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Studienjahr 2008-2009
Kompositionelle Okkasionalismen in Schlagzeilen und ihre Äquivalente in
Zeitungstexten
Eine Untersuchung
Masterarbeit im Fachgebiet Deutsche Sprachwissenschaft
von Stijn Raepsaet
Master Deutsch-Englisch Leser: Prof. Dr. Luc De Grauwe, Dr. Torsten Leuschner & Prof. Dr. Martina Penke
2
3
Vorwort:
In der vorliegenden Masterarbeit beschäftige ich mich mit der Thematik der kompositionellen
Okkasionalismen. Eine Thematik, die meiner Meinung nach in der deutschen
Sprachwissenschaft wenig berücksichtigt wird. Ich danke Prof. Dr. Luc De Grauwe für die
Betreuung dieser Arbeit, und meinen Eltern und meiner Freundin für die mentalen
Unterstützung. Ohne diese Personen wäre die Arbeit nicht zustande gekommen.
Sint-Eloois-Winkel, im Mai 2009 Stijn Raepsaet
4
5
Literaturverzeichnis:
0. Einleitung 8
1. Zeitung 8
1.1 Zeitungssprache 8
1.1.1 Seriöse Zeitungen 9
1.1.2 Boulevardpresse 10
1.2 Die Schlagzeile 11
2. Der Begriff Komposition 12
2.1 Die Wortbildung 12
2.2 Komposition 15
2.2.1 Funktion 17
2.2.2 Die Einheiten der Komposition 18
2.2.3 Kompositionsarten 22
2.2.3.1 Das Determinativkompositum 22
2.2.3.1.1 Die nominalen Determinativkomposita 24
2.2.3.1.1.1 Das Nomen-Nomen-Kompositum 24
2.2.3.1.1.1.1 Zur Struktur 25
2.2.3.1.1.1.2 Zur Semantik 26
2.2.3.1.1.1.3 Die Klammerform 30
2.2.3.1.1.2 Das Adjektiv-Nomen-Kompositum 30
2.2.3.1.1.2.1 Zur Struktur 30
2.2.3.1.1.2.2 Zur Semantik 32
2.2.3.1.1.3 Das Verb-Nomen-Kompositum 32
2.2.3.1.1.3.1 Zur Struktur 33
2.2.3.1.1.3.2 Zur Semantik 34
2.2.3.1.1.4 Das nominale Konfixkompositum 34
2.2.3.1.1.4.1 Das Konfix-Nomen-Kompositum 35
2.2.3.1.1.4.2 Das Nomen-Konfix-Kompositum 35
6
2.2.3.1.1.4.3 Das Konfix-Konfix-Kompositum 36
2.2.3.1.1.5 Das Satz-Nomen- und das Phrasen-Nomen-
Kompositum 36
2.2.3.1.2 Das Possessivkompositum 37
2.2.3.1.3 Das verdeutlichende Kompositum 37
2.2.3.2 Das Kopulativkompositum 39
2.2.3.3 Onymische und deonymische Komposita 40
2.2.3.3.1 Das onymische Kompositum 40
2.2.3.3.2 Das deonymische Kompositum 41
2.2.3.4 Die Reduplikation 42
2.2.3.4 Die Kontamination 43
3. Neologismen 43
3.1 Definition 43
3.2 Okkasionalismen 44
3.2.1 Okkasionalismen in der Zeitung 49
4. Die Untersuchung 52
4.1 Arbeitsmethode 52
4.2 Material 54
4.3 Die eigentliche Untersuchung 56
4.4 Ergebnisse 89
5. Zusammenfassung/Schlussfolgerung 94
6. Literaturverzeichnis 97
7. Anhang 99
7
8
0. Einleitung
Da es sich um die Aktualität handelt und also neue Ereignisse beschrieben werden, tauchen
sich in der Berichterstattung von Zeitungen häufig neue Wörter bzw. Gelegenheitsbildungen
auf. In dieser Arbeit werde ich zusammengesetzte Gelegenheitsbildungen, die in den
Schlagzeilen von Zeitungen vorkommen, untersuchen.
Zunächst ist es jedoch notwendig, auf einige Begriffe näher einzugehen. In einem ersten
Kapitel werde ich mich dem Begriff ‚Zeitung‟ zuwenden. Hier werde ich die Aspekte
‚Zeitungssprache‟ und ‚Schlagzeile‟ theoretisch erläutern. Diese Aspekte sind für meine
Arbeit von großer Bedeutung, denn sie bilden die sogenannten Stützpunkte der zu
besprechenden Wörter: Die Gelegenheitsbildungen sind im Rahmen dieser Art von Sprache
aufgebaut. In einem zweiten Kapitel werde ich mich mit den Gelegenheitsbildungen als
zusammengesetzten Wörtern bzw. Komposita beschäftigen. Hier werde ich den Begriff
‚Komposition‟ definieren und die verschiedenen Arten der Komposita strukturell und
semantisch erörtern. In einem dritten Kapitel werde ich mich auf die Gelegenheitsbildungen
selbst beschränken. Nachdem der Begriff ‚Gelegenheitsbildung‟ bzw. ‚Okkasionalismus‟
definiert worden ist, werde ich näher auf ihre möglichen Funktionen eingehen.
Erst nach dieser theoretischen Darlegungen zu den betreffenden Begriffen werde ich imstande
sein, eine Fragestellung und eine darauf aufbauende mögliche Hypothese zu formulieren. Aus
diesem Grunde werden die Fragestellung und Hypothese am Ende von Kapitel 3 präsentiert.
1. Zeitung
In diesem Kapitel werde ich mich kurz mit die Aspekten des Begriffes ‚Zeitung‟ beschäftigen,
die für meine Arbeit von Belang sein. Die fraglichen Aspekte sind die Begriffe
‚Zeitungssprache‟ und ‚Schlagzeile‟.
9
1.1 Zeitungssprache
Es ist undenkbar, von einer einheitlichen Zeitungssprache für alle Zeitungen zu sprechen. Die
Sprache, die in dieser Textsorte verwendet wird, variiert stark von Zeitung bis Zeitung. Im
Folgenden werde ich die bundesdeutschen Zeitungen je nach dem Sprachgebrauch in zwei
Gruppen unterteilen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird in den westlichen Besatzungszonen die strenge
Überwachung von Zeitungen, die während des Nazi-Regimes gilt, aufgehoben.1 Von da an
kann jeder eine Zeitung herausgeben. Dies hat zur Folge, dass in den ersten Jahren nach dem
Krieg viele Zeitungen entstehen. Die Unmenge Zeitungen führt zu einem heftigen
Konkurrenzkampf und schließlich zu einer Konzentrationsbewegung. So verschwindet eine
große Anzahl - regionale, lokale - Zeitungen und entwickeln sich vor allem die Zeitungen, die
sich als überregional profilieren, d.h. über nationale und internationale Themen in Politik,
Kultur, Wirtschaft, usw. berichten.2 Im Laufe der Nachkriegszeit werden die Zeitungen auch
mehr und mehr privatisiert. Da sich die Presse wegen des privatwirtschaftlichen Blickwinkels
gewinnorientiert bestimmt, steht das Verkaufen im Vordergrund. Zeitungen entwickeln sich
auf diese Weise schnell zu Massenmedien, die auf den Massengeschmack gerichtet sind. In
der Suche nach Lesern unterscheiden sich innerhalb der Zeitungen im Großen und Ganzen
zwei Tendenzen, die beide viele Anhänger haben: Entweder versucht die Zeitung über eine
breite Vielfalt von Themen möglichst genau und objektiv zu informieren, oder sie will durch
sensationelle und eher subjektive Berichterstattung Leser locken (vgl. Straßner 1997: 11-12).
Den ersten Fall bestimme ich als „seriöse Zeitungen“, den zweiten als Boulevardpresse.
1.1.1 Seriöse Zeitungen
Als seriöse Zeitungen werden diejenigen betrachtet, deren Hauptzweck ist, objektiv zu
informieren. Die Nachrichten in Zeitungen haben rein als Funktion, die Leser über einen
bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt zu berichten. Deshalb ist der Sprachgebrauch in
solchen Zeitungen – abgesehen von subjektiven Artikeln wie Kommentaren und Kolumnen -
1 In der DDR wurden die Zeitungen noch immer - damals von der Stasi - überwachen.
2 Die Konzentrationsbewegung hat zur Folge, dass zwischen 1954 und 1980 fast die Hälfte der Herausgeber-
Verlage verschwand (vgl. Straßner 1997: 11).
10
als neutral berichtend zu bezeichnen.3 Überdies ist die Sprache der seriösen Zeitungen fast
ausnahmslos standardsprachig. Die inhaltliche und sprachliche Neutralität führt dazu, dass
solche Zeitungen meinungsbildend sind und in gewissem Maße einen elitären Charakter
haben. Diese Zeitungen zielen auf eine soziologisch vergleichsweise hoch angesiedelte
Leserschaft bzw. auf Akademiker. Beispiele seriöser deutschsprachiger Zeitungen sind die
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Die ZEIT, Die Welt und die Süddeutsche Zeitung (SZ)
(vgl. Straßner 1997: 19).
1.1.2 Boulevardpresse
Boulevard- oder Kaufzeitungen haben als Hauptzweck, über Nachrichten sensationell und
möglichst exklusiv zu berichten, damit die Leser dazu angereizt werden, die Zeitungen zu
kaufen. Derartige Zeitungen berichten häufig von Ereignissen in Showbizz und Modetrends,
beim Berichten über „seriöse“ (z.B. ökonomische, politische, usw.) Gegenstände oder
Sachverhalte handelt es sich meist um Skandale oder banale Aspekte eines Geschehens.
Während eine seriöse Zeitung die Begegnung des belgischen Königspaares mit
Bundeskanzlerin Angela Merkel aus politischen, ökonomischen Standpunkten betrachten
würde, würde eine Boulevardzeitung die Aufmerksamkeit eher auf die Tracht der
Prominenten lenken. Außerdem berichten Kaufzeitungen nicht neutral, nicht objektiv. Häufig
vertreten die Berichte die Meinung oder Betrachtung, die der Journalist gegenüber dem
besprochenen Thema hat. Im Gegensatz zu den seriösen Zeitungen sind Boulevardzeitungen
also nicht meinungsbildend, sondern eher meinungsaufdringlich. Die Journalisten erwähnen
ihre Meinung meist nicht explizit, sondern verwenden hierfür emotionsbefrachtete Wörter.
Der „subjektive“ Wortschatz drückt nicht nur die Meinung des Journalisten aus, sie wirkt
auch attraktiv und sensationell (vgl. Straßner 1997: 50-51).
Mittelberg (1967) unterscheidet in der Bild-Zeitung, welche die größte Boulevardzeitung
Deutschlands ist, vier verschiedene Bereiche emotionsbefrachteten Wortschatzes:4
3 „Kommentare sind Meinungsbeiträge der Redakteure […] Es wird Stellung genommen zu Gegenständen, die in
Berichten mitgeteilt werden. […] Ein Urteil des Lesers kann vorbereitet, seine Wertung unterstützt werden
(Straßner 1997: 17). Die Kolumne bezeichnet einen kurzen Meinungsbeitrag von stets demselben Journalisten
bzw. Kolumnisten. Meist handelt sie von der Meinung des Schreibers in Bezug auf alltägliche Themen (vgl.
Duden Wörterbuch 2003: 926). In dergleichen Artikeln handelt es sich um subjektive Texte, in denen folglich
nicht neutral berichtet wird. 4 Obwohl die Studie von Mittelberg von 1967 datiert, finde ich sie noch ganz zutreffend. Dies habe ich nach dem
Lesen einiger gegenwärtiger Boulevardzeitungen (BILD-Zeitungen) konstatiert.
11
1) Zuerst gibt es den Wortschatz der Sensation. Da die Bild-Zeitung, wie alle
Boulevardzeitungen, ein Sensationsblatt ist, werden häufig Wörter verwendet, die
Erregung, Spannung, Furcht, Leidenschaft und Empörung aufrufen, z.B. Superlative
(der größte Unfall), ausdrucksstarke Adjektiven (ein heller Kampf), intensivierende
Wortbildungen (Panikstimmung in München) (vgl. Mittelberg 1967: 47).
2) Als zweite Sorte erwähnt Mittelberg (1967: 57-61) einen Wortschatz, der Fürsorge
und Liebe aufruft. Als Wörter der Fürsorge werden häufig solche aus dem Wortfeld
‚Hilfe‟, wie Rettung, verwendet. Ein typisches Wort, mit dem Liebe aufgerufen wird,
ist Herz, z.B. Das kranke Mädchen braucht unser Herz.
3) Daneben gibt es den Wortschatz der Sentimentalität, Wörter die - gesteigerte -
Einsamkeit, Alter und Armut aufrufen. Hier gibt es häufig direkte sprachliche
Superlative und Gradadverbien, z.B. das einsamste Kind der Stadt, die verarmte Frau
(vgl. Mittelberg 1967: 61-62).
