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KOGNITIVE MOBILITÄT. EINE MAKROSKOPISCHE UNTERSUCHUNG DER WANDERUNG VON WISSENSCHAFTLERN ZWISCHEN FORSCHUNGSGEBIETEN AM BEISPIEL DER MATHEMATIK ROLAND WAGNER-DÖBLER SUMMARY. Cognitive Mobility, a Macroscopic Investigation of Migration of Scientists between Research Fields Studied by Example of Mathematics. – In history of science, scientific migrations of famous scientists are well-known. Nothing is known, however, about the total of migrations between fields of science, despite the importance of scientific mobility for information transfer and exchange. In the present investigation all migrations between the major 39 subdisciplines of mathematics from 1959 through 1975 are studied in a macroscopic manner. The quantitative importance of migration for the development of mathematical fields is assessed. In an analysis of the relationship between the affinity of fields and mobility between them a „principle of least migration distance” is estab- lished. Furthermore, some aspects of a Markov-chain treatment of scientific mobility are discussed. Key words: mathematics, mathematician, scientific migration, scientific mobility, scientific affinity EINFÜHRUNG Wenn der Physiologe Wilhelm Wundt sich der Psychologie, der Physiker Max Delbrück sich der Biologie oder der Mathematiker John von Neu- mann sich der Ökonomie zuwandte, so handelte es sich um Fälle von wis- senschaftlicher Mobilität, die Konsequenzen für die Art und Weise hatte, wie sich die wissenschaftlichen „Migranten“ im neuen Arbeitsgebiet betä- tigten. In den genannten Fällen sind die Übergänge in neue Gebiete mit- samt ihrer Folgen in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte eingegan- gen. Häufig waren es gerade die Arbeiten nach dem Vollzug solcher end- gültiger oder vorübergehender Fachwechsel, mit denen die betreffenden Forscher Durchbrüche erzielten. In den wissenschaftsgeschichtlichen oder biographischen Standarddarstellungen werden solche Vorfälle häufig als Journal for General Philosophy of Science 29: 265–287, 1998. © 1998 Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands.

Kognitive Mobilität. Eine makroskopische Untersuchung der Wanderung von Wissenschaftlern zwischen Forschungsgebieten am Beispiel der Mathematik

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KOGNITIVE MOBILITÄT. EINE MAKROSKOPISCHEUNTERSUCHUNG DER WANDERUNG VON

WISSENSCHAFTLERN ZWISCHEN FORSCHUNGSGEBIETEN AMBEISPIEL DER MATHEMATIK

ROLAND WAGNER-DÖBLER

SUMMARY. Cognitive Mobility, a Macroscopic Investigation of Migration of Scientistsbetween Research Fields Studied by Example of Mathematics.– In history of science,scientific migrations of famous scientists are well-known. Nothing is known, however,about the total of migrations between fields of science, despite the importance of scientificmobility for information transfer and exchange. In the present investigation all migrationsbetween the major 39 subdisciplines of mathematics from 1959 through 1975 are studiedin a macroscopic manner. The quantitative importance of migration for the developmentof mathematical fields is assessed. In an analysis of the relationship between the affinityof fields and mobility between them a „principle of least migration distance” is estab-lished. Furthermore, some aspects of a Markov-chain treatment of scientific mobility arediscussed.

Key words:mathematics, mathematician, scientific migration, scientific mobility, scientificaffinity

EINFÜHRUNG

Wenn der Physiologe Wilhelm Wundt sich der Psychologie, der PhysikerMax Delbrück sich der Biologie oder der Mathematiker John von Neu-mann sich der Ökonomie zuwandte, so handelte es sich um Fälle von wis-senschaftlicher Mobilität, die Konsequenzen für die Art und Weise hatte,wie sich die wissenschaftlichen „Migranten“ im neuen Arbeitsgebiet betä-tigten. In den genannten Fällen sind die Übergänge in neue Gebiete mit-samt ihrer Folgen in die Annalen der Wissenschaftsgeschichte eingegan-gen. Häufig waren es gerade die Arbeitennachdem Vollzug solcher end-gültiger oder vorübergehender Fachwechsel, mit denen die betreffendenForscher Durchbrüche erzielten. In den wissenschaftsgeschichtlichen oderbiographischen Standarddarstellungen werden solche Vorfälle häufig als

Journal for General Philosophy of Science29: 265–287, 1998.© 1998Kluwer Academic Publishers. Printed in the Netherlands.

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extraordinäre Ereignisse beschrieben, die letztlich von biographischen Zu-fällen regiert werden, und nicht beispielsweise vom Grad der inhaltlichenNähe des neuen Gebiets zum alten – was zumindest in den drei genanntenFälle ja auch keineswegs unmittelbar einsichtig oder trivial ist.

Mit Sicherheit gerät in der Wissenschaftshistoriographie jedoch quan-titativ nur ein winziger Anteil aller Fachgebietswechsel ins Blickfeld derAufmerksamkeit. Was aber ergibt sich, wenn man – zumindest innerhalbeiner größeren Disziplin – einGesamtbild aller wissenschaftlichen „Wan-derungen“ zu erhalten versucht? Lassen sich dann Zusammenhänge be-obachten, die sich bei der wissenschaftshistoriographischen Betrachtungeinzelner Fälle nicht erschließen und möglicherweise nicht erschließenkönnen?

Man kann die Migration zwischen wissenschaftlichen Betätigungsfel-dern, kurz: kognitive Mobilität, als Spezialfall eines allgemeineren Phäno-mens deuten, das wohl am besten unter den Begriff der Interdisziplinaritätzu subsumieren ist. „Interdisziplinarität“ wird stets von einzelnen Wissen-schaftlern hervorgerufen. In grober Betrachtung sind hierbei eine zeitliche,eine fachliche und eine personale Dimension zu unterscheiden.

– Zeitliche Dimension: Ein Wissenschaftler betätigt sich zur selben Zeitauf mehr als einem Forschungsgebiet (wobei „zur selben Zeit“ selbst-verständlich eine Idealisierung darstellt); oder aber er betätigt sichhintereinanderauf verschiedenen Forschungsgebieten.

– Fachliche Dimension: Die wissenschaftliche Betätigung kann sich aufeng verwandte Arbeitsgebiete, auf verschiedene Subdisziplinen odersogar auf verschiedene Disziplinen beziehen (mit weiteren Differen-zierungsmöglichkeiten).

– Personale Dimension: Hier ist zu unterscheiden zwischen selbständigarbeitenden Wissenschaftlern und in Arbeitsgruppen kooperierendenWissenschaftlern; die Arbeitsgruppen können aus Mitgliedern glei-cher, ähnlicher oder verschiedener wissenschaftlicher Arbeitsschwer-punkte bestehen.

