhalten eines integrativ geförderten Kindes eher nachteilig

aus?

Inwiefern unterscheiden sich die Absichten und Ansichten über die IF in den

Bereichen Wissenschaft (Theorie), Unterricht (Praxis) und Politik/Gesellschaft

überein?

Welche Möglichkeiten in Beziehung zu den Rahmenbedingungen haben alle

Betroffenen (Kanton, Lehrpersonen, Lernende und Eltern, Wissenschaftler) zur

Auswahl, damit sich das vorhandene, schwierige Verhalten positiv verändert?

4.1.4 Beschreibung der Durchführung

Die gewählte „teilnehmende Form“ der stillen und qualitativen Beobachtung erweist

sich als gut durchführbar. Das entworfene Beobachtungsraster erfüllt die gestellten

Erwartungen voll und ganz. Er ermöglicht unter anderem das Verhalten der IF-

Schüler unauffällig und augenblicklich festzuhalten und zu reflektieren. Dadurch

sammelt sich relativ schnell ein aussagekräftiger und umfangreicher Fundus von

Informationen an, welcher später in Ruhe sortiert und ausgewertet werden kann. Bei

der Durchführung muss aber darauf geachtet werden, dass jeweils am Schluss eines

Tages bei allen Probanden die gleiche Anzahl an Beobachtungsformularen

vorhanden ist. Dies erfordert ein zusätzliches Raster mit einer Aufstellung der Namen

jedes einzelnen IF-Kindes. Damit wird eine Übersicht geschaffen, bei welchem Kind

unter Umständen noch ein Raster fehlt und bei welchem nicht.

Der Schulalltag der IF-Schülerinnen und IF- Schüler muss in ihrem „Ist-Zustand“

erhalten bleiben, damit apodiktische Ergebnisse erzielt werden können. Die

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Durchführung findet an den authentischen, gewohnten Orten statt (Klassenzimmer

und IF-Raum), an denen die Kinder auch sonst unterrichtet werden. Die Absicht ist

es, keine Veränderungen des gewohnten Schulalltages der Probanden vorzunehmen,

da sonst damit zu rechnen wäre, dass sich das Verhalten bei den Schülern verändern

könnte und dies zu Verfälschungen der Ergebnisse führen könnte.

Die Definition des „Auffälligen Verhaltens“ im Beobachtungsraster muss zu Beginn

der Untersuchung bestimmt werden, was dazu führt, dass nur störendes,

unerwünschtes Verhalten beim IF-Kind protokolliert wird. Als störend wird ein

Schülerverhalten betrachtet, das den normalen und geläufigen Unterricht

beeinträchtigt oder verunmöglicht. Das Verhalten der Kinder wird als normal taxiert,

wenn es mit dem gewohnten alltäglichen Unterrichtsverlauf übereinstimmt und im

abschätz- und feststellbaren Verhaltensrahmen der gesamten Klasse entspricht.

Werden zum Beispiel im Klassenzimmer Feste im Jahreskreis gefeiert, ist das

Verhalten der Probanden innerhalb der Klasse generell auffälliger als sonst. Da dies

jedoch nur einige wenige aussergewöhnliche Szenarien sind und überwiegend die

gesamte Klasse betreffen, beurteile ich den derart erlebten Unterricht als normal und

der Situation entsprechend.

Diese Verbindlichkeiten helfen mir bei der Auswertung der Daten und vereinfachen

die Kategorisierung, Eintragung und Auswertung des Verhaltens der IF-Kinder.

Die quantitative Auswertung der Beobachtungsdaten gestaltet sich als zweckmässig

und überschaubar.

Sämtliche Daten bezüglich meiner Untersuchung werden anonymisiert und vertraulich

behandelt. Sie werden nicht an andere (dritte) weitergereicht und sofort nach

Abschluss der Auswertung vernichtet.

5. Ergebnisse

5.1 Darstellung der Ergebnisse

Ausschlaggebendes und zentrales Kriterium der Untersuchung ist das Erfassen von

einer oder mehreren Ursachen, die das Störverhalten von IF-Kindern im Unterricht

begünstigen. Um dies erkenntnisbringend zu erforschen, muss ein sinnvolles

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Beobachtungsraster dafür entwickelt werden. Die Ergebnisse sollen daraus

erkennbar nachzuvollziehbar sein. Damit eine überschaubare Darstellung der

Ergebnisse vorliegt, ist ein Auswertungsraster vorhanden, welches die Ergebnisse

quantitativ erfasst.