4) Letztens erwähnt Mittelberg (1967: 62-69) einen Wortschatz der Stellungsnahme.
Hierzu werden oft die Adjektive groß und gut - und ihre Superlative - sowie
Synonyme für das Gradadverb sehr verwendet, z.B. das große/größte Interesse, das
Riesenschiff / das mächtige Schiff ‚das sehr große Schiff‟.
Mittelberg (1967: 69-73) erwähnt auch, dass die zahlreichen emotionalen (Aussage)Verben zu
den verschiedenen Wortschätzen beitragen, z.B. empören, hätscheln, sich abhärmen, necken.
Außerdem nimmt die Boulevardpresse auf umgangssprachliche Tendenzen Rücksicht.
Mittelberg (1967: 74) bemerkt, dass in den Artikeln häufig Umgangssprache im engeren
Sinne - d.h. erhöhte Volkssprache -, Alltagssprache - d.h. die hochdeutsche Sprachform, die
im täglichen Umgang der Menschen angewendet wird -, dem Slang - oft vom Jargon
beeinflusst - und vulgäre Gossensprache verwendet wird. Die Verwendung
umgangssprachlicher Wörter in der Boulevardpresse hat als Hauptzweck, sich auf die
Leserschaft einzustellen. Leser der Boulevardzeitungen gehören meist der mittleren
Mittelschicht bis zur unteren Unterschicht an.
1.2 Die Schlagzeile
Als Schlagzeile bezeichnet man den Titel bzw. die Überschrift eines Artikels.. Mittelberg
(1969: 19) sagt, dass die Schlagzeile das Gesicht der Zeitungstexte bildet. Er bestimmt sie
gewissermaßen als das Aushängeschild des Textes. Ihre Aufgabe ist, die Aufmerksamkeit des
12
Lesers auf sich zu ziehen, damit der Leser - wenn interessiert – dazu angereizt ist, den Text zu
lesen. Diese Aufmerksamkeit bekommt die Schlagzeile, indem sie sowohl formal als auch
inhaltlich auffällt: Formal tragen verschiedene stilistische Faktoren zu der Gestaltung der
Schlagzeile bei. So variiert sie in Bezug auf den Text meist in Schriftfarbe, Schriftgröße,
Schriftwahl (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Schlagzeile (11/04/09)).5 Inhaltlich will der
Journalist über die Schlagzeile den Text möglichst akkurat umschreiben. Aber, indem die
Schlagzeile in Länge beschränkt ist - sie ist in der Regel nur ein Wort bis einige Wörter lang -
, drängt möglichst viel Information sich auf wenig Raum. Trotzdem fasst sie irgendwie den
Text zusammen, interpretiert ihn, oder sie umschreibt irgendwie die im Text behandelte
Thematik (vgl. Elsen 2004: 103). Meist verwendet der Journalist dazu Schlagwörter oder
effektive textzusammenfassende Wörter. Elsen (2004: 103) bemerkt, dass hierzu häufig
zusammengesetzte Worte bzw. Komposita benutzt werden. Im folgenden Kapitel werde ich
diese Wortbildungskonstruktionen ausführlich behandeln.
2. Der Begriff Komposition
Die Komposition ist eine der deutschen Wortbildungsarten. Bevor ich sie ausführlich
behandele, ist es notwendig, den Begriff in dem weiteren Bereich der deutschen Wortbildung
einzuordnen.
2.1 Die Wortbildung
Eine ausreichende Definition des Begriffs Wortbildung findet man in Hentschel/Weydt (2003:
23). Sie betrachten Wortbildung als „die Gesamtheit der Verfahren mittels derer einer Sprache
neue Wörter auf der Basis schon vorhandener Wörter gebildet werden.“ Sie erläutern, dass
dieser Bildungsprozess erfolgt, indem einzelne Wörter zu neuen komplexen Wörtern
zusammengefügt oder indem einzelne Wörter durch grammatische Mittel zu neuen
umgeformt werden. Laut Duden (2006: 641) enthält der Terminus eine zweite Bedeutung: Der
Begriff Wortbildung gebraucht man auch für das Ergebnis des oben genannten Prozesses; das
„gebildete“ Wort.
5 Diese Internetquelle betrachte ich als wissenschaftlich akzeptabel, weil sie eine Zusammenfassung des Buches
ABC des Journalismus. Ein Leitfaden für die Redaktionsarbeit (1998) ist. Dieses Buch gilt als Handbuch für die
Redaktionsarbeit.
13
Da die Bildung der neuen Wörter - die Wortbildung - über verschiedene Regeln und unter
bestimmten Bedingungen stattfindet, kann man verschiedene Wortbildungsarten erkennen.
Die Einteilung in Wortbildungsarten variiert von Forscher zu Forscher: In Donalies (2005)
findet man eine eher allgemeine Untergliederung in Komposition, Derivation,
Kurzwortbildung, sowie Neumotivierung und Wortspiel.
Bei der Komposition - auch Zusammensetzung genannt - werden mindestens zwei Wörter
und/oder Konfixe zu einem Kompositum zusammengesetzt (vgl. Donalies 2005: 51).6 Eine
ausführliche Darlegung in Bezug auf den Begriff Komposition und seine möglichen
Konstituenten folgt später im Kapitel 2.2.
Bei der Derivation - auch Ableitung genannt – wird ein Wort oder ein Konfix zu einem
Derivat abgeleitet. Das Wort oder Konfix von dem ein neues Wort abgeleitet wird, nennt man
die Basis. Als eine Untergliederung zum Begriff Derivation fasst Donalies (2005: 95) drei
Wortbildungsarten zusammen: Erstens die explizite Derivation, d.h. die Ableitung mit
Wortbildungsaffixen wie -heit, -ig, be- (z.B. frei → Freiheit).7 Zweitens gibt es die
Konversion, d.h. die Ableitung findet allein durch Wortartwechsel statt. Duden (2006: 674)
beschreibt sie als „eine Wortbildungsart, bei der ein Wort in eine andere Wortart umgesetzt
wird, und zwar ohne Beteiligung von Affixen.“ In der Regel gibt es hier also keine
morphologische Veränderung der Basis (z.B. reisen → das Reisen ). Drittens gibt es die
implizite Derivation. „Als implizite Derivation werden Wortbildungsverfahren bezeichnet, die
durch Ab- oder Umlaut gebildet werden“ (Hentschel/Weydt 2003: 26) Diese Wortbildungsart
ist also mit einem Wechsel des Stammvokals verbunden. Im Gegensatz zur expliziten
Derivation bekommt man die Ableitung nicht durch Hinzufügung eines Affixes, sondern
durch Stammalternation. Als implizite Derivation betrachtet man Prozesse deverbaler
Derivation von Substantiven (z.B. werfen → Wurf) und deverbaler Derivation von Verben
(z.B. fallen → fällen) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 51).
Bei der Kurzwortbildung wird ein Wort - wie der Begriff vermuten lässt - verkürzt. Durch
die Kürzung wechseln die Wortart und die Bedeutung des Wortes sich jedoch nicht. Ein neues
6 Ein Konfix ist ein„Wortbildungselement, das nicht wortfähig und doch kein Affix ist“ (Duden 2003: 1265).
Eine ausführlichere Darlegung dieses Begriffes folgt später. 7 Affixe sind Wortbildungsmorpheme, die nicht frei vorkommen, sondern gebunden. Dies haben sie mit den
Konfixen - die im nächsten näher Kapitel besprochen werden - gemeinsam. Sie dienen in Verbindung mit
Derivationsbasen (Grundmorphemen oder Wörtern) der Bildung komplexer Wörter. Sie tragen jedoch wie
Grundmorpheme eine lexikalisch-begriffliche Bedeutung. Obwohl sie nicht basisfähig sind, können sie
Basiswörter in eine andere Wortart transponieren und/oder deren Bedeutung modifizieren (vgl. Fleischer/Barz
2007: 25-26). Je nach der Stelle im (komplexeren) Wort kann man sie untergliedern in Präfixe (stets vor einer
Basis positioniert: z.B. be-merken), Suffixe (stets hinter einer Basis positioniert: z.B. Schön-heit) und Zirkumfixe
(stets um eine Basis herum positioniert: z.B. be-fest-ig(en)) (vgl. Donalies 2005: 26-33).
14
Wort entsteht also nicht, sondern eine Wortvariante. Nach Bellman (1988: 18) sprechen
Fleischer/Barz (2007: 52) von „lexikalischer Variation besonderen Typs“. Die Vollform wird
durch die Kürzung nicht völlig verdrängt oder ersetzt, sondern „lediglich in ihrer
Auftretenshäufigkeit eingeschränkt.“ (Fleischer/Barz [2007: 52] nach Bellmann [1988: 18]),
z.B. bi für bisexuell, öko für ökologisch, Info für Information, ARD für Arbeitsgemeinschaft
der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Duden
2006: 676).
Bei der Neumotivierung verändert der Sprecher die konventionelle Bedeutung eines Wortes,
indem er durch Verwendungssituation und Kontext semantische Transparenz bei einer nicht
(mehr) transparenten Wortbildung herstellt. Z.B. Löwenanteil → „der größte Teil von etwas“
zu Löwenanteil → „Teil des Eintrittsgeldes der Zoobesucher, der zur Erhaltung der
Löwenzucht verwendet wird.“ (vgl. Duden 2006: 652). Letztens, bei dem Wortspiel werden
Wortbildungsprodukte ironisch-spielerisch aufgegriffen und analog zu lexikalisierten Wörtern
gebildet, z.B. Untertan → Obertan (vgl. Donalies 2005: 152).
In Duden (2006: 668-676) werden die Wortbildungsarten anders dargestellt, da sie über
mehrere Stufen untergliedert sind:
Wortbildungsarten
I mit UK-Struktur ohne UK-Struktur
II zwei wortfähige UK eine wortfähige UK Wortartwechsel kein Wortart-
Wechsel
III Komposition Derivation Konversion Kurzwortbildung
[Schema 1: Duden 2006: 668]
Auf einer ersten Ebene macht Duden den Unterschied zwischen Wortbildungsarten mit
unmittelbaren Konstituenten (UK) und Wortbildungsarten ohne unmittelbare Konstituenten.
Unmittelbare Konstituenten sind „die zwei Bestandteile, aus denen ein komplexes Wort am
wahrscheinlichsten entstanden ist und in die es sich auf der nächstniedrigeren Ebene
lexikalisch und semantisch plausibel zerlegen lässt.“ (Duden 2006: 669). Wortbildungen mit
15
einer UK-Struktur sind im Grunde binär. Die Wortbildung ist also auf zwei Konstituenten
zurückzuführen, auch wenn es sich um ein komplexes Wort handelt.8
Auf der zweiten Ebene verzweigen sich beide Strukturen - mit oder ohne UK-Struktur: Im
Bereich der Wortbildungsarten mit UK-Struktur macht Duden den Unterschied zwischen der
UK-Struktur mit zwei wortfähigen UK und der UK-Struktur mit einer wortfähigen UK. Das
Merkmal ‚wortfähig‟ besagt, dass die entsprechende Konstituente auch außerhalb der
Wortbildung […] im Satz verwendet werden kann.“ (Duden 2006: 671). Unter wortfähiger
UK versteht man also UK, die aus einem freien Morphem bestehen. Deshalb werden sie dann
auch freie UK genannt. Typische freie Konstituenten sind Wörter (Substantive, Adjektive,
Verben usw.) bzw. Stämme und - als Spezialfall - syntaktische Fügungen. Demgegenüber
bestehen nicht-wortfähige UK aus einem gebundenen Morphem, wodurch sie auch gebundene
UK genannt werden. Gebundene UK sind Konfixe und Affixe. Enthalt die UK-Struktur zwei
wortfähige UK, dann spricht man von Komposition. Kompositionen sind also komplexe
Wörter aus wortfähigen unmittelbaren Konstituenten, Konfixkomposita hier ausgenommen
(vgl. Duden 2006: 671).9 Enthalt die UK-Struktur nur eine wortfähige UK, dann hat es mit
Derivation zu tun. Die beiden unmittelbaren Konstituenten eines Derivats - einer Ableitung -
sind also eine wortfähige Konstituente und ein Affix (vgl. Duden 2006: 673).10
Bei den Wortbildungen ohne UK-Struktur macht Duden auf einer zweiten Ebene den
Unterschied zwischen über Wortartwechsel gebildeten Wortbildungen und Wortbildungen
ohne Wortartwechsel. Im ersten Falle spricht man von Konversion und im zweiten von
Kurzwortbildung.11
Weiter erwähnt Duden (2006: 677-681) einige Wortbildungsarten, die sich nicht oder nicht
hinreichend deutlich nach dem oben genannten Schema analysieren lassen. Neben der
Partikelverbbildung (12
) und der Rückbildung (13
) werden die Reduplikation und die
8 Eine eingehende Analyse der Binarität der UK-Struktur (bezüglich Kompostion) findet man im nächsten
Kapitel. 9 Die wortfähigen UK werden im nächsten Kapitel ausführlich besprochen.
10 Der Fall, in dem die Ableitung aus einem Konfix und Affix aufgebaut ist, wird hier außer Betracht gelassen,
z.B. ident-isch (vgl. Donalies 2005: 24). 11
Beide Begriffe sind schon eher in diesem Kapitel definiert und behandelt worden. 12
„Genauso wie bei der Präfixderivation wird bei der Partikelverbbildung ein Verb mithilfe eines Präelements
von einer verbalen, substantivischen oder adjektivischen Basis abgeleitet […]. Anders als bei der
Präfixderivation entstehen jedoch durch Partikelverbbildung keine festen komplexen Verben, sondern unfeste,
sogenannte trennbare.“ (Duden 2006: 677). 13
“Rückbildung ist Derivation nicht durch Hinzufügen, sondern durch Tilgung oder Austausch eines
Wortbildungssuffixes mit gleichzeitiger Transposition in eine andere Wortart, wobei der Eindruck entsteht, das
‚rückgebildete‟ Wort sei die - kürzere - Ausgangsform […].“ (Fleischer/Barz 2007: 51). So entstehen
rückgebildete Verben aus substantivischen Komposita mit einem deverbalen Zweitglied, wobei vorhandene
substantivische Suffixe entfallen, z.B. Notlandung → notlanden, Mähdrescher → mähdreschen (vgl. Duden
2006: 681).
16
Kontamination – auch Wortkreuzung, Wortverschmelzung, Wortmischung und Kontraktion
genannt - angegeben. Diese zwei Wortbildungsarten betrachte ich nach Donalies (2005) als
Unterarten der Komposition. Deshalb werde ich sie im nächsten Kapitel erläutern.
2.2 Komposition
Aus dem vorigen Kapitel kann man folgern, dass Komposition eine Wortbildungsart mit UK-
Struktur ist, in der mindestens zwei wortfähige unmittelbare Konstituenten und/oder (nicht
wortfähige) Konfixe zusammengesetzt werden. Das Wortbildungsprodukt der Komposition
nennt man ein Kompositum. Einige Beispiele sind Haustürschlüssel, Kapitän-Lehrer,
Langbein, Kellertreppe, usw. Wichtig ist zu bemerken, dass ich mich auf die nominalen
Komposita beschränken werde, da nur sie für diese Arbeit relevant sind.
Das - nominale – Kompositum ist im Grunde durch die Stabilität der Wortstruktur
gekennzeichnet: konstruktionsintern gibt es keine Flexion 14
, der Hauptakzent liegt auf der
ersten UK (15
), die Struktur ist binär (16
) und das Zweitglied bestimmt Wortart, Genus und
Flexionstyp (vgl. Fleischer/Barz 2007: 87-88).17
Fleischer/Barz (2007: 89-90) bemerken, dass bestimmte konstruktionsinterne semantische
Eigenschaften dieser formativstrukturellen Stabilität entsprechen: Zuerst kann die
semantische Beziehung der UK nur durch Paraphrasierung und damit Übergang auf die Ebene
des Satzes bzw. der Wortgruppe explizit gemacht werden, z.B. Sonnenschutz – Schutz gegen
die Sonne. Zweitens verfügt das Erstglied eines Kompositums nicht mehr ohne weiteres über
die doppelten Möglichkeiten, um die Beziehung entweder auf eine Klasse von Gegenständen
oder einen bestimmten Einzelgegenstand einzuschränken: z.B. der Arm bezieht sich auf ‚die
14
Bei Komposita wie Sohnespflicht hat die interne Flexion - -es - seine herkömmliche Funktion – ‚Betonung des
Genitivs (‚Pflicht des Sohnes‟) - verloren und fungiert sie nur noch als Fugenelement (vgl. Donalies 2005: 56). 15
Bei Kopulativkomposita (vgl. Kapitel 2.2.3.2) sind beide UK jedoch gleichermaßen betont (vgl. Donalies
2005: 56). 16
Für eine ausführliche Darlegung der Binarität - bei Determinativkomposita - verweise ich auf Kapitel 2.2.3.1. 17
Fleischer/Barz (2007: 88-89) erwähnen jedoch einige Ausnahmen:
- In einigen Komposita ist die interne Flexion relikthaft bewahrt, z.B. ein Hoheslied - das Hohelied.
Daneben können adjektivische Erstglieder regulär mit superlativischem -st- verwendet werden, z.B.
Klein- /Kleinstminen ( vgl. Fleischer/Barz 2007: 88).
- Ein abweichendes Akzentschema haben: einzelne Kopulativkomposita (Schlèswig-Hólstein,
Marxìsmus-Leninísmus); Komposita mit determinierendem Zweitglied (Jàhrhúndert, Lèipzig-Óst),
Konfixkomposita mit Fremdelementen (Dìskothék); Komposita mit Durchkopplungsbindestrich
(Èbbe-Flút-Wìrkung, Hàls-Nàsen-Óhren-Àrzt); sonstige polymorphemische Komposita (vgl.
Fleischer/Barz 2007: 88).
- In einigen Typen von Determinativkomposita (vgl. Kapitel 2.2.3.1) ist nicht das Erst-, sondern das
Zweitglied determinierend (nach H. Ortner/L. Ortner (1984:19:61f) „Inversionskomposita“
genannt): verschiedene Typen von Eigennamen-Koppelungen; einzelne Entlehnungen (Titel von
Büchern, Sendereihen, Zeitschriften, z.B. TV-Aktuell, NL-Konkret); heimische Einzelfälle wie
Jahrhundert (vgl. Fleischer/Barz 2007: 88).
17
Klasse der Arme‟ oder ‚den Arm dieser Frau‟. In dem Kompositum Armband ist die
individualisierende Komponente eingeschränkt und dominiert die generelle
Klassenbeziehung: ‚Ein Band für die Klasse von Gegenständen Arm‟. Drittens tendieren
Kompositionsglieder zur Reduzierung oder Beseitigung der Polysemie, d.h. „das
Vorhandensein mehrerer Bedeutungen bei einem Wort“. (Duden 2003: 1225).18
Wichtig ist zu
bemerken, dass es sich hier eher um allgemeine semantische Eigenschaften handelt. Je nach
der spezifischen Art bzw. Struktur des Kompositums gibt es noch distinktive semantische
Eigenschaften.
In diesem Kapitel werde ich die Wortbildungsart Komposition und deren Aspekte weiter
darlegen. Wie schon erwähnt werde ich nur auf die nominalen Komposita fokussieren.
2.2.1 Funktion
Bevor ich die Charakteristika von Komposita darlege, werde ich zuerst, nach Fleischer/Barz
(2007: 90-92), einige Fälle erwähnen, in denen man in der Sprache die Komposition
anwendet:
1) Zuerst genügen Komposita den Bedürfnissen nach handlicher Kürzung für den
Alltagsgebrauch, d.h. im Alltagsgebrauch versucht man eine ganze Wortgruppe in
möglichst beschränkten Formen zu äußern, z.B. acht Stunden währender Arbeitstag →
achtstündiger Arbeitstag → Achtstundentag.
2) Komposita werden auch angewendet, indem sie häufig der Suche nach einer
fixierenden sprachlichen Benennung entgegenkommen. Als Beispiel erwähnen
Fleischer/Barz (2007: 90) die Suche von Christa Wolf nach einem passenden Titel für
ihren neuen Roman: Kindheitsmuster (1976) gingen Umschreibungen voran wie
„Verhaltensmuster […], die Kindheit und Jugend bestimmten.“ (1974) und
„Reaktions- und Verhaltensweisen, die, in der Kindheit eingeschleust, die Struktur der
Beziehungen eines Charakters zu seiner Umwelt weiter bestimmen.“ (1974).
3) Komposita können auch der zusammenfassenden Wiederaufnahme des vorangehenden
Satzinhalts in Folgesätzen dienen, z.B. Man konnte die alte Frau nicht befragen,
weil… […] Die alte-Frau-Befragung…
4) Komposita stehen auch im Dienste stilistischer Ausdrucksverbesserung, z.B. durch
Vermeidung einer Genitivdoppelung: Schicht der Intelligenz → Intelligenzschicht.
18
Bedeutungseinschränkungen sind vor allem bei den Determinativkomposita (vgl. Kapitel 2.2.3.1) zu
beobachten.
18
5) Bei der Suche nach neuen Wörtern schafft man häufig Komposita analog zu
lexikalisierten Einzelbildungen, z.B. Hubsteiger (analog zu Hubschrauber): ‚Gerät mit
einer Platform, die über ein Teleskop nach oben ausgefahren wird und Personen
aufnehmen kann.‟ (TZ 1989).
6) Unmittelbare kompositionelle Benennungen können ferner metaphorische
Wortbildungskonstruktionen sein, z.B. Schwarzmalerei, Grippewetter… (vgl. Kapitel
2.2.3.1.1.1.2).
7) Verdeutlichende Komposita (vgl. Kapitel 2.2.3.1.3).
8) Es gibt häufig auch eine semantische Differenzierung zwischen Kompositum und
Wortgruppe, z.B. ein Heuwagen ist nicht immer ein Wagen mit Heu, ein Bierglas nicht
immer ein Glas mit Bier, ein Wildschwein nicht immer ein wildes Schwein… (Im Falle
Kompositum = Adjektiv + Substantiv, vgl. Kapitel 2.2.3.1.1.2).
2.2.2 Die Einheiten der Komposition
Komposita werden aus verschiedenen sprachlichen Einheiten zusammengesetzt. Im vorigen
Kapitel wurden wortfähige UK und/oder Konfixe als Elemente eines potenziellen
Kompositums erwähnt. Es gibt jedoch noch einige andere Einheiten der Wortbildung, die als
kompositionelles Element gelten können. Im Folgenden werde ich die Einheiten der
deutschen Wortbildung, die man in Komposita finden kann, knapp erläutern:
1) Zuerst gibt es Wörter.19
Sie sind üblicherweise die Bausteine der deutschen Wortbildung.
Sie sind abstrakte Einheiten, die in Texten als Wortformen realisiert werden (vgl. Donalies
2005: 19). Eine Wortform ist also das im Satz verwendete Wort mit seiner genauen Form und
seinen grammatischen Merkmalen, z.B. Kasusflexion. So umfasst ein Wort wie Turm - als
abstrakte Einheit – Wortformen wie Turm (Nom, Akk, Dat. Sing.), Türmen (Dat. Pl.), Turms
(Gen. Sing.), usw. (vgl. Duden 2006: 129).20
Wörter kann man in verschiedenen Wortarten
aufteilen. Die Wortarten, die an der Kompositionsbildung am häufigsten beteiligt sind, sind
das Substantiv (Nomen), das Adjektiv und in geringerem Maße das Verb:
- Substantive oder Nomen bilden eine Wortart, die grammatisch von folgenden
Eigenschaften gekennzeichnet ist: Zuerst haben Nomen ein festes Genus (grammatisches
19
Aus diesen Einheiten sind die wortfähigen UK aufgebaut. 20
Man könnte die Wortform Turm auch als allgemeine Wortform für die Wortformen Turm (Nom. Sing), Turm
(Akk. Sing.), Turm (Dat. Sing.) sehen.
19
Geschlecht). Sie sind entweder ein Maskulinum (der Tisch), ein Femininum (die Zahl) oder
ein Neutrum (das Bein). Zweitens sind sie nach dem Numerus - der grammatischen Zahl -
bestimmt. Sie stehen entweder im Singular (das Blatt) oder im Plural (die Blätter). Drittens
sind sie nach dem Kasus - dem Fall - bestimmt. Ihre Flexionsformen stehen je nachdem im
Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ. Semantisch haben Nomen u.a. folgende
Eigenschaften: Sie beziehen sich entweder auf einen Gegenstand oder einen Nicht-
Gegenstand (Konkreta vs. Abstrakta), sie sind belebt oder nicht-belebt und klassenbildend
oder nicht-klassenbildend (Appellative vs. Eigennamen) (vgl. Duden 2006: 146-147). 21
- Adjektive sind Wörter mit folgenden grammatischen Eigenschaften: Zuerst können sie
nach dem Kasus, Numerus und Genus flektiert werden. Anders als die Substantive haben sie
kein festes Genus; sie kommen in allen drei Genera vor, z.B. ein roter Fisch (Maskulinum),
eine rote Tomate (Femininum), ein rotes Auto (Neutrum). Zweitens verfügt jedes Adjektiv in
seiner Flexion über zwei Typen von Endungen, nämlich starke und schwache, z.B. ein
reizendes Mädel (stark) und das reizende Mädel (schwach). Drittens können zu den meisten
Adjektiven Komparationsformen gebildet werden, z.B. schön (Positiv), schöner
(Komparativ), am schönsten (Superlativ). Auch Partizipien können häufig als Adjektive
angewendet werden; in diesem Falle spricht man von adjektivisch gebrauchten Partizipien.
Syntaktisch können Adjektive nur zwischen einem eventuellen Artikel und einem Substantiv
stehen. Semantisch leisten Adjektive Unterschiedliches.: So können sie einer Person oder
Sache eine Eigenschaft zuordnen (= qualifizierende Adjektive), eine Beziehung oder
Zugehörigkeit ausdrücken (= relationale Adjektive) oder eine Zahl ausdrücken (=
quantifizierende Adjektive) (vgl. Duden 2006: 347-348). 22
- Verben sind auch als Tätigkeitswort und Zeitwort bekannt. Sie werden konjugiert, d.h. sie
flektieren im Hinblick auf die Kategorienklassen Tempus, Modus, Numerus und Person. Die
Tempus-Modus-Flexion, die das beschriebene Geschehen u.a. zeitlich einordnet,
unterscheidet diese Wortart von allen anderen, z.B. er antwortet (Präsens, Gegenwartsbezug),
er antwortete (Präteritum, Vergangenheitsbezug). Typische Vertreter der Wortart Verb sind
die Vollverben oder Hauptverben. Sie sind von folgenden Merkmalen gekennzeichnet:
Vollverben bezeichnen Typen von Handlungen oder Geschehen im weitesten Sinne, meistens
dynamische Aktivitäten oder Prozesse, z.B. sagen, töten, schwimmen, usw. In finiter Form
kann ein Vollverb als einfaches Prädikat im Satz dienen, z.B. Ich antwortete nicht. Du sagst
21
Für eine allumfassende Darlegung bezüglich der Wortart der Substantive verweise ich auf Duden (2006: 146-
254). 22
Für eine allumfassende Darlegung bezüglich der Wortart der Adjektive verweise ich auf Duden (2006: 345-
394).
20
die Wahrheit. Vollverben haben auch eine syntaktisch-semantische Valenz. Diese Valenz legt
fest, welche Ergänzungen das Verb als Prädikat im Aktivsatz fordert und welche
semantischen Rollen diese Ergänzungen jeweils tragen (vgl. Duden 2006: 395). 23
2) Zweitens gibt es die Konfixe, z.B. ident-, geo-, bio-, -thek usw. 24
Ein Konfix wird in
Duden (2006: 1265) als „Wortbildungselement, das nicht wortfähig und doch kein Affix ist“
umschrieben. Konfixe sind Einheiten, die im Text nur gebunden vorkommen. Im Gegensatz
zu Wörtern sind sie weder selbst frei, noch können sie unmittelbar mit Flexionsaffixen
syntaktisch nutzbar gemacht werden, z.B. *Meine thek ist geputzt. *Theken sind geputzt. Sie
unterscheiden sich aber von den Wortbildungsaffixen, indem sie basisfähig sind: Sie können
mit Wortbildungsaffixen wie –isch Derivate bilden, z.B. ident-isch. Konfixe sind meist
unmittelbar Basis von Wortbildungsprodukten, aber zuweilen auch mittelbar: Unmittelbare
Basen (z.B. Ident-) werden logischerweise unmittelbar mit Wortbildungsaffixen (z.B. –isch, -
ität) abgeleitet, z.B. identisch, Identität. Mittelbare Basen dagegen sind nicht direkt ableitbare
Konfixe (z.B. geo- und –log), die über Zusammenfügung zwei dergleichen Konfixe gebildet
werden und dann mit üblichen Wortbildungsaffixen abgeleitet wird, z.B.: geologe, geologie,
geologisch → Konfix geo- + Konfix -log + Wortbildungsaffix -e,-ie,-isch.
3) Drittens können auch Sätze und Phrasen als Kompositionseinheit betrachtet werden. Laut
Hentschel/Weydt (2003: 332) ist es schwierig, den Begriff Satz zu definieren: In der
Vergangenheit herrschte schon viele Uneinigkeit über die Fragen, wie man Kriterien angeben
kann, mit denen sich in beliebigen Texten entscheiden lässt, wo ein Satz beginnt und wo er
endet, was ein Satz ist und was nicht, usw. Neben den Normalfällen gibt es Grenzfälle, bei
denen nicht alle Merkmale des Satzes vorhanden sein.25
Eine ausreichende Umschreibung des
Begriffes Satz findet man aber in der Ids-Grammatik von Zifonun et al (1997: 86f) zurück.
Hier macht man aufmerksam auf die strikte Forderung nach Finitheit bei Sätzen. Die
Grammatik schlägt als allgemeine Definition vor: „Sätze enthalten ein finites Verb“.
Deswegen verstehe ich nach Zifonun et al mit Donalies (2005: 40) und Duden (2006: 773)
23
Für eine allumfassende Darlegung bezüglich der Wortart der Verben verweise ich auf Duden (2006: 395-572). 24
Zu lat. configere „aneinander heften‟ (Donalies 2005: 21) 25
Für die verschiedenen Merkmale des Satzes verweise ich auf Hentschel/Weydt (2003: 332-410).
21
unter einem Satz eine Einheit bzw. eine syntaktische Wortgruppe, die aus einem finiten Verb
und allen vom Verb verlangten Satzgliedern besteht.26
Unter einer Phrase dagegen verstehe ich mit Zifonun et al (1997) und Donalies (2003: 40)
eine Wortgruppe, die aus funktional zusammengehörenden, aufeinander folgenden,
zusammen verschiebbaren und kein finites Verb enthaltenden Elementen besteht.
Hentschel/Weydt (2003: 336) bestimmen sie als ein Syntagma: ein strukturell
zusammenhängendes Gebilde, das aus einem oder mehreren Wörtern bestehen kann. Nach
ihrem Kern oder „Kopf“ - dem Teil, der für die Natur der Phrase ausschlaggebend ist -
unterscheidet man Nominalphrasen (NP, z.B. schöne Mädel), Verbalphrasen (VP, z.B. ist
gefunden worden), Präpositionalphrasen (PP, z.B. in der Vergangenheit),
Determinativphrasen (DP, z.B. die Waschmaschine), Adjektivphrasen (AV, z.B. wirklich
angenehm) und Adverbialphrasen (ADVP, z.B. sehr gern).
Die Tatsache, dass Sätze und Phrasen aus mindestens zwei Wörtern bestehen, macht sie zu
ungewöhnlichen Einheiten der Wortbildung. Dennoch betrachtet man sie als Einheiten, weil
sie in der Wortbildung offenbar als in sich stabile Einheiten wahrgenommen und verwendet
werden.
4) Eine vierte Einheit, die nur sehr selten in Wortbildungskonstruktionen vorkommt, ist die
unikale Einheit bzw. das unikale Morphem. Donalies (2005: 41-42) betrachtet diese Einheit
sowohl aus einem diachronen als auch einem synchronen Standpunkt. Diachron kann man sie
als Relikte ehemals selbstständiger Wörter (z.B. lind ‚Schlange‟), die aus dem
Sprachgebrauch verschwunden sind, betrachten (vgl. Duden 2006: 659). Heute sind sie als
selbstständige Einheiten veraltet, kommen aber noch in Wortbildungen vor: Sie treten,
gebunden an eine bestimmte andere Einheit, in Komposita oder expliziten Derivaten auf.27
So
kommt Lind- heute in der Kombination Lindwurm vor. Weitere Beispiele von Komposita mit
einer unikalen Einheit sind: Him-beere, Schorn-stein, Sint-flut, Bräut-i-gam, usw. Beispiele
von expliziten Derivaten mit einer unikalen Einheit sind: plötz-lich, led-ig, fäh-ig, usw.
Synchron sind unikale Einheiten lexikalisch völlig unverständliche Einheiten, die nicht mehr
zur Bildung von Wörtern herangezogen werden (vgl. Donalies 2005: 42). In
Wortneubildungskonstruktionen oder Neologismen wird man also keine unikalen Einheiten
26
Hentschel/Weydt (2003: 333) sagen, dass alle anderen Konstruktionen, die zwar syntaktisch abgeschlossene,
selbstständige Äußerungen darstellen und mit denen auch Sprechhandlungen vollzogen werden können, aber
kein finites Verb enthalten, demgegenüber kommunikative Minimaleinheiten sind. 27
Daneben kommen unikale Einheiten auch in Phraseologismen vor, z.B. gang und gäbe (vgl. Duden 2006:
659).
22
als Konstituenten finden. Aus diesem Grund zählt Duden (2006: 659) unikale Einheiten nicht
zu den Wortbildungsmitteln. Sie sind „Gegenstand der historischen Wortbildungslehre“
(Duden 2006: 659). In dem weiteren Verlauf meiner Darlegung bezüglich des Begriffs
Komposition werde ich sie dann auch nicht berücksichtigen.
5) Auch nicht zu den Wortbildungsmitteln zählen die Fugenelemente. „Es sind semantisch
leere Segmente ohne Flexionsfunktion, die an der Nahtstelle zwischen den unmittelbaren
Konstituenten von Komposita und Suffixderivaten, der sog. Fuge auftreten können […]“
(Duden 2006: 658) Häufig ist die Fuge leer (z.B. Haus-[Ø]-tür) , zuweilen durch ein
Fugenelement ausgefüllt (z.B. Arbeiter-s-klasse). Zu den verschiedenen Fugenelementen bei
Komposita verweise ich auf Fleischer/Barz (2007: 136-143).
2.2.3 Kompositionsarten
Die Wortbildungsart Komposition kann man in verschiedenen Kompositionsarten
untergliedern. Die Hauptgliederung wird zwischen den Determinativ- und den
Kopulativkomposita genommen. Daneben betrachte ich – wie schon eher erwähnt - nach
Donalies (2005) die Reduplikation und die Kontamination als weitere Kompositionsarten. Im
Folgenden werde ich die vier Kompositionsarten möglichst akkurat erläutern.
2.2.3.1 Das Determinativkompositum
Das Determinativkompositum wird als der Normalfall der Komposita betrachtet. Als Typ
kommen die Determinativkomposita am meisten - sowohl als lexikalisierte als auch
okkasionelle Komposita - in der deutschen Sprache vor.28
Duden Grammatik (2006: 672)
nennt sie „die prototypische Komposition im Deutschen“. Determinativkomposita sind ohne
Ausnahmen binär strukturiert, d.h. sie können jeweils in zwei Einheiten - unmittelbare
Konstituenten (UK) – unterteilt werden, z.B. Haus-tür, Pfeffer-kuchen. Neben Komposita, die
im Grunde nur aus zwei Einheiten gebildet sind, gibt es auch bei polymorphemischen
28
Lexikalisierte Komposita sind Komposita, die schon ein fester inhaltlich-begrifflicher Bestandteil der Sprache
sind (vgl. Duden Wörterbuch 2003: 1016). Okkasionelle Komposita bzw. Okkasionalismen sind Wörter, die in
einer bestimmten Situation gebildet werden und folglich noch nicht lexikalisiert sind (vgl. Duden Wörterbuch
2003: 1160). Okkasionalismen werden in Kapitel 3.2 ausführlich besprochen.
23
Komposita Binarität.29
Die binär verzeigte Struktur von Determinativkomposita wird meist
hierarchisch in einem Baumdiagramm dargestellt.30
Je nach der Position bzw. der Richtung
der Verzweigung unterscheide ich hier mit Donalies (2005: 53-54) drei Typen:
1) Linksverzweigte Komposita (das erste UK ist das komplexere), z.B. Tüllgardinenstange:
Tüllgardinenstange
Tüllgardinen Stange
Tüll Gardinen
2) Rechtsverzweigte Komposita (das zweite UK ist das komplexere), z.B.
Holzgardinenstange:
Holzgardinenstange
Holz Gardinenstange
Gardinen Stange
3) Beidseitig verzweigte Komposita (beide UK sind komplex), z.B.
Edelmarzipankonditortorte:
Edelmarzipankonditortorte
Edelmarzipan Konditortorte
edel Marzipan Konditor Torte
Zuweilen kann ein Kompositum auf zweierlei Weise segmentiert werden, dann findet
sozusagen ‚Doppelmotivation‟ statt. Dies ist vor allem der Fall bei okkasionellen mehrfach
interpretierbaren Komposita, wie z.B. Firmenkundenservice: Firmen-Kundenservice
gegenüber Firmenkunden-Service.31
(Vgl. Duden Grammatik 2006: 269)
29
Polymorphemische Komposita bezeichnen Komposita mit vier und mehr Grundmorphemen, d.h. Morphemen,
die wortfähig sind (vgl. Fleischer/Barz 2007: 97). 30
Das Aufstellen eines Baumdiagramms ist vor allem bei den polymorphemischen Determinativkomposita
relevant, da die UK der ersten Ebene oft aus Komposita gebildet sind, die noch auf einer zweiten Ebene
segmentiert werden können. 31
Zu den Interpretationen von Komposita verweise ich auf Kapitel 2.2.3.1.1.