Neuen Formen der Interdisziplinarität kommt nach Ansicht mancherWissenschaftsforscher eine prägende Bedeutung für die zukünftige „Wis-sens”- und Informationsgesellschaft zu, in der sich disziplinäre (und sub-disziplinäre) Grenzen immer schneller verwischen und immer häufigerneue, synergetische Forschungsgebietskombinationen auftreten (Gibbonset al., 1994). Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht der Fall,daß einzelne Wissenschaftler sich hintereinander auf verschiedenen Ge-bieten einer (großen) wissenschaftlichen Disziplin betätigen.

Dieser Vorgang ist mit einem bestimmten Typ von Informations- oderWissenschaftstransfer verbunden, dem für die Wissenschaftsentwicklung

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große Bedeutung zugemessen wird (Meadows, 1976). Besonders häufigwird es sich dabei nicht um gegenstandsspezifisches, sondern ummetho-denspezifischesWissen handeln, das in das neue Gebiet eingebracht wird.Es ist demnach nicht verwunderlich, daß dem „personalen Wissenschafts-transfer“, also der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Über-gang eines Forschers in neue Gebiete, in einem Standardwerk des Wissen-schaftstransfers beträchtlicher wissenschafts- und forschungspolitischerStellenwert zugesprochen wird (vgl. Beiträge in Schuster, 1990).

Ziel der folgenden Untersuchung ist es

– einen Überblick über den Umfangsämtlicherwissenschaftlicher Mi-grationsvorgänge einer größeren Disziplin zu gewinnen;

– die quantitative Bedeutung von Migrationen für die Entwicklung derdavon betroffenen Teilgebiete abzuschätzen und

– zu ermitteln, in welcher Beziehung die Gebiete stehen, zwischen de-nen Migrationen stattfinden, konkret vor allem, ob Migrationen mitder wissenschaftlichen "Nähe" oder Verwandtschaft zwischen Fach-gebieten korrelieren.

Die allgemeine Wissenschaftstheorie lebt von der Wechselbeziehungnormativ-logischer Fragestellungen, etwa der rationalen Rekonstruierbar-keit von Paradigmenwechseln, und empirisch-systematischer Fragestellun-gen wie Entstehen, Wachsen und Untergehen von Forschungsgebietenun-abhängigvon Änderungen gegenstandsspezifischer Ansichten und Theo-rien, also unabhängig davon, was im einzelnen als der Stand der Forschungdes jeweils untersuchten Gebiets galt. Deshalb werde ich versuchen, Folge-rungen aus der Klärung der aufgeworfenen Fragen einzubeziehen, die auchfür die rekonstruierende Wissenschaftstheorie von Interesse sein könnten.

DATENGRUNDLAGE UND METHODE

Eine der für meine Fragestellung geeignetsten Disziplinen ist die Mathe-matik. Sie gehört zu den Disziplinen mit größter Autonomie und Eigen-dynamik ungeachtet der zahllosen Impulse, die sie aus anderen Wissen-schaften erhält; ferner weist sie besonders präzise Klassifikationssystemeauf. Trotz der ausgeprägten Abgeschlossenheit der Mathematik diffun-dieren ihre Ergebnisse – teilweise auf Umwegen – in zahlreiche andereWissenschaften.

Die beste Möglichkeit, ein umfassendes Bild der Migrationsprozesse zuerhalten, ist die Analyse der Publikationen von Mathematikern. Publikatio-nen widerspiegeln zwar nur die sogenannte formale Kommunikation von

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Wissenschaftlern, aber sie sind der vollständigste Nachweis wissenschaft-licher Resultate. Benützt man Publikationen als Datengrundlage, bedientman sich aus methodologischer Perspektive der in den Geschichtswissen-schaften verbreiteten Archivalienanalyse. Allerdings handelt es sich in die-sem Fall nicht um das Schriftgut von Ämtern und Behörden, sondern umdas schriftliche Substrat wissenschaftlicher Selbstorganisationsprozesse.Methodologische Alternativen sind beispielsweise Wissenschaftlerbefra-gungen oder -beobachtungen, die vor allem jene informellen Aspekte derwissenschaftlichen Arbeit ans Licht bringen können, die sich nicht ausPublikationsanalysen ergeben; in ihrem explorativen Potential sind Befra-gungen Archivalienanalysen überlegen, nicht jedoch in bezug auf Vollstän-digkeit und Zuverlässigkeit.

Migrationen spielen sich in der Zeit ab, und Publikationen müssen diesezeitliche Ordnung reflektieren, wenn sie als Indikatoren des Migrations-verhaltens benützt werden sollen. Mit anderen Worten: wenn ein Wissen-schaftler zunächst auf Gebiet A veröffentlicht, sodann auf Gebiet B, solltesich er sich tatsächlich zuerst mit A, anschließend mit B beschäftigt haben.Die so verstandene zeitliche Ordnung kommt im Erscheinungsdatum vonPublikationen zweifellos zum Ausdruck, allerdings nur in grober Form.So kann ein Wissenschaftler ein Manuskript erst nach längerer Zeit veröf-fentlicht und sich in der Zwischenzeit anderen Themen zugewandt haben;ferner unterscheiden sich Zeitschriften und Verlage im Tempo der Bearbei-tung eingereichter Beiträge. Bei Monographien werden diese Verzerrun-gen größeres Gewicht haben als bei Zeitschriftenpublikationen, wenn auchkaum anzunehmen ist, daß sie in statistischer Betrachtung vorherrschen.Da Zeitschriftenartikel einen aktuelleren, kompakteren und homogenerenSpiegel der Betätigung von Wissenschaftlern darstellen als Monographienund darüber hinaus quantitativ dominieren, schließe ich monographischeVeröffentlichungen von der folgenden Analyse aus.

Um einen Gesamtüberblick über die mathematische Zeitschriftenlite-ratur zu erhalten, wird eine entsprechende Bibliographie oder ein entspre-chendes Referateorgan benötigt, das in Form derMathematical Reviewszur Verfügung steht. Dieses seit den 40er Jahren unseres Jahrhunderts er-scheinende Referateorgan berichtet umfassend und zuverlässig über diegesamte mathematische Weltliteratur unter Einschluß von Grenzgebieten.Auf der ganzen Welt verteilte Spezialisten besprechen die Literatur, dievon Fachdokumentaren (teilweise unter Mitwirkung der Autoren) mittelseiner im wesentlichen auf drei Hierarchieebenen untergliederten Systema-tik klassifiziert wird. Zur Erzielung eines Totalüberblicks werde ich dieReviewsheranziehen, die mittlerweile auch auf CD-ROM-Datenträgern

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erscheinen – zwingende Voraussetzung einer Analyse des geplanten Um-fangs.