Um einen repräsentativen Vergleich zu erhalten, werden die 56 Beobachtungstage,

dies entspricht der maximalen Anzahl der erfolgten Beobachtungen pro Kind, als

Grundlage genommen. Nicht mit einberechnet sind Kompensationen oder

Verschiebungen, weil diese nicht meinen eigenen Vorgaben bezüglich Schulalltag

und Beständigkeit gerecht werden.

Abb. 6: Auswertungstabelle, empirisch

In der Untersuchung wird von vier Verhaltensarten ausgegangen (s. Abb.6). Diese

vier Bedingungen unterscheiden sich durch die Gruppen eins (Störendes Verhalten 1,

Normales Verhalten 1) und zwei (Störendes Verhalten 2, Normales Verhalten 2). Bei

Gruppe 1 hat jeweils ein Lokalitätenwechsel stattgefunden und die Probanden werden

von einer Fachperson unterrichtet. Diese Zahl kann Aufschluss darüber geben, ob ein

störendes Verhalten in direkten Zusammenhang mit einem Lokalitätenwechsel

gebracht werden kann. Hingegen bei Gruppe 2 verbleiben die Kinder im Klassenraum

und werden von der Klassen- oder Englischlehrerin unterrichtet. Damit entsteht eine

Vergleichsmöglichkeit zur Gruppe 1, weil kein Lokalitätenwechsel stattfindet und die

Kinder innerhalb der Klasse in der Regel von zwei Lehrpersonen (Klassen-,

Englischlehrerin und Schulischer Heilpädagoge) unterrichtet werden.

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Zusätzlich wird bewusst das Geschlecht getrennt aufgeführt mit der Absicht

herauszufinden, ob hier Unterscheidungen feststellbar sind, welche bei Buben und

Mädchen sichtbar werden.

Die Anzahl der fremdbetreuten Fachstunden pro Schulwoche, die jeder Proband in

Anspruch nimmt, sollen aufzeigen, wie gross der Anteil der Beziehungsarbeit ist.

Damit sind die Lektionen gemeint, die durch eine andere Lehrperson als die

Klassenlehrerin erteilt werden.

Die folgenden Abbildungen (Abb. 7 bis 12) zeigen uns auf, welche Ergebnisse sich in

der Untersuchung bei den Probanden herauskristallisiert haben.

Abb. 7: Auswertungstabelle LM 1, empirisch

Probandin LM 1(s. Abb. 7) besucht insgesamt pro Woche drei fremd betreute

Lektionen. Die wöchentliche Anzahl der Lokalitätenwechsel beschränkt sich auf drei.

Das Mädchen weist insgesamt ein geringes Mass an störendem Verhalten im

Unterricht auf. Dies betrifft sowohl die Gruppe 1 als auch die Gruppe 2. Das normale

Verhalten überwiegt bei diesem Kind markant gegenüber dem störenden.

Hieraus kann die Schlussfolgerungen gezogen werden, dass sowohl die geringe

Anzahl der Lokalitätenwechsel als auch die Beziehungsarbeit zu den drei

Lehrpersonen das Verhalten des Kindes nicht wesentlich beeinträchtigen. Die

aktuelle Form des Unterrichts und die Rahmenbedingungen scheinen bei diesem

Kind zu passen und können so beibehalten werden.

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Abb. 8: Auswertungstabelle LM 2, empirisch

Probandin LM 2 (s. Abb. 8) besucht insgesamt pro Woche ebenfalls drei fremd

betreute Lektionen. Ihre wöchentliche Anzahl der Lokalitätenwechsel beschränkt sich

auf drei. Das Mädchen weist ein geringes Mass an störendem Verhalten im Unterricht

auf. Dies betrifft sowohl die Gruppe 1 als auch die Gruppe 2. Das normale Verhalten

ist bei diesem Kind markant positiver ausgeprägt, als bei dem störenden Verhalten.

