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Klaus Steinitz EU-Osterweiterung – Chancen und Risiken 1 Inhalt Seite 1. EU-Osterweiterung – größte Herausforderung für die EU und ihre Mitgliedsstaaten 1 2. Voraussichtliche Wirkungen der Osterweiterung auf die EU 15 und die Dominanz der Interessen des westeuropäischen Kapitals 9 3. Agrarpolitische Probleme und Konsequenzen der EU-Osterweiterung 12 4. Finanzielle Anforderungen der Osterweiterung 14 5. EU-Osterweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit 16 6. Entwicklung von Grenzregionen 19 7. Schlussfolgerungen 20 Anlage 1: Grundlegende Unterschiede zwischen Ostdeutschland und den MOE Ländern 22 Literatur 28 1. EU-Osterweiterung – größte Herausforderung für die EU und ihre Mitglieds- staaten Im Mai 2004 wird die bisherige EU 15 um 10 neue Länder, davon 8 mittel- und osteuropäische Länder (MOEL): Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Ungarn, Slowenien sowie Malta und Zypern, größer sein. Diese Osterweiterung der EU stellt eine gewaltige politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung und zugleich Chance für die bis- herige EU und die Beitrittsländer dar. Infolge der Erweiterung vollziehen sich tiefgreifenden Ver- änderungen in den ökonomischen und sozialen Entwicklungsbedingungen der EU sowie auch in ihren Institutionen, die auch die einzelnen Mitgliedsstaaten beeinflussen werden. Die Nutzung der in der Erweiterung enthaltenen Chancen stellt neue und höhere Anforderungen an die Gesamtpolitik der EU und ihrer Mitglieder und auch für die einzelnen Politikfelder, die Wirtschafts-, Sozial-, Ar- beitsmarkt-, Finanz-, Geld- und Umweltpolitik, und deren Koordinierung. Von bisher 15 Mitgliedern mit einer Bevölkerung von 375 Millionen Einwohnern wird die EU dann auf zunächst 25 Mitglieder mit einer zusätzlichen Bevölkerung von 75 Millionen Menschen erwei- tert. Es handelt sich nicht nur um die bisher größte und umfassendsten Erweiterungsstufe, sondern auch um den schwierigsten und am meisten problematischen Entwicklungsschritt in der Geschichte der EU. Bisher ist die EU darauf nur unzureichend vorbereitet. Das zeigte sich in den unbefriedigenden Ergebnissen aller Regierungskonferenzen und auch in den Beitrittsverhandlungen mit den einzelnen 1 Vgl. hierzu auch: Memorandum 2001, Kapitel 7: EU-Osterweiterung: Historische Chance nutzen, S. 166 bis 190, Köln 2001;

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Klaus Steinitz

EU-Osterweiterung – Chancen und Risiken1

Inhalt Seite

1. EU-Osterweiterung – größte Herausforderung für die EU und ihre Mitgliedsstaaten 1

2. Voraussichtliche Wirkungen der Osterweiterung auf die EU 15 und die Dominanz der Interessen des westeuropäischen Kapitals 9

3. Agrarpolitische Probleme und Konsequenzen der EU-Osterweiterung 12

4. Finanzielle Anforderungen der Osterweiterung 14

5. EU-Osterweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit 16

6. Entwicklung von Grenzregionen 19

7. Schlussfolgerungen 20

Anlage 1: Grundlegende Unterschiede zwischen Ostdeutschland und den MOE Ländern 22

Literatur 28

1. EU-Osterweiterung – größte Herausforderung für die EU und ihre Mitglieds-staaten Im Mai 2004 wird die bisherige EU 15 um 10 neue Länder, davon 8 mittel- und osteuropäische Länder (MOEL): Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowakische Republik, Ungarn, Slowenien sowie Malta und Zypern, größer sein. Diese Osterweiterung der EU stellt eine gewaltige politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung und zugleich Chance für die bis-herige EU und die Beitrittsländer dar. Infolge der Erweiterung vollziehen sich tiefgreifenden Ver-änderungen in den ökonomischen und sozialen Entwicklungsbedingungen der EU sowie auch in ihren Institutionen, die auch die einzelnen Mitgliedsstaaten beeinflussen werden. Die Nutzung der in der Erweiterung enthaltenen Chancen stellt neue und höhere Anforderungen an die Gesamtpolitik der EU und ihrer Mitglieder und auch für die einzelnen Politikfelder, die Wirtschafts-, Sozial-, Ar-beitsmarkt-, Finanz-, Geld- und Umweltpolitik, und deren Koordinierung.

Von bisher 15 Mitgliedern mit einer Bevölkerung von 375 Millionen Einwohnern wird die EU dann auf zunächst 25 Mitglieder mit einer zusätzlichen Bevölkerung von 75 Millionen Menschen erwei-tert.

Es handelt sich nicht nur um die bisher größte und umfassendsten Erweiterungsstufe, sondern auch um den schwierigsten und am meisten problematischen Entwicklungsschritt in der Geschichte der EU. Bisher ist die EU darauf nur unzureichend vorbereitet. Das zeigte sich in den unbefriedigenden Ergebnissen aller Regierungskonferenzen und auch in den Beitrittsverhandlungen mit den einzelnen

1 Vgl. hierzu auch: Memorandum 2001, Kapitel 7: EU-Osterweiterung: Historische Chance nutzen, S. 166 bis 190, Köln 2001;

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Kandidaten. Auch der vom Konvent vorgelegte Verfassungsentwurf wird kaum zu einer bessere Handlungsfähigkeit der EU, zu spürbaren Fortschritten der Demokratisierung der EU insgesamt und speziell zu besseren Bedingungen für einen erfolgreichen Verlauf des Beitrittsprozesses und für die Tätigkeit der neuen EU Mitglieder führen.

Die in diesem Zusammenhang sichtbaren großen Defizite beziehen sich auf alle wichtigen Seiten des Beitrittsprozesses:

• auf die unzureichende Berücksichtigung der besonderen Probleme und spezifischen Bedingun-gen der MOEL, die sich aus der Transformation aus einem zentralistischen, planwirtschaftlichen System in eine kapitalistische Marktwirtschaft und aus den sehr großen Unterschieden im sozi-al-ökonomischen Niveau ergeben. Dem Herangehen der EU an die Aufnahme neuer Mitglieder liegt die Vorstellung zu Grunde, dass ihre Entwicklung nicht vom Muster der bisherigen EU abweichen darf.

• auf die Mängel in den finanziellen und institutionellen Voraussetzungen sowohl für eine ausrei-chend wirksame Struktur- und Regionalpolitik zur Verringerung und perspektivischen Über-windung der großen ökonomischen und sozialen West-Ost Divergenzen, als auch für einen rati-onellen Entscheidungsprozess in Gremien in denen unterschiedliche Interessen von fast doppelt soviel Staaten aufeinander treffen.

• Auf die mangelnde Transparenz und demokratische Legitimierung der Entscheidungen der EU insgesamt und speziell zu all den Fragen die mit einer gleichberechtigten Teilnahme der neuen Mitgliedsstaaten verbunden sind.

Diese Defizite der Erweiterung der EU sind vor allem eine Folge des sozial-ökonomischen Charak-ters der Ostausdehnung der EU, die vornehmlich darauf gerichtet ist, dem westeuropäischen Groß-kapital neue Absatzmärkte und ein Reservoir billiger und gut ausgebildeter Arbeitskräfte zu er-schließen. Die Osterweiterung wird von den Interessen höherer Kapitalverwertung der westeuropäi-schen Konzerne bestimmt, wobei die Interessen der beitrittsländer auf eine eigenständige Wirt-schaftsentwicklung, auf wirtschaftliche, soziale und ökologische Stabilität und Nachhaltigkeit ins Hintertreffen geraten. Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass eine ungeschützte Integration in liberalisierte weltwirtschaftliche Zusammenhänge auf Kosten der ökonomisch Schwächeren erfol-gen und zu ihrer weiteren Marginalisierung und Peripherisierung führen. (Hofbauer 2003: 186)

Die EU steht gegenwärtig an einem kritischen Punkt ihrer Entwicklung. Die Fortsetzung der bishe-rigen, neoliberal geprägten Politik gegenüber den Beitrittsländern, die Übernahme der neuen Märk-te ohne die Modernisierung und Stabilisierung der Wirtschaft dieser Länder ausreichend zu unter-stützen, erhöht die Gefahren, dass der Erweiterungsprozess scheitert. Eine erfolgreiche Osterweite-rung zum Nulltarif, d.h. ohne eine spürbare Erhöhung des EU Haushalts, wird es nicht geben. Aus der Qualität und Dimension der in den Beitrittsländern zu lösenden Probleme ergibt sich, dass der EU Haushalt für ihre Entwicklung eine weit größere Bedeutung gewinnt als bisher. Die Politik der Bundesregierung und der Regierungen der anderen Mitgliedsländer der EU ist jedoch darauf gerich-tet, den Erweiterungsprozess möglichst ohne zusätzliche Mittel, ja sogar mit einer Reduzierung bis-her in der Agenda 2000 vorgesehener Mittel, zu verwirklichen. Die Bundesregierung hat vorge-schlagen, die obere Begrenzung des EU Haushalts von 1,27 % des BIP auf 1,1 % zu begrenzen.

Diese Politik schlägt sich nieder in dem sehr restriktiven Rahmen für die makroökonomische Politik und speziell für die Strukturpolitik. Sie ist auch eine Abkehr gegenüber früheren Erweiterungsrun-den der EU, die mit substanziellen Vergrößerungen der Strukturfonds verknüpft waren. Eine ähnli-che Verschlechterung zeigt sich auch bei der Anwendung der Maastrichtkriterien. Bei ihrer Einfüh-rung wurde ein Köhäsionsfonds geschaffen, um den ärmeren Ländern zu helfen, dem erhöhten Wettbewerbsdruck auf dem Weg zur Währungsunion stand zu halten. Auf all das wird bei dieser bisher größten und schwierigsten Erweiterung verzichtet. Die neuen Mitglieder sollen auch im Un-terschied zu früheren Erweiterungen vom ersten Tag ihrer Mitgliedschaft an den vollen Beitragssatz an den EU Haushalt abführen.

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Die neuen Herausforderungen der Osterweiterung und die Nutzung ihrer Chancen betreffen natür-lich nicht nur die EU und ihre Institutionen sondern auch die Politik ihrer Mitgliedsstaaten. Dies gilt in besonderem Maße für die Bundesrepublik Deutschland, als

(1) ökonomisch stärkstes und politisch einflussreiches Mitglied der EU;

(2) direktes Nachbarland von zwei der größten Beitrittsländer, mit der längsten gemeinsamen Gren-ze zu MOE Staaten und dementsprechend auch den meisten Grenzregionen. Dies trifft beson-ders auf Ostdeutschland zu: Von den fünf neuen Bundesländer sind drei Länder mit größeren Grenzregionen zu Polen und Tschechien (Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg/Vorpommern).

(3) Land mit dem höchsten Anteil an den Export- und Importbeziehungen und an den Direktinvesti-tionen der EU mit bzw. in diesen Ländern. 40 % des Außenhandelsvolumens der EU mit den MOEL wird von Deutschland realisiert – das sind 10 % des gesamten Außenhandelsvolumens Deutschlands. Damit haben die MOE-Länder mittlerweile hinsichtlich dieser Kennziffer diesel-be Größenordnung erreicht wie der Außenhandel Deutschlands mit den USA. Auch für die meisten MOEL ist Deutschland der bedeutendste Handelspartner, z.B. mit einem Anteil von rund einem Drittel an den Exporten und Importen Polens, Tschechiens und Ungarns.

Bei der weiteren Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zu den MOE-Staaten könnte Ost-deutschland eine besondere Rolle spielen. Das ist jedoch daran geknüpft, dass es gelingt, einer-seits die günstigen räumlichen Bedingungen, die sich aus der unmittelbaren Nachbarschaft er-geben, für die Gestaltung enger Kooperationsbeziehungen zu nutzen, und andererseits die bis Ende der achtziger Jahre vorhandenen Wirtschaftsbeziehungen zu den meisten MOEL mit Hilfe entsprechender wirtschaftspolitischer Maßnahmen zumindest teilweise zu revitalisieren. Dem stehen aber andere Faktoren entgegen: die überwiegend klein- und mittelständischen Strukturen der ostdeutschen Unternehmenslandschaft, die Kapitalschwäche der meisten ostdeutschen Un-ternehmen und auch die Produktionsschwerpunkte in den neuen Bundesländern.

Die entgegengesetzte Entwicklung des Außenhandelsvolumens von Ost- und Westdeutschland bzw. den Rückgang dieses Außenhandels seitens Ostdeutschlands zu den MOEL und den Staa-ten der früheren Sowjetunion/GUS nach der Vereinigung zeigt folgende Übersicht:

Tabelle 1: Export DDR/Ostdeutschland und BRD/Westdeutschland in MOEL und GUS

1989 Mrd.. DM 1989 in %* 1994 Mrd. DM 1994 in %*

DDR/Ostdeutschland nach MOEL/GUS

29,6 48 4,6 8

BRD/Westdeutschland nach MOEL/GUS

31,8 52 47,5 92

DDR/Ostdeutschland nach Polen

3,1 0,4

DDR/Ostdeutschland nach CSSR/Tschechien, Slowakei

3,8 0,5

* DDR+BRD bzw. Deutschland = 100

Quelle: Wirtschaft und Statistik, 5/95; Statistisches Bundesamt, Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Juni 1994 (enthalten in: K. Steinitz (Hrsg.), Vereinigungsbilanz, S. 52/53, Hamburg, 1995)

Ungeachtet dieses rapiden Rückgangs des ostdeutschen Anteils am Export Deutschlands nach Ost-europa, weist dieser Export, ebenso wie der gesamte Außenhandel Ostdeutschlands mit diesen Län-dern einen größeren Anteil auf als es dem Gesamtanteil der neuen Bundesländer am deutschen Ex-port bzw. Außenhandel entspricht.

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Tabelle 2: Anteile Ostdeutschlands am Export Deutschlands (in Prozent)

1989 1994 2000

Gesamter Export 10 3,2 5,3

Export nach Polen und Tschechien 40 8,6 11,5

Quelle: DIW, Wochenbericht 33/03, S.4

Der Anteil Polens und Tschechiens am Gesamtexport Ostdeutschlands ging zwar gegenüber 1989 auf weniger als die Hälfte zurück, betrug aber in den neunziger Jahren immer noch 8 %.

