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MUSIK
VON: Christian Jansen 10.03.2013 - 10:40 Uhr
KOMPONISTEN-JUBILÄUM:
"Wagner war ganz Politik"Im Dresden der Revolution von 1848/49 wird der Komponist zum Freiheitskämpfer.
Dresden ist für viele v or allem ein Museum des Barock. Doch die Geschichte der sächsischen Residenzstadt kennt noch ganz
andere Seiten. So wird sie in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Hauptstadt des ökonomisch am weitesten
entwickelten deutschen Staates, zu einem Laboratorium der Moderne. Nicht zuletzt im politischen Sinne: Denn der
wirtschaftliche Aufschwung weckt Forderungen nach Emanzipation – im Bürgertum wie in den Unterschichten. Das
Königreich Sachsen wird zur Hochburg der Demokratie und zur Wiege der Arbeiterbewegung in Deutschland. Im Vormärzfindet die "deutschkatholische" Bewegung des charismatischen Priesters Johannes Ronge regen Zulauf: Ronge lehnt den
Zölibat a b und den päpstlichen Absolutismus. Ebenfalls vor 1848 wirken in Sachsen bereits etliche demokratische
Organisationen, zum Beispiel Robert Blums Leipziger "Redeübungsverein". Wie sonst nur in Baden und Berlin gewinnen die
Demokraten hier echten Einfluss. In dieser politisch avantgardistischen Atmosphäre wirkt auch Richard Wagner.
Im Jahr 1843 beruft Friedrich August II. den aufstrebenden Komponisten zum Königlich Sächsischen Hofkapellmeister. So
kehrt Wagner – 1 813 in Leipzig geboren – in die Stadt zurück, in der er seine Kindheit und frühe Jugend verbracht hat. Für
den jungen Mann bedeutet dies nach langen Wander- und Hungerjahren den Beginn eines bürgerlichen Lebens. Am DresdnerHoftheater werden 1842, 1843 und 1845 drei seiner Opern uraufgeführt: Rienzi, Der Fliegende Holländer und Tannhäuser.
Erstmals kann Wagner seiner Frau Minna einen bescheidenen Wohlstand bieten. Die Vormärzzeit könnte für ihn eine Zeit der
Etablierung und der Hinwendung zum Justemilieu werden. Dresdens oppositionelle Kultur und die allgemeine politische
Entwicklung bewirken jedoch das genaue Gegenteil.
Wie kein anderer großer Künstler des 1 9. Jahrhunderts (mit Ausnahme Heinrich Heines) sucht Richard Wagner die Nähe zu
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den politisch radikalen Theoretikern seiner Zeit. Deren Gedanken wirken bis in seine Opern hinein. Das macht einen Teil ihrer
Faszination aus. Wagner ist indes kein genuin politischer Kopf. Sein Radikalismus bleibt im Kern antipolitisch und voller
Ressentiments gegen die Kräfte, die er als Ursachen sozialer Missstände ansieht: die industrielle Moderne, die Geldwirtschaft,
die Kapitalisten und am Ende immer wieder "das Judenthum".
Heine ist ihm bereits Anfang der 1840er Jahre in Paris begegnet. In Dresden sind dann Karl Gutzkow – seit 1846 Dramaturg
am Dresdner Theater –, der Architekt Gottfried Semper, der Maler (und spätere Paulskirchenkarikaturist) Friedrich Pechtund vor allem August Röckel Wagners wichtigste politische Diskussionspartner. Den aus Graz stammenden Röckel hat er kurz
nach seiner eigenen Berufung als Musikdirektor und musikalischen Verbündeten ans Hoftheater geholt.