Das jährliche Volumen der mathematischen Weltliteratur stieg bereitsin den 70er Jahren auf fast 50.000 Einheiten mit Zeitschriftenartikeln alsdominierender Literaturgattung. Eine zeitliche Beschränkung dieser Masseist aus pragmatischen Gründen unumgehbar. Ich beginne daher mit demPublikations-Erscheinungsjahr 1959, in dem erstmals eine veränderte Klas-sifikation zum Tragen kam, und schließe mit dem Erscheinungsjahr 1975ab.1 Dieser Zeitraum von 17 Erscheinungsjahren umfaßt rund 300.000Zeitschriftenpublikationen. Eine weitere pragmatische Einschränkung be-trifft Autorenschaften: Ausschließlich die erstgenannten Autoren einer Pu-blikation werden berücksichtigt.

Auf der obersten Hierarchie-Ebene der mathematischen Systematik exi-stieren rund 60 Gebiete (siehe Liste im Anhang). 39 davon weisen imbetrachteten Zeitraum von 1959 bis 1975 mehr als 3000 Artikel auf. Dieübrigen Gebiete werden von der Betrachtung ausgeschlossen, wobei essich um Gebiete handelt, die jeweils weniger als 1 Prozent und insge-samt weniger als 10 Prozent der mathematischen Zeitschriftenliteratur desgenannten Zeitraums auf sich vereinigen.

Migrationen zwischen den 39 mathematischen Fachgebieten könnenzwischen allen Gebietspaaren stattfinden. Der Vollständigkeit halber undzum Vergleich werden auch „Migrationen“ auf ein und dasselbe Gebieteinbezogen, so daß sich insgesamt 392 = 1521 Paare ergeben. Unter Mi-gration verstehe ich im folgenden konkret den Vorgang, daß ein Autorim Jahr t0 auf Gebiet A publiziert und im Jahr seinernächstenmathe-matischen Publikationstätigkeit im Jahr tn (tn > t0) auf Gebiet B (A = Boder A # B). Gleichgültig ist gemäß dieser Definition, wie oft ein Autorin einem Jahr publiziert und wie groß der zeitliche Abstand zwischeneiner Publikation und der darauf folgenden nächsten Publikation des be-treffenden Autors ist. Weist ein Mathematiker in einem Jahr Publikationenauf mehreren Gebieten auf, werden alle betroffenen Gebiete einbezogen.Von jedem Beitrag wird jedoch stets nur der als solcher gekennzeichneteHauptklassifikationscode derReviewsberücksichtigt. In denReviewssindneben der Vorlagenansetzung normierte Namensansetzungen zu finden,die ich stets herangezogen habe. Solche Normierungen sind aufwendig,aber ein bibliographischer und redaktioneller Qualitätsbeweis – denn nurso lassen sich homonyme und synonyme Verfassernamen zumindest weit-gehend trennen bzw. zusammenführen. Von den insgesamt etwa 80.000Verfassern weisen rund 40 Prozent nur eine einzige Publikation oder Pu-blikationen in einem einzigen Jahr auf; diese fallen aus der Betrachtungheraus, da sie keine Mobilität im definierten Sinne erzeugen.

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STRUKTUREN DER WANDERUNGSBEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN

MATHEMATISCHEN SUBDISZIPLINEN

Für die 1521 Gebietspaare wurde nun ermittelt, wie oft Migration inner-halb des betrachteten Zeitraums zwischen ihnen stattfand. Ergebnis ist eine39x39-Matrix, die nicht weniger als rund 150.000 Migrationen nachweist(siehe „Matrix 1“ im Anhang). Als erstes fällt auf, daß stets Übergänge aufder Diagonale, also auf dasselbe Gebiet, dominieren, was als Ausdruck derKontinuität der mathematischen Forschungstätigkeit gelten kann. Ande-rerseits sind nur 42 Felder der gesamten Matrix leer; alle anderen 1479Gebietspaare (unter Einschluß von 39 Paaren mit gleichen Elementen)weisen direkte Übergangsbeziehungen auf, was bedeutet, daß sich ein Au-tor – zumindest im Spiegel seiner Publikationen – zunächst mit dem einenund unmittelbar folgend mit dem anderen Gebiet beschäftigte.

Betrachtet man den Gesamtumfang und die Gesamtverteilung der Mi-grationen, kann man ohne weiteres von einem allgegenwärtigen Vorgangsprechen, obgleich die einzelnen Gebiete in unterschiedlichem Ausmaßbetroffen sind. Die Zahl der Zugänge von anderen Gebieten schwankt zwi-schen 12,09 (Quantum Mechanics) und 49,83 Prozent (Real Functions)der Größe des betreffenden Gebiets, die als Gesamtzahl der Zeitschrif-tenpublikationen des Gebiets im betrachteten Zeitraum verstanden wird.Die Zahl der Abwanderungen schwankt zwischen 12,18 (Logik) und 53,68Prozent (Topologie) der jeweiligen Gebietsgröße. Die Gesamtzahl der Zu-wanderungen, die ein Gebiet auf sich vereint, kann der Gesamtzahl derAbwanderungen gegenübergestellt werden. An der rechten sowie unterenSeite von Matrix 1 sind die Zu- und Abgänge jeweils addiert worden; ausder Differenz ergibt sich ein Saldo, das ausdrückt, in welchem Umfangdie quantitative Entwicklung eines Gebiets davon abhing, daß Mathema-tiker andere Gebiete verließen, um sich dem in Frage stehenden Gebietzuzuwenden (besonders einem „aufstrebenden“ Gebiet – ein Stereotyp derWissenschaftsgeschichtsschreibung).

Die Höhe der Saldi zeigt, daß für die quantitative Bilanz mathemati-scher Gebiete der Umfang von Zu- und Abwanderungen mit Sicherheitkeine entscheidende Rolle spielt. Drückt man die Differenz von Zu- undAbgängen als Prozent der Gesamtgröße eines Gebiets aus, ergeben sichstets Werte unter 10 Prozent bei den Gewinnern und 5 Prozent bei den Ver-lierern, wie die nachfolgende, nach Wanderungssalden geordnete Tabellezeigt:

Es stellt sich nun die Frage, ob diese weitgehende Ausgeglichenheit derWanderungsbilanzen nur für das Verhältnis der mathematischen Subdiszi-plinen zueinander gilt, oder auch für die einzelnen Gebieteinnerhalbeiner

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TABELLE I

Wanderungssalden der 39 größten mathematischen Subdiszipli-nen im Spiegel der Publikationen mit Erscheinungsjahr 1959 bis1975, in Prozent der Gebietsgröße (Spalte 1). Die Jahreszah-len in Klammern hinter manchen Gebieten in Spalte 2 beziehensich auf Erscheinungsjahre derMathematical Reviews, nicht aufErscheinungsjahre der nachgewiesenen Publikationen.