Kritik alternativer Ökonomen richtet sich nicht gegen die EU-Osterweiterung selbst, sondern gegen die Art- und Weise der Gestaltung oder richtiger: der unzureichenden Gestaltung dieses für die Zukunft Europas entscheidenden Erweiterungsprojekts und seiner Unterordnung unter die Interes-sen des westeuropäischen Großkapitals. Bei allen Widersprüchen und der offensichtlichen Ambiva-lenz des Erweiterungsprozesses gibt es zur Erweiterung keine bessere und zugleich realistische Al-ternative für die Völker Europas. Die Kritik ist vor allem auf drei Punkte konzentriert: Erstens auf den von den Kapitalinteressen der bisherigen EU Länder bestimmten neoliberalen Charakter des Erweiterungsprozesses, zweitens auf die nicht gleichberechtigte Teilnahme der Beitrittsländer am Aushandeln der Beitrittsbedingungen und der Entwicklungsbedingungen ihrer Länder in den Jahren unmittelbar nach dem Beitritt sowie drittens darauf, dass es insgesamt kein tragfähiges Konzept der Entwicklung der EU zu einer sozialen, demokratischen und friedlichen Weltregion gibt, das der Osterweiterung zu Grunde gelegt werden kann..

Der tatsächliche Verlauf des Erweiterungsprozesses zeigt, dass er als Ausdehnung des politischen und ökonomischen Einflussbereichs des westeuropäischen Kapitals über die Beitrittsländer, über einen wesentlichen Teil der osteuropäische Region verläuft. Die neuen Mitglieder werden zur Peri-pherie der EU; es bildet sich ein asymmetrisches Interessenverhältnis heraus zwischen dem Zent-rum und der von diesem dominierten Peripherie. Osterweiterung der EU muss als eine spezifische Form der neoliberalen Globalisierung charakterisiert werden. Sie wird vom westeuropäischen Ka-pital zur Stärkung des ökonomischen Potenzials der europäischen Region im sich verschärfenden Wettbewerb der Triade, vor allem mit den USA, genutzt.

Die Aufnahme einer größeren Anzahl MOE-Länder in die EU könnte eigentlich eine historische Möglichkeit sein, mehr Demokratie, Stabilität, wirtschaftlichen Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit in Europa zu schaffen und den europäischen Einigungsprozeß vor-an zu bringen. In der weiteren Perspektive müssen auch alle übrigen osteuropäischen Länder, die dies wünschen, diesen Weg gehen können.

Für die Menschen in den MOE-Staaten entstehen Chancen, die demokratischen, sozialen und öko-logischen Rahmenbedingungen ihres Lebens mit der Integration in die Europäische Union zu verbessern. Wohlgemerkt, es handelt sich um Chancen, nicht aber um "Selbstläufer".

Die Osterweiterung der EU ist vor allem aus politischen Gründen das wichtigste Projekt für Europa in diesem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Ein Scheitern des Projekts, was nicht völlig unwahrscheinlich ist, würde vor allem für die politische Zukunft Europas und auch für den Kampf um eine andere Art und Richtung der Globalisierung äußerst negativ Wirkungen hervorrufen.

Die Größe der Herausforderung durch die Osterweiterung wird in folgenden Zusammenhängen deutlich:

Erstens. Es handelt sich nicht schlechthin um eine quantitativ bedeutende Erweiterung, sondern um die Aufnahme von Staaten, die sich in ihrem ökonomischen Entwicklungsniveau, den sozialen und ökologischen Standards und in der Infrastruktur gravierend vom Durchschnitt der bisherigen EU unterscheiden. Beim BIP je Einwohner (berechnet in Kaufkraftparität) erreichten im Jahre 2001 von

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den 10 Beitrittskandidaten nur 5 einen Stand von 50 Prozent und mehr gegenüber dem Durchschnitt der EU 15: Slowenien 70 Prozent, Tschechische Republik 59 Prozent, Ungarn 53 Prozent, Zypern 74 Prozent und Malta 55 Prozent. Die anderen lagen meist wesentlich unter 50 Prozent. Zum Ver-gleich: Die neuen Bundesländer wiesen in diesem Jahr beim BIP je Einwohner ein Niveau von ca. 70 Prozent des EU Durchschnitts auf. Das BIP/Einwohner betrug insgesamt im Durchschnitt der 10 MOE Beitrittskandidaten rund 48 Prozent des gegenwärtigen EU Niveaus. (DIW, Wochenbericht 43/03)

In den 90er Jahren haben sich in den meisten Beitrittsländern die sozialen Probleme verschärft. In Polen ist bei einer Arbeitslosenrate von ca. 20 % der Anteil der Arbeitslosen, die Arbeitslosenunter-stützung erhalten, weiter rapide zurück gegangen ist, auf gegenwärtig nur noch 1/5. Besonders be-drohlich ist die Situation für die Jugend. 45 % der Jugendlichen (bis 24 Jahre) sind ohne Beschäfti-gung. Der Anteil der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums ist in Polen von 4,3 % 1996 auf 9,5 % 2001 gestiegen. Eins der größten sozialen Probleme ist das weitgehende Verschwinden der Gewerkschaften. In mehreren bekannten westlichen Firmen gibt es ein kaum verborgenes Verbot der Gründung von Gewerkschaften. (T. Kowalik, Konferenz Reader 2003, Wien) Der weitere Rückzug von der "sozialen Marktwirtschaft" in der EU wird auch negative Auswirkungen auf die gegenwärtig prekäre soziale Lage in den MOEL haben.

Aus all dem erwachsen vielfältige Probleme:

• lange Dauer des Angleichungsprozesses (mehrere Generationen). Eine unseres Erachtens . un-realistische, viel zu optimistische Prognose von Experten des DIW geht davon aus, dass insge-samt 25 bis 30 Jahre notwendig sein werden, bis der Durchschnitt der EU erreicht ist. Eine an-dere Berechnung geht von einer ebenfalls unwahrscheinlichen Fortführung der seit etwa Mitte der neunziger Jahre in den Beitrittsländern erreichten jährlichen Wachstumsrate von 4 Prozent in den nächsten Jahrzehnten und einer Wachstumsrate von 2 Prozent in den bisherigen EU Län-dern aus. Sie kommt zum Ergebnis, dass etwa zwei Jahrzehnte nötig sein werden bis die MOEL im Durchschnitt ca. 70 % der EU 15 erreichen. Dabei werden die Werte zwischen den einzelnen Beitrittsländern natürlich auch weiterhin stark streuen.

Für eine Prognose der zukünftigen Wachstumsraten der Beitrittsländer muss beachtet werden, dass die relativ hohen Wachstumsraten der letzten Jahre nach einem rapiden Abfall der gesamt-wirtschaftlichen Leistung, insbesondere der Produktion der Industrie und der Landwirtschaft, realisiert wurden, und dass zum Teil noch nicht wieder das Niveau von 1989 erreicht wurde. Der ökonomische Rückstand der MOEL zur EU gemessen am BIP bzw. am Output der Indust-rie und der Landwirtschaft war im Jahre 2000 größer als 1989.

Tabelle 3: Wachstum des realen BIP sowie der Produktion der Industrie und der Land-wirtschaft in den MOE Ländern und der EU 15

Land BIP 2000 1989= 100

Industrie 2000 1989= 100

Landwirtschaft 1999 Durchschnitt 1989-1991 = 100

Tschech. Republik 98 81 83 Ungarn 104 135 72 Polen 127 130 88 Slowak. Republik 109 85 72 Slowenien 114 80 97 Estland 83 64 . Lettland 64 47 41 Litauen 65 37 66 EU 15 125 124 101* * EU 15 Landwirtschaft ist der ungewichtete Durchschnitt der Länderindices Quelle: Unterlagen der ECE, entnommen aus: T. Morva, Konferenz Reader 2003, Wien

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• höhere Anforderungen an die notwendige finanziellen Ausstattung der Struktur- und Kohäsions-fonds,

• Beträchtliche Auswirkungen der Osterweiterung der EU ergeben sich für die Ziel-1-Regionen (Regionen mit den höchsten Fördersätzen) der bisherigen EU. Das Kriterium für die Einstufung als Ziel-1-Region ist ein BIP/Einwohner das weniger als 75 % des EU Durchschnitts beträgt. In-folge des nach dem Beitritt der 10 Länder wesentlich geringeren durchschnittlichen BIP/Einwohner der erweiterten EU würde die Beibehaltung des Kriteriums für die Ziel-1-Förderung bedeuten, dass mehr als die Hälfte der bisher 46 Ziel-1-Regionen – insgesamt 27 – aus dieser Höchstförderung herausfällt, darunter auch voraussichtlich 7 oder 8 der 9 Regionen der neuen Bundesländer.

• Konsequenzen für Migration und für die Arbeitsmärkte infolge des großen Wohlstandsgefälles und der überdurchschnittlich hohen und nach dem Beitritt zur EU voraussichtlich weiter stark ansteigenden Arbeitslosigkeit in den MOE-Ländern. Die Arbeitslosenquote lag 2001 im Durch-schnitt der 10 Beitrittsländer mit 14,4 % fast doppelt so hoch wie in der EU 15 (in den 8 MOE Ländern lag die Arbeitslosenquote mehr als doppelt so hoch wie in den EU 15). Sie lag am nied-rigsten in Zypern (3,9 Prozent), Ungarn (5,6 Prozent), Slowenien (6,0 Prozent) und am höchsten in Polen (19,9 Prozent) und in der Slowakei (18,6 Prozent). (DIW, Wochenbericht 43/03)

Die historische Einmaligkeit der Osterweiterung der EU im Vergleich zu bisherigen Erweiterungs-runden in den 70er, 80er und neunziger Jahren zeigt die folgende Übersicht.

Tabelle 4: Einfluss der verschiedenen Stufen der Vergrößerung der EU Vergrößerung Zuwachs der

Fläche, % Zuwachs Be-völkerung, %

Zuwachs des BIP

(KKP), %

Veränderung in

BIP/Einw., %

BIP/Einw. (EU 6 =

100)

EU 6 zu EU 9 1973* 31 32 29 -3 97

EU 9 zu EU 12 1986** 48 22 15 -6 91

EU12 zu EU15 1995***

43 11 8 -3 89

EU15 zu EU26 ab 2004****

34 29 9 -16 75

*Großbritannien, Irland, Dänemark; **Spanien, Portugal, Griechenland (1981); *** Finnland, Schweden, Österreich, einschließlich Beitritt DDR zur BRD; **** 10 Beitrittsländer plus Bulgarien und Rumänien aber ohne Malta; KKP = Kaufkraftparität, Quelle: Europäische Kommission, veröffentlicht in: Economist, 19.5.2001, S. 3

Zweitens. Die MOE-Beitrittsländer haben noch bis Ende der achtziger Jahre zum realsozialisti-schen System in Europa gehört. Sie befinden sich mitten in einem komplizierten, widerspruchsvol-len und für große Bevölkerungsgruppen schmerzhaften Transformationsprozess vom Staatssozia-lismus zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Die Osterweiterung der EU kann zu einem weite-ren Schritt auf dem Wege werden, die Teilung Europas in zwei Blöcke zu überwinden. Ihr Erfolg entscheidet maßgeblich darüber, ob es perspektivisch gelingt, nach der Überwindung der vom kal-ten Krieg geprägten politisch-militärischen Scheidelinie in Europa auch die ökonomisch-soziale West-Ost Grenze abzubauen..

Aus der realsozialistischen Vergangenheit der MOE-Länder ergeben sich spezifische Probleme ihrer Integration in die EU, deren Lösung kompliziert ist, und die hohe Anforderungen an alle Beteiligten sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Verwirklichung dieses Prozesses in allen seinen Pha-sen stellen.

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Mit der Osterweiterung werden erstmalig ehemals staatssozialistische Länder, sogenannte Trans-formationsländer, zu EU Mitgliedern. Der Beitritt der DDR ist aus verschiedenen Gründen hiermit nicht vergleichbar. Einerseits hatte die DDR schon vor 1990 eine Art Sonderstatus, da es im Zu-sammenhang mit dem innerdeutschen Handel für sie Sonderregelungen gab (Befreiung von Außen-zöllen zu EU Ländern). Andererseits ist die DDR nicht als souveräner Staat der EU beigetreten. Ihre Zugehörigkeit zur EU hing unmittelbar mit dem Beitritt zur Bundesrepublik zusammen, d.h. mit dem Ende ihrer staatlichen Existenz. Es gab auch keine Vorbereitungszeit und keine Übergangsre-gelungen für die DDR, woraus sich nicht nur für die Industrie, sondern auch für die Landwirtschaft äußerst negative Folgen ergaben. Innerhalb weniger Tage brach z.B. der Absatz von Nahrungsgü-tern und Rohstoffen aus der eigenen Landwirtschaft zusammen und wurde durch Lieferungen der Bundesrepublik und anderer EU Länder ersetzt. Von einem Jahr zum anderen (1990 zu 1989) stie-gen bei Erzeugnissen des Nahrungs- und Genussmittelgewerbes die Lieferungen nach Ostdeutsch-land auf das siebenfache. Schließlich gibt es auch nach dem Beitritt zur EU gravierende Unter-schiede zu den Bedingungen, mit denen die anderen Beitrittskandidaten der MOE-Länder zu rech-nen haben: Hohe soziale und investive Finanztransfers in die neuen Bundesländer, die sich aus der Zugehörigkeit zum Staatsgebiet der Bundesrepublik und aus dem Grundgesetz ergeben – Nettofi-nanztransfer (öffentliche Mittel) insgesamt rund 70 Mrd. Euro jährlich, der Hauptteil für soziale, konsumtive Zwecke – und die Dominanz westdeutscher Unternehmen in der ostdeutschen Wirt-schaft, die in Grundzügen den Charakter einer westdeutschen Filialökonomie angenommen hat. (Vgl. zu dieser Problematik Anlage 1: Grundlegende Unterschiede zwischen Ostdeutschland und den MOEL)

Drittens. Mit den neuen Beitrittsländern sollen Völker in die EU integriert werden, die gegenüber Westeuropa unterschiedliche historische und kulturelle Traditionen und eine in Vielem andere Mentalität aufweisen, für die in Westeuropa nicht selten wenig Verständnis entgegengebracht wird und über die auch meist nur geringe Kenntnisse vorhanden sind. Die mit der Osterweiterung ver-bundene Erweiterung kultureller Horizonte und größere kulturelle Vielfalt können zu einer Berei-cherung des Lebens in den bisherigen EU Staaten führen.

Viertens. Die Bevölkerung der Beitrittsländer setzt bzw. setzte hohe Erwartungen an den Beitritt zur EU, besonders hinsichtlich der Verbesserung des Wohlstands, der Lebens- und Arbeitsbedin-gungen, der Demokratisierung der Gesellschaft und der wirtschaftlichen Stabilität. Der gesamte Prozess der Beitrittsvorbereitung leidet unter starken Demokratiedefiziten. Die Beitrittsländer wur-den an den zu treffenden Entscheidungen ungenügend beteiligt.