Röckel ist entschiedener Demokrat und Sozialist. Bei ihren fast täglichen Spaziergängen bringt er dem Freund seine Ansichten
nahe und überzeugt ihn von der Notwendigkeit eines Nationalstaats. Durch intensive Lektüre eignet Wagner sich außerdem
die Argumente frühsozialistischer und religionskritischer Autoren wie Pierre- Joseph Proudhon, Ludwig Feuerbach, Wilhelm
Weitling oder Max Stirner an. Hinzu kommen politische Ereignisse, die zur Radikalisierung des Komponisten beitragen: 1844
empört ihn die blutige Niederschlagung des schlesischen Weberaufstands, 1845 das Massaker, das sächsische Truppen unterLeipziger Demonstranten anrichten, die, statt dem Kronprinzen zuzujubeln, "Es lebe Ronge!" gerufen haben; 14 Menschen
kostet es das Leben.
Das demokratische und frühsozialistische Denken, das Wagner zunehmend politisiert, ist ein Konglomerat aus
kommunitaristischen Gerechtigkeitsideen, einem Brüderlichkeitsideal, das einem vermeintlich demokratischen
Urchristentum huldigt, aus Fürstenhass, maschinenstürmerischem Antikapitalismus und einem diffusen Unbehagen an der
Moderne. Während die meisten eine gerechtere Ordnung mithilfe des Staates durchsetzen wollen, kommen bei Wagner
anarchistische Komponenten hinzu: eine Verherrlichung des großen Einzelnen – bei Wagner immer ein Künstler – sowie einprinzipielles Misstrauen gegen den Staat.
1847, in ihrem Kommunistischen Manifest, unterziehen Marx und Engels den Frühsozialismus und seine unklaren
Vorstellungen einer schneidenden Kritik. Hätte Wagner ihre Schrift je gelesen, so hätte er sich als Mitläufer dieses diffusen
Radikalismus angesprochen fühlen müssen. "Das Gewand, gewirkt aus spekulativem Spinnweb, überstickt mit schöngeistigen
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Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütstau, dies überschwängliche Gewand, worin die deutschen Sozialisten
ihre paar knöchernen ›ewigen Wahrheiten‹ einhüllten", könne nichts erklären, sondern diene nur dem "Absatz ihrer Ware",
spotten Marx und Engels. Sie kritisieren vor allem die mangelnde analytische Schärfe, den Mangel an historischem
Materialismus bei den deutschen Radikalen.
Beispiele für jene diffuse, damals sehr wirksame Rhetorik des "wahren Sozialismus" lassen sich bei Wagner zuhauf finden –
etwa in dem Vortrag Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber?, den der Hofkapellmeister bei einer Massenversammlung des demokratischen "Vaterlands-Vereins" hält: "Gott wird uns erleuchten, das richtige Gesetz
zu finden [...]. Wie ein böser nächtlicher Alp wird dieser dämonische Begriff des Geldes von uns weichen mit all seinem
scheußlichen Gefolge von öffentlichem und heimlichem Wucher, Papiergaunereien, Zinsen und Bankiersspekulationen. Das
wird die volle Emanzipation des Menschengeschlechts, das wird die Erfüllung der reinen Christenlehre sein."
Obwohl Wagner in diesem Vortrag, der auch anonym in einer Dresdner Zeitung erscheint, für die Versöhnung von Monarchie
und Republik plädiert (der König solle "erster Bürger", eine Art Präsident werden), bricht ein Sturm der Entrüstung los.
Freunde fürchten, Wagner habe damit "sein Leben zerstört". Seine Lage kompliziert sich noch durch ein Bonmot, das sich wieein Lauffeuer verbreitet. Es formuliert eine Skepsis, die sich ein Jahr später als sehr berechtigt erweist, die aber im Sommer
1848 kein Demokrat hören will: "Wir haben ein stehendes Heer und eine liegende Kommunalgarde."
Wagner weist damit hellsichtig auf zwei entscheidende Defizite der Revolution hin: Es gelingt ihr weder, die Bürgerwehren so
zu organisieren und auszurüsten, dass sie den stehenden Heeren der Fürsten widerstehen können, noch, die aus der
Landbevölkerung rekrutierten einfachen Soldaten des Königsheeres auf ihre Seite zu ziehen.