Sp. 1 Sp. 2

8,00 68 Computing Machines, ab 1973: Computer Science

7,73 1 History and Biography

5,08 5 Combinatorics

4,83 32 Several Complex Variables and Analytic Spaces

4,07 57 Topology, Geometry of Manifolds (nur 1959–72)

2,57 47 Operator Theory

2,37 90 Economics, Operations Res., Programming, Games

2,35 82 Statistical Physics, Structure of Matter

2,24 22 Topological Groups, Lie Groups

2,18 14 Algebraic Geometry

1,33 41 Approximations and Expansions

0,95 93 Systems, Control

0,92 35 Partial Differential Equations

0,61 16 Associative Rings and Algebra

0,56 62 Statistics

0,55 65 Numerical Analysis

0,18 10 Number Theory

0,14 2 Logic and Foundations

0,12 83 Relativity

–0,17 60 Probability Theory and Stochastic Processes

–0,96 81 Quantum Mechanics

–0,99 33 Special Functions

–1,07 20 Group Theory

–1,27 28 Measure and Integration

–1,32 76 Fluid Mechanics (ab 1973: +Acoustics)

–1,46 54 General Topology

–1,48 15 Linear and Multilinear Algebra; Matrix Theory

–1,53 34 Ordinary Differential Equations

–1,64 6 Order, Lattices, Ordered Algebraic Structures

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TABELLE I

Fortsetzung.

Sp. 1 Sp. 2

–1,70 94 Information and Communications, Circuits, Automata

–1,78 53 Differential Geometry

–1,78 73 Mechanics of Solids

–2,15 30 Functions of a Complex Variable

–2,22 42 Fourier, Abstract Harmonic Analysis

–2,36 46 Functional Analysis (ab 1973)

–3,42 50 Geometry

–3,85 26 Real Functions

–3,86 55 Algebraic Topology

–4,70 78 Optics, Electromagnetic Theory

Subdisziplin. Hierzu läßt sich eine früher durchgeführte Wanderungsana-lyse der fünf Dutzend wichtigsten Untergebiete der mathematischen Logikvom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart heranziehen. Diese Unterge-biete können zu einem beträchtlichen Teil als Forschungsprogramme imLakatosschen Sinne aufgefaßt werden; man denke etwa an Gebiete wieintuitionistische Beweistheorie, mehrwertige Logik, „fuzzy“ Logik u.ä..Die Logik insgesamt gehört heute zu den großen Subdisziplinen der Ma-thematik.

Der Befund der nicht-exhaustiven Wirkung der kognitiven Mobilitätgilt auch für diese internen Arbeitsgebiete der Logik ohne Einschränkung;die Wanderungssalden liegen in etwa in der Größenordnung der Tabelle1. Nur ein einziges logisches Gebiet weist ein positives Saldo von etwasmehr als 10 Prozent, zwei Gebiete weisen ein negatives Saldo von mehrals 10 Prozent ihrer Gesamtgröße auf. Insgesamt fallen die Gewinne undVerluste innerhalb dieser mathematischen Subdisziplin etwas deutlicheraus als es für die Bilanzzwischenden mathematischen Subdisziplinen derFall ist (Wagner-Döbler & Berg, 1993, S. 95f.). Da dies vermutlich aufdie Binnenstruktur der meisten oder sogar aller anderen 38 Subdisziplinender Mathematik übertragbar ist, läßt sich folgendes allgemeine Prinzipformulieren:Wissenschaftliche Forschungsgebiete entwickeln sich niemalsauf Kosten und durch Auszehrung anderer Forschungsgebiete, sondern imVerbund und Austausch mit ihnen – zumindest in der Mathematik.

Der eigentlich wirksame Mechanismus der Konkurrenz zwischen For-schungsprogrammen und wissenschaftlichen Entwicklungsrichtungen liegt

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somit vor allem in differentiellen Wachstumraten für die Anziehung neuerForscher und in der differentiellen Gesamtproduktivität der Forscher einesGebietes. Wie sehr sich diese Gesamtproduktivität von Gebiet zu Gebietund phasenweise unterscheidet, zeigten Zeitreihenanalysen der betreffen-den logischen Untergebiete (Wagner-Döbler & Berg, 1993, S. 84ff. und173ff.).

DAS PRINZIP DER MINIMALEN WANDERUNGSDISTANZ

Hängt die Stärke der kognitiven Mobilität zwischen zwei Gebieten mit derStärke der inhaltlichen Bezüge dieser beiden Gebiete zusammen?

Zur Beantwortung dieser Frage gehe ich folgendermaßen vor. Wie be-reits angedeutet, erhalten manche Zeitschriftenaufsätze in denReviewsmehr als einen der insgesamt rund 60 verschiedenen Klassifikationscodesder ersten Hierarchiestufe. In all diesen Fällen, so meine Arbeitshypo-these, liegen inhaltliche Bezüge zwischen den Gebieten vor, die in einer(Zeitschriften-)Publikationzusammenbehandelt werden. Diese inhaltli-chen Bezüge bezeichne ich im folgenden als "Affinität" zweier Gebiete.Ob eine Zeitschriftenpublikation für mehr als ein Gebiet relevant ist, ob-liegt dem Urteil des klassifizierenden Fachdokumentars oder Autors, diemehrere Klassifikationscodes nur dann vergeben werden, wenn die betref-fende Thematik hinreichend stark vertreten ist. Dokumentar wie Autorensind allerdings selbstverständlich nicht frei in der Erfindung neuer Co-des oder neuer mathematischer Gebietsbezeichnungen; vielmehr ist diesdas Ergebnis eines komplizierten Abstimmungsprozesses mathematischerFachgremien, der hier nicht weiter betrachtet werden soll.

Eine Untersuchung der Beziehung zwischen Logik und Computerwis-senschaft zeigte, daß die Affinität im definierten Sinne mit intensiver Fach-kommunikation verbunden ist (Wagner-Döbler, 1996). Die Fachkommu-nikation äußerte sich unter anderem in der intensiven Rezeption der logi-schen Literatur in der Computerwissenschaft; man kann von einer förm-lichen Explosion der Zitierung logischer Literatur in der Computerfor-schung in den 60er und 70er Jahren sprechen. Die Intensivierung der Be-ziehungen zwischen Computerwissenschaft und mathematischer Logikwurde von einer enormen Expansion der Arbeiten begleitet, die zugleichThemen der mathematischen Logik und der Computerforschung aufgrif-fen – vorläufiger Höhepunkt einer Beziehung, deren Grundstein vielleichtschon Leibniz vor zwei Jahrhunderten mit seinerars combinatoriagelegthat.