Die bisherige Vorbereitung der Aufnahme hat schon bei vielen Menschen an die Stelle der Euphorie der ersten Zeit nachdem die Beitrittsmöglichkeit geschaffen war, zu Enttäuschung und Ernüchte-rung geführt. Die Zustimmung der Bevölkerung zur EU Mitgliedschaft ist in den meisten Beitritts-länder zurückgegangen. Dies gilt speziell für Polen besonders im Zusammenhang mit den unbefrie-digenden Lösungen der EU für die Landwirtschaft, in der rund ein Fünftel der Erwerbstätigen be-schäftigt ist. Von diesen werden voraussichtlich zwei Drittel (2,5-3 Millionen) ihren Arbeitsplatz verlieren, wodurch die jetzt schon hohe Arbeitslosigkeit drastisch weiter ansteigen wird.

Fünftens. Die Osterweiterung der EU hat nicht nur eine europäische Dimension, sondern weist auch eine darüber hinaus gehende globale Bedeutung auf. Sie könnte ein Beispiel dafür werden, Länder bzw. Ländergruppen, die ökonomisch einen niedrigeren Entwicklungsstand aufweisen, mit ökonomisch hochentwickelten Ländern bzw. regionalen Ländergruppen zum Nutzen beider zu ver-binden. Kriterium hierfür ist vor allem die Annäherung im wirtschaftlichen und sozialen Ent-wicklungs- bzw. Lebensniveau, ohne dass dies auf dem Wege einer „nachahmenden“ Modernisie-rung mit den vielen Fehlentwicklungen in den kapitalistischen Metropolen erfolgt. Andererseits würde ein ökonomisches Scheitern dieses Projekts auch negative Rückkopplungen auf die Perspek-tiven zur Lösung weltwirtschaftlichen Probleme und von akuten Fragen der Nord-Süd Polarisation haben. Die Herausforderung besteht vor allem darin, am Beispiel der EU Osterweiterung zu zeigen, dass die Globalisierung nicht zwangsläufig dem bisherigen neoliberalen Muster folgen muss, dass es reale Möglichkeiten gesellschaftlicher Kontrolle und Regulierung gibt, um die verheerenden

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Wirkungen deregulierter internationaler Finanzmärkte einzuschränken. Dabei geht es insbesondere um folgende Probleme:

• Eindämmung der Wirkungen starker Schwankungen privater Kapitalströme;

• Dämpfung der Auswirkungen von Finanzkrisen;

• Stärkung der nationalen Finanzmärkte der MOE Länder, d.h. langfristige Bemühungen, um die Abhängigkeit von Auslandskrediten zu verringern. Zwischen den MOE-Beitrittsländern und den meisten EU-Ländern besteht ein Unterschied darin, dass die ersten in der Regel weit stärker durch Auslandsschulden und den Schuldendienst gegenüber anderen Ländern belastet sind als durch die innere Verschuldung. Der negative Saldo der Leistungsbilanz, der entscheidend für die Höhe und Zunahme der Auslandsschulden ist, hatte 2000 in den Beitrittsländern schon mit 23 Mrd. Dollar eine problematische Größe von mehr als fünf Prozent des BIP erreicht. (Werni-cke 2001, S. 7; Deutsche Bundesbank, Monatsberichte 10/2001, S. 21). Der Importüberschuss ist in den letzten Jahren weiter angestiegen. Allein in Polen betrug dieser Negativsaldo des Au-ßenhandels im Jahre 2000 13 Mrd. Dollar. (Hofbauer, 2003: 192)

Die Auslandsschulden der Beitrittsländer lagen 2001 bei 165 Mrd. Dollar und führen zu hohen Belastungen durch den Schuldendienst an die reichen kapitalistischen Staaten des Westens. Die Schuldenquote (Anteil der Gesamtschulden der öffentlichen Haushalte am BIP) lag im Jahre 2002 in allen Beitrittsländern außer Malta unter 60 Prozent, während er hingegen im Euroland 69 Prozent betrug. Dabei lag jedoch die Rate der Neuverschuldung in Jahre 2002 bei 6 von den 10 Beitrittsländern über 3,0 Prozent mit einer ansteigenden Tendenz. (DIW Wochenbericht 43/03)

Die in der EU im Verhältnis zu anderen regionalen Wirtschaftsblöcken einmalige Verlagerung fi-nanzieller und auch anderer wirtschaftspolitischer Kompetenzen auf eine supranationale Ebene könnte auch dazu beitragen, die Verringerung der Entwicklungskluft zwischen West- und Osteuro-pa wirksamer zu unterstützen. Insbesondere die Durchsetzung sozialer und ökologischer Mindest-standards in allen zur EU gehörenden Ländern könnte ein Beitrag dazu sein, die von der Profitdo-minanz geprägten neoliberalen Globalisierungstendenzen zurückzudrängen.

Dazu sind jedoch entsprechende Bedingungen notwendig: Stärkung und Weiterentwicklung der institutionellen Voraussetzungen, z.B. des Ecofinrates, Verbesserung der Kooperation zwischen den Institutionen und Erhöhung ihrer demokratischen Legitimation. Dazu gehört auch die Vergrößerung der hierfür vorgesehenen finanziellen Potenziale der EU noch in der laufenden Periode der Finanz-planung bis 2006. In den Jahren 2001 und 2002 eingesparte Mittel des EU Haushalts sollten nicht – wie bisher vorgesehen – an die Mitgliedsländer zurück überwiesen, sondern zur besseren Vorberei-tung der Aufnahme der Beitrittskandidaten und speziell für die Grenzregionen eingesetzt werden. Des weiteren ist es notwendig, als erstes die bisherigen Obergrenze des EU Haushalts von 1,27 Pro-zent des BIP voll auszuschöpfen und weitere Schritte zur substanziellen Erhöhung des Finanzrah-mens zu gehen.

Nach den Mitte 2003 gültigen Bestimmungen der Agenda 2000 ergibt sich ein Finanzrahmen für die Jahre 2004-2006 für die Ziel 1 Regionen in der bisherigen EU 15 (vor allem "Südländer", Irland und neue Bundesländer) von etwa 62 Mrd. Euro für 95 Millionen Bürger die in diesen Regionen leben, im Vergleich zu 23 Mrd. Euro für etwa 70 Millionen Bürger die in Ziel 1 Regionen der Bei-trittsländer leben. Das sind je Einwohner 650 Euro im bisherigen EU Gebiet, bzw. nur 320 Euro, weniger als die Hälfte, in den Beitrittsländern.

Die bisherigen Schritte zur Vorbereitung der EU Osterweiterung geben wenig Anlass für Optimis-mus. Wahrscheinlich wird mit der praktizierten Art und Weise der Vorbereitung und des Vollzugs des Beitritts, ähnlich wie bei der deutschen Vereinigung, wieder eine historische Chance verspielt werden.

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Sechstens. Schließlich gewinnt die Beziehung der EU zu Russland und anderen GUS Staaten mit der Osterweiterung eine neue Qualität. Die EU rückt an die Grenzen Russlands vor, ohne dass wichtige strategische Fragen in den Beziehungen zu Russland und anderen der ehemaligen GUS Staaten geklärt sind. Das betrifft auch die Beziehungen der neuen EU Mitglieder zu den osteuropäi-schen Nichtmitgliedern, z.B. Polens zur Ukraine.

Eine Öffnung gegenüber Russland, Ukraine und Belorussland ist notwendig. Ein dauerhafter öko-nomischer Aufschwung in den MOE Ländern ist nicht vorstellbar ohne eine dynamische Entwick-lung der ökonomischen und Handelsbeziehungen mit diesen Ländern. (T. Morva, Konferenz Reader 2003, Wien)

2. Voraussichtliche Wirkungen der Osterweiterung auf die EU 15 und die Do-minanz der Interessen des westeuropäischen Kapitals Die ökonomischen Auswirkungen der Osterweiterung sind in den einzelnen EU Ländern und Regi-onen unterschiedlich; am stärksten in Deutschland und Österreich und dabei natürlich besonders in den Grenzregionen. Erleichterungen im Waren- und Kapitalverkehr sind schon in Vorbereitung auf den Beitritt der MOE-Länder wirksam geworden. So werden seit 1997 auf Einfuhren aus den meis-ten MOE Beitrittsländern – mit Ausnahme landwirtschaftlicher Erzeugnisse – keine Zölle mehr erhoben. Der Anteil der EU Länder am Export und Import der Beitrittskandidaten stieg von 48 Pro-zent bzw. 46 Prozent 1994 auf knapp 69 Prozent bzw. gut 62 Prozent 1999.

Im Herbstgutachten 2003 der sechs Institute "Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirt-schaft im Herbst 2003" (DIW, Wochenbericht 43/03) ist ein ausführlicher Abschnitt "Zur bevorste-henden Erweiterung der Europäischen Union" enthalten. Dort heißt es u.a. zu den Auswirkungen der Erweiterung auf die EU 15:

Im Zuge des Beitrittsprozesses wird sich das Pro-Kopf-Einkommen in der bisherigen EU um bis zu 0,7 % erhöhen. Die einzelnen Länder werden unterschiedlich betroffen sein. Je enger die Verflechtung mit den Beitrittsländer desto stärker sind tendenziell die zu erwartenden Einkommensgewinne. Verluste drohen per Saldo denjenigen Ländern, die wenig mit den Beitrittsländer verflochten sind und zugleich von Kürzungen der EU Mittel für die Struktur-fonds betroffen sind. Es wird eingeschätzt, dass die Wachstumseffekte für die Beitrittsländer insgesamt größer sein werden als für die EU 15, einerseits weil die zu mobilisierenden Pro-duktivitätsreserven größer sind, und andererseits weil es sich größtenteils um relativ kleinere Volkswirtschaften handelt, bei denen der integrationsbedingte Zuwachs an Marktpotenzial relativ höher ist als für die meisten derzeitigen EU Länder. Der beitritt zur EU begünstigt die Mobilität von Kapital. Es ist damit zu rechnen, dass die bisher hohen Risikoprämien für die Finanzierung der Investitionen sinken. Kapitalzuflüsse werden sich auch aus der Inan-spruchnahme von Mitteln der Strukturfonds ergeben. Der Bedarf an Investitionen für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und den Umweltschutz wird für die nächsten Jahre auf 4 % des BIP geschätzt.

Die ausländischen Direktinvestitionen in den Beitrittsländern nahmen nach 1994 stark zu.

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Tabelle 5: Netto-Direktinvestionen (eingeflossen) kumulativ in der Periode 1989-2000

Land/Ländergruppe Mrd. US Dollar Prozent von gesamt Pro-Kopf US Dollar Tschech. Rep. 21,7 26 2110 Ungarn 19,7 24 1968 Polen 29,1 35 752 Slowak. Rep. 4,2 5 772 Slowenien 1,5 2 759 MOE Länder 5 76,1 92 1148 Estland 2,0 2 1398 Lettland 2,5 3 1034 Litauen 2,4 3 646 MOE Länder 3 6,9 8 844 MOE Länder 8 83,0 100 1124

Quelle: Transition Report, EBRD, 2001 und Eurostat. Jahrbuch 2002, entnommen aus: T. Morva, Konferenz Reader 2003, Wien

Die Netto-Direktinvestitionen betrugen 2000 rund 20 Mrd. Euro und im gesamten Zeitraum 1989 bis 2000 rund 85 Mrd. Euro. Nach einer anderen Quelle sind bis einschließlich 2001 115 Mrd. Dol-lar Auslandskapital in die 10 MOEL (einschließlich Bulgarien und Rumänien) geflossen. (Hofbauer 2003: 193) Als Vergleich: in Ostdeutschland mit etwas mehr als einem Fünftel der Bevölkerung wurden in diesem Zeitraum aus äußeren (westdeutschen und ausländischen) Quellen etwa 500 Mrd. Euro investiert, je Einwohner etwa das zwanzigfache.

Ausländische Direktinvestitionen können eine wichtige Rolle für die ökonomische Entwicklung der jeweiligen Länder spielen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen jedoch, dass sie sehr ungleichmäßig zwischen den Ländern verteilt sind, dass sie zur Konzentration wichtiger Teile der nationalen Wirt-schaft in den Händen des westeuropäischen Kapitals geführt haben, und nicht zur Entwicklung der eigenen mittleren und kleineren Unternehmen in Industrie und Landwirtschaft beitragen.

Es besteht eine große Kluft zwischen den oben charakterisierten Herausforderungen und dem bishe-rigen realen und auch weiter konzipierten Verlauf der EU-Osterweiterung: In den EU-Ländern gibt es keine breite öffentliche Auseinandersetzung über die Probleme, Chancen und Risiken der Oster-weiterung. In den betroffenen Ländern dominiert die Auffassung, dass sie als kleine Länder ohne Beitritt zu der großen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft chancenlos sind, und dass sie daher kaum freie Entscheidungsmöglichkeiten haben – "take it or leave it".

Die Osterweiterung wird von den Staaten der Union bisher vorwiegend als Projekt zur Erweiterung von Absatzgebieten sowie zur Verbesserung der Verwertungsbedingungen für die westeuropäischen Banken, großen Unternehmen und Konzerne vorbereitet und durchgesetzt. Die Erweiterung wird hingegen nicht als Chance begriffen, gleichberechtigte Beziehungen zu entwickeln und die enormen regionalen Disparitäten möglichst schnell zu reduzieren. Vielmehr ist schon heute das Ergebnis der Transformation, dass die Beitrittsländer weitgehend zu Absatzmärkten für westeuropäische Produk-te und zu verlängerten Werkbänken westeuropäischer Großunternehmen mutierten.

In den 90er Jahren fand im Zuge der Privatisierung der staatlichen Unternehmen ein weitgehend irreversibler riesiger Ausverkauf an das Auslandskapital statt. Die Ökonomien der meisten Beitritts-länder befinden sich auf dem Weg zu einer weitgehenden (kontinentalen) Dependenzökonomie. Alle internationalen Erfahrungen bestätigen: verstärkter Marktwettbewerb und zunehmende Dere-gulierung wirken sich tendenziell immer zum Nachteil der schwächeren Staaten aus.