24
Was die Determinativkomposita grundsätzlich von den anderen Typen unterschiedet, ist die
Tatsache, dass sie hypotaktisch organisiert sind, d.h. die zwei Einheiten bzw. unmittelbaren
Konstituenten stehen in einer subordinierten Beziehung miteinander. Die zweite Einheit legt
in der Regel die grammatischen Merkmale des Kompositums fest, d.h. die Wortart und die
damit verbundenen Kategorien, wie z.B. Genus (vgl. Erben 2006: 67-68). Die Regel, dass die
zweite bzw. rechte Einheit ausschlaggebend für die morphologischen Eigenschaften eines
Kompositums ist, wird nach amerikanischem Vorbild die ‚Righthand Head Rule‟ genannt
(vgl. Donalies 2005: 55-56). Daneben wird auch die begriffliche Grundklasse, in die ein
Bezeichnetes eingeordnet wird, von der zweiten Einheit bestimmt. Das Zweitglied bezeichnet
also den Gegenstand und ist folglich das Hyperonym - der Oberbegriff - des Kompositums:
„Es gilt: AB ist B“ (Donalies 2005: 57). So gehört ein Hutschachtel der Grundklasse der
Schachtel an. Das Erstglied dagegen gibt intensivierende oder spezifizierende
Zusatzmerkmale. Es determiniert gleichsam das Zweitglied. Dadurch wird die Bedeutung des
Zweitgliedes bzw. die begriffliche Grundklasse näher bestimmt, eingeschränkt. Das Erstglied
ist folglich das Hyponym - der Unterbegriff - des Kompositums. So ist ein Hutschachtel ein
Schachtel, der im Prinzip nur für Hüte bestimmt ist. Nach den Merkmalen wird das Erstglied
das Bestimmungswort oder Determinans genannt und das Zweitglied das Grundwort oder
Determinatum. Dies alles hat zur Folge, dass die Reihenfolge bei den Determinativkomposita
fest ist (vgl. Duden 2006: 672). Erben (2006: 68) argumentiert, dass bei Kompositionsgliedern
aus verschiedenen Wortarten - z.B. Substantiv und Adjektiv - der hypotaktische Aufbau
offensichtlich ist: Soll die Komposition ein Substantiv sein, dann setzt man das
substantivische Glied an die letzte Stelle. Gehören beide Glieder derselben Wortart – z.B.
Substantiv und Substantiv - an, dann soll man Umstellproben machen, um die Richtigkeit des
Kompositums bzw. die Bedeutung des Begriffs zu kontrollieren: Referiert man z.B. nach
einem Gold-Blatt oder Blatt-Gold?
2.2.3.1.1 Die nominalen Determinativkomposita nach Erstglied
Im Vorigen wurde besprochen, dass für die Determinativkomposita das Zweitglied die
Wortart des Kompositums bestimmt. Deshalb sollen in der Regel nominale
Determinativkomposita mit einem substantivischen Grundwort gebildet werden. Im folgenden
werde ich die nominalen Determinativkomposita gemäß ihren möglichen Erstgliedern
erläutern. Wichtig ist zu bemerken, dass ich mich nur auf die vorher besprochenen Einheiten
der Komposition beschränken werde.
25
2.2.3.1.1.1 Das Nomen-Nomen-Kompositum
Der Kompositionstyp Substantiv + Substantiv wird als leicht handhabbare Wortbildungsart
gebildet und kommt sowohl in lexikalischen als auch okkasionellen Bildungen häufig vor.
Donalies (2005: 61) bemerkt, dass das Nomen-Nomen-Kompositum morphologisch und
semantisch das variationsreichste Wortbildungsprodukt ist. Es kann deutlich länger sein als
alle anderen Wortbildungsprodukte und folglich auf knappstem Raum sehr viele
Informationen transportieren. Ein Beispiel, das Donalies hier nach Augst (2001: 210) nennt,
ist Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz. Es spricht für sich,
dass derartige Fälle sehr selten und nur okkasionell auftreten.
2.2.3.1.1.1.1 Zur Struktur
Als Ersteinheit eines Nomen-Nomen-Kompositums können alle möglichen Nomina
berücksichtigt werden. Auch das Zweitglied kann als Nomen stark variieren. Sowohl als Erst-
als auch als Zweitglied können Grundmorpheme wie auch Wortbildungskonstruktionen
verwendet werden (vgl. Fleischer/Barz 2007: 95). In diesem Rahmen haben Fleischer/Barz
(2007: 95-97) einige Formativstrukturen des Nomen-Nomen-Determinativkompositums
aufgestellt:
1) Die beiden UK sind Simplizia, z.B. Stadt-führer.32
2) Die erste oder zweite UK ist ein Kompositum, z.B. Großstadt-führer, Stadt-autobahn.
3) Die erste oder zweite UK ist ein Suffixderivat, die jeweils andere ein Simplex oder
Kompositum, z.B. Arbeiter-vorstadt, Fremdsprachen-Lehrer.
4) Beide UK sind Suffixderivate, z.B. Bildungs-möglichkeit.
5) Die erste UK hat ein Diminutivsuffix, z.B. Mädchen-Schule.33
6) Die erste UK hat ein Movierungssuffix –in, fast stets mit Fugenelement -en- (~ -
innen), z.B. Arbeiterinnen-Konferenz.34
7) Die erste oder zweite UK ist ein Präfixwort, z.B. Urwalt-Grenze, Reise-unkosten.
32
Simplex (Pl: Simplizia): “nicht zusammengesetztes [u. nicht abgeleitetes] Wort“ (Duden Wörterbuch 2003:
1455). 33
Diminutiv: “[E]ine Verkleinerung eines Substantivs ausdrückende Ableitung; Verkleinerungsform“ (Duden
Wörterbuch 2003: 380). 34
Movierung ~ Motion: “Bildung einer weiblichen Personen-, Berufs- od. Tierbezeichnung mit einem Suffix
von einer männlichen Form“ (Duden Wörterbuch 2003: 1102).
26
8) Die erste UK ist ein Infinitiv, der substantivisch aufzufassen ist, z.B. Könnens-
entwicklung.35
Bisweilen können hier Konkurrenzen auftreten, z.B. Essenszeit –
Eßzeit, Redensart – Redeweise.
9) Die erste UK ist ein Substantiv- oder Verbstamm, der substantiviert ist, z.B. Schuß-
feld – Schieß-feld.36
10) Die zweite UK ist ein substantivierter Infinitiv, z.B. das Herstabfischen (TZ 1974) –
‚Abfischen im Herbst‟.37
11) Die zweite UK ist ein substantiviertes Adjektiv, z.B. Betriebsangehöriger.38
12) Die erste, zweite oder beide UK sind Fremdelemente, z.B. Virus-infektion,
Aggresions-phänomen., Haar-spray.39
13) Die erste UK ist ein Eigenname, z.B. Bach-Konzert.40
2.2.3.1.1.1.2 Zur Semantik
Trotz der verschiedenen Formativstrukturen wird das besondere Verhältnis zwischen
Bestimmungswort und Grundwort formal nicht gekennzeichnet; so kann man die Bedeutung
des Kompositums nicht unmittelbar von der Struktur des Kompositums ableiten. Donalies
(2005: 62) bemerkt, dass vor allem die nominalen Komposita relativ frei auslegbar sind.
Meistens können Komposita über verschiedene Arten und Weisen syntaktisch paraphrasiert
werden.41
Aus diesem Grund nennt Erben (2006: 73) das Nomen-Nomen-Kompositum eine
„ökonomische Ausdrucksform, die anstelle sehr komplexer syntaktischer Verbindungen und
zur Wiedergabe sehr verschiedenartiger logischer Beziehungen genutzt werden kann.“ Zum
Beispiel gibt Donalies nach Heringer (1984a: 2) folgende Deutungen für das Kompositum
Fischfrau an:
‚Frau, die Fisch verkauft‟
‚Frau eines Fisches‟
‚Frau, die Fisch isst‟
35
Die Infinitiv-Formen lassen sich teilweise aber auch verbal paraphrasieren, z.B. Überlebens-Methode =
‚Methode des Überlebens (S + S) oder Methode, zu überleben (V + S) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 96). 36
Auch hier lässt sich der Verbstamm in einigen Fällen verbal paraphrasieren. 37
Wichtig ist es zu bemerken, dass nicht alle Konstruktionen mit substantiviertem Infinitiv als Zweitglied
Komposita sind. Sie können auch Konversion einer verbalen Wortgruppe sein, z.B. das Kopfzerbrechen aus dem
verbalen Phraseologismus sich den Kopf zerbrechen (vgl. Fleischer/Barz 2007: 96). 38
Auch in diesem Falle kann es mit Konversionen zu tun haben. So ist Erwerbsunfähiger als substantivische
Konversion des adjektivischen Kompositums erwerbsunfähig zu betrachten (vgl. Fleischer/Barz 2007: 96). 39
Fremdelemente sind Elemente , die aus einer anderen Sprache entlehnt sind. 40
Hierzu verweise ich auf Kapitel 2.2.3.3. 41
Hierzu verweise ich auf die Doppelmotivation bei den Baumstrukturen in Kapitel 2.2.3.1.
27
‚Frau, die kühl wie ein Fisch ist‟
‚Frau, die den Fisch gebracht hat‟
‚Frau, die bei dem Fisch steht‟ usw.
Es gibt jedoch keine unbeschränkte Paraphrasierungs- bzw. Interpretationsmöglichkeit. Die
Interpretation ist meist vom direkten Kontext bestimmt, so ist im Satz Am Samstag steht die
Fischfrau auf dem Markt die Interpretation ‚Frau, die Fisch verkauft‟ die plausibelste.
Darüber hinaus ist auch das Weltwissen des Hörer-Lesers für die Interpretation entscheidend.
So ist ein Hundekuchen kein Kuchen aus oder mit Hunden, sondern ein Kuchen für Hunde. In
unserer Kultur werden nämlich keine Kuchen aus Hunden im Laden angeboten. Hieran
anschließend kann man auch sagen, dass lexikalisierte Zusammensetzungen, deren Wortinhalt
und Sachbezug eindeutig festgelegt sind, vom Hörer-Leser gekannt sein müssen, damit er die
richtige Interpretation bilden kann (vgl. Donalies 2005: 63). Wenn die Bedeutung nicht aus
dem Kontext oder der Sitatuation abzuleiten ist, soll man okkasionelle Komposita analog zu
schon eingebürgerten Komposita interpretieren. So ist die Neubildung Sex-Welle vor dem
Hintergrund von Begeisterungs- und Protestwelle verständlich (vgl. Erben 2006: 70).
Eine Ausnahme von der relativen Interpretationsfreiheit bilden die sogenannten
Rektionskomposita. „Rektionskomposita sind Determinativkomposita mit einer bestimmten
semantischen Relation zwischen Zweit- und Ersteinheit, nämlich einer rektionalen Lesart.“42
(Donalies 2005: 64). Sie haben ein deverbales Grundwort, das vom Verb eine semantische
Leerstelle geerbt hat, z.B. etw. durchsuchen → Durchsuchung von etw. Die Leerstelle wird im
Kompositum vom Erstglied besetzt, z.B. Hausdurchsuchung. Die Paraphrasierung bzw.
Bedeutung wird so vom im Zweitglied ‚deverbalisierten Verb‟ bestimmt: Hausdurchsuchung
= die Durchsuchung eines Hauses. Weitere Beispiele von Rektionskomposita sind
Frauenkenner, Romanleser, Wetterbeobachter (vgl. Duden Grammatik 2006: 728).
Sobald man im Chaos der Interpretationen die richtige Bedeutung des Kompositums gefunden
hat, kann man sie semantisch betrachten. Nach Fleischer/Barz (2007: 98-103) unterscheide
ich drei semantische Modelle:
1) Zuerst kann man die Bedeutung von Wortbildungsmodellen substantivischer
Determinativkomposita, die besonders produktiv sind, ableiten. A = Erst-, B = Zweitglied.
42
“Unter Rektion […] versteht man in der Syntax die grammatische Abhängigkeit eines Wortes von einem
anderen“ (Donalies 2005: 64).