Die Häufigkeit, mit der es vorkommt, daß eine Publikation gleichzeitigeines der möglichen Paare verschiedener Gebiete behandelte, die Affinität

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Abb. 1. Affinität (x-Achse) und Mobilität (y-Achse) für alle 617 Gebietspaare derMathematik mit Affinität≥ 1. Doppellogarithmischer Maßstab.

also, habe ich für denselben Zeitraum wie für die Mobilitätsanalyse ermit-telt. Darauf basierend läßt sich für jedes Paar die Affinität mit dem Umfangder Mobilität vergleichen, wobei Migrationen auf ein und dasselbe Ge-biet außerachtgelassen und Migrationen von A nach B und von B nachA addiert wurden; insgesamt ergeben sich auf diese Weise rund 66.000Migrationen. Abbildung 1 zeigt die Höhe der Affinität für all jene 617 derinsgesamt 741 möglichen Paare, die eine Affinität≥ 1 aufweisen, auf derx-Achse aufsteigend angeordnet; der y-Achse sind die zugehörigen Mobi-litätshäufigkeiten zugeordnet. Eine Normierung auf die Größe der Gebieteist für diesen Vergleich nicht notwendig, da es allein auf den Vergleich vonAffinität und Migration ankommt.

Abbildung 1 läßt sich entnehmen, daßuntereiner Affinität in Höhe vonetwa 10 Einheiten die Beziehung zwischen Affinität und Mobilität einesGebietspaars stärker schwankt als darüber; die Streuung der Punkte istheteroskedastisch. Deutlich jedoch ist, daß bei größerer Affinität S einesGebietspaares auch die Mobilität M steigt, und zwar offensichtlich – vonSchwankungen abgesehen – in einer linearen Beziehung zur Größe der Af-finität dergestalt, daß log(S)/log(M)≈ const.. Mit anderen Worten: Migra-tionen finden zwischen denjenigen Gebieten häufiger statt, zwischen denenauch stärkere inhaltliche Beziehungen bestehen. Setzt man hohe Affinitätzwischen zwei Gebieten mit geringer Distanz gleich und geringe Affinität

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mit hoher Distanz, könnte man auch von einem "Prinzip der minimalenWanderungsdistanz" sprechen, da Wanderungen mit geringer Distanzüber-windung offenbar bevorzugt werden. Dieses Prinzip gilt zumindest für alljene rund 58.000 Migrationen, die zwischen ungleichen Gebieten mit einerAffinität höher als 10 stattfanden.2

Man sollte sich hier vor Augen führen, daß das Ergebnis auf einerannähernd vollständigen Analyse der Wanderungen zwischen den Subdis-ziplinen der Weltmathematik beruht. Es gibt keinen Grund anzunehmen,daß dieses Prinzip nicht auch zu anderen Zeiten gültig war und – in derGegenwart – ist. Auch wenn auf sämtliche Mathematiker zuträfe, wasD. Urban (1982) gestützt auf die Befragung von rund 500 Wissenschaft-lern verschiedener Disziplinen herausfand, nämlich daß das stärkste Motivfür den Wechsel von Forschungsgebieten verbesserte berufliche Chancensind, muß man zumindest sagen: solche Motive und Aspirationen lassensich offenbar in der Regel in einer für die Mathematik fruchtbaren Weisenutzen.

Offen ist die Frage, ob auch die – sicher eher seltenen – Migrationenzwischen Disziplinen, also die im wörtlichen Sinne inter-disziplinären Mi-grationen, nicht nur die intra-disziplinären Migrationen, vom Prinzip derminimalen Wanderungsdistanz beherrscht werden. Ich neige dazu, dies zubejahen, ohne empirische Belege dafür anbieten zu können; man denkeaber nur an Wanderungen zwischen Mathematik und Physik.

In bezug auf die Gültigkeit des Prinzips stellt sich eine weitere Frage.Die hier untersuchten Subdisziplinen bilden nur eine recht grobe Untertei-lung der Mathematik; Affinitäten betreffen vermutlich nur einzelne Aspektedes jeweils betroffenen Gebiets. Die einzelnen Subdisziplinen stellen sichin der mathematischen Klassifikation ebenso wie in der Praxis reich diffe-renziert dar. Klärungsbedürftig ist daher die Gültigkeit des Prinzips auchauf dieser Ebene.

Die mathematische Logik wurde in einer früheren Untersuchung inganz analoger Weise wie hier für die 39 mathematischen Subdisziplinengeschehen in bezug auf ihre einzelnen Teilgebiete und Forschungsrichtun-gen untersucht. Dabei hat sich für den Zusammenhang zwischen Migrationund Affinität bis in Einzelheiten hinein dasselbe Bild ergeben wie für dasGesamtsystem der Mathematik: Wanderungen zwischen einzelnen logi-schen Gebieten stehen in einem linearen Verhältnis zur Affinität zwischenden Gebieten, wenn eine sehr geringe Mindestschwelle der Affinität (abetwa 3) überschritten ist (Wagner-Döbler, 1995).3 Es ist demnach zu ver-muten, daß sich diese Regularität ebenso in der Binnenstruktur der anderenSubdisziplinen der Mathematik finden läßt.

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Die nicht mit Affinität korrelierte Mobilität in der Logik habe ich in dergerade zitierten Analyse als „mutationelle Mobilität“ gedeutet; es handeltsich offenbar um ein innovatives und tentatives Stadium, in dem der (wis-senschaftliche) Nutzen der möglichen Neukombination von Forschungs-gebieten nur vage antizipiert wird, wenn er überhaupt vorhanden ist (vgl.die Analyse von fünf Einzelfällen bei Mulkay, 1974). Es ist allerdingseine offene Frage, ob sich bei Benützung eines sensibleren Indikators alsder bibliographischen Klassifikation und Koklassifikation ergeben würde,daß das Prinzip der minimalen Wanderungsdistanz auch unterhalb der hierbeobachteten Affinitätsschwelle gilt. Aber auch oberhalb dieser Schwelleexistieren offenbar stets Wanderungen, die in mehr oder weniger deutli-chem Umfang vom Prinzip der minimalen Wanderungsdistanz abweichen.Man kann darüber spekulieren, ob auch hier der Nährboden für wissen-schaftliche Innovationen gelegt ist, die sich – unter anderem – in der Grün-dung neuer Forschungsgebiete manifestieren. Festzuhalten ist, daß sichzunächst Mobilität zwischen mathematischen Gebieten und erst nach derÜberschreitung einer Mindestschwelle von Migrationen auch Affinitätenmathematischer Gebiete nachweisen lassen.