Die verlängerten Werkbänke sind vor allem auf die Branchen Automobil- und Fahrzeugbau und Elektronik konzentriert, in denen entsprechend der betriebswirtschaftlichen Logik zur Kostenmini-mierung in der gesamten Wertschöpfungskette, vor allem arbeitsintensive Zulieferungen zu Nied-rigstlöhnen gefertigt werden. Das industrielle Profil vor allem Ungarns, aber auch der Slowakei und Tschechiens, wird in hohem Grad von der Funktion bestimmt, als verlängerte Werkbank für den

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westeuropäische Automobilbau zu dienen. Ein großer Teil der entsprechenden Zulieferbetriebe be-findet sich in der Hand der Automobilkonzerne Volkswagen, Audi, Ford, BMW, Renault u.a. Der weitgehend den westeuropäischen PKW Konzernen zuarbeitende Warengruppe "Maschinen- und Fahrzeugbau" realisiert bereits 60 % der ungarischen Exporte. In Tschechien, in der Slowakei, in Slowenien und in Polen liegen die Aneile der Autozulieferindustrie jeweils zwischen 45 % und 34 %. (Hofbauer 2003: 191/2) Eine solche einseitige Ausrichtung der industriellen Strukturen hat zumindest in zweifacher Beziehung negative Folgen für die nationale Wirtschaftsentwicklung: Ers-tens ist der Anteil innovativer, qualifizierter, dispositiver Tätigkeiten mit einer hohen Wertschöp-fung je Arbeitsstunde relativ gering. Zweitens besteht eine hohe Abhängigkeit von den Entschei-dungen in den ausländischen Konzernzentralen in allen wichtigen Fragen der weiteren Entwicklung des Betriebes, vom Expansionstempo bis zur Betriebsschließung. Strategische Entscheidungen wer-den aus den Nationalstaaten zu den Hauptquartieren der Transnationalen Konzerne verlagert. Die verlängerten Wekbänke sind in Zeiten der Stagnation und Rezession besonders anfällig. Drittens besteht eine in den Beitrittsländer unterschiedlich ausgeprägte Tendenz, dass sich zwei verschiede-ne Sektoren der Volkswirtschaft herausbilden, die wenig miteinander verbunden sind, einmal der Exportsektor, zum großen Teil im ausländischen Besitz, technologisch modern und wettbewerbsfä-hig, zum anderen der Hauptteil der nationalen Wirtschaft, der technologisch größtenteils wenig fortgeschritten ist, kaum exportiert, mehrheitlich in inländischer Hand ist und den größten Teil der Arbeitsplätze bereitstellt. Diese Tendenz ist in Ungarn besonders stark. (Andor/Lorant 2001: 25) Charakteristisch für die Erwartungen der großen Unternehmen ist eine Feststellung von Siemens-Chef Heinrich von Pierer: "Für die deutsche Wirtschaft wird die Osterweiterung einen gewaltigen Schub bringen." Dieser Schub wurde schon vor dem Beitritt reichlich genutzt, um wie ein führender deutscher Manager es ausdrückte: "in den Märkten der EU-Beitrittskandidaten präsent zu sein bevor sie Mitglieder werden". Der "Spiegel" kommt in einem Bericht zur Osterweiterung zum Ergebnis, dass die Deutschen das Ziel, vor dem eigentlichen Beitritt die Claims für gute Geschäfte abzuste-cken, inzwischen schon erreicht haben. (Spiegel, 50/2002, 52) Siemens beschäftigt in den Beitritts-ländern bis heute in 95 Gesellschaften mehr als 25.000 Mitarbeiter. Der Export in den Osten konnte vom Siemens-Konzern innerhalb von 5 Jahren verdoppelt werden. Ähnliche sieht die "Erfolgsbi-lanz" von VW aus. Es werden vor allem die geringen Entfernungen und die niedrigen Lohnkosten genutzt. In der Hauptstadt der polnischen Wojewodschaft Lubuskie produzieren 2.300 Beschäftigte Fahrzeugelektronik für die "VW Eletrosystemy", eine Tochter von VW und Siemens. Mit beträcht-lichen Mitteln ist VW in die Skoda Werke eingestiegen. Die Produktion von Skoda Fahrzeugen wurde von 172.000 1991 auf 500.000 moderne Autos erhöht, die in 20 Länder exportiert werden. Zu den niedrigen Lohnkosten, z.B. in der Slowakei 5 bis 6 Mal niedriger als in Deutschland, der günstigen Lage und ökonomischen Begünstigungen – so darf z.B. VW bis 2007 in der Slowakei steuerfrei wirtschaften –, kommt oft noch hinzu, dass die Arbeiter nicht an Streikkämpfe gewöhnt sind und relativ leicht zu Zugeständnissen gepresst werden können. Das sind z.B. Hauptgründe da-für, dass sich in den vergangenen Jahren mehrere europäische Industriekonzerne rund um Bratislava angesiedelt haben. Schon bevor die Slowakei EU Mitglied geworden ist befindet sich so der absolut größte Teil der industriellen Produktion in den Händen ausländischer Konzerne. Ungarn übte längere Zeit eine starke Anziehungskraft auf ausländische Investoren aus. Über 40 % des ungarischen BIP und drei Viertel des Exports werden heute in Betrieben mit mehrheitlich aus-ländischer Kapitalbeteiligung erwirtschaftet. In Estland sind es fast 50 % des BIP, in Tschechien und Lettland 30 % (Hofbauer 2003: 189) Ausländische Banken kontrollieren gegenwärtig, noch vor dem Beitritt, zwei Drittel der finanziellen Institutionen der Beitrittsländer. (J. Huffschmid, Konferenz Reader, S. 9, 2003, Wien) Bei der Vorbereitung des Beitritts hatte und hat noch ein marktradikales Anpassungsprogramm mit möglichst kurzen Übergangsfristen für die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts insgesamt Vorrang. Die Verwirklichung der europäischen Sozialpolitik und insbesondere einheitlicher EU-Sozialstandards sowie die Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge trat in den Hintergrund. (Modrow/Hiksch/Stobrawa, 2001)

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Die Probleme der Osterweiterung der EU und die generellen Anforderungen an eine demokratische, zivile, soziale und ökologische Gestaltung des europäischen Integrationsprozesses insgesamt sind somit eng miteinander verflochten.

Aus all dem ergibt sich für eine alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik, dass die vorherrschenden wirtschafts- und machtpolitischen Ziele, Interessen und Inhalte des Erweiterungsprozesses sehr kri-tisch bewertet werden müssen und dass eigene Ziele und Alternativen formuliert werden, die den Herausforderungen besser gerecht werden. (Vgl. hierzu Abschnitt 6. Schlussfolgerungen)

Hierfür leisten die Erklärungen und Memoranden europäischer Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa, die seit Mitte der neun-ziger Jahre vorgelegt werden, einen wichtigen Beitrag (vgl. http://www.memo.uni-bremen.de/ europe/europe.htm ).

3. Agrarpolitische Probleme und Konsequenzen der EU-Osterweiterung Bei allen bisherigen Erweiterungsrunden der EU gehörte die Landwirtschaft zu den Bereichen mit den größten Problemen. Daher wurden stets langfristige Vorbereitungsmaßnahmen vorgesehen und auch in der Regel von den Beitrittsländern mehrjährige Sonder- und Übergangsregelungen gefordert und von der EU gewährt. Bei den MOEL kommen zwei Besonderheiten hinzu: Erstens bedeutende ökonomische, soziale und strukturelle Unterschiede zu den EU 15, die sich aus der staatssozialisti-schen Vergangenheit und aus den widersprüchlichen Transformationsprozessen zu einer kapitalisti-schen Marktwirtschaft ergeben. Zweitens das weit höhere gesellschaftliche und ökonomische Ge-wicht der Landwirtschaft in der Volkswirtschaft der jeweiligen Länder. In den 10 MOEL werden 60 Mill. ha landwirtschaftliche Nutzfläche bewirtschaftet – 40 % der Anbaufläche der jetzigen EU. Während für alle MOEL der Anteil der Landwirtschaft am BIP etwa 7 % (bei den Beitrittsländern beträgt dieser Anteil 4 %) und an den Erwerbstätigen etwa 20 % beträgt, sind die entsprechenden Größen für die jetzige EU 2 % bzw. 5 %. Die Land- und Ernährungswirtschaft ist in den Beitritts-ländern ein für ihre ökonomische Stabilisierung entscheidender Faktor.

Viele Probleme eines EU-Beitritts der MOE Länder hängen mit der Spezifik der Gemeinsamen Eu-ropäischen Agrarpolitik (GAP) zusammen. Mit der Herausbildung der GAP haben die Mitglieds-länder zu Gunsten gemeinsamer, einheitlicher Rahmenbedingungen auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität verzichtet.

Auf Grund der vielfältigen komplizierten Probleme konzentrieren sich die offenen Fragen des Bei-tritts in hohem Grade auf die Landwirtschaft. Ende 2000 lagen für diesen Bereich doppelt so viele Anträge für Übergangsmaßnahmen und Sonderregelungen vor wie für alle anderen 30 Kapitel.

Nach den bisherigen Beschlüssen ist die Anwendung des in der EU gültigen Systems der Aus-gleichszahlungen und Prämien je Hektar und Tier für die Beitrittsländer nur in stark eingeschränk-tem Maße vorgesehen. Die notwendigen Ausgleichszahlungen für die Beitrittsländer würden ca. 7-8 Mrd. Euro jährlich umfassen, die im Finanzrahmen der EU nicht enthalten sind. Das bisherige An-gebot, für Agrarhilfen betrug 25 % des bisherigen EU Niveaus. Erst nachdem die Verhandlungen mit Polen zu scheitern drohten, wurde kurz vor dem Kopenhagener Gipfel das Angebot der Kom-mission auf 40 % dieses Niveaus erhöht. Im Verlaufe von 10 Jahren sollen diese Sätze schrittweise erhöht und erst im Jahre 2013 den Stand der bisherigen EU Länder erreichen. Das bedeutet eine starke Benachteiligung der Bauern der Beitrittsländer und wird die komplizierten Probleme der Landwirtschaft noch weiter verschärfen. Die Begründung, dass die Beitrittsländer niedrigere Sub-ventionen erhalten, weil das Niveau ihrer Erzeugerpreise unter dem EU Niveau liegen stimmt nicht mehr. Bereits 2002 haben sich die Erzeugerpreise der MOEL weitgehend den Erzeugerpreisen der EU 15 angenähert. Und bei einigen Erzeugnissen bereits überschritten. So lagen in der Pflanzen-produktion die Erzeugerpreise der MOEL, bei beträchtlichen Schwankungen zwischen den einzel-nen Ländern, insgesamt im Jahre 2002 schon über den Erzeugerpreisen der EU. In der Tierproduk-tion lagen die Erzeugerpreise bei Schweinefleisch, Geflügel und Eiern bereits über den Erzeuger-

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preisen der EU. Bei Rindfleisch du Milch lagen sie noch etwas darunter. (Zentrale Markt- und Preisberichtsstelle für die Ernährungswirtschaft – ZMP)

Tabelle 5: Erzeugerpreise Ende 2002 – Euro je 100 kg

Polen Tschechien Ungarn Deutschland

Brotweizen 11,79 10,55 9,74 10,34

Kartoffeln 7,04 9,54 16,54 6,46

Schweinefleisch 77,40 119,31 117,87 96,63

Quelle: ZMP

Die gestiegenen Preise in den Beitrittsländern sind insbesondere auf den Preisanstieg der Produkti-onsmittelpreise – Maschinen, Düngemittel, Treibstoffe – in den Beitrittsländern zurückzuführen. Die Wirkungen der niedrigen Arbeitskosten werden dadurch und insbesondere durch die geringeren ha-Erträge ( z.B. bei Weizen 62 % und bei Kartoffeln nur 45 % des EU Durchschnitts) und vor al-lem die niedrige Arbeitsproduktivität aufgehoben. Bei der Integration der MOE Länder muss beachtet werden, dass ein stark entwicklungsfähiges ag-rarisches Produktionspotenzial auf den regulierten, bei vielen Produkten gesättigten EU-Markt drängt. Trotz der Produktionseinbrüche beträgt die Erzeugung der MOEL z.B. bei Getreide etwa 45 Prozent, bei Schweinefleisch etwa 30 Prozent der Erzeugung der EU 15. Das Ertragspotenzial ent-hält bedeutende Reserven, die in den nächsten Jahren Produktionssteigerungen zwischen 10 und 20 Prozent erwarten lassen. Die Erweiterung der EU verstärkt dadurch die Notwendigkeit, die Subventionierung der Agrarex-porte (Ausfuhrerstattungen) weiter zu reduzieren. Es darf nicht zugelassen werden, dass die vergrö-ßerten Produktionspotenziale der EU 27 zu einer weiteren Ausdehnung des Exports stark subventi-onierter landwirtschaftlicher Erzeugnisse in die Entwicklungsländer führen, und dort die nationalen Märkte zerstören bzw. deren Entwicklung behindern. Die nach der politischen Wende in den meisten MOE Ländern eingeleitete Umstrukturierung der großen Produktionseinheiten führte oft zu einer starken Zersplitterung der Produktion in Klein- und Kleinstbetrieben, deren durchschnittliche Betriebsgröße teilweise unterhalb der Größe von Neben-erwerbswirtschaften der EU liegt. In Polen gibt es z.B. bei mehr als zwei Millionen bäuerlicher Be-triebe einen hohen Anteil von Betrieben mit weniger als zwei ha Nutzfläche. Der Beitritt zur EU wird in den MOE Ländern den Druck auf Modernisierung und Rationalisierung der landwirtschaftlichen Produktion erhöhen, in deren Ergebnis voraussichtlich mehrere Millionen Arbeitskräfte „freigesetzt“ und das Heer der Arbeitslosen weiter vergrößern werden. Die Problema-tik wird schon daran deutlich, dass die Produktivität der rund 10 Millionen in der Landwirtschaft der MOE Länder tätigen Menschen im Durchschnitt nur etwa ein Fünftel der Produktivität der EU Landwirtschaft beträgt. Neue Überlegungen und Konzepte sind notwendig, damit den voraussicht-lich frei gesetzten mehrere Millionen Bauern und Landarbeitern Arbeits- und Lebensperspektiven eröffnet werden. 4. Finanzielle Anforderungen der Osterweiterung Die Kluft zwischen den Anforderungen und Problemen der Osterweiterung der EU einerseits und den vorgesehenen Regelungen und Maßnahmen andererseits wird bei der Finanzierung besonders deutlich. Die im Rahmen der Agenda 2000 geplanten Finanzmittel für die EU-Erweiterung sind viel zu gering angesetzt. Dies gilt sowohl für den Zeitraum bis zum Beitritt der jeweiligen Länder, also für die Vorbereitungszeit, als auch für den Zeitraum danach, in der die Lösung der Übergangs- und Anpassungsprobleme im Vordergrund steht.

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Mit der Integration werden die Ansprüche an den Strukturfonds und an einen solidarischen Aus-gleich bedeutend wachsen. In der Vergangenheit wurde jede Beitrittsrunde und Vertiefung der In-tegration in etwa mit einer Verdoppelung der Strukturfonds einschließlich der Schaffung des Kohä-sionsfonds begleitet. Eine erneute substanzielle Erhöhung der finanziellen Hilfe müsste auch für die neuen Mitglieder vorgesehen werden. Deshalb wurde bereits im MEMORANDUM `99 gefordert, das starre Festhalten an einem Höchstbetrag der EU Finanzierung von 1,27 % des BIP der Mit-gliedsländer aufzugeben, und ein schrittweises Aufstocken der Finanzmittel der EU gefordert.