Daraus können die Schlussfolgerungen gezogen werden, dass sowohl die geringe

Anzahl der Lokalitätenwechsel als auch die Beziehungsarbeit zu den drei

Lehrpersonen das Verhalten des Kindes nicht wesentlich im negativen Sinne

beeinträchtigen. Die vorherrschende Form des Unterrichts und die

Rahmenbedingungen scheinen bei diesem Kind zu passen und können so

weitergeführt werden.

Abb. 9: Auswertungstabelle LK 3, empirisch

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Proband LK 3 (s. Abb. 9) besucht pro Woche insgesamt fünf fremd betreute

Lektionen. Seine wöchentliche Anzahl der Lokalitätenwechsel beläuft sich auf zehn.

Der Knabe weist insgesamt ein hohes Mass an störendem Verhalten im Unterricht

auf. Dies betrifft sowohl die Gruppe 1 als auch die Gruppe 2, wobei dort der Wert

weniger hoch ausschlägt. Das normale Verhalten bei diesem Kind unterliegt im

Verhältnis zum Wert des störenden Verhaltens. Das heisst, dieser Knabe fällt im

Unterricht mehrheitlich störend und negativ auf. Besonders ausgeprägt ist dieses

negative Verhalten in den Situationen die mit einem Lokalitätenwechsel in

Zusammenhang stehen.

Daraus schliesse ich, dass sowohl die sehr hohe Anzahl der Lokalitätenwechsel als

auch die Beziehungsarbeit zu mehr als drei Lehrpersonen das negative Verhalten des

Kindes wesentlich fördern. Die gegenwärtige Form des Unterrichts und die

Rahmenbedingungen scheinen diesem Kind überhaupt nicht zu behagen und

überfordern es. Hier herrscht dringender Handlungsbedarf, wenn sich das

unerwünschte Verhalten des Knaben in ein positives verändern soll.

Abb. 10: Auswertungstabelle LK 4, empirisch

Insgesamt besucht Proband LK 4 (s. Abb. 10) pro Woche vier fremd betreute

Lektionen. Seine wöchentliche Anzahl der Lokalitätenwechsel beläuft sich auf vier.

Der Knabe weist insgesamt ein hohes Mass an störendem Verhalten im Unterricht

auf. Dies betrifft sowohl die Gruppe 1 als auch die Gruppe 2, wobei dort der Wert

weniger hoch ausschlägt. Das normale Verhalten bei diesem Kind unterliegt im

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Verhältnis zum Wert des störenden Verhaltens. Das heisst, dieser Knabe fällt im

Unterricht mehrheitlich störend und negativ auf. Besonders ausgeprägt ist dieses

negative Verhalten in den Situationen die mit einem Lokalitätenwechsel in

Zusammenhang stehen.

Daraus schliesse ich, dass sowohl die sehr hohe Anzahl der Zimmerwechsel als auch

die Beziehungsarbeit zu mehr als drei Lehrpersonen das negative Verhalten des

Kindes wesentlich fördern. Die gegenwärtige Form des Unterrichts (viele

Zimmerwechsel) und die Rahmenbedingungen (z.B. fehlender Gruppenraum)

scheinen diesem Kind überhaupt nicht zu behagen und überfordern es. Hier herrscht

offenbar dringender Handlungsbedarf, wenn sich das unerwünschte Verhalten des

Knaben in ein positives verändern soll.

Abb. 11: Auswertungstabelle LK 5, empirisch

Gesamthaft besucht Proband LK 5 (s. Abb. 11) pro Woche drei fremd betreute

Lektionen. Die wöchentliche Anzahl der Lokalitätenwechsel beläuft sich auf zwei. Der

Knabe weist ein auffälliges Mass an störendem Verhalten im Unterricht auf. Dies

betrifft sowohl die Gruppe 1 als auch die Gruppe 2, wobei dort der Wert wie bei den

anderen Kindern weniger hoch ausschlägt. Das normale Verhalten bei diesem Kind

überwiegt im Verhältnis zum Wert des störenden Verhaltens. Das heisst, dieser

Knabe fällt im Unterricht mehrheitlich normal und eher positiv auf. Erhöht ausgeprägt

ist das negative Verhalten in den Situationen die mit einem Lokalitätenwechsel in

Zusammenhang stehen.