Dass Wagner einen klaren Blick dafür hat, wie weit die Veränderungen gehen müssen, zeigt auch der Brief, den er demdemokratischen Abgeordneten Franz Jacob Wigard am 1 9. Mai 1848 zur Eröffnung des Frankfurter Paulskirchenparlaments
schickt. Wagner rät, nicht mit Verfassungsberatungen zu beginnen (wie es die Nationalversammlung tut), sondern die reale
Macht zu übernehmen, eine Volksbewaffnung durchzusetzen, sich mit dem revolutionären Frankreich zu verbünden und eine
radikale Territorialreform zu wagen, nach der nur noch Staaten mit drei bis sechs Millionen Einwohnern übrig bleiben sollen –
also einerseits Preußen zu zerschlagen und andererseits die Kleinstaaterei zu beenden. Wer weiß, wie schwer es ist,
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gewachsene territoriale Strukturen zu verändern, wird sagen, dass Wagners Vorschlag unrealistisch war. Aber wenn
überhaupt, hätte die Revolution nur auf dem von ihm vorgeschlagenen Weg siegen können – "Nichts Sanfteres führt zum
Ziel", schreibt er Wigard.
Obwohl Sachsens König den radikalen Kapellmeister nicht entlässt, zieht sich Wagner nach dem Eklat im Juni etwas zurück.
Er reist nach Wien, wo sich einer seiner Gesprächspartner, der Musikjournalist Eduard Hanslick, notiert: "Wagner war ganz
Politik; er erwartete von dem Siege der Rev olution eine vollständige Wiedergeburt der Kunst, der Gesellschaft, der Religion,ein neues Theater, eine neue Musik." Er konzentriert sich wieder auf sein Hauptziel: die Gründung eines "deutschen National-
Theaters" – natürlich unter seiner Leitung. "Deutsche" Kunst ist für ihn die wirksamste Waffe gegen die Moderne. Er hält sie
für den Königsweg zur Befreiung des Volkes. Bereits im Mai hat er ein Konzept zur demokratisch-nationalistischen
Reorganisation des Hoftheaters an das Ministerium geschickt, das die Wahl des Direktors durch alle Mitarbeiter und die
Mitglieder eines "Vaterländischen Dichter- und Komponisten-Vereins" v orsieht. Außerdem: Gehaltserhöhungen und eine
Vergrößerung des Orchesters.
Auf dem Turm der Kreuzkirche gerät er ins Visier preußischer Scharfschützen
Auch die künstlerischen Themen, mit denen sich Wagner im Revolutionssommer beschäftigt, stehen ganz im Zeichen der
Nationenbildung: Er arbeitet weiter an einem Drama über Friedrich Barbarossa, sieht in dem Stauferkaiser aber nun eine
Reinkarnation Siegfrieds. In dem Aufsatz Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage stellt er eine Verbindung zum
Nibelungenmythos her und spekuliert, dass "Napoleon" eine Verballhornung des Wortes "Nibelung" sei.
Zugleich beendet Wagner, im September 1848, das Konzept für den Ring des Nibelungen und schreibt, auch weil die
Uraufführung des Lohengrin aus politischen Gründen abgesetzt wurde, das Libretto zu Siegfrieds Tod. Im Herbst und Winter verfasst er außerdem immer wieder Artikel für die demokratischen Volksblätter, die Röckel redigiert, der als Musikdirektor
wegen seiner politischen Haltung entlassen worden ist. Doch das Scheitern der Rev olution in Europa lässt sich kaum noch
verdrängen: Erst Mailand, dann Prag und Wien werden durch loyale österreichische Truppen brutal zurückerobert. Am
später so geschichtsträchtigen 9. November lässt das Habsburger-Regime den Tribun der sächsischen Demokraten, Robert
Blum, in Wien erschießen.
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Trotzdem scheint die Lage in Sachsen nicht aussichtslos. Als in Preußen und Österreich die Revolution bereits am Boden liegt,
beschäftigt die sächsische Öffentlichkeit im Januar 1849 der Landtagswahlkampf. Erstmals gilt das allgemeine
Männerwahlrecht – ein großer Erfolg der Revolutionäre! Der Märtyrerkult um Blum, ihre Volksnähe und gute Organisation
bringen den Demokraten einen überwältigenden Sieg. Von den 75 am 10. Januar 1849 gewählten Abgeordneten sind 66
Demokraten – unter ihnen Röckel.