Von den 56 künftigen osteuropäischen EU Regionen gehören 52 zu den Ziel-1-Regionen (Regionen mit einem BIP/Einw. unter 75 % des EU Durchschnitts nach der Erweiterung) mit den höchsten Fördersatz. Zu den Menschen die in den Ziel-l-Gebieten der bisherigen EU leben – 94 Millionen – kommen noch einmal rund 70 Millionen Menschen der Beitrittsländer hinzu. Mehr als die Hälfte der bisherigen Ziel-1-Regionen der EU 15 würde, wie oben bereits erwähnt, aus der Gruppe mit besonderen Förderbedingungen herausfallen, obgleich sich an ihrer realen ökonomischen Situation und ihren Entwicklungsproblemen nichts verändert hat, sondern nur der statistische Durchschnitt der EU infolge des Beitritts der 10 Länder um etwa 15 % sinkt. Es ist klar, dass der Widerstand dagegen vor allem in den Ländern mit einem insgesamt niedrigen BIP/Einwohner – Griechenland, Portugal, Spanien – groß ist.

Nach der Erweiterung der EU (einschließlich eines Beitritts von Bulgarien und Rumänien) kann hinsichtlich des BIP/Einw. innerhalb der EU 27 von drei Ländergruppen ausgegangen werden: (1) 12 der gegenwärtigen EU Mitgliedsländer (außer Spanien, Griechenland und Portugal) mit einem BIP/Einw. von 20 % über dem neuen Durchschnitt der erweiterten EU; (2) 7 Länder: die drei bishe-rigen EU Länder die nicht zur ersten Gruppe gehören plus Zypern, Tschechien, Slovenien und Mal-ta mit einem Durchschnitt im BIP/Einw. zwischen 68 % und 95 % der EU 27; (3) die acht verblei-benden Beitrittsländer mit einem BIP/Einw. von durchschnittlich 40 % der EU 27. Die Osterweite-rung wird die Bevölkerung, die in Regionen lebt mit einem BIP/Einw. von weniger als 75 % des jetzigen EU Durchschnitts mehr als verdoppeln, von 71 Mill. auf 174 Mill. , oder von 19 % der EU 15 auf 36 % der EU 27. (Memorandum 2003, Euromemorandum Gruppe)

Die stark ansteigenden Anforderungen an die Finanzierung der Kohäsions- und Strukturfonds erge-ben sich insbesondere aus folgenden Überlegungen:

• Es gibt keinen plausiblen Grund, die Mittel für den größten Teil der bisherigen Ziel-1-Regionen zu kürzen;

• Durch das Hinzukommen einer Bevölkerung von 75 Millionen deren BIP je Einwohner bis auf einige wenige Regionen generell unter 75 % des EU Durchschnitts liegt, müsste zunächst etwa von einer Verdopplung der finanziellen Anforderungen an den Einsatz von EU Fördermitteln ausgegangen werden;

• Da die Entwicklungsrückstände und -probleme bei fast allen Beitrittsländern weit größer sind als bei den Ländern, die bisher im BIP/Einwohner am Ende der EU standen, müssten für diese je Einwohner eigentlich mehr Mittel als bisher eingesetzt werden. Nach den gegenwärtigen Plä-nen würde jedoch das Gegenteil eintreten, die verfügbaren Mittel würden beträchtlich verringert werden. Es gibt noch eine andere Regel der EU, die in diesem Zusammenhang recht problema-tisch ist: Kein Land darf mehr als das Äquivalent von 4 % seines BIP als EU Hilfe erhalten. Damit soll gesichert werden, dass die Empfänger in der Lage sind, die EU Gelder zu absorbie-ren und die verlangte Kofinanzierung von 25 % zu sichern. Das Ergebnis wird aber sein, dass die ärmsten Länder, die die Unterstützung am dringendsten benötigen, die geringste Hilfe je Einwohner erhalten.

Für die Strukturanpassung, den Umwelt- und Verbraucherschutz sowie die Entwicklung des ländli-chen Raumes in den Beitrittsländern müssten folglich deutlich höhere Finanzmittel der EU einge-setzt werden. Zugleich sollten jedoch die Mittel für die Struktur- und Kohäsionsfonds in den bishe-rigen EU-Ländern nicht wesentlich gekürzt werden.

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Die aktuellen Vorstellungen der EU Kommission sehen für die Struktur- und Kohäsionsfonds in der nächsten Periode 2007-2013 einen Anteil von 0,45 % des BIP vor. Unter der Annahme eines jährli-chen Wachstums von durchschnittlich 2,5 % für die EU 15 und von 4,0 % für 10 Beitrittsländer plus Bulgarien und Rumänien, würde sich zu Preisen von 1999 eine Gesamtsumme von 344 Mrd. Euro ergeben. Für die EU 15 würden dann 197 Mrd. Euro, oder 14 Mrd. Euro weniger als in der gegenwärtigen Periode, zur Verfügung stehen. Entgegen dieser unbefriedigenden Entwicklung, die nach den Vorstellungen der Bundesregierung noch unterschritten werden soll, werden von der Me-morandum Gruppe folgende Alternativen vorgeschlagen: • geringe Erhöhung des Anteils für die Struktur- und Kohäsionsfonds in der nächsten Periode

2007-2013 auf 0,5 % des BIP. Damit würde eine um 38 Mrd. Euro höhere Gesamtsumme zur Verfügung stehen.

• Eine etwas stärkere aber noch immer moderate Erhöhung dieses Anteils auf 1 % des BIP damit würden mit 764 Mrd. Euro das doppelte gegenüber der ersten Alternative zur Verfügung stehen. Damit könnte auch die selbständige Verfügung über die Mittel durch die Empfängerländer er-höht werden.

• Unter perspektivisch günstigeren Bedingungen könnte der Anteil des EU Haushalts schrittweise von 1,27 des BIP auf 5 % des BIP erhöht werden. Hieraus würden neue, größere Spielräume für die Regional- und Strukturpolitik entstehen, mehr Regionen könnten hierin eingeschlossen wer-den.

Von zentraler Bedeutung ist auch die Nutzung der Vorbereitungszeit, um bei der Lösung der drin-gendsten Probleme in den Beitrittsländern und auch in den Grenzregionen der EU 15 so weit wie möglich voranzukommen. Es geht jedoch nicht nur um mehr Fördermittel. Dem wirksamen Einsatz dieser Mittel kommt entscheidende Bedeutung zu. Dafür tragen natürlich die Beitrittsländer eine hohe Eigenverantwortung. Es müssen eigene Vorstellungen und Entwicklungskonzepte, die den spezifischen Bedingungen der Länder entsprechen, erarbeitet werden.

5. EU-Osterweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit Im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung wurde in den letzten Jahren recht heftig und kontro-vers über die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die damit verbundenen Probleme der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit diskutiert2 (Cyrus 2001; Dräger 2001). Das ist kein Zufall, da hier sehr unterschiedliche Interessen und Standpunkte aufeinandertreffen. • Unterschiedliche Interessen der Beitrittsländer einerseits und der bisherigen EU Mitglieder an-

dererseits. Vor allem Deutschland und Österreich fühlen sich wesentlich stärker betroffen als die weiter westlich und südlich liegende Staaten. Sie haben aber auch bereits viel stärker von der Marktöffnung der MOEL profitiert.

• Die Interessen der Wirtschaft, der Unternehmer/Arbeitgeber einerseits und die Interessen der abhängig Beschäftigten und ihrer Organisation, der Gewerkschaften, andererseits. Dabei gibt es auch hier Unterschiede in Abhängigkeit besonders von regionalen Aspekten (Grenzregionen und weiter entfernte Regionen), den Branchen und der Qualifikation der Beschäftigten.

• Die Haltung, vorwiegend nationale Interessen Deutschlands zu vertreten, widersprechen dem Postulat einer neuen sozialen und demokratischen Qualität der Integration Europas, die von gleichen Grundrechten/Grundfreiheiten aller Menschen des neuen Europa ausgeht und Diskri-minierungen vermeidet.

2 Dienstleistungsfreiheit: Wer außerhalb seines Heimatstaates vorübergehend selbständig sein will, darf in-nerhalb der Union nicht daran gehindert werden. (Diese Regelung betrifft vor allem die Problematik der „Entsendung“ von Arbeitnehmern aus Unternehmen anderer EU Länder); Niederlassungsfreiheit: Jeder EU Bürger darf grundsätzlich in einem anderen Partnerstaat dauerhaft einer selbständigen Tätigkeit nachgehen – z.B. als Künstler, Handwerker, Arzt.

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Erschwerend kommt hinzu, dass es keine sicheren und zuverlässigen Angaben über das Ausmaß der Migration nach dem Beitritt der MOEL und der darauf beruhenden Einflüsse auf den Arbeitsmarkt der Empfängerländer gibt.

Unter großen Teilen der Bevölkerung vor allem Deutschlands und Österreichs, dabei natürlich be-sonders in Regionen mit einer hohen Arbeitslosigkeit, bestehen Befürchtungen über negative Aus-wirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit – schlechtere Beschäftigungsaussichten, größerer Druck auf die Löhne –, die ernst genommen werden müssen. Es ist notwendig, über die tatsächlichen Zu-sammenhänge und voraussichtlichen Wirkungen aufzuklären, sich sachlich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, und dabei auch einseitige und stark überzogene Szenarien zu widerlegen.

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird vor allem unter dem Aspekt zeitlicher Übergangsregelungen diskutiert. Diese sehen vor, Übergangsfristen für die Anwendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzuwenden, deren Höchstgrenze 7 Jahre betragen soll. Nach 2 Jahren soll eine erste Überprüfung stattfinden. Die neuen EU-Mitglieder sollen die Möglichkeit erhalten, eine vorzeitige Aufhebung der Frist zu beantragen. Die Frist soll nur bei „ernsthaften Störungen“ des Arbeitsmarkts von 5 auf 7 Jahre verlängert werden. Hat ein Land seine Grenze vorzeitig für Arbeitnehmer und Arbeitnehme-rinnen geöffnet, kann es bei Krisen auf Sicherheitsklauseln zurückgreifen. Bei der Dienstleistungs-freiheit wurden für die Bundesrepublik eine 7-Jahres Frist für die Branchen Bauwirtschaft, Reini-gungsgewerbe, Innendekoration festgelegt.

Bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit geht es um ein komplizierte, widerspruchsvolle Problematik, die nicht frei von Risiken ist. Es gibt dabei sachlich begründete Argumente sowohl gegen als auch für Übergangsfristen. Bei der Begründung eines Standpunkts zu dieser Problematik sollten folgende Überlegungen berücksichtigt werden.

1. Das Prinzip der Freizügigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch den Vertrag über die EU. Es findet seine Fortsetzung besonders in der in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte. Die Nichtdiskriminierungsregel aus Gründen der Staatsangehörigkeit verlangt, dass die Staatsbürger eines jeden Mitgliedsstaates im sachlichen und persönlichen Geltungsbereich des Vertrages den Staatsbürgern des Mitgliedsstaates gleichgestellt werden, in dem sie sich vorübergehend aufhal-ten oder ihren ständigen Wohnsitz haben. Daraus folgt, dass hiesige Unternehmer und Arbeitge-ber ausländische Arbeitnehmer aus EU Ländern grundsätzlich zu gleichen Konditionen wie in-ländische Arbeitnehmer beschäftigen müssen. Eine zeitweilige Einschränkung dieses Grund-rechts der Freizügigkeit darf nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe hingenommen werden. Bei Entscheidungen muss beachtet werden, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit von großen Tei-len der Bevölkerung der Beitrittsländer für die wichtigste Errungenschaft ihres EU Beitritts gehalten wird und als Ausdruck für ihre Behandlung als gleichberechtigte Mitglieder oder als Bürger zweiter Klasse angesehen wird. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein für die Gestaltung des sozialen Europas unverzichtbares Recht.

2. In den vorliegenden Studien zu Migrationspotenzialen in den MOEL (Beim Beitritt von 8 der 10 MOEL) davon ausgegangen, dass in den nächsten 10 Jahren jährlich zwischen 120 und 380 Tausend Menschen durch Migration Arbeit in den bisherigen EU Ländern suchen werden. Die großen Differenzen in den Prognosen hängen vor allem damit zusammen, dass den Untersu-chungen unterschiedliche Kriterien zugrunde lagen. Zwischen Migrationsinteresse und tatsäch-licher Migration besteht ein großer Unterschied. Hinzu kommt, dass der überwiegende Teil der-jenigen, die an einer Migration interessiert sind, nicht dauerhaft auswandern will, sondern an ei-ne temporäre Immigration oder Pendelimmigration denkt. Die polnische Elektroingenieurin Or-zechowska drückte eine für viele Menschen typische Haltung mit den Worten aus: "Man könnte sogar sagen: Ich wandere aus, um zurückzukommen." Nach Umfrage der Zeitung "Gazeta Wy-borcza" wollen nur wenige länger als ein paar Monate oder ein Jahr im Ausland bleiben. (Spie-gel, 50/02, 57) Experten gehen sogar davon aus, dass Polen schon ab 2006 zu einem Nettoein-wanderungsland werden könnte. (ebenda)

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3. Die Befürchtungen der Menschen in den grenznahen Gebieten Ostdeutschlands, dass sich die schon jetzt äußerst prekäre Arbeitsmarktsituation durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit noch weiter verschärfen wird, relativiert sich bei näherer Prüfung. Diejenigen, die durch Auswandern Arbeit suchen, werden sich kaum auf die Regionen mit der höchsten Arbeitslosigkeit, ungünsti-gen Beschäftigungschancen sowie niedrigen Arbeitslöhnen konzentrieren.

Für die strukturschwachen Grenzregionen und auch für andere Regionen ist die Gewährung bzw. Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit von größerer Bedeutung als die Arbeitnehmer-freizügigkeit. Bei unregulierter Dienstleistungsfreiheit kann die Entsendung von Arbeitnehmern, die in ausländischen Subunternehmen arbeiten, die Lohn- und Sozialdumping betreiben, stark ansteigen und zu Verdrängungseffekten auf lokalen Arbeitsmärkten führen. Das ist allerdings kein Problem nur der Osterweiterung. Hier besteht, nachdem mit der Entsenderegelung (EU Richtlinie und deutsches Arbeitnehmerentsendegesetz) ein Anfang gemacht wurde, noch weite-rer Handlungsbedarf, um bestehende Lücken zu schließen.