Hieraus schliesse ich, dass sowohl dieser Lokalitätenwechsel als auch die

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Beziehungsarbeit zu den drei Lehrpersonen das negative Verhalten des Kindes

verstärken. Die gegenwärtige Form des Unterrichts und die Rahmenbedingungen

scheinen für dieses Kind einigermassen zu stimmen, überfordern es aber zumindest

teilweise. Hier herrscht kein dringender Handlungsbedarf. Wenn sich das zum Teil

unerwünschte Verhalten des Knaben trotzdem in ein positives verändern soll,

müssten Überlegungen dazu angestellt werden, wie das am besten zu bewerk-

stelligen ist.

Abb. 12: Auswertungstabelle LK 6, empirisch

Proband LK 6 (s. Abb. 12) besucht pro Woche vier fremd betreute Lektionen. Die

wöchentliche Anzahl der Zimmerwechsel beläuft sich auf ebenfalls vier-mal. Der

Knabe weist ein stark erhöhtes Mass an störendem Verhalten im Unterricht auf. Dies

betrifft vor allem die Gruppe 1, weniger die Gruppe 2. Denn in der Gruppe 2,

störendes Verhalten, schlägt der Wert wie bei einigen der anderen Kindern im

weniger hoch aus. Das normale Verhalten bei diesem Kind unterliegt im Verhältnis

zum Wert des störenden Verhaltens klar. Das heisst, dieser Knabe fällt im

untersuchten Unterricht mehrheitlich störend und eher negativ auf. Erhöht ausgeprägt

ist das negative Verhalten in den Situationen die mit einem Lokalitäten- und

Lehrpersonenwechsel in Zusammenhang stehen.

Daraus folgend schliesse ich, dass wiederum sowohl der Lokalitätenwechsel als auch

die Beziehungsarbeit zu den verschiedenen Lehrpersonen das negative Verhalten

des Kindes verstärken. Die gegenwärtige Form des Unterrichts und die

Rahmenbedingungen scheinen für dieses Kind offenbar nicht zu stimmen und

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überfordern es mehrheitlich. Hier herrscht ebenfalls Handlungsbedarf. Wenn sich das

zum Teil unerwünschte Verhalten des Knaben in ein positives verändern soll,

müssten wiederum Überlegungen dazu angestellt werden, wie das am besten zu

vollbringen ist.

Aus der Untersuchung geht hervor, dass die Probanden im Zusammenhang mit

einem Lokalitäten- und Lehrpersonenwechsel, oder vielleicht sogar deswegen, ein

erhöhtes Mass an störendem Verhalten aufweisen. Zudem scheinen die Knaben in

diesem Zusammenhang im Unterricht häufiger in eine negative Verhaltensrolle zu

fallen als die Mädchen.

Das störende Verhalten nimmt bei allen Probanden ab, wenn die Kinder im gleichen

Raum verbleiben können aber trotzdem ein Lehrpersonenwechsel stattfindet, zum

Beispiel im Englischunterricht. Der Aspekt des „im Raum Verbleibens“ scheint mit

einem erhöhten Wert im positiven Verhalten zu korrelieren, die Kinder verhalten sich

vermehrt normal. Sie stören den Unterricht bedeutend weniger.

Die Mädchen fallen untereinander im Verhältnis deutlich geringer durch eine störende

Verhaltensweise auf, währenddessen bei den Knaben untereinander das störende

Verhalten um einen Viertel abnimmt, wenn sie keinen Lokalitätenwechsel durchlaufen

müssen.

Auffallend bei den untersuchten Knaben ist zudem der Umstand, dass sie mehr fremd

betreute Lektionen besuchen, als die Mädchen.

Die Knaben LK 3 und LK 4, welche beide ein starkes ADHS aufweisen, neigen

stärker dazu, sich bei einem Lokalitäten- und Lehrerwechsel störend zu verhalten. Sie

führen sich deutlich weniger oft negativ auf, wenn sie im Klassenzimmer verbleiben

können und trotzdem ein Lehrpersonenwechsel stattfindet. Offenbar korreliert dieser

Aspekt mit einem häufigen Lokalitäten- und Lehrpersonenwechsel.

Um das auffällige, störende Verhalten teilweise oder ganz abzuschwächen, hilft

vielfach die persönliche Zuwendung des Heilpädagogen oder der Klassenlehrperson.