EINE MARKOVKETTEN-THEORETISCHE INTERPRETATION DER

MOBILITÄT

Man kann die Übergänge in der hier maßgeblichen Definition im Sinneder mathematischen Theorie finiter Markovketten deuten; die Beschäfti-gung mit Forschungsgebieten, wie sie sich in Publikationen äußert, wirdals Zustand aufgefaßt. Demnach würde sich ein Autor im Jahre t0 zumZeitpunkt der Veröffentlichung von Arbeiten auf Gebiet A im ZustandA befinden; idealisierend wird angenommen, daß der Übergang zum Ge-biet B (Zustand B in tn) allein vom Zustand zum Zeitpunkt t0 abhängt,nicht von früheren Zuständen. Die Übergangshäufigkeiten von A nach Bkann man als Wahrscheinlichkeiten im Sinne der Markovketten-Theorieauffassen (wobei ein subjektiver Wahrscheinlichkeitsbegriff vorausgesetztwird; Wagner-Döbler & Berg, S. 19ff.). Die zeilenweise normierte Über-gangsmatrix ist im Anhang abgedruckt (Matrix 2). Durch Potenzierungder Matrix lassen sichindirekteÜbergangswahrscheinlichkeiten ermitteln.Bereits die erste Potenz der Matrix führt dazu, daß nunmehr kein einzigesFeld mehr gleich Null ist (während, wie erwähnt, in der Ursprungsmatrix42 Felder gleich Null sind). Dies ist gleichbedeutend damit, daß diese 42Gebiete zwar nicht durch direkte Übergänge verbunden sind, daß aber dasGesamtsystem der Mathematik dergestalt durch Übergänge verbunden ist,daß zu jedem unverbundenen Paar mindestens ein weiteres Gebiet existiert,

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welches das unverbundene Paar durch einen indirekten Übergang verbin-det. Graphentheoretisch gesprochen ist der kürzeste Kantenzug zwischenzwei Gebieten nie größer als zwei.

Man kann diesen Befund als einen fundamentalen Integrationsmecha-nismus deuten, der der zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzie-rung der Mathematik entgegenwirkt. Dies ist aber nur dann der Fall, wennMathematiker die Beziehungen der von Übergängen betroffenen Gebietegewissermaßen „kultivieren“, oder anders ausgedrückt: wenn sich zwi-schen solchen Gebieten auch tatsächliche Affinitäten und "substantielleÜberlappungen" (Toulmin) entwickeln.

Dafür daß dies zumindest für Gebiete gilt, zwischen denen größereÜbergangshäufigkeiten bestehen, sprach das Beispiel der Beziehung zwi-schen Computerwissenschaft und mathematischer Logik.

Eine weitere Folgerung läßt sich aus der Matrix und einem Theorem derTheorie finiter Markovketten ableiten. Da die Matrix regulär im Sinne derMarkovketten-Theorie ist, konvergiert sie nach hinreichend vielen Poten-zierungen gegen einen Fixvektor. Der Kehrwert des Fixvektors entsprichtder durchschnittlichen Zahl von Übergängen, die vollzogen werden müs-sen, bis ein Autor in das Gebiet zurückkehrt, das er verlassen hat. DerFixvektor beträgt nach 50 Iterationen für die 39 Gebiete in der Reihenfolgeder Liste im Anhang4:

0,0148 0,0286 0,0315 0,0135 0,0392 0,0132 0,0154 0,01840,0419 0,0154 0,0140 0,0174 0,0355 0,0161 0,0114 0,05170,0517 0,0185 0,0201 0,0516 0,0441 0,0147 0,0363 0,02960,0154 0,0193 0,0548 0,0509 0,0521 0,0161 0,0155 0,01790,0073 0,0354 0,0139 0,0129 0,0375 0,0236 0,0287.

In den meisten Fällen liegt der Kehrwert weit über 20, in sechs Fäl-len nur knapp darunter. Damit wird die durchschnittliche Zahl der Zeit-schriftenpublikationen derjenigen Mathematiker, die Migrationen vollzie-hen – sie liegt bei etwa 8 Publikationen – deutlich überschritten. Man kanndaraus schließen, daß die Rückkehr eines Forschers zu einem Gebiet, daser einmal verlassen hat, vermutlich ein sehr seltenes Ereignis ist – Aus-druck der Irreversibilität der disziplinären Entwicklung. Das auf Boxergemünzte Bonmot"They never come back"trifft offenbar mutatis mutandisauch auf Mathematiker zu. Dasselbe hat sich auch in der erwähnten Ana-lyse der Migrationen zwischen Forschungsgebieten der mathematischenLogik ergeben.

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Abb. 2. Austauschintensität in Abhängigkeit von der Gebietsgröße (x-Achse): 60 Teilge-biete der Logik (1874 bis 1985) (vgl. Wagner-Döbler & Berg, 1993) und 39 Gebiete derMathematik (1959 bis 1975, vgl. Anhang).

AUSTAUSCHINTENSITÄT UND ENTWICKLUNGSSTADIUM

MATHEMATISCHER GEBIETE

Die Hauptgebiete der Mathematik weisen sehr unterschiedliche Größenauf; während auf manchen Gebieten mehr als 10.000 Zeitschriftenbeiträgeim Zeitraum von 1959 bis 1975 erschienen, bleiben andere Gebiete demge-genüber deutlich zurück (vgl. die Liste im Anhang). Von Interesse ist nun,ob dies den Umfang der Mobilität berührt. Man kann vermuten, daß großemathematische Subdisziplinen sich „abgeschlossener“ als kleine verhal-ten, sich die Mobilität also eher auf interne Forschungsthemen bezieht,während kleinere und weniger differenzierte Subdisziplinen weniger abge-schlossen sind und möglicherweise noch einem intensiveren Austausch mitihren Nachbar-Subdisziplinen unterliegen. Diesem Zusammenhang bin ichfolgendermaßen nachgegangen. Zu jedem der 39 mathematischen Subdis-ziplinen habe ich deren Gesamtgröße (gemessen als Anzahl der Zeitschrif-tenpublikationen) sowie die jeweilige Summe der Übergangshäufigkeitenvon Matrix 2 ermittelt, die sichnicht auf dasselbe Gebiet, sondern aufandere Gebiete richten. Ich nenne diesAustauschintensität. Dasselbe habeich auch für die 60 wichtigsten Gebiete der mathematischen Logik durch-geführt, also eine der 39 Subdisziplinen. Die Gebietsgrößen für die Logik