4. Bereits beschäftigte inländische Arbeitnehmer werden kaum verdrängt werden, wenn die tarifli-chen und arbeitsrechtlichen Standards auch für Arbeitnehmer aus EU Ländern durchgesetzt werden. Eine Beschränkung der Freizügigkeit fördert illegale Beschäftigung und Schattenwirt-schaft. Diese erhöhen auch den Druck auf die ausländischen Arbeitnehmer, sich der Willkür rücksichtsloser Unternehmer unterzuordnen. Arbeitnehmerfreizügigkeit wirkt somit, wenn die erforderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen und durchgesetzt werden, auch als ein Mittel gegen illegale Beschäftigung und zur Zurückdrängung der Schattenwirtschaft.

5. Ausgehend von den geschilderten Grundzusammenhängen ergibt sich: Es gibt keine konflikt- und risikofreie Lösung der Probleme der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit bei der EU-Osterweiterung. Sie sollte so rasch wie möglich gewährt werden. Für einige Jahre nach dem Beitritt wird eine intensive Beobachtung notwendig sein. Ein zwischen den Partnern abgestimmtes regulierendes Eingreifen, z.B. durch entsprechende beiderseitige Agenturen,. müsste auch gesichert werden. Ein Hauptproblem besteht darin, die ortsüblichen und tariflichen Standards durchzusetzen und einen Mindestlohn festzulegen. Wenn dies gelingt, könnten negative Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die lokalen Arbeitsmärk-te und Lohndumping weitgehend verhindert werden. Die Einführung der Dienstleistungsfreiheit mit dem Beitritt muss an die Bedingung geknüpft sein, dass die bestehenden Lücken bei den Entsenderegelungen geschlossen werden und das dann bestehende Recht auch durchgesetzt wird, d.h. Verstöße konsequent geahndet werden.

Eine Übereinstimmung aller an einem sozialen, zukunftsoffenen Europa Interessierten sollte vor allem zu folgenden Grundfragen erreicht werden:

• Die eigentliche Ursache für die Probleme und Ängste, die im Zusammenhang mit der Arbeit-nehmerfreizügigkeit bestehen, ist nicht die Osterweiterung sondern die gegenwärtig hohe Mas-senarbeitslosigkeit, die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die Aushöhlung des Tarifsystems besonders in den neuen Bundesländern.

• Allein eine Übergangsfrist löst noch kein Problem. Beträchtliche Lohnunterschiede werden auch nach 5 bzw. 7 Jahren bestehen. Den entscheidende Beitrag muss vor allem eine kooperati-ve Struktur- und Beschäftigungspolitik beiderseits der Grenzen und auch grenzübergreifend leisten, um die ökonomischen, sozialen und Arbeitsmarktprobleme zu entschärfen.

• Es müssen rasch die notwendigen staatlichen und zwischenstaatlichen EU Regelungen getroffen werden, um Schwarzarbeit, Lohn- und Sozialdumping zu bekämpfen, d.h. auch die Unterneh-men die gegen die Bestimmungen verstoßen wirksamer als bisher zu bestrafen. Dazu könnte auch die Zusammenarbeit der Gewerkschaften der verschiedenen Länder einen wichtigen Bei-trag leisten, z.B. durch die Bildung interregionaler Gewerkschaftsräte.

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6. Entwicklung von Grenzregionen Ein besonderes Problembündel entsteht mit der Osterweiterung für die angrenzenden Regionen der EU. Das betrifft speziell die Grenzregionen Deutschlands, Österreichs und Italiens. Hier könnte vor allem die Billiglohnkonkurrenz im Handwerk und im Dienstleistungsgewerbe Probleme hervorru-fen. Es wird auch im Vergleich zu anderen Regionen der EU wesentlich mehr Arbeitspendler ge-ben. Größere Belastungen, aber zugleich bedeutende Chancen für die Grenzregionen entstehen auch durch neue Aufgaben wie notwendige Neuordnung und Modernisierung der direkt oder indirekt grenzüberschreitenden Infrastruktur (Verkehrsverbindungen, öffentlicher Nahverkehr, Umwelt, Energieversorgung), Kooperation zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen bis zu grenzüberschreitenden Netzwerken, Vermittlung von Sprachkenntnissen des Nachbarlandes, Zu-sammenarbeit im Gesundheitswesen. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass die Grenzregionen im Zuge der Osterweiterung einem hohen strukturellen Anpassungsdruck unterworfen sind. Sie werden allein ihre auch aus der Grenzlage resultierende Strukturschwäche nicht überwinden können. Dazu ist die Unterstützung der EU und der jeweiligen Staaten unerlässlich. Um den Problemen der betroffenen Regionen Rech-nung zu tragen, wurde auf dem EU Gipfel in Nizza die Ausarbeitung eines Aktionsprogramms für die Grenzregionen in Auftrag gegeben. Entscheidend für dessen Erfolg ist ein Ansatz der Struktur- und Regionalförderung, der die Produktionsverflechtungen in den betreffenden Regionen und zu den Nachbarregionen, die Beziehungen zwischen Wissenschaft/Forschung, Aus- und Weiterbildung auf den verschiedenen Stufen des Bildungssystems und der Wirtschaft, die Gestaltung der für die jeweilige Region entscheidenden Elemente der Infrastruktur sowie die Sicherung der hierfür erfor-derlichen finanziellen Mittel gewährleistet. Besondere Schwerpunkte müssten die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der gewerblichen Wirt-schaft, die Förderung der Regionalisierung und die Entwicklung grenzüberschreitender regionaler Wirtschaftskreisläufe, die die Integration der Grenzräume unterstützen, sein. Gemeinsame Regio-nalkonferenzen und regionale Entwicklungsagenturen könnten diese Prozesse organisieren und ü-berwachen. Die Verantwortung für die finanzielle Unterstützung der Grenzregionen darf nicht ausschließlich auf die EU Institutionen abgeschoben werden. Entscheidend ist, dass die Grenzregionen eine wirk-same Förderung auch durch die Bundesregierung und die Landesregierungen erhalten. Diese Hilfe darf nicht verzögert werden. Der Erfolg der Osterweiterung ist in hohem Grade davon abhängig, dass die strukturschwachen Grenzregionen vor dem Beitritt die notwendige Unterstützung für die erforderlichen Anpassungsmaßnahmen erhalten, und dass mit einer engeren Verflechtung der wirt-schaftlichen und sozialen Entwicklung in den Gebieten beiderseits der Grenze ohne weiteren Zeit-verlust begonnen wird. Die Unterstützung von KMU und die Neugründung innovativer Unternehmen spielt in den Grenz-regionen eine wichtige Rolle. Als Gegengewicht zu der bisherigen einseitigen Orientierung der EU Osterweiterung auf neue Absatzmärkte für die westeuropäischen Großunternehmen müssen die fi-nanziellen und institutionell-organisatorischen Bedingungen der KMU, besonders in den an die neuen MOEL angrenzenden EU Staaten, verbessert werden. Von besonderer Bedeutung ist der ver-stärkte Einsatz betrieblicher Anpassungshilfen zum Aufbau und zur Modernisierung wettbewerbs-fähiger Wirtschaftsstrukturen. Es geht hier um ein Bündel von Maßnahmen – von Investitionen, über Bildungs- und Qualifizierungskonzepte, Unternehmens- und Marketingkonzepte, bis zum grenzüberschreitenden Technologie- und Wissenstransfer einschließlich der hierfür erforderlichen F+E Infrastruktur. Zugleich kommt es darauf an, die Integration von Grenzräumen zu fördern, u.a. durch grenzüber-schreitende Kooperationsnetzwerke, durch den technischen und wirtschaftlichen Informationsaus-tausch, die Auflage spezifischer Bürgschaftsprogramme, Unternehmertreffen, den Erfahrungsaus-tausch und die Zusammenarbeit der Gewerkschaften.

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7. Schlussfolgerungen

Das Grundproblem des Erweiterungsprozesses besteht darin, dass die Regierungen der EU Länder, das Europaparlament und die Verantwortlichen der EU Kommission begreifen, dass es sich hierbei nicht um eine normale Aufgabe der weiteren Entwicklung der EU handelt, sondern um die bisher größte und schwierigste Herausforderung, und dass eine solche Erkenntnis praktisch wirksam wird. Neue Ideen und außergewöhnliche Anstrengungen zur Unterstützung der ökonomischen und sozia-len Entwicklung in den Beitrittsländern sind nicht nur in der Zeit bis zum Beitritt, sondern ebenso in einem längeren Zeitabschnitt danach erforderlich. Das ist auch eine Lehre aus der Art und Weise wie die Vereinigung Deutschlands vollzogen wurde, und aus dem bisherigen Scheitern des Über-gangs zu einer sich selbst tragenden wirtschaftlichen Entwicklung und der Herstellung gleichwerti-ger Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern.

Durch eine vorausschauende Industrie-, Struktur- und Regionalpolitik gilt es, existenzsichernde und zugleich umweltverträgliche neue Arbeitsplätze für die durch den Strukturwandel in den MOEL wegfallende Arbeitsplätze zu schaffen. Das gilt nicht erst für die Zeit nach dem Beitritt, sondern auch für die Vorbereitungsphase. Von besonderer Bedeutung für eine alternative Politik zur EU Osterweiterung ist es, die sozialen und ökologischen Dimensionen des Beitrittsprozesses in den Vordergrund zu rücken. Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zur Sicherung leistungs-fähiger Sozialsysteme sowie zur ökologischen Sanierung hätten viel stärker in die Beitrittsverhand-lungen einbezogen werden müssen. Diese Probleme müssen eine herausragende Rolle in der Tätig-keit der EU Kommission in den Jahren nach dem Beitritt spielen.

Eine alternative Politik dürfte nicht in erster Linie die Interessen der Wirtschaft der EU Länder, sondern müsste in weit stärkerem Maße die Interessen der Lohnabhängigen und sozial Schwächeren in den bisherigen EU Ländern und in den Beitrittsländern berücksichtigen. Sie muss sich verstärkt für Verständnis, Akzeptanz und Achtung gegenüber den spezifischen Erfahrungen, Problemen und Interessen der Bevölkerung der Beitrittsländer einsetzen. Die Osterweiterung verlangt die Solidari-tät der Bevölkerung der heutigen Mitgliedsländer der EU mit der Bevölkerung in den Beitrittslän-dern.

Diesen Anforderungen der Osterweiterung der EU widersprechen die auch von Bundeskanzler Schröder vorgeschlagene Renationalisierung der Struktur- und Agrarpolitik der EU, die stark von Überlegungen zur Verringerung der Nettozahlungen der Bundesrepublik an die EU getragen sind. Die Agrar- und Strukturpolitik gehören zu den Bereichen mit dem höchsten Grad der Vergemein-schaftung. Sie beruht nicht nur auf einer einheitlichen Gesetzgebung für die Mitgliedsländer, son-dern auch auf einer gemeinsamen, solidarischen Finanzierung. Kritiken an der bisherigen Praxis der Agrar- und Strukturpolitik dürften nicht mit einer Rücknahme gemeinsamer Praktiken und einer Renationalisierung beantwortet werden. Eine zukunftsorientierte Antwort müsste vielmehr darin bestehen, bürokratische Tendenzen und Reglementieren seitens der EU Behörden zurückzudrängen, die Entscheidungsspielräume auf nationaler und regionaler Ebene durch einheitliche Regelungen zu vergrößern, und notwendige inhaltliche Reformen durchzuführen. Zugleich gilt es, die Integration auf diesen Gebieten zu vertiefen, insbesondere durch die weitere Ausgestaltung ihrer sozialen und ökologischen Dimension und die Ausweitung demokratischer Kontrolle und Mitgestaltung. Eine sozial und ökologisch erfolgreiche Integration der MOEL in die EU setzt eine solidarische Struktur- und Agrarpolitik der bisherigen EU ebenso voraus wie erhöhte Anstrengungen der Beitrittsländer zur Ausarbeitung und Verwirklichung eigener Entwicklungskonzepte.

Den Beitrittsländern sollte für eine Übergangsfrist gezielter Schutz ausgewählter Märkte und der Abschluß von Regelungen ermöglicht werden, die den Aufkauf von Grund und Boden durch West-europäer begrenzen. Es gibt starke Befürchtungen in den Beitrittsländern, dass „reiche Westler“, speziell Deutsche, große Teile ihres Landes aufkaufen, nicht nur direkt, sondern solange dies nicht geht, auch über Mittelsmänner aus der einheimischen Bevölkerung. Inzwischen ist diese Befürch-tung schon weitgehend Realität geworden. So heißt es in einem Bericht über Polen: Doch inzwi-schen hat sich mit Hilfe von Strohmännern ein schwungvoller Handel entwickelt, damit auch deut-

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sche Bauern, "jede Menge gutes Land im früheren Ostpreußen" unter den Flug nehmen können. (Mitteilungen der Deutschen Landwirtschaftlichen Gesellschaft)

Alternativen zur bisherigen Osterweiterung der EU sollten insbesondere folgende Konsequenzen zu Grunde gelegt werden:

1. Bei den Auseinandersetzungen um die Osterweiterung muss stärker als bisher der enge Zusam-menhang mit der Zukunft der gesamten EU beachtet werden. Entscheidend ist, welchen Charak-ter die zukünftige EU aufweisen wird und welche Entwicklungstendenzen sie bestimmen wer-den. Wird die Entwicklung nach dem neoliberale Muster der Deregulierung und Privatisierung, der Dominanz der Geldpolitik der EZB und der Interessen der Konzerne und Großbanken fort-gesetzt? Welche Chancen hat die Alternative einer Entwicklung der EU zu einer zukunftsfähi-gen, sozialen, demokratischen, solidarischen, friedlichen und für alle Länder Europas offenen Union?

2. Der EU Haushalt muss so erweitert werden, dass die Größe der Strukturfonds den neuen Her-ausforderungen gerecht wird. Dabei geht es jedoch nicht nur um die quantitativ großzügigere Ausstattung dieser Fonds, sondern im besonderen Maße um ihren perspektivischen, effizienten und transparenten Einsatz, um eine demokratische Beteiligung der verschiedenen Akteure bei den Entscheidungen über den Einsatz dieser Fonds.

3. Als Gegengewicht zu der bisherigen einseitigen Orientierung der EU Osterweiterung als Erwei-terung der Märkte für die westeuropäischen Großunternehmen müssen die finanziellen und in-stitutionell-organisatorischen Bedingungen der kleinen und mittleren Unternehmen, besonders in den an die MOEL angrenzenden EU Staaten, für die Wirtschaftskooperation mit Unterneh-men in den Beitrittsländern verbessert werden.

4. Unabhängig von den Auffassungen zu den Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit sollten im Vordergrund stehen,

• Durchsetzung notwendiger Regelungen, um Schwarzarbeit, Lohn- und Sozialdumping zurück-zudrängen;

• gemeinsame Beschäftigungsinitiativen in den Grenzregionen.