Dies ermöglicht dem IF-Kind ein minimal positives Lernverhalten

situationsentsprechend aufrechtzuerhalten. Dieses für alle Beteiligten nützliche

Vorgehen, nahm unterschiedlich viel Zeit in Anspruch und beansprucht unter

Umständen einen Grossteil der gemeinsam geführten Unterrichtslektionen.

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6. Diskussion der Ergebnisse

6.1 Lösungsansätze im Unterricht

Wenn von Kindern mit besonderem Förderbedarf die Rede ist, sind dies meistens

Kinder mit Störungen im kognitiven Bereich oder mit auffälligem Verhalten.

In Anlehnung an Knauer (2008, S. 64) unterstütze ich den Ansatz, dass die

Pädagogik aus der Perspektive der Kinder mehr gewichtet werden muss. Die

Ergebnisse aus der Untersuchung bestätigen klar, dass durch den Einfluss von zu

vielen Lokaliäten- und Lehrpersonenwechsel ein störendes Verhalten begünstigt wird.

In welchem Masse es für das Kind zu viel wird, es also überfordernd ist, kann anhand

dieser Untersuchung nicht festgestellt werden. Auffallend hingegen ist die Tatsache,

dass der Knabe LK 3, welcher den Unterricht am häufigsten stört, auch am meisten

Lokalitäten- und Lehrpersonenwechsel zu verzeichnen hat. Ähnlich sieht es beim

Proband LK 4 aus. Diese Fakten sprechen dafür, den IF-Unterricht zukünftig nicht

mehr ausserhalb, sondern innerhalb der Regelklasse zu führen und das würde dazu

führen, dass sich das störende Verhalten der IF-Schüler vermindert .

Es ist nachvollziehbar, dass IF-Kinder auf Beständigkeit und ein stetiges Beziehungs-

angebot angewiesen sind, ganz besonders Kinder mit ADHS. Sie benötigen

Vertrauen, Struktur, Sicherheit und positive Erlebnisse. Wie soll ein Kind zu alldem

kommen können, wenn stattdessen Unruhe, fehlende Struktur und der Mangel an

Beziehungsaufbau den Schulbetrieb dominieren und wie soll das IF-Kind einen

möglichst optimalen Lehr-Lernprozess durchmachen können, wenn es wiederholt aus

seinem gewohnten Lernumfeld herausgerissen wird?

Die bestehenden Unterrichtsstrukturen müssten demnach dergestalt verändert

werden können, dass dem IF-Kind ein schulisches Rahmenangebot zur Verfügung

steht, in dem es sich wohlfühlt und Vertrauen entwickeln kann.

6.2 Lösungsansätze in Politik und der Lehrpersonenbildung

Es mag erstaunlich klingen, wenn Politik und die Ausbildung zur Lehrperson

zusammen genannt wird. Trotzdem entspricht es den Tatsachen, dass heute ohne

Politik eine Lehrpersonenausbildung undenkbar ist, weil beide Bereiche zu stark

ineinander verflochten sind. Die Politik bestimmt heute mehr denn je die Bildung.

Immer noch haftet die Abschaffung der kantonalen Lehrerseminarien und die

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Einführung der pädagogischen Hochschulen frisch in der Erinnerung.

Knauer (2009, S. 56) sieht in der unübersichtlichen Rechtslage, den unklaren

Organisationsvorgaben und in der personellen und materiellen Mangelversorgung

eine Hintenanstellung und Vernachlässigung des Integrationsgedankens seitens der

Administration. Dies würde demnach die These stützen, welche besagt, wenn nicht

innert nützlicher Frist die Rahmendbedingungen kindgerechter und schulfreundlicher

gestaltet werden (also Unterrichtsbedingungen geschaffen werden, die es vor allem

den IF-Kindern ermöglichen integrativ in der Klasse zu lernen), zukünftig vermehrt mit

störenden Kindern im Unterricht gerechnet werden muss.

„Das Gros der Verhaltensgestörten, die die pädagogischen Einrichtungen besuchen,

wächst an. Ihre Zahl wird inzwischen auf über 15 % eines Jahrgangs geschätzt“

(Gerspach, 1998, S. 107).