Im Frühjahr 1849 liegen die verbliebenen Zentren der Revolution in Sachsen, den thüringischen und hessischen Staaten, in Württemberg, Baden und der bayerischen Pfalz, und nach der Verabschiedung der Reichsverfassung durch die Paulskirche
am 28. März scheinen sich die Ereignisse erneut zu beschleunigen. 29 der rund 40 deutschen Staaten nehmen die Verfassung
unter dem Druck der öffentlichen Meinung an. Allerdings fehlen nicht nur die Großmächte Preußen und Habsburg, sondern
auch die Königreiche Hannover, Bayern – und Sachsen. Da gehen die Dresdner auf die Barrikaden.
Anfang Mai bricht der Aufstand los. Der König flieht, Landtagsabgeordnete bilden eine provisorische Regierung, in der die
wichtigsten drei Strömungen repräsentiert sind. Carl Gotthelf Todt, ein altgedienter Oppositioneller, steht für das liberale
Bürgertum. Die gemäßigten Demokraten entsenden den sächsischen "Turnvater" und Paulskirchenabgeordneten OttoLeonhard Heubner, den Wagner (in revolutionärer Kleinschreibung) den "edelsten, festesten, ehrlichsten – und
unglücklichsten held der revolution" nennt. Die Radikalen um Röckel und Wagner vertritt Samuel Erdmann Tzschirner.
Zur Führung des Maiaufstands gehört auch der desertierte russische Artillerieoffizier, Anarchist und Berufsrev olutionär
Michail Bakunin. Während seines Dresden-Aufenthalts im Frühjahr 1 849 wird dieser "wilde, vornehme kerl mit seiner
furchtbaren energie" Wagners bevorzugter Spaziergangs- und Diskussionspartner. Das Lob der Zerstörung, das Wagner am
8. April in den Volksblättern veröffentlicht, zeugt v on ihren Gesprächen. "Ich will zerstören die Herrschaft des einen über die
anderen", schrieb Wagner. "Zerstören will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, [...] in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus uns allen nur Unglückliche. [...] Zerstören
will ich diese Ordnung der Dinge, die den Genuß trennt von der Arbeit, die aus der Arbeit eine Last, aus dem Genusse ein
Laster macht." Wagner und Bakunin trieb, wie Martin Gregor-Dellin in seiner großen Wagner-Biografie schreibt, ein
"antizivilisatorischer Affekt", dessen Gegenstück der Glaube an das Gute im einfachen Volk, an die Erlösung durch Mythen,
durch Rückbesinnung auf das "ursprüngliche" deutsche (oder russische) Wesen war.
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Viele Jahre später, im 1872 entstandenen zweiten Teil seiner Erinnerungen, schildert der Komponist ausführlich die Dresdner
Revolutionstage. Vor allem seine Ausflüge auf den Turm der Kreuzkirche. Dort oben macht er auch "die nähere Bekanntschaft
mit einem Lehrer Berthold, einem ruhigen, sanften, aber überzeugungsvollen, entschlossenen Menschen, mit welchem ich
mich in ernsthafter philosophischer Diskussion [...] verlor. Zugleich war er aber mit völlig häuslicher Sorgfalt darauf bedacht,
uns durch geschickte Plazierung und Befestigung einer dem Türmer abgewonnenen Strohmatratze gegen die Spitzkugeln der
preußischen Scharfschützen zu bewahren, welche, auf dem entfernteren Turme der Frauenkirche postiert, die von uns
okkupierte feindliche Höhe sich zum Zielpunkt erkoren hatten. Es war mir unmöglich, von meinem interessantenZufluchtsorte beim Einbruche der Nacht mich nach Haus aufzumachen [...]. So verbrachte ich in der unmittelbaren Nähe der
schrecklich dröhnenden Turmglocke und unter beständigem Anprallen der preußischen Kugeln gegen die Mauer des Turmes
eine der merkwürdigsten Nächte meines Lebens, abwechselnd mit Berthold Wache und Schlaf teilend."