5. Den Grenzregionen muss eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Ihre Entwicklung ist eine Schlüsselaufgabe der EU Institutionen, des Bundes und der Länder. Dies betrifft die fi-nanzielle Absicherung eines wirklichen Aktionsprogramms für die Grenzregionen und die Un-terstützung der Arbeiten an einem solchen Programm und seiner Umsetzung. Gegenseitiges Ab- oder Zuschieben der Verantwortung führt in die Sackgasse. Nur mit gemeinsamen Anstrengun-gen sind die Aufgaben lösbar.

Als Resümee lässt sich feststellen:

Die Risiken der EU Osterweiterung sind um so größer, je mehr sie auf Grundlage einer neoliberalen Strategie erfolgt und einseitig den Wirkungen des Marktes überlassen bleibt, auf eine wirksame ökonomische Unterstützung und eine vorausschauende soziale und ökologische Regulierung ver-zichtet wird. Bei den Chancen verhält es sich genau umgekehrt: Sie werden im Interesse der Bevöl-kerungsmehrheit, der Lohnabhängigen und auch der kleinen und mittleren Unternehmen und Selb-ständigen, nur dann genutzt werden, wenn weit stärker als bisher eine gesellschaftliche Gestaltung der Integrations- und Erweiterungsprozesse erfolgt. Sie muss auf demokratischer Mitwirkung der Bevölkerung, auf Transparenz beruhen und auf eine wirtschaftlich, sozial, ökologisch und kulturell nachhaltige Entwicklung gerichtet werden.

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Anlage 1: Grundlegende Unterschiede zwischen Ostdeutschland und den MOE Ländern Der Beitritt der DDR zur EU ist aus verschiedenen Gründen nicht mit dem EU Beitritt der MOE Länder vergleichbar. Einerseits hatte die DDR schon vor 1990 eine Art Sonderstatus, da es im Zu-sammenhang mit dem innerdeutschen Handel für sie Sonderregelungen gab. Die DDR war von Au-ßenzöllen zu EU Ländern befreit. Andererseits ist die DDR nicht als souveräner Staat der EU beige-treten. Ihre Zugehörigkeit zur EU fiel zeitlich unmittelbar mit dem Beitritt zur Bundesrepublik zu-sammen, d.h. mit dem Ende ihrer staatlichen Existenz, auch wenn der Eintritt in die EU schon mit der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 vollzogen wurde. Es gab auch keine Vorberei-tungszeit und keine Übergangsregelungen für die DDR, woraus sich nicht nur für die Industrie, sondern auch für die Landwirtschaft negative Folgen ergaben. Innerhalb weniger Tage brach z.B. der Absatz von Nahrungsgütern und Rohstoffen aus der eigenen Landwirtschaft zusammen und wurde durch Lieferungen der Bundesrepublik und anderer EU Länder ersetzt. Von einem Jahr zum anderen (1990 zu 1989) stiegen deren Lieferungen nach Ostdeutschland bei Erzeugnissen des Nah-rungs- und Genussmittelgewerbes auf das Siebenfache.

Ein Vergleich zwischen dem Beitritt der DDR und dem bevorstehenden beitritt der MOE Länder zur EU zeigt, dass die Interessenunterschiede zwischen Beitrittsland und EU auch eine andere Qua-lität aufweisen. Bei Ostdeutschland treten die Interessenunterschiede – infolge der Gleichzeitigkeit von EU Beitritt und staatlicher Vereinigung – primär nicht als Widersprüche eines Landes mit den anderen EU Ländern auf, sondern vor allem als innere Widersprüche eines Landes. Es handelt sich vor allem um Widersprüche zwischen den beiden Teilen Deutschlands mit einer sehr unterschiedli-chen Entwicklung in den 45 Jahren zwischen dem Ende des II. Weltkrieg und 1990. Noch ein zwei-ter Aspekt ist hierbei von Bedeutung: Ostdeutschland tritt der größeren Bundesrepublik bei, wird in sie eingegliedert, Grundgesetz und im Prinzip alle Gesetze der alten Bundesrepublik erweitern ihren Wirkungs- und Gültigkeitsbereich auf Ostdeutschland. Der Anschluß erfolgt an eine sehr leistungs-fähige und international wettbewerbsfähige Volkswirtschaft, die stärkste ökonomische Macht der EU. Die Interessenproblematik wird bis heute entscheidend von der spezifischen Art und Weise dieser Vereinigung bestimmt – nicht als Vereinigung von zwei gleichberechtigten Staaten, sondern als Übernahme, Vereinnahmen der DDR durch die Bundesrepublik. Sie beruhte auf einer von Marktradikalität und Dominanz der Kapitalinteressen geprägten Wirtschaftspolitik, mit einer Ideo-logie, Politik und Verhaltensweise der politischen Klasse der alten Bundesrepublik gegenüber allem DDR-Spezifischen, die stark von Ignoranz und Ablehnung geprägt waren und noch sind.

Dieses widersprüchliche Geflecht von Bedingungen hat in den neuen Bundesländern dazu geführt, daß die gegenüber den anderen sogenannten Transformationsländern potentiell weitaus günstigeren Bedingungen unzureichend zur Wirksamkeit gelangten und zum Teil von vielen negativen Effekten überlagert wurden.

Hiermit hängen wichtige Besonderheiten der ostdeutschen ökonomischen und sozialen Entwicklung nach 1990 zusammen

• Die Wirtschafts-, Eigentums- und Rechtsordnung der Bundesrepublik wurde Ostdeutschland ohne Anpassungszeit übergestülpt, alles was noch Spuren eines sozialistischen Versuchs auf-wies wurde rigoros liquidiert, nützliche Erfahrungen und Ansätze für die Lösung sozialer Probleme wurden mißachtet. In den MOE Ländern gab es im Unterschied hierzu bisher meist ein etwas differenzierteres Verhältnis zur Vergangenheit, zu den in dieser Zeit entstandenen Institutionen und Strukturen.

• Westdeutsche, d.h. in diesem Zusammenhang „auswärtige“ Interessen dominierten bei allen wichtigen Ostdeutschland betreffenden Entscheidungen. Das zeigt sich nicht nur bei der Pri-vatisierung des Volkseigentums durch die Treuhandanstalt und bei der Art der Nutzung der Kapazitäten der privatisierten Unternehmen, sondern auch auf anderen Gebieten, z.B. bei der Benachteiligung der landwirtschaftlichen Genossenschaften und bei der Behandlung der so-genannten Altschulden der ehemals volkseigenen Betriebe, der Genossenschaften, der Woh-nungsgesellschaften und auch der Kommunen.

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• Die ostdeutschen Eliten wurden in allen Bereichen der Gesellschaft, in Politik und staatlicher Administration, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur fast vollständig aus Spitzenpositionen abgelöst und durch westdeutsche Kräfte, nicht selten geringerer Qualifikation und Kompe-tenz, ersetzt.

• Die Einführung der DM war mit der Umstellung der laufenden Aufwendungen/Kosten und der laufenden Einnahmen/Erträge von der Mark der DDR auf die DM im Verhältnis 1:1 ver-bunden. Dies bewirkte einen gewaltigen Aufwertungsschock für die Wirtschaft der DDR, der ohne Schutz- und Übergangsmaßnahmen zum Verlust der ökonomischen Lebensfähigkeit vie-ler Unternehmen führte. Im Unterschied zu dieser realen Aufwertung wurden die nationalen Währungen der anderen MOE Länder gegenüber der DM und dem Dollar in den 90er Jahren beträchtlich abgewertet. Dadurch gestalteten sich die Konkurrenzbedingungen ihrer Unter-nehmen auf den einheimischen und besonders auch auf den internationalen Märkten im Ver-gleich zu den Unternehmen Ostdeutschland günstiger. Größtenteils wurden die Währungen der MOE Länder weit stärker abgewertet als es den realen Kaufkraftverhältnissen entsprach, sie waren und sind real unterbewertet. Dies zeigt sich auch darin, dass bei Vergleichen des BIP/Einwohner auf Grundlage der Währungskurse diese Länder wesentlich schlechtere Er-gebnisse aufweisen als bei Vergleichen, die auf der Grundlage von Kaufkraftparitäten erfol-gen. Das BIP/Einwohner betrug in Kaufkraftstandards (KKS) im Jahre 2000 im Durchschnitt der Beitrittskandidaten (einschließlich Malta und Zypern) 44 % des EU Durchschnitts. (Deut-sche Bundesbank, Monatsbericht 10/01: 21). Ein Vergleich auf Basis der laufenden Wechsel-kurse führt zu einem BIP/Einwohner das nur wenig über 20 % des EU Durchschnitts liegt. Diese Relationen werden sich auch mit dem Beitritt zur EU kurzfristig kaum ändern.

Ein sofortiger Beitritt zur Währungsunion wäre sowohl für die Beitrittsländer als auch für die bisherigen Teilnehmer an der Währungsunion verhängnisvoll. Auch nach dem Beitritt zur EU müssten die MOE Länder bis zur Teilnahme an der Europäischen Währungsunion auf der Grundlage flexibler Wechselkurse für mehrere Jahre über ein für die Konkurrenzposition ihrer Waren wichtiges Anpassungsinstrument verfügen. Allerdings bedeuten weitere Schritte zur Abwertung ihrer Währungen um die Exportfähigkeit ihrer Waren und Dienstleistungen zu verbessern, dass der Druck auf die Inlandspreise und die Erhöhung der Lebenshaltungskosten zunimmt.

• Die Anwendung des Tarifsystems der Bundesrepublik in den neuen Bundesländern und die relativ großen Schritte, die in den ersten Jahren bei der Angleichung der Ost- an die Westlöh-ne gegangen wurden, vergrößerten den Einkommens- und Lebensstandardvorsprung der ost-deutschen Erwerbstätigen gegenüber den Erwerbstätigen in den anderen ehemals staatssozia-listischen Ländern Europas. Ähnlich wirkte die Anwendung der Sozialversicherungssysteme der Bundesrepublik auf Ostdeutschland unabhängig von den dort erzielten Beitragsaufkom-men. Hierdurch konnte ein weit höheres Niveau und eine größere Stabilität der Arbeitslosen-unterstützung, der Renten und anderer Sozialleistungen gewährleistet werden als es unter ver-gleichbaren Bedingungen in einem selbständigen Staat möglich gewesen wäre. Da die hierfür notwendigen Unterstützungszahlungen für die ostdeutsche Arbeitslosen-, Kranken- und Ren-tenversicherung nicht aus Steuermitteln, sondern aus den Sozialkassen selbst finanziert wur-den, ergaben sich daraus höhere Beitragssätze für die abhängig Beschäftigten und die Unter-nehmen in West- und in Ostdeutschland. Die aus der Vereinigung entstandenen Belastungen wurden überproportional von den abhängig Beschäftigten getragen. Die Arbeitseinkommen und die vergleichbaren Sozialleistungen der ostdeutschen Bevölkerung liegen jedoch auch 12 Jahre nach der Vereinigung noch deutlich unter dem westdeutschen Niveau. Im Durchschnitt erreichten die Bruttostundenverdienste in Ostdeutschland im Jahre 2000 70 % des westdeut-schen Niveaus. Infolge der längeren durchschnittlichen Arbeitszeit lagen die durchschnittli-chen Bruttomonatsverdienste etwas höher, bei 73 %. (Memorandum 2002: 248). Das relative Niveau der insgesamt je Einwohner verfügbaren Einkommen liegt etwas höher als bei den Löhnen, im Jahre 2001 bei 83 %. (IWH Wirtschaft im Wandel 9/2002: 258)

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Die sozialen Finanztransfers, die den Hauptteil der gesamten West-Ost Finanztransfers aus-machen, sind eine unmittelbare Konsequenz des Grundgesetzes, Artikel 72 (2), in dem die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" im gesamten Bundesgebiet gefordert wird. Die gesamten öffentlichen Nettofinanztransfers West-Ost betragen jährlich rund 70 Mrd. €. Etwa drei Viertel der Finanztransfers ergeben sich aus gesetzlichen Bestimmungen die für die gesamte Bundesrepublik gelten. D.h. nur etwa ein Viertel, rund 20 Mrd. €, sind Folge spezifi-scher Regelungen zur Unterstützung Ostdeutschlands.

• Beträchtliche öffentliche Mittel wurden eingesetzt zur Förderung von Unternehmensinvestiti-onen in Ostdeutschland, für die Modernisierung der Verkehrs- und Kommunikationssysteme sowie als Finanzzuweisungen an Länder und Kommunen, die auch für Investitionen zur Ent-wicklung der Infrastruktur und für den Wohnungsbau verwendet wurden. Dies alles führte zu einem im internationalen Maßstab ungewöhnlich hohen Anteil "äußerer" Finanzquellen für Investitionen. Die Investitionen in den neuen Bundesländern aus westdeutschen – öffentlichen und privaten – sowie ausländischen Quellen betrugen im Zeitraum von 1991-2000 im Durch-schnitt 50-60 Mrd. € pro Jahr. Sie erreichten insgesamt in diesen 10 Jahren eine Größenord-nung von mindestens 500 Mrd. €. Die ausländischen Direktinvestitionen in alle ost- und mit-teleuropäischen Staaten lagen insgesamt im Zeitraum 1991-1999 bei rund 70 Mrd. €. Sie nahmen von 1994 bis 1998 auf mehr als das Dreifache zu und betrugen 1999 10,3 Mrd. Euro. (IW Köln, IWD 30/2001) D.h. im Durchschnitt der neunziger Jahre wurden in einem Jahr in Ostdeutschland etwa das sechsfache an Investitionen aus "äußeren" Quellen finanziert wie im Jahre 1999 in allen anderen ehemals staatssozialistischen Ländern zusammen.

Im Zusammenfallen von Transformations- und Vereinigungsprozess liegt der entscheidende Grund für die andere Qualität der Interessenwidersprüche, die zwischen Ostdeutschland und BRD/EU auf der einen und MOE Beitrittskandidaten und EU auf der anderen Seite bestehen. Die Bewertung dieser Unterschiede kann in folgenden Punkten zusammengefasst werden:

1. Ostdeutschland verfügt als Teil der Bundesrepublik im Vergleich zu den anderen MOE Ländern über weitaus günstigere Voraussetzungen für die Erhöhung der individuellen Einkommen und des materiellen Lebensniveaus, für die Modernisierung und den Ausbau der Infrastruktur so-wie für die Erneuerung des Anlagevermögens in der Wirtschaft durch Investitionen.