Dies muss als Tatsache angesehen werden, weil wir in der Volksschule erst am

Anfang von Heterogenität und Integrativer Förderung stehen. Diese Untersuchung

zeigt deutlich, haben die Kinder weniger Lehrpersonen, verhalten sie sich weniger

störend. Daraus kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass das praktische

Wirken der Lehrpersonen im Unterricht auf eine möglichst klein gehaltene, für die IF-

Kinder überschaubare Gruppe zu beschränken ist.

Über die Absichten von Politik und Ausbildung scheint sich in der Schweiz derzeitig

niemand im Klaren zu sein. Eines aber ist sicher, die Volksschule muss sich den

Veränderungen anpassen, welche nach der schweizweiten Annahme des

Behindertengleichstellungsgesetz im Jahre 2004 und der nun folgenden

Heterogenität in den Volksschulen passieren. Es müssen Anreize dafür geschaffen

werden, die es den Lehrpersonen schmackhaft machen, mit einem möglichst

hochprozentigen Stellenpensum in der heterogenen Schule zu arbeiten.

6.3 Lösungsansätze aus dem Umfeld des IF-Kindes

Ein Kind das den Unterricht stört wird von der Lehrperson im Unterricht nicht gern

gesehen. Ist dieser Schüler ein IF-Kind, verstärkt sich ihm gegenüber die Abneigung

der Klassenlehrperson und Regelklassenkinder zusätzlich. In den wenigsten Fällen

wird ursächlich in der Struktur des Unterrichts oder den am Ort vorherrschenden

Lernbedingungen nachgeforscht um das störende Verhalten zu klären. Vielmehr soll

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dem Kind mittels disziplinarischen Sanktionen klargemacht werden, wie sein

erwünschtes Verhalten zukünftig auszusehen hat.

Die persönliche Zuwendung zum Beispiel durch einen Heilpädagogen oder die

Klassenlehrperson, befähigte das IF-Kind sein störendes Verhalten abzuschwächen

oder gar ganz abzulegen. Dies zeigt die Untersuchung klar auf.

Doch sind vielfach nicht allein die ungünstigen Rahmenbedingungen verantwortlich

dafür, wenn sich ein IF-Kind auffällig im Unterricht benimmt.

Gerspach (1998) sieht die Familie zunehmend stärker mit der Schule verknüpft:

Überdies werden Kinder heute stärker mit häuslichen Auseinandersetzungen

konfrontiert. Im Schnitt wird jede dritte Ehe binnen fünf Jahren geschieden, in den

Grossstädten ist es gar jede zweite. Die psychische Belastungen dieser Trennung

sind erheblich – wie mir jede Erzieherin eines Kinderhorts oder Kindergartens

bestätigen wird. Und die „Glücklichen“, denen eine Trennung ersparen geblieben

ist, dennoch mehr offene Konflikte bzw. werden durch die Erfahrungen und

Berichte ihrer Freunde zu angstmachenden Phantasien angeregt (S. 106).

Einerseits zeigt uns diese Untersuchung eine mögliche Ursache für schwieriges

Schülerverhalten auf. Doch müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass viele

Faktoren das Verhalten des Kindes beeinflussen und sei es vielleicht nur die

schlechte Laune der Lehrperson. Dennoch ist es ein guter Anfang, den Unterricht

möglichst in kindgerechte Rahmenbedingungen einzubetten. Das schulische Umfeld

des Kindes muss so gestaltet werden, dass es Vertrauen fassen und möglichst am

gesamten Regelklassenunterricht teilhaben kann.

7. Zusammenfassung

Wichtigstes Kriterium dieser Arbeit ist das Erfassen von einer oder mehreren

Ursachen, die sich begünstigend auf das Störverhalten von IF-Kindern im Unterricht

auswirken. Ausgehend von einem empirischen Verhaltensproblem bei Kindern mit

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Förderbedarf, wurden die Aspekte untersucht, ob bei Probanden die zu

beobachtenden Wechsel der Lernorte tatsächlich in einem augenscheinlichen

Zusammenhang mit der Verhaltensauffälligkeit im Lehr-Lernprozess und der Klasse

stehen.

Die Schülerinnen und Schüler wurden während ihres zweijährigen Unterrichts auf der

3.- und 4. Primarklasse wöchentlich von mir auf ihr situatives Verhalten bei

Lernortwechsel hin beobachtet. Ein eigens dafür erstelltes systemisches

Beobachtungsraster, ermöglichte das Sammeln und Sortieren wichtiger Daten

bezüglich des Verhaltens des Kindes. Erfasst wurden die Verhaltensauffälligkeiten im

Benehmen innerhalb des Klassenverbands unmittelbar vor und nach dem

Lokalitätenwechsel und das damit eng verbundene Lernverhalten beim erforderlichen

Erfüllen von Arbeitsaufträgen und Lernzielen. Dem gegenüber beobachtete und

erfasste ich das Verhalten unter den gleichen Voraussetzungen mit dem gleichen

Raster, wenn kein Wechsel des Lernorts stattfand, zum Beispiel zu Beginn des

Schulmorgens oder wenn eine Fachperson in das Schulzimmer trat. Die beiden

Beobachtungen habe ich verglichen, ausgewertet und analysiert. Erwartungsgemäss

zeigten sich grosse Unterschiede im Lehr-Lernverhalten darin, ob die Probanden die

Klasse verliessen und einen Lokalitätenwechsel vollzogen oder ob sie in innerhalb

des Klassenverbandes verbleiben durften. Aus der Untersuchung geht deutlich

hervor, dass ein solcher Unterschied existiert. Die Summe des störenden Verhaltens

korreliert mit der Summe der Förderstunden die ein Kind hat. Das heisst, die

steigende Anzahl Förderstunden eines IF-Kindes begünstigt dessen auffälliges

Verhalten.

Vielfach werden die in Schulgesprächen thematisierten negativen

Verhaltensauffälligkeiten der Förderschüler mit einem „Mangel an

Konzentrationsvermögen“ in Verbindung gebracht. Ich will nicht bestreiten, dass

ansatzweise das Problem des „sich negativ Verhaltens“ faktisch im fehlenden

Konzentrationsvermögen gesucht werden kann. Unbestreitbar ist jedoch die

Tatsache, dass viele dieser Förderkinder durchaus in der Lage sind, sich zu

konzentrieren. Aus eigener Erfahrung weiss ich, die IF-Kinder benehmen sich

während dieser Konzentrationsphase durchaus verhaltensunauffällig. Die

Untersuchung zeigt auf, dass alle Probanden ein weniger störendes Verhalten

zeigen, wenn kein Ortswechsel stattfindet und sie im Klassenzimmer verbleiben

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können. Dies unterstützt eindeutig meine These, dass sich Kinder, welche in einem

beständigen Lernumfeld verbleiben können, weniger oft störend im Unterricht

verhalten. Sie werden also nicht aus ihrer Lerntätigkeit herausgerissen, sondern

erhalten die Gelegenheit an Ort und Stelle zu verbleiben und zu lernen.

Ein eventueller aber massgeblicher Stressfaktor fällt dadurch weg. Vom IF- Kind wird

dadurch nicht mehr verlangt, den situativen Wechsel zu akzeptieren, aufzuräumen

und sich in eine völlig andere Lehr-Lernsituation zu begeben. Damit wäre ein

wichtiger Schritt in Richtung „kindgerechter Unterricht“ getan.

Diverse Schulleitungen versuchen denn auch diese hemmende Sachlage positiv zu

verändern. Sie konzentrieren die breit gestreuten Förderangebote, welche von

verschiedenen Lehrpersonen für die gleiche Klasse (und zum Teil für die gleichen

Kinder) erteilt werden, auf möglichst eine Förderlehrperson. Die Absicht daraus ist

klar, eine Reduktion der Fachlehrpersonen und eine Reduktion der

Lokalitätenwechsel für die betroffenen Schüler. Dies ist ein erster und wichtiger

Schritt, die bestehenden Rahmenbedingungen zu überdenken, auszuschöpfen und

vor allem zugunsten der IF-Schüler zu optimieren.

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„Die Arbeit des Erziehers gleicht der eines Gärtners, der verschiedene Pflanzen

pflegt. Eine Pflanze liebt den strahlenden Sonnenschein, die andere den kühlen

Schatten; die eine liebt das Bachufer, die andere die dürre Bergspitze. Die eine

gedeiht am besten auf sandigem Boden, die andere im fetten Lehm. Jede muss die

ihrer Art angemessene Pflege haben, anderenfalls bleibt ihre Vollendung

unbefriedigend.“

(Abbas Effendi, 1844-1921, arab. Schriftgelehrter)

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