Eindrucksvoll auch Wagners Bericht von den Straßenkämpfen, von den Barrikaden (die der Opernbaumeister Semper
konstruiert hat): "Es war bereits voller Abend; was ich sah, bot einen wahrhaft furchtbaren Anblick, da ich diejenigen
Stadtteile durchzog, in welchen man sich auf den Kampf von Haus zu Haus vorbereitet hatte. Unaufhörliches Dröhnen des [...]
Gewehrfeuers ließ alles übrige Geräusch der rastlos von Barrikade zu Barrikade, von Durchbruch zu Durchbruch sich
zurufenden bewaffneten Menschen nur wie unheimliches Gemurmel erscheinen. Pechfeuer brannten hie und da, übermüdete
bleiche Gestalten lagerten auf den Wachtposten umher [...]. Nichts je von mir Erlebtes kann ich aber dem Eindrucke
vergleichen, welchen ich mit meinem Eintritt in die Räume des Rathauses empfing. Es war ein dumpfes und doch ziemlich
geordnetes, ernsthaftes Gewühle; größte Übermüdung lag auf allen Gesichtern; keine Stimme hatte mehr ihren natürlichen
Klang, alles krächzte wie mit höchster Anstrengung heiser durcheinander. Den einzigen gemütlichen Anblick boten die alten
Ratsdiener [...]; diese sonst so gefürchteten Männer traf ich teils Butterbrote schmierend, Schinken und Würste
zerschneidend an, während andere in Körben die r iesigen Provisionen zur Verpflegung der Barrikadenkämpfer an die von
dort abgesandten Deputationen verteilten. Sie waren entschieden zu den Hausmüttern der Revolution geworden."
Wagner flieht in die Schweiz – jetzt wird er steckbrieflich gesucht
Nach wenigen Tagen bricht der Widerstand zusammen. Königliche Truppen, von preußischen Einheiten unterstützt, besetzen
die Stadt. Anders als seinen Genossen Röckel, Heubner und Bakunin, die verhaftet werden, gelingt es Wagner, in die Schweiz
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zu entkommen. Hier bleibt er in seinen kunsttheoretischen und politischen Tex ten dem destruktiven und zugleich
sentimentalen Antimodernismus treu. Und er lässt in Das Judenthum in der Musik (1850) seinem hasserfüllten
Antisemitismus freien Lauf. Doch diese Tiraden haben auf die öffentliche Wahrnehmung Wagners kaum Einfluss. Vielmehr ist
es für viele Demokraten von großer Bedeutung, dass der erfolgreiche Komponist auf den Dresdner Barrikaden gekämpft hat
und nun steckbrieflich gesucht wird.
So hält der württembergische Achtundvierziger Ludwig Pfau im Mai 1850 fest: "Fast alle, die in Deutschland einen wissenschaftlichen oder künstlerischen Namen haben, sind Reaktionäre. Vom Grimm, Dahlmann, Humboldt bis zum Strauß u.
Vischer." Wagner aber habe sich verdient gemacht "im Lager der Rev olution". Auch der hessische Demokrat Wilhelm Schulz,
der schon 1832 am Hambacher Fest teilgenommen hat, sieht in Wagner einen Revolutionär nicht nur der Kunst. 1852 scherzt
er in einem Brief an den Schweizer Dichter Gottfried Keller: "Das goldene Zeitalter wird damit beginnen, daß wir deutsche
Volksvertreter uns hundertfach höhere Diäten dekret iren; nach dieser, aus allen pekuniären Verlegenheiten rettenden That
wird ein großes, von Richard Wagner eigens componirtes Tedeum gesungen."
QUELLE: DIE ZEIT, 28.2.2013 Nr. 10ADRESSE: http://www.zeit.de/2013/10/Komponist-Richard-Wagner-Freiheitskaempfer-Revolution/komplettansicht