KOGNITIVE MOBILITÄT 279

(von 1874 bis 1985) und die Übergangshäufigkeiten wurden bereits früherermittelt (Wagner-Döbler & Berg, 1993). In Abbildung 2 ist der quan-titative Zusammenhang zwischen Gebietsgröße und Austauschintensitätfür die insgesamt 99 Gebiete dargestellt. Innerhalb eines beträchtlichenSpielraums läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Austau-schintensität und der Gebietsgröße bis zu einem Volumen von rund 4000Publikationen erkennen: die (relative) Austauschintensität ist groß bei klei-nen Gebieten, kleiner bei großen Gebieten. Da Mobilität mit Affinität kor-reliert ist und damit, wie sich weiter folgern läßt, auch die Affinität mitder Gebietsgröße, läßt sich festhalten: Kleinere Gebiete stehen in intensi-verer Wechselwirkung mit ihrer disziplinären Umwelt als größere Gebiete.Da neuentstehende Gebiete anfangs stets klein sind, bedeutet dies: NeueGebiete entstehen nicht in Isolation, sondern genau umgekehrt, in Aus-tausch und Kooperation mit vorhandenen Gebieten. Genau dies war auchErgebnis der Migrationssaldo-Analyse.

SCHLUSSBEMERKUNGEN

Es ist sehr aufwendig, für alle Gebietspaare mit ungleichen ElementenUntersuchungen anzustellen, wie es speziell für die erwähnte Beziehungzwischen Logik und Computerwissenschaft geschehen ist, oder sogar einenoch weiter gehende inhaltliche Schilderung dieser Beziehung vorzuneh-men, was ausschließlich von Fachspezialisten durchgeführt werden kann.Betrachtet man die Übergangshäufigkeiten zwischen Logik und Compu-tertheorie angesichts der nachweislichen Intensität des zwischen beidenGebieten herrschenden Austauschs, so erscheinen diese mit 0,05 von derLogik zur Computerforschung und 0,07 in umgekehrte Richtung zunächstals recht gering. Hierbei ist allerdings zu bedenken, daß nur 102 aller 1482Paare ungleicher Gebiete Übergangshäufigkeiten von 0,05 oder größer auf-weisen. Für all diese Paare spricht eine Vermutung ähnlich ausgepräg-ter Affinität, wie sie im Spezialfall von Logik und Computerforschungnachweisbar war. Die matrizenförmige Darstellung kann auf diese Weiseein Hilfsmittel zur makroskopischen Synopse innerfachlicher Beziehun-gen bilden. In Einzelfällen mag die Existenz der auf diese Weise zumAusdruck kommenden disziplinären Beziehungen für Mathematiker, dieauf den betreffenden Gebieten arbeiten, von Interesse sein. Die Synergie-Effekte der Verschmelzung von Teilen zunächst weitgehend selbständigerForschungsrichtungen wie etwa der mathematischen Logik einerseits undder Computertheorie andererseits sind aber darüber hinaus von wissen-schaftstheoretischem wie von forschungspolitischem Interesse.

280 ROLAND WAGNER-DÖBLER

Es ist offenkundig, daß ohne eine systematische und annähernd vollstän-dige Matrizenanalyse, wie sie hier praktiziert wurde, Einblicke in bestimm-te indirekte Zusammenhänge des Gesamtsystems der Mathematik nicht zuerhalten sind.

Die Arbeit hat sich dabei weitgehend auf ein dokumentarisches Klas-sifikationssystem gestützt, das Mathematiker im einen oder anderen Fallaus einer inhaltlichen Sicht nicht ganz zufriedenstellen mag und dessenAnwendung durch verschiedene Personen nicht immer zu denselben Er-gebnissen führen muß. Ob ein anderes Klassifikationssystem an den Er-gebnissen der vorliegenden Analyse etwas ändern würde, muß hier of-fen bleiben. Wenn es sich bei den erzielten Ergebnissen um mehr als nurum die Strukturen eines „klassifikatorischen Schleiers“ handeln soll, darfsich an keinem der gefundenen Zusammenhänge etwas Wesentliches än-dern, sofern nur die benützten Klassifikationsschemata aus der Sicht vonMathematikern fachliche Zusammenhänge adäquat widerspiegeln.

In einer ganz bestimmten Hinsicht wurde die Zeitstruktur der Mobilitätin dieser Untersuchung ausgeblendet, nämlich insoweit der zeitliche Ab-stand zwischen den „Zuständen“ der Mathematiker außer Betracht blieb;er kann mehr oder weniger groß sein. Anzunehmen ist ein exponentiellesSinken der Übergangshäufigkeiten zwischen zwei Gebieten, je größer derzeitliche Abstand der Beschäftigung mit ihnen ist.

Ich möchte abschließend eine Überlegung zu einer wissenschaftstheo-retischen Frage anstellen, in der ich die vorliegende makroskopische Be-trachtung auf eine mikroskopische Ebene übertrage. Angestoßen von T. S.Kuhn hat das Problem der Vereinbarkeit und Vergleichbarkeit der theore-tischen Begriffe sich ablösender Forschungs„paradigma“ viel Aufmerk-samkeit auf sich gezogen. Etwas allgemeiner betrachtet und etwas so-ziologischer ausgedrückt, könnte man auch wie kürzlich K. Lüdtke vonder „Ko-Präsenz“ von Begriffen verschiedener Disziplinen in einem For-schungsdiskurs sprechen (1995, S. 109). Betrachtet man Begriffe als Be-standteile eines komplexen Ordnungssystems, mit dessen Hilfe sich wahreAussagen gewinnen lassen, so bietet sich aufgrund der Ergebnisse dervorliegenden Analyse die Vermutung an,daß Forscher bei der Entwick-lung neuer theoretischer Begriffe (beim „Übergang“ zu neuen Begriffen)stets diejenigen Begriffe wählen, welche die größte Verwandtschaft mitden vorhandenen Begriffen aufweisen. „Revolutionärer“ Begriffswandelwird dadurch selbstverständlich nicht ausgeschlossen, aber er ist selten;in ihrer Masse verhalten sich die Teilnehmer des disziplinären Systemsausgesprochen konservativ. Ich sehe keinerlei empirische Evidenz für wis-senschaftsphilosophische Katastrophentheorien.