2. Die Dominanz der Interessen des Kapitals und der politischen Klasse der Bundesrepublik (alt) war auf allen entscheidenden Gebieten überwältigend und fast ungebrochen. Das ergab sich vor allem daraus, (1) dass der Sozialismusversuch in der DDR gescheitert war und die Herr-schenden in der DDR die Unterstützung der Bevölkerung verloren hatten, die Bundesrepublik hatte im Wettbewerb der beiden deutschen Staaten gesiegt; (2) dass die Bundesrepublik der ökonomisch weitaus mächtigere Staat mit einer international sehr leistungsfähigen Wirtschaft war; (3) dass die Bevölkerung der DDR schon vor der Vereinigung im Oktober 1990 keine real gleichberechtigte Vertretung mehr hatte und nach der Vereinigung überhaupt nicht mehr über eine spezifische Interessenvertretung verfügte. Dass trotzdem ostdeutsche Interessen in der Bundespolitik in gewissem Umfang berücksichtigt wurden, ist nicht nur auf den Verfassungs-grundsatz über gleichwertige Lebensverhältnisse zurück zu führen. Eine nicht geringe Rolle spielt auch das Bestreben der großen Parteien, die Ostdeutschen als Wähler zu gewinnen.

3. Die Ergebnisse der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung die bis heute in den neuen Bun-desländern erreicht wurden, bleiben, ungeachtet der zweifellos erzielten bedeutenden Fort-schritte auf wichtigen Gebieten, weit hinter den Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung und den Versprechungen sowohl der Kohlregierung als auch der rot-grünen Regierung unter Schröder zurück. Die große Kluft zwischen dem beträchtlichen Einsatz finanzieller und mate-rieller Mittel in Ostdeutschland und den damit erzielten Resultaten ist in hohem Grade auf die Politik zurückzuführen.

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Die Transformation erfolgte im wesentlichen als Negation der vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR, ohne deren Fortschrittspotenziale zur Lösung der Probleme zu erhalten und zu nutzen. Mit dem Anschluß der DDR wurde ein größeres Territorium, in dem 16,5 Mil-lionen Menschen lebten, mit einer längeren eigenständigen Entwicklung vollständig in die be-stehenden Eigentums- und Kapitalstrukturen sowie rechtlichen und institutionellen Verhältnis-se der alten Bundesrepublik eingegliedert. Diese Art des Anschlusses führte in Verbindung mit einer fast blinden Marktgläubigkeit und einer dogmatischen Privatisierungsstrategie zur Zer-störung bedeutender wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Potentiale, zum Brach-legen und zur Entwertung von kreativen Fähigkeiten, fachlichen Kenntnissen und Erfahrungen von Millionen Menschen. Öffentliches Eigentum durfte nicht zugelassen werden, Überlegun-gen zur Reformierung der Wirtschaft wurden beiseite geschoben, ein öffentlicher Diskurs über die geeigneten Wege zur Lösung der komplizierten Probleme, der einen Lernprozeß hätte för-dern können, wurde verhindert

Das wirtschaftspolitische Versagen wird deutlich wenn die verschiedenen Etappen der wirtschaftli-chen Entwicklung Ostdeutschlands betrachtet werden:

Die erste Etappe (1990-1991/92) kann als Abbruch oder Absturz Ost charakterisiert werden. Ge-genüber 1989 ging das Bruttoinlandsprodukt auf 60 %, die Industrieproduktion auf ein Drittel zu-rück. Es gibt kaum noch industrielle Großbetriebe – von 840 Betrieben mit über 1.000 Beschäftig-ten 1989 gab es im September 1992 nur noch 117. 1989 gab es in der DDR 9,7 Millionen Erwerbs-tätige. Drei Jahre später waren in den neuen Bundesländern und Ostberlin nur noch 6,4 Millionen Menschen erwerbstätig. Das Forschungspotential schrumpfte auf ein Fünftel. Im Bereich Land- und Forstwirtschaft schmolz die Anzahl der Erwerbstätigen sogar auf wenig mehr als ein Fünftel. In der zweiten Etappe (1992-1995) hat sich durch einen zeitweiligen dynamischen Wachstumspro-zeß der Abstand zu den alten Bundesländern in der Produktivität, im BIP je Einwohner, in der Aus-stattung mit moderner Infrastruktur sowie im Einkommens- und Verbrauchsniveau der Bevölkerung verringert. In dieser Etappe wurde ein beträchtlicher Teil der alten Produktionsanlagen erneuert bzw. neue Produktionskapazitäten errichtet. Grundlage dieser „Aufholetappe“, mit im Vergleich zu den alten Bundesländern 3-4 mal höheren jährlichen Zuwachsraten des BIP, waren vor allem um-fangreiche Investitionen in die Infrastruktur und zur Erneuerung der Produktionsanlagen, die insbe-sondere durch Maßnahmen der Wirtschafts- speziell der Investitionsförderung erreicht wurden. In dieser Etappe wurde der Zuwachs des BIP insbesondere vom Baugewerbe und den Dienstleistungen getragen. Die Bruttowertschöpfung (BWS) des Baugewerbes stieg in den drei Jahren 1992-1994 um 84 % (jahresdurchschnittlich um 22 %). Die BWS des Baugewerbes übertraf 1995 die des Verarbei-tenden Gewerbes um fast 50 % (31,7 Mrd. € gegenüber 21,6 Mrd. € zu Preisen 1995). Hierdurch wurden einige hemmende Faktoren zeitweilig, und ohne an den Grundproblemen der ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung etwas zu verändern, überdeckt und in den Hintergrund ge-drängt. Die Beschäftigtenentwicklung wurde jedoch auch in dieser Etappe von den Investitionen und dem Wirtschaftswachstum kaum positiv beeinflußt. Die Anzahl der abhängig Beschäftigten war 1995 um 90 Tausend niedriger als 1992, die der Erwerbstätigen blieb faktisch unverändert (Zunah-me knapp 0,2 %). Die relativ hohe wirtschaftliche Dynamik dieser Etappe ist mit zwei Faktoren eng verflochten, ei-nerseits mit dem vorangegangenen tiefen Absturz und andererseits mit dem hohen Anteil äußerer Quellen. Der letztere Umstand ist ambivalent. Er war und ist entscheidend für das hohe Tempo der Erneuerung und des Ausbaus der Infrastruktur, der Stadt- und Wohnungssanierung – hoher Bauan-teil – sowie der Modernisierung der Produktionsanlagen. Gleichzeitig widerspiegelt sich hierin auch die starke Abhängigkeit von äußeren konjunkturellen und anderen Einflüssen. 1996/97 begann die dritte Etappe, in der der „Aufholprozess“ nicht nur unterbrochen wurde oder "stockte", wie es meist in den offiziellen Berichten heißt, sondern abgebrochen wurde. Von 1997 bis 2001 waren die Zuwachsraten des BIP Ost fünf Jahre in Folge niedriger als in den alten Bundes-

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ländern. Auch 2002 wird das Wachstum im Osten voraussichtlich schwächer als im Westen sein. Die geringe wirtschaftliche Dynamik seit 1996 konnte auch nicht durch die höheren Zuwächse der Industrie überdeckt werden, da einerseits ihr Anteil an der gesamten BWS noch relativ gering ist und andererseits die Produktion des Baugewerbes seit 1996 ständig zurückgegangen ist. Je 1.000 Einwohner sind in der ostdeutschen Industrie nur noch 43 beschäftigt gegenüber 86 in Westdeutsch-land (2000). 1989 betrug diese Kennziffer noch 150. Bis zum Jahr 2001 ging die BWS des Bauge-werbes auf 63 % des Umfangs von 1995 zurück. In diesem Jahr betrug die Anzahl der Erwerbstäti-gen im Inland nur noch 5,8 Millionen Sie lag damit um 250 Tausend unter dem Stand von 1995. Die Anzahl der abhängig Beschäftigten ging in dieser Zeitspanne sogar um 300 Tausend zurück. Dieser Abwärtstrend zeigte sich auch bei den Investitionen. Die Anlageinvestitionen (zu Preisen von 1995) erreichten in Ostdeutschland 1995 ihr Maximum mit 99,4 Mrd. €. In allen darauf folgen-den Jahren gingen sie ständig zurück, bis auf 72,7 Mrd. € 2001. (IWH, 9/2002: 260) Inwieweit es gelingt in den neuen Ländern eine vierte Etappe einzuleiten, in der eine gewisse An-näherung an die gesamtwirtschaftlichen Produktivität Westdeutschlands gelingt und die Zuwachsra-ten des BIP wieder etwas über denen des alten Bundesgebiets liegen, kann heute kaum mit Sicher-heit vorausgesagt werden. Sicher ist nur, dass ein eventueller Wachstumsvorsprung Ost nicht groß sein wird. Bei Annahme einer um 1 % höheren Zuwachsrate Ost (West 2 % und Ost 3 %) würde das relative Niveau im BIP/Einwohner – ein gleichbleibender Bevölkerungsanteil Ostdeutschlands vor-ausgesetzt – von 60 % 2000 nur auf 67 % 2010 und 73 % 2020 ansteigen. Ein zukünftiger Aufholprozess in Ostdeutschland ist vor allem an drei Grundbedingungen gebun-den:

(1) Die inneren Ressourcen und Potenziale müssen verstärkt und zugleich über einen längeren Zeit-raum in hinreichendem Umfang durch äußere Ressourcen und Quellen vor allem für Investitionen und FuE-Kapazitäten ergänzt werden.

(2) Die verfügbaren Mittel müssen durch Effizienzerhöhung der Wirtschaftsförderung und eine zu-kunftsorientierte Wirtschafts- und vor allem regionale Strukturpolitik koordiniert und mit einem hohen Wirkungsgrad für die Wertschöpfung eingesetzt werden. Eine innovative und ökologisch nachhaltige Strukturentwicklung, die Herausbildung und vorrangige Entwicklung regionaler Wirt-schaftskreisläufe und Verflechtungen, die Herausbildung und Förderung von Unternehmensnetz-werken und regionalen Produktionsclustern sowie die Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze, darunter besonders in der Industrie und bei hochwertigen Dienstleistungen, sind die Schwerpunkte. (3) Die zu entwickelnde endogenen Produktionspotenziale müssen in innovative, marktfähige Güter und Dienstleistungen und auf deren Grundlage in höhere Marktanteile umgesetzt werden. Die Er-weiterung des Absatzes gewinnt eine Schlüsselfunktion. Dabei kommt es besonders auf die Erwei-terung überregionaler (Export-)Lieferungen an.

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Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ostdeutschland und den MOE Beitrittskandi-daten im Zusammenhang mit dem Beitritt zur EU

Gemeinsamkeiten/Ähnlichkeiten Unterschiede

Gemeinsame historischer Hintergrund der Nachkriegsentwicklung bis 1989/90; Zugehö-rigkeit zum COMECON, Warschauer Vertrag

Für die DDR fiel die Transformation des Staatssozialismus in eine kapitalistische Marktwirtschaft mit dem Beitritt zur Bun-desrepublik und zur EU zusammen; Beitritt zur EU stand am Beginn der Transformation, Beitritt der MOE Länder erst nach fast 15 Jahren Transformation

Voraussetzung des Beitritts: Übernahme kapi-talistischer marktwirtschaftlicher Strukturen

Beitritt der DDR zur EU nicht als selbständiger, souveräner Staat, sondern als Teil der Bundesrepublik, MOE Länder wer-den als souveräne Staaten EU Mitglied

Beitritt verbunden mit Übernahme des Geset-zeswerkes der EU – acquis communautaire – einseitige Richtung der Veränderungen mit EU Erweiterung, nur von West nach Ost

Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik wurden die bisherigen Eliten der DDR auf faktisch allen Gebieten abgelöst und zu einem großen Teil durch Westdeutsche ersetzt

Dominanz der Interessen der Bundesrepublik (alt) und der bisherigen EU bei den konkreten Regelungen des Beitritts

Der Beitritt der DDR zur BRD und zur EU erfolgte faktisch ohne Vorbereitungszeit und auch Übergangsregelungen

Beitritt zu einem wirtschaftlich stärkeren Staat (BRD) bzw. Wirtschaftsblock (EU) mit einer wesentlich höheren gesamtwirtschaftlichen Produktivität und überlegener Wettbewerbsfä-higkeit

Mit dem Beitritt wurden nicht nur die Eigentumsstrukturen durch Privatisierung verändert, sondern der größte Teil der privatisierten ehemals volkseigenen Unternehmen ging über in das Eigentum westdeutscher Unternehmen; Dependenzökono-mie in der Interessen des westdeutschen Kapitals einen ent-scheidenden Einfluss ausüben

Der Beitritt ist mit einer finanziellen Unter-stützung der Annäherung des wirtschaftlichen Leistungsniveaus an den EU Durchschnitt durch die EU Struktur- und Regionalfonds verbunden

Als Teil der Bundesrepublik und als Konsequenz der Anwen-dung des Grundgesetzes erhält Ostdeutschland beträchtliche Finanztransfers, die vorwiegend als Sozialtransfers für konsum-tive Zwecke verwendet und für die Infrastruktur eingesetzt werden (Länderfinanzausgleich, Solidarpakt I und II); solche finanziellen Mittel werden den MOE Ländern weder auf sozia-lem noch auf investivem Gebiet zur Verfügung stehen

Die früheren engen Wirtschaftsbeziehungen der DDR und der MOE Länder untereinander existieren nicht mehr; der Außenhandel wurde auf eine andere Regionalstruktur orientiert

Im Vergleich zu den MOE Ländern fand in Ostdeutschland mit dem Beitritt zur BRD und EU ein historisch einmaliger Prozess der Deindustrialisierung und der Liquidierung von Unterneh-men statt; in den MOE Ländern haben sich weitgehende struktu-relle Anpassungsprozesse schon vor dem Beitritt vollzogen

Die Wirtschaftsleistung ging nach 1990 mehr oder weniger stark zurück und hat zum Teil bis heute noch nicht den Stand von 1989 wie-der erreicht

Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik und EU war mit der Einführung der DM (sie wurde sogar am 1.7.90, drei Monate vor der staatlichen Vereinigung eingeführt) und einem davon ausgelösten Aufwertungsschock verbunden, während in den MOE die Exportpositionen durch die Abwertung der Währun-gen verbessert werden konnten und auch nach dem EU Beitritt die Währungskurse im Rahmen einer festzulegenden Bandbreite noch mehrere Jahre flexibel sein werden

Für Ostdeutschland bestand von Beginn an die Arbeitnehmer-freizügigkeit; der ostdeutsche Arbeitsmarkt wird regional sehr differenziert von "Arbeitspendlern" und durch "Abwandern" in die alten Bundesländer entlastet; da besonders junge und gut qualifizierte Menschen abwandern ergeben sich für Ostdeutsch-land für die Zukunft negative Folgen

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Weise, Christian, Wohlstandsgefälle in der EU-27 und Konsequenzen für die EU-Strukturpolitik, DIW-Wochenbericht 36/01

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