28
1. „Lokal‟
a) „B befindet sich in A‟, z.B. Bankguthaben
b) ‚B vollzieht sich in A‟, z.B. Büroarbeit
c) ‚ B stammt von A‟, z.B. Land-, Seewind
d) ‚B führt zu A‟, z.B. Kellertreppe
2. ‚Temporal‟, ‚A nennt Zeitpunkt/ -raum von B‟, z.B. Morgenfrühstück, Tagesfahrt
3. ‚Final‟, ‚B ist für A geeignet/ bestimmt‟
a)A = Ort, z.B. Strandanzug
b) A= Gegenstand/Material, z.B. Fensterglas
c) A = Lebewesen, z.B. Damenkleid
4. ‚Kausal‟, ‚A ist Ursache von B‟, z.B. Schmerzensschrei
5. ‚Komparativ‟
a) ‚A gleicht B‟, z.B. Beifallssturm
b) ‚B gleicht A‟, z.B. Goldorange
6. ‚Possessiv‟, ‚A besitzt B‟, z.B. Gemeindewald
7. ‚Ornativ‟ , ,B ist versehen mit A‟, z.B. Deckelvase
8. ‚ Partitiv‟, ,B ist (obligatorisch) Teil von A‟, z.B. Buchrücken
9. ‚Instrumental‟, ,A ist Mittel für B‟, z.B. Wasserkühlung
10. ‚Material‟, ,B besteht aus A‟, z.B. Lederschuh
11. ‚Konstitutional‟, ‚B wird von/aus A gebildet‟, z.B. Blumenstrauß
12. ‚Adhäsiv‟, ,B gehört zu A‟, z.B. Vereinsmitglied
13. ‚Agens‟
a) ‚A erzeugt B‟, z.B. Bienenhonig
b) ‚B erzeugt A‟, z.B. Stückeschreiber
c) ‚B tut etwas mit A‟, z.B. Obstverkäufer
14. ‚Patiens‟, ,mit A wird etwas getan‟, z.B. Kohleabbau
15. ‚Prozessual‟, ,mit A vollzieht sich etwas‟, z.B. Druckabfall
16. ‚Thematisch‟, ,A ist Thema von B‟, z.B. Bedeutungslehre
17. ‚Graduativ‟
a) ‚A vergrößert bzw. verkleinert B‟, z.B. Riesenskandal, Zwerghuhn
b) ‚A indiziert Nichtvollständigkeit‟, z.B. Teilbetrag
2) Zweitens können Komposita auch metaphorisch betrachtet werden, d.h. der eigentümliche
Bedeutungszusammenhang des Kompositums wird in einen anderen übertragen, ohne dass ein
29
direkter Vergleich die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem verdeutlicht;
bildliche Übertragung (vgl. Duden 2003: 1074). Die Kompositionsmetaphern kann man nach
Fleischer/Barz (2007: 99-100) in fünf Klassen untergliedern:
1. Komposita, die als Ganzes metaphorisiert sind und in dieser Hinsicht
metaphorischen Simplizia gleichgestellt, z.B. Augenblick ‚Moment‟.43
2. In einigen Komposita ist das Erstglied der Bildempfänger und das Zweitglied der
Bildspender.44
Folglich kann das Erstglied ohne metaphorisch-expressive
Charakteristik für das Ganze stehen. Z.B. Beifallssturm und Kostenlawine.45
. 3. In einigen Komposita ist umgekehrt das Erstglied der Bildspender und das
Zweitglied der Bildempfänger. Hier bezeichnet der Zweitglied also den Gegenstand
und bestimmt der Erstglied den Zweitglied metaphorisch-expressiv näher, z.B.
Sackgasse, Schmutzliteratur.
4. Es gibt Komposita, die wie Typ 2. - Zweitglied als Bildspender - aufgebaut sind, bei
denen aber das Erstglied nicht ohne weiteres mit dem Bildempfänger gleichzusetzen
ist, z.B. Ölpest ist nicht in dem Sinne ‚Öl‟ wie Beifallssturm ‚Beifall‟ ist. Es handelt
sich um eine durch Öl verursachte Pest (~ Verschmutzung von Stränden,
Küstengewässern, usw.
5. Als Kompositionsmetaphern betrachtet man auch expressive Personenbenennungen
mit metaphorischen Tier- oder Gegenstandbenennungen, z.B. Bücherwurm, Filmhase,
Pechvogel.
3) Als letzte Gruppe erwähnen Fleischer/Barz (2007:100-102) Komposita, die Augmentation
und Hervorhebung aufweisen. Bei Augmentativa ist das Modell mit Riese(n)- ‚sehr groß‟
hochproduktiv, z.B. Riesenmaschine, Riesenschuld, Riesenskandal. Antonymisch zu Riesen-
bezeichnet Zwerg(en)- die Kleinheit, z.B. Zwergenkaufkraft. Andere Erstglieder, die für
Augmentation verfügbar sind, sind u.a. Bombe(n)-, Hölle(n)-, Sau-. Solche Komposita sind
jedoch meist umgangssprachlich zu betrachten.
43
Die Eigenschaft dieses Typs wird nach H.Ortner/L. Ortner (1984: 63ff.) „komparativ-exozentrisch“ genannt,
da die ganze Bedeutung nicht innerhalb des Kompositums bzw. in einer der Konstituenten zu finden ist. 44
Der Bildspender ist die UK, die im Grunde den Gegenstand verbildlicht bzw. metaphorisch-expressiv näher
bestimmt. Der Bildempfänger dagegen ist die UK, worauf die verbildlichte Näherbestimmung sich bezieht, der
Gegenstand. 45
Die Eigenschaft dieses Typs wird nach H.Ortner/L. Ortner (1984: 58) „komparativ-endozentrisch“ genannt, da
die ganze Bedeutung innerhalb des Kompositums zu finden ist.
30
Komposita, die Hervorhebung berücksichtigen, sind Komposita, deren Erstglied Verstärkung
und - emotionale - Wertung aufrufen. Beispiele solcher Erstglieder sind Haupt-/Grund-, Kern-
und Spitzen-.46
Eichinger (2000: 73) umschreibt derartige Erstglieder als so genannte Affixoide oder
Halbaffixe. Sie sind Elemente, die zwischen vollständige Kompositionsglieder und Affixen
scheinen zu stehen. Als Erscheinung scheinen sie der Adjektiven anzuhören, wie Konfixe
kommen sie jedoch nur gebunden vor.
2.2.3.1.1.1.3 Die Klammerform
Bei den nominalen Determinativkomposita gibt es Fälle, bei denen die mittlere Einheit
weggekürzt worden ist. Dieses Phänomen findet bei solchen Komposita – wie z.B. Bierdeckel
- statt, deren erste UK (Bier) ursprünglich zweiteilig gewesen sein soll (Bierglas). Der zweite
Teil der ersten UK – Glas - ist hier aus so genannten ökonomischen Gründen weggefallen.
Andere Beispiele sind Kokos(nuss)butter, Betriebs(wirtschafts)lehre, Tank(stellen)wart. In
Bußmann (1990: 381) liest man, dass bei Klammerformen „ein mittleres Glied ausgespart ist,
so dass die beiden äußeren Glieder eine Klammer bilden“. Wichtig ist es zu bemerken, dass
die Klammerbildung gar keinen Einfluss auf die herkömmliche Bedeutung des Kompositums
hat. Außerdem kann man eine Klammerform an sich nicht logisch paraphrasieren, z.B.
Bierdeckel ‚* Ein Deckel für Bier‟. Man soll hier immer das herkömmliche Kompositum bzw.
den weggefallenen Teil des Erstgliedes (Glas) berücksichtigen, um die Klammerform richtig
zu interpretieren: Bierdeckel ‚ein Deckel für ein Bierglas‟ (vgl. Donalies 2005: 65).
2.2.3.1.1.2 Das Adjektiv-Nomen-Kompositum
Nominale Komposita des Typs Adjektiv + Substantiv sind morphologisch und semantisch
deutlich stärker beschränkt als die Nomen-Nomen-Komposita. Donalies (2005: 67) bemerkt,
dass sie aus ungeklärten Gründen nicht häufig genutzt werden. Obwohl die Struktur der
Komposita richtig gebildet ist, erfährt man sie als unüblich.
2.2.3.1.1.2.1 Zur Struktur
46
Haupt- tendiert zum Gebrauch mit Personen- und Sachbenennungen, Grund- dagegen wird bevorzugt mit
Abstrakta kombiniert, z.B. Hauptfrage, Grundgedanke (vgl. Fleischer/Barz 2007: 101).
31
Der Aufbau der Adjektiv-Nomen-Komposita teile ich nach Fleischer/Barz (2007: 103-106) in
acht Formativstrukturen ein:
1) Das Erstglied ist ein adjektivisches Simplex, z.B. Kleinreparatur, Hochbahn.
2) Das Erstglied ist ein zweisilbiges adjektivisches Simplex mit unbetonter Endsilbe (-el,
-en, -er), z.B. die zahlreichen Komposita mit Doppel-, Dunkel-, Einzel-, usw.47
3) Adjektive mit heimischem Derivationssuffix (-bar, -ig, -lich, -isch, usw) als Erstglied
kommen in Komposita fast nie vor. Meistens wird die substantivische Basis dieser
adjektivischen Derivate verwendet, z.B. menschliches Herz = Menschenherz
(*Menschlichherz), pflanzliche Kost = Pflanzenkosten (*Pflanzlichkost). Eine
Ausnahme bilden allerdings die Derivate von Volks- bzw. Ländernamen
(Englischhorn, Spanischlehrer), Farbbezeichnungen (ein schönes Rötlichblond) und
Fachausdrücke (Flüssiggas, Niedriglohnländer).48
Geläufig dagegen sind
adjektivische Derivate mit Fremdsuffixen wie -al (Kolossalgemälde), -ar/-är
(Elementarunterricht, Sekundärliteratur) und -iv (Intensivkurs) als Erstglied.49
4) Nicht als Erstglied anwendbar sind Adjektive mit den Präfixen erz-, miss-, un-, ur-.50
5) In einigen Fällen muss das Adjektiv umgebildet werden, um als Erstglied
funktionieren zu können, z.B. doppelt → Doppel-, einzeln → Einzel-.
6) Verbindungen mit zwei oder drei Adjektiven als Erstglied sind äußerst selten, z.B.
Schwarzweißmalerei. Auch Komposita mit zwei Adjektiven, deren zweites Bestandteil
des substantivischen Zweitglieds ist, kommen eher selten vor, z.B. Hartschwarzbrot
(hartes Schwarzbrot).
7) Das Erstglied ist eine als Adjektiv zu betrachtende Partizipialform, häufig das Partizip
II, z.B. Gebrauchtwaren, Gemischtwaren.
8) Das Erstglied ist eine Superlativform, die meist nicht durch den Positiv ersetzbar ist,
z.B. Höchstpreis (*Hochpreis). Häufig verwendet sind Best- (Bestseller, Beststudent)
und Mindest- (Mindestgeschwindigkeit). Bei den Komparativformen, die als
Erstglieder dienen, ist vor allem Mehr- sehr aktiv, z.B. Mehrarbeit, Mehrzahl.
47
Dies ist eher ungewöhnlich, denn normalerweise liegt der Hauptakzent der Komposita auf der ersten UK (vgl.
Kapitel 2.2.3.1). 48
Bei den Komposita mit Derivaten von Ländernamen ist die erste UK meist als substantiviertes Adjektiv
aufzufassen (vgl. Fleischer/Barz 2007: 105). 49
Adjektive auf -abel/-ibel, -ant/-ent, -esk, -os/-ös sind dagegen nicht als Erstglied anwendbar (vgl.
Fleischer/Barz 2007: 105). 50
Wichtig zu bemerken ist, dass ein Kompositum wie Ungleichgewicht eine Präfigierung des komplexen
Substantivs Gleichgewicht ist. Folglich ist un- hier kein Präfix des Adjektives gleich (vgl. Fleischer/Barz 2007:
105).
32
Hieran anschließend soll man bemerken, dass es im Typ 1) nicht immer deutlich ist, ob das
Erstglied ein Adjektiv oder ein Substantiv ist. In manchen Fällen sind beide formal identisch
und erst mit Hilfe von Paraphrasen differenzierbar. So grifft Fern- im Kompositum Fernblick
auf das Substantiv die Ferne statt auf das Adjektiv fern zurück: Fernblick = ‚Blick in die
Ferne‟ (vgl. Fleischer/Barz 2007: 104).
2.2.3.1.1.2.2 Zur Semantik
Im Grunde unterscheiden Fleischer/Barz (2007: 106-108) semantisch zwei Hauptgruppen bei
den Adjektiv-Nomen-Determinativkomposita: Determination des Substantivs nach einer
bestimmten Eigenschaft und Verstärkung bzw. Minderung der Intensität. Dazu erkennen sie
noch zwei weniger bedeutsame Nebengruppen:
1) Das Adjektiv bzw. das Erstglied attribuiert das Nomen bzw. das Zweitglied. Die
Eigenschafsbenennungen beziehen sich vorwiegend auf die äußere Form (Breitfilm,
Schmalwand, Spitzbogen), die Farbe (Blaulicht, Schwarzerde), auf zeitliche Stimmung
(Frühnebel, Spätsommer), auf die innere Beschaffenheit (Dünnbier, Fremdkörper)
oder den Geschmack (Sauerkraut, Süßkirsche).
2) a) Augmentativbildungen: Adjektiv-Nomen-Komposita mit einem adjektivischen
Erstglied, das die Intensität des Zweitglieds verstärkt. Solche Komposita werden
vorwiegend mit Erstgliedern Groß- und Hoch- gebildet, z.B. Großaktion, Großgarage,
Hochachtung, Hochglanz. Andere Erstglieder positiver Wertung sind u.a. Fein- (Fein-
arbeit, Fein-keramik), Edel- (Edelstein, Edelmetall), usw.
b) Diminutiva: Adjektiv-Nomen-Komposita mit einem adjektivischen Erstglied, das
die Intensität des Zweitglieds mindert. Hier sind vor allem die Erstglieder Klein-
/Kleinst- (Kleingarten, Kleinstkram), Kurz- (Kurzfassung, Kurzmeldung) und
Schwach- (Schwachkopf, Schwachsinn) zu nennen.
3) Einige adjektivische Erstglieder benennen Rang oder Titel, z.B. Edelmann, Freiherr.
Produktiv sind vor allem die Modelle mit Erstgliedern Alt- (Altpräsident, Altstadt) und
Ober- (Oberbürgermeister, Oberinspektor).
33
4) Unter den Verwandtschaftsbenennungen können die adjektivischen Erstglieder Groß-
und Halb- verwendet werden, z.B. Großeltern, Großvater, Halbbruder,
Halbschwester.
2.2.3.1.1.3 Das Verb-Nomen-Kompositum
Donalies (2005: 69) schreibt, dass die Verb-Nomen-Komposition deutlich weniger
eingeschränkt ist als die Adjektiv-Nomen-Komposition. Fast alle Typen von Verbstämmen
(einsilbige/mehrsilbige, simplizische/komplexe, abgeleitete/zusammengesetzte,
einheimische/entlehnte…) sind als Erstglied möglich. Neben den Verbstämmen können nach
Fleischer/Barz (2007: 109-110) noch einige verschiedene Formen des Verbs als Erstglied
dienen: Zuerst gibt es das Partizip I und das Partizip II. Sie werden jedoch als adjektivische
Erstglieder betrachtet (vgl. 2.2.3.1.1.2.2). Zweitens kann die volle Form des Infinitivs
verwendet werden. Dies ist unter den substantivischen Erstgliedern behandelt worden (vgl.
2.2.3.1.1.1.2). Finite Verbformen sind eher selten und existieren zunächst als Substantiv, z.B.
Iststärke – Sollstärke. Wie schon oben in Fußnoten 35 und 36 erwähnt, tritt hier häufig
Doppelmotivation auf: formal wie semantisch kann sowohl ein substantivisches als auch ein
verbales Erstglied vorliegen, z.B. Reisezeit = ‚Zeit der Reise(n)‟ oder ‚Zeit, in der jemand
reist‟. Der Kontext oder die Situation ist hier ausschlaggebend, um das Kompositum richtig
interpretieren zu können (vgl. Fleischer/Barz 2007: 109).
2.2.3.1.1.3.1 Zur Struktur
In diesem Kapitel beschäftige ich mich noch einmal mit den Verbstämmen als Erstglied von
Verb-Nomen-Komposita. Nach Fleischer/Barz (2007: 110-111) erläutere ich einige
Verbstammarten:
1) Normalerweise werden simplizische oder präfigierte Verbstämme als Erstglieder
verwendet, z.B. Backofen, Bestellnummer.51
2) Nichtheimische Verbstämme sind eher selten, z.B. Boxkampf, Charterflugzeug.
Populär sind jedoch die Verben auf -ier(en), z.B. Kopiergerät, Rasierapparat.
51
Es ist möglich, dass ein simplizisches verbales Erstglied auf ein komplexes Verb zurückzuführen ist; im
Kompositionsprozess ist dann eine Vereinfachung eingetreten, z.B. Lösegeld zu auslösen, Flammpunkt zu
entflammen (vgl. Fleischer/Barz 2007: 111).
34
3) Koppelungen mehrerer Verbstämme als Erstglied sind sehr selten und meist poetisch
oder technikterminologisch verwendet, z.B. Mischsortierverfahren,
Streckspinnverfahren.
4) Häufiger sind Erstglieder, in denen der Verbstamm mit einem Substantiv oder
Adjektiv bzw. Adverb (Erweiterung) gekoppelt ist. Steht die Erweiterung vor dem
Verbstamm, dann hat man eine Wortgruppe als Erstglied, z.B. Leisesprechtelefon.
Steht sie nach dem Verbstamm, dann ist das Erstglied ein Nomen-Nomen-
Kompositum, z.B. Fahrschein-verkauf.
2.2.3.1.1.3.2 Zur Semantik
Nach H. Ortner/L. Ortner (1984) mit A.M Kienpointer (1985) gibt Fleischer/Barz (2007: 111-
112) eine Übersicht über die wichtigsten Wortbildungsbedeutungen des Verb-Nomen-
Kompositums.52
A = Erst-, B = Zweitglied.
1) ‚Instrumental‟, ‚B ist Mittel für A‟, z.B. Merkblatt, Strickapparat.
2) ‚Agens‟, ‚B tut A‟, z.B. Putzfrau, Glühwürmchen.
3) ‚Patiens‟,
a. ‚mit B wird A getan‟, meist ‚habituell‟, z.B. Einschreibebrief, Leihverpackung.
b. ‚mit B ist A getan worden‟, z.B. Bratapfel, Reibekäse.
4) ‚Thematisch‟, ,A ist thematischer Bezugspunkt von B‟, z.B. Bohrkapazität,
Sehvermögen.
5) ‚Lokal‟, ‚A vollzieht sich in B‟, z.B. Anlegeplatz, Kochecke.
6) ‚Explikativ‟, ‚A expliziert B‟, z.B. Lesewut, Schießübung.
7) ‚Temporal‟, ‚B gibt Zeitpunkt/-raum für A an‟, z.B. Backtag, Sendetermin.
8) ‚Kausal‟53
a. ‚A ist Ursache von B‟, z.B. Kratzwunde, Auffahrunfall.
b. ‚B ist Ursache von A‟, z.B. Lachkreiz, Niespulver.
9) ‚Modal‟, A benennt Modus von B‟, z.B. Laufschritt, Stehbankett.
52
Die meisten der beim Nomen-Nomen-Kompositum auftretenden Wortbildungsbedeutungen (vgl. 2.2.3.1.1.1.1)
findet man auch hier – allerdings in anderen Proportionen – zurück (vgl. Fleischer/Barz 2007: 111). 53
Als Negationsform von Kausal nennt Kienpointer (1985: 135) den Typ ‚B ist Ursache für Nicht-A‟, z.B.
Beißkorb, Scheuklappe. Auch Erweiterung durch Anti- ist möglich, z.B. Antiklopfmittel, Antirutschmaterial (vgl.
Fleischer/Barz 2007: 112).
35
2.2.3.1.1.4 Das nominale Konfixkompositum
Nominale Konfixkomposita kann man in drei Klassen einteilen: Komposita aus einem Konfix
als Erstglied und einem Substantiv als Zweitglied (Das Konfix-Nomen-Kompositum),
Komposita aus einem Konfix als Zweitglied und einem Substantiv als Erstglied (Das Nomen-
Konfix-Kompositum) und Komposita aus zwei Konfixen (das Konfix-Konfix-Kompositum)
(vgl. Duden Grammatik 2006: 692).
2.2.3.1.1.4.1 Das Konfix-Nomen-Kompositum
Donalies (2005: 71) betont, dass bei weitem nicht alle Konfixe kompositionsgliedfähig sind.
Viele können nur ausschließlich als Ersteinheiten von Suffixderivaten verwendet werden, z.B.
fanat-, faszin-, ident-. Fleischer/Barz (2007: 120) bemerken, dass vor allem nichtheimische
Konfixe aus dem Lateinischem oder Griechischem als Erstglied verwendet werden können,
z.B. Mini- (Minimum, Miniatur), Mikro- (Mikrofilm, Mikrochemie), Makro- (Makrokultur,
Makromolekül), Mono- (Monokultur, Monopol), Poly- (Polykultur), usw. Nicht als Konfix zu
behandeln sind u.a. Extra- (in Extraangebot, Extrawurst) und quasi (Quasisouveränität), da
sie als freies Adverb üblich sind. Außerdem kann Extra- auch als Substantiv funktionieren:
das Extra. Auch einige heimische Konfixe können als Erstglied dienen, z.B. Schwieger-
(Schwiegermutter, Schwiegervater) und Stief- (Stiefmutter, Stiefschwester).
Duden Grammatik (2006: 692) bemerkt, dass die Konfixe in Erstgliedposition oft zur
Verselbstständigung neigen, und zwar als elliptische Verkürzungen längerer Wörter. So
werden sie zu Kurzwörtern. Wichtig ist es zu bemerken, dass das Kurzwort und das
gleichlautende Konfix in solchen Fällen unterschiedliche Bedeutungen tragen, denn das
Kurzwort übernimmt die lexikalische Bedeutung seiner jeweiligen Vollform, z.B. das Wort
Euro ist gekürzt aus der syntaktischen Fügung europäische Währungseinheit und existiert
neben dem Konfix Euro-. Demzufolge sind Komposita mit Euro- als Erstglied auf zwei
Weisen zu interpretieren: Komposita mit Euro- als Konfix (Eurokonzern) und Komposita mit
Euro- als lexikalische Einheit (Euroeinführung).
2.2.3.1.1.4.2 Das Nomen-Konfix-Kompositum
36
Konfixe können auch als genusmarkierte Zweiteinheiten zur Bildung von nominalen
Komposita verwendet werden. Im Falle des Nomen-Konfix-Kompositum ist das Erstglied
dann ein Nomen. Diese Zusammensetzungen sind fast rein als okkasionell zu betrachten.
Beispiele hier sind Schnorrosoph (Taz 1991), „Satzomat“ (Spiegel 1994), „Babycaust“ (Zeit
1995) (vgl. Donalies 2005: 72). Als positionsfestes Zweitglied erwähnen Fleischer/Barz
(2007: 122) das Konfix -wart, z.B. Hauswart, Tankwart.
2.2.3.1.1.4.3 Das Konfix-Konfix-Kompositum
Nominal markierte Konfixe als Zweiteinheiten können sich auch mit Konfixen als Erstglied
verbinden. Beispiele von Konfixen als Zweitgliedern in Konfix-Konfix-Komposita sind -soph
(Anthrosoph), -drom (Aquadrom), -naut (Astronaut), -zid (Genozid). Auch hier sind
Okkasionalismen möglich, z.B. Cybernaut (Taz 1990) (vgl. Donalies 2005: 71).
2.2.3.1.1.5 Das Satz-Nomen- und das Phrase-Nomen-Kompositum
Relativ unbeschränkt können Komposita mittels Sätzen oder Phrasen als Erstglied gebildet
werden. Fast ausnahmslos handelt es sich hier um okkasionelle Zusammensetzungen. Einige
der häufigsten Ersteinheiten hier sind:
1) Sätze. Am geläufigsten sind Komposita mit dem Imperativ eines komplexen oder
reflexiven Verbs als Erstglied, z.B. Stehaufmännchen, Trimm-dich-Pfad. Auch
Aussage-, Frage- und Ausrufesätze kommen als Erstglied vor, z.B. Bin-ich-nicht-
schön-Äuglein (H. Kant) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 124).
2) Nominalphrasen, z.B. Grüne-Bohnen-Eintopf. Besonders häufig sind Komposita mit
Mengen-, Dimensions-, Wert- und Zeitangaben, z.B. Fünf-Gänge-Dinner,
Hunderteuroschein, 290-Millionen-Dollar-Kredit.54
3) Verbphrasen, z.B. Palettenstapelmethode.
54
Als Besonderheit zu betrachten sind Ersteinheiten wie Vater-Tochter und Ost-West in Vater-Tochter-
Beziehung und Ost-West-Vertrag. Sie sind keinesfalls Komposita (*ein Ost-West) und auch keine Phrasen im
eigentlichen Sinne (*Vater Tochter), sondern bestehen aus zwei gleichwertigen Phrasenteilen, die eigens für die
Bildung eines Kompositums in ein appositionelles Verhältnis gestellt werden: Vater-Tochter-Beziehung
‚Beziehung zwischen Vater und Tochter.‟ (vgl. Donalies 2005: 73).
37
4) Adjektivphrasen, z.B. Noch-nicht-ganz-Hochzeit.
5) Adverbphrasen, z.B. Immer-noch-Kanzler (Vgl Donalies 2005: 73)
Donalies (2005: 74) teilt die Satz-Nomen- und die Phrase-Nomen-Komposita semantisch in
drei Haupttypen ein:
1) Komposita, in denen Sätze und Phrasen Zitatcharakter haben und das Nomen eine
Äußerungsform bzw. eine Haltung bezeichnet, z.B. Was-soll-denn-das-bedeuten-
Frage, „na-und“-Mentalität.
2) Komposita, bei denen Angaben zu Mengen usw. gemacht werden, z.B. Fünf-Gänge-
Menü, Zehn-Uhr-Nachrichten.
3) Komposita, bei denen die Phrase die Beteiligten an dem bezeichnet, was das Nomen
bezeichnet. Das Nomen an sich bezeichnet eine Interaktion im weitesten Sinne, z.B.
Arzt-Patienten-Gespräch, Vater-Tochter-Beziehung.
2.2.3.1.2 Das Possessivkompositum
Possessivkomposita sind ein Subtyp der Determinativkomposita. Ihre Besonderheit besteht in
ihrem außersprachlichen Bezug. Sie sind Komposita mit determinativem Verhältnis der
Glieder - das Erstglied determiniert das Zweitglied -, doch bezeichnet das Zweitglied keinen
Oberbegriff, unter den sich das Bezeichnete einordnen lässt. Sie benennen vor allem
Personen, Tiere oder Pflanzen nach einem Teil, den diese Erscheinungen - im Kompositum
genannt - besitzen, in einigen Fällen mit metaphorischer Beziehung zwischen den UK (vgl.
Duden Grammatik 2006: 729). „Der Besitzer wird in einem „pars pro toto“-Verfahren mittels
eines charakteristischen Körperteils benannt“ (Hentschel/Weydt 2003: 191), z.B. Langbein
‚Person, die lange Beine hat‟, Rotkehlchen ‚Vogel, der ein rotes Kehlchen hat‟, Dickkopf
‚Person, die einen dicken Kopf hat‟. Das Bezeichnete liegt also wesentlich außerhalb des
Kompositums. Deshalb werden diese Komposita als exozentrisch - exozentrische Komposita -
betrachtet.55
Possessivkomposita kann man so als Ausnahme der Determinativkomposita
sehen, denn hier ist A + B ≠ B. Hentschel/Weydt (Vgl. 2003: 190) schreibt, dass
Possessivkomposita sich nur auf Adjektiv-Nomen-Komposita beziehen können, doch
55
Wenn man in Fällen wie Langbein und Rotbart – endozentrisch – den entsprechenden Körperteil meint, dann
soll man deutlichkeitshalber die attributive Wortgruppe verwenden, z.B. der rote Bart von der Person Rotbart,
das lange Bein von der Person Langbein (vgl. Fleischer/Barz 2007: 125).
38
Donalies (2005: 58) erwähnt als Beispiel u.a. Nashorn ‚Säugetier, das ein Horn auf der Nase
hat‟ (= Nomen-Nomen-Kompositum!)
2.2.3.1.3 Das verdeutlichende Kompositum
Ein weiterer Subtyp der Determinativkomposita bilden die verdeutlichenden Komposita, z.B.
Erziehungsprozess, Auswertungsverfahren, Servicedienst, usw. In diesen Komposita
bezeichnet das Zweitglied einen Oberbegriff, der die Bedeutung des Erstgliedes bereits
einschließt. Für das Ganze kann eine einzige UK stehen, doch in manchen Fällen auch jede
von beiden, z.B. Auswertungsverfahren ‚Auswertung ist ein Verfahren‟; Servicedienst ‚Dienst
ist Service‟. In diesem Sinne sind verdeutlichende Komposita determinativ; ihre UK stehen
in einer subordinierenden - keiner koordinierenden - Beziehung. Bemerkenswert ist, dass die
„determinierende“ UK nicht immer eine spezifizierende Bedeutung hat.
Die verdeutlichenden Komposita sind in verschiedene Typen bzw. Modelle einzuteilen. Im
Folgenden erwähne ich die wichtigsten:
1) Zuerst hat man die Komposita zur Verdeutlichung von Fremdwörtern durch
Hinzufügung eines heimischen Kompositionsgliedes, entweder als Erst-
(Einzelindividuum, Angebotsofferten) oder als Zweitglied (Servicedienst, Container-
Behälter). In beiden Fällen kann sowohl das Erstglied als das Zweitglied für das
Ganze stehen.
2) Zweitens gibt es auch Komposita zur Verdeutlichung, zur Spezifizierung von
heimischen bzw. heute als heimischen zu betrachtenden Wörtern, z.B. Kieselstein,
Farnkraut. In diesen Fällen verweist das Zweitglied auf einen Oberbegriff, der bereits
mit dem Erstglied gegeben ist: An sich ist Kiesel ein Stein und Farn ein Kraut.
Demzufolge kann hier - im Unterschied zu den meisten Determinativkomposita - das
Erstglied für das Ganze stehen.
3) Drittens - von 2) abzusetzen - gibt es Fälle wie Rückgrat und Turteltaube, in denen das
verdeutlichende Element heute nicht mehr frei gebräuchlich ist: Im Althochdeutschen
bedeutete grāt ,Rückgrat‟ und turtura ‚Turteltaube. Heute bestehen diese Wörter in
ihrer herkömmlichen Bedeutung nicht mehr.
4) Einige Komposita haben ein - deverbales - Erstglied, das sich als polysemantisch
erweist: Es kann sowohl ‚Prozess‟ als ‚Resultat‟ bezeichnen. Durch das Zweitglied
wird jedoch ‚Prozess‟ akzentuiert, z.B. Übungsgeschehen, Auswertungsverfahren. Das
39
Zweitglied kann man hier als untergeordnet ansehen und hat zur Folge, dass auch hier
das Erstglied für das Ganze stehen kann.
5) Damit verbunden ist die Tendenz zur Bezeichnung eines verallgemeinernden
Oberbegriffes: ein Kompositionsmodell mit einer verallgemeinernden Bezeichnung
für „Stoff, Material“ - statt ‚Prozess‟ in 4) - als Zweitglied, z.B. Giftstoff,
Nahrungsmittel, Bildmaterial. Als verallgemeinernde Bezeichnung für Personen kann
man –kräfte verwenden, z.B. Kontrollkräfte, Servierkräfte; für Organisationseinheiten
–einrichtung, z.B. Behandlungseinrichtung, Vorschuleinrichtung (vgl. Fleischer/Barz
2007: 125-127).
2.2.3.2 Das Kopulativkompositum
Im Gegensatz zu Determinativkomposita - in der die UK hypotaktisch organisiert sind - sind
beide Kompositionsglieder parataktisch verbunden. Dies bedeutet, dass die UK in einem
koordinierenden Verhältnis stehen; beide UK sind semantisch gleichgeordnet. Eines der
Glieder kann man also nicht als Oberbegriff bzw. Unterbegriff betrachten. Da das Zweitglied
bei Komposita in der Regel die - nominale -Wortart bestimmt, können bei den nominalen
Kopulativkomposita nur nominale Erstglieder verwendet werden. Beide UK sollen also der
gleichen Wortklasse zugehören. Hinzu kommt die semantische Bedingung, dass beide Glieder
zur gleichen Bezeichnungsklasse gehören, z.B. Dichter-Leser (Beide Glieder sind nominale
Personenbezeichnungen für einen Kunstler) (vgl. Erben 2006: 43). Ein weiteres Merkmal
findet man in Donalies (2005: 85-86): Da beide UK koordinierend sind, sind sie im Grund
Vertauschbar, ohne dass Bedeutungsveränderung eintritt, z.B. Pulloverjacke –
Jackenpullover. Doch in manchen Fällen ist die Reihenfolge konventionalisiert, z.B.
Strumpfhose - *Hosenstrumpf.56
Überdies bemerkt Donalies (2005: 85), dass
Kopulativkomposita nicht immer binär strukturiert sind, diese Fälle sind aber bei den
nominalen Kopulativkomposita eher selten und okkasionell, z.B. Dichter-Leser-Sänger.
Fleischer/Barz (2007: 128-129) schreibt, dass man die Kopulativkomposita semantisch in
zwei Gruppen unterteilen kann:
1) Die exozentrischen Komposita: Bei diesen Komposita können weder das Erst- noch
das Zweitglied die ganze Wortbildungskonstruktion semantisch repräsentieren.
Besonders Benennungen für Kleidungsstücke findet man in dieser Gruppe zurück, z.B.
56
Bei adjektivischen Kopulativkomposita ist dies häufig der Fall, weil eine bestimmte Reihenfolge signalisiert
werden soll, z.B. eine rot-gelb-grün Ampel (vgl. Donalies 2005: 86).
40
Strumphose ‚ ein Kleidungsstuck, der etwas von einem Strumpf und von einer Hose
hat, aber weder Strumpf noch Hose ist.‟; Manteljacke – Jackenmantel ‚ein
Kleidungsstuck, der etwas von einem Mantel und von einer Jacke hat, aber weder
Jacke noch Mantel ist.‟
2) Die endozentrischen oder konjunktiven Kopulativkomposita: Bei diesen Komposita
stehen die UK in einem additiven Verhältnis und bezeichnen zwei Seiten eines
Bezeichnetes. Gewöhnlich handelt es sich um Personenbenennungen, z.B.
Ingenieurphilologe, Leser-Schreiber. Durch die Gleichstellung beider UK kann in
okkasionellen Konstruktionen bei Flexion des Zweitgliedes auch das Erstglied flektiert
werden, z.B. dem Journalisten-Wissenschaftler.
2.2.3.3 Onymische und deonymische Komposita
Eine besondere Klasse innerhalb der Determinativ- und Kopulativkomposition bilden die
onymischen und deonymischen Komposita. Diese Komposita haben gemein, dass beide
mindestens einen Eigennamen als UK haben. Onymische Komposita haben als Zweitglied
meist einen Eigennamen und deonymische ein Nomen. Im Rahmen der allgemeinen
Kompositionsbedingung, dass das Zweitglied die Wortart bestimmt, kann man behaupten,
dass onymische Komposita Eigennamen sind und deonymische Appellative mit einem
Eigennamen als UK (vgl. Fleischer/Barz 2007: 130).57
2.2.3.3.1 Das onymische Kompositum
Bei onymischen Komposita handelt es sich um die Komposition von mindestens zwei
Eigennamen miteinander. Hier kann man nach Fleischer/Barz (2007: 131-132) verschiedene
Modelle unterscheiden:
1) Koppelungen von Vornamen, z.B. Hans-Gert, Annemarie.
2) Koppelung von Familiennamen, z.B. Elly Beinhorn-Rosemeyer.
3) Die Koppelung von Familien- und Ortsnamen, z.B. Fritz Stadler – Stuttgart ‚Fritz
Stadler aus Stuttgart‟. Im Unterschied zu 1) und 2) ist die Beziehung zwischen den UK
hier determinativ, wobei das Erstglied das determinierte ist.
57
Das Appelativ: “Substantiv, das eine Gattung von Dingen od. Lebewesen u. zugleich jedes einzelne Wesen od.
Ding dieser Gattung bezeichnet; Gattungsbezeichnung, -name (z.B. Mensch, Blume, Tisch)“ (Duden 2003: 158).
41
4) Die Koppelung von Ortsnamen kann sowohl determinativ als auch kopulativ sein.
Determinativ ist z.B. Berlin-Pankow, Rostock-Lütten. Hier ist in der Regel das
Erstglied der Name einer größeren Stadt, das determinierte. Das determinierende
Zweitglied ist der Name eines ehemals selbstständigen, in die größere Stadt
aufgegangenen Ortes. Das Kompositum bezeichnet dann insgesamt einen Stadtteil.
Kopulative Verbindungen kommen vor, wenn die Namen zweier ursprünglich
getrennter Orte bei Vereinigung dieser Orte verschmolzen werden, z.B. Garmisch-
Partenkirchen.
5) Die Koppelung von Orts- mit Flussnamen, z.B. Frankfurt (Oder), Frankfurt (Main).
Hier ist das Erstglied determiniert.
Ein Subtyp innerhalb der onymischen Komposita bilden die onymischen Komposita mit
appellativischen Elementen. Im Folgenden behandele ich einige Modelle dieser Komposition:
1) Personennamen erhalten ein differenzierendes Erstglied, z.B. Uhren-Schulze ‚Mann
namens Schulze, der mit Uhren handelt.‟ Dieses Modell dient auch zur Bildung von
Spitznamen, z.B. Sauf-Claus, Bügel-Olga. In diesen Fällen sind die Erstglieder
Verbstämme, denn sie beschreiben eine charakterisierende Handlung der Person:
Sauf-Claus ‚Claus, der immer säuft‟, Bügel-Olga ‚Olga, die immer bügelt‟.
2) Differenzierung eines Vornamens ist auch durch ein nichtdekliniertes Adjektiv als
Erstglied möglich, z.B. Klein-Heinz, Jung-Heinrich.
3) Vornamenskoppelungen können auch als Koseform gebildet werden. Hier ist das
Zweitglied dann ein Nomen als Oberbegriff, z.B. mein Gerdamädchen