KOGNITIVE MOBILITÄT 281

FUSSNOTEN

1 Publikationserscheinungsjahre sind nicht identisch mit Erscheinungsjahren derReviews;so mußten beispielsweise zur Untersuchung von Publikationen aus dem Jahre 1975 auchdie folgenden Jahrgänge derReviewsherangezogen werden.2 Die Häufigkeitsverteilung für Migrationen sollte, wenn sie mit diesem Prinzip übere-instimmt, in etwa eine Zipfsche Form annehmen – was auch tatsächlich der Fall ist beiLogikern des 20. wie bei Mathematikern des 19. Jahrhunderts (Wagner-Döbler & Berg,1993, S. 82; Wagner-Döbler & Berg, 1996). Diese Aspekte können hier nicht vertieftwerden.3 Migrationen waren in der Logik häufiger nachzuweisen, weil anders als in der vorliegen-den Arbeit auch bei Übergängen, nicht nur bei Affinitäten,sämtlicheKlassifikationsco-des eines Beitrags berücksichtigt sowie Monographien nicht ausgeschlossen wurden. Dieskönnte auch ein (Teil-)Grund dafür sein, daß die Schwelle in der Logik niedriger liegt.4 Die Summe von |(Matrix50 – Matrix51)| < 0,05. Vgl. zu diesem Abschnitt Wagner-Döbler & Berg 1993, S. 19ff. sowie zu weiteren Aspekten des Fixvektors auch Nowakow-ska, 1984, Vol. 1, S. 32.

LITERATURVERZEICHNIS

Gibbons, M., Limoges, C., Nowotny, H., Schwartzman, S.: 1994,The New Production ofKnowledge, SAGE, London.

Lüdtke, K.: 1995, Interdisziplinarität und Wissensentwicklung, Wie Phänomene in inter-disziplinärer Kommunikation wissenschaftlich bedeutsam werden,Journal for GeneralPhilosophy of Science26, 93–117.

Meadows, A. J.: 1976, Diffusion of information across the sciences,InterdisciplinaryScience Review1, 259–267.

Mulkay, M.: 1974, Conceptual displacement and migration in science,Science Studies4,205–234.

Nowakowska, M.: 1984,Theories of Research, Vol. 1–2, Intersystems Publications,Seaside, Calif.

Schuster, H. J. (Hrsg.): 1990,Handbuch des Wissenschaftstransfers, Springer, Berlin u.a.Urban, D.: 1982, Mobility and the growth of science,Social Studies of Science12, 409–

433.Wagner-Döbler, R., Berg, J.: 1993,Mathematische Logik von 1847 bis zur Gegenwart, Eine

bibliometrische Untersuchung, de Gruyter, Berlin u.a.Wagner-Döbler, R.: 1995, Movement in a cognitive space: Affinity of fields of science and

migration between them,5th International Conference of the International Society forScientometrics and Informetrics, Proceedings, River Forest (Chicago), Ill., 637–646.

Wagner-Döbler, R.: 1997, Science-technology coupling: The case of mathematical logicand computer science,Journal of the American Society for Information Science48, 171–183.

Wagner-Döbler, R., Berg, J.: 1996, Nineteenth-century mathematics in the mirror of itsliterature: a quantitative approach,Historia Mathematica23, 288–318.

Institut für PhilosophieUniversität Augsburg86135 AugsburgTel.: (089) 29 12 61 / Fax: (089) 29 75 61

282 ROLAND WAGNER-DÖBLER

ANHANG

Mathematische Gebiete mit mehr als 3000 Artikeln mit Erscheinungs-jahr 1959–1975 in denMathematical Reviews. Die Ziffern am Anfangeiner Zeile bezeichnen den Klassifikationscode derReviews, die Ziffern amEnde einer Zeile die Gesamtzahl der Artikel, denen der Code als Haupt-klassifikation zugeordnet ist.

1 History and Biography 3583

2 Logic and Foundations 8090

5 Combinatorics 6892

6 Order, Lattices, Ordered Algebraic Structures 3177

10 Number Theory 10458

14 Algebraic Geometry 3305

15 Linear and Multilinear Algebra; Matrix Theory 3307

16 Associative Rings and Algebra 4591

20 Group Theory 11369

22 Topological Groups, Lie Groups 3252

26 Real Functions 3016

28 Measure and Integration 3712

30 Functions of a Complex Variable 9628

32 Several Complex Variables and Analytic Spaces 3437

33 Special Functions 3550

34 Ordinary Differential Equations 13966

35 Partial Differential Equations 12577

41 Approximations and Expansions 3915

42 Fourier, Abstract Harmonic Analysis 4815

46 Functional Analysis (erst ab MR-Jahr 1973) 12455

47 Operator Theory 9303

50 Geometry 4067

53 Differential Geometry 10935

54 General Topology 8093

55 Algebraic Topology 3965

57 Topology, Geometry of Manifolds (nur MR-Jahre 1959–72) 4304

60 Probability Theory and Stochastic Processes 13316

62 Statistics 13356

65 Numerical Analysis 13885

68 Computing Machines, ab 1973; Computer Science 4039

73 Mechanics of Solids 6179

76 Fluid Mechanics (MR-Jahre 1973–79: + Acoustics) 6588

78 Optics, electromagnetic Theory 3062

KOGNITIVE MOBILITÄT 283

81 Quantum Mechanics 12692

82 Statistical Physics, Structure of Matter 4352

83 Relativity 4087

90 Economics, Operations Res., Programming, Games 10007

93 Systems, Control 6913

94 Information and Communications, Circuits, Automata 7608

Weitere 22 mathematische Gebiete mit weniger als 3000 Artikeln von Erscheinungsjahr1959 bis Erscheinungsjahr 1975:

4 Set Theory 885

8 General Mathematical Systems 1421

9 Classical Algebra 7

12 Field Theory, Polynomials (ab MR-Jahr 73: + Algebraic Number Theory)

2418

13 Commutative Rings and Algebras 2405

17 Nonassociative Rings and Algebras 1510

18 Category Theory, Homological Algebra 1997

31 Potential Theory 1836

39 Finite Differences and Functional Equations 1790

40 Sequences, Series, Summability 2290

43 Abstract Harmonic Analysis (ab MR-Jahr 1973) 889

44 Integral Transforms, Operational Calculus 1884

45 Integral Equations 2787

49 Calculus of Variation and Optimal Control 2720

52 Convex Sets and Geometric Inequalities 1924

58 Global Analysis, Analysis on Manifolds 1846

69 General Applied Mathematics (bis MR-Jahr 1972) 101

70 Mechanics of Particles and Systems 2213

80 Classical Thermodynamics, Heat Transfer 884

85 Astronomy and Astrophysics 1153

86 Geophysics 503

92 Biology and Behavioral Sciences 1287

284 ROLAND WAGNER-DÖBLER

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1.

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1(F

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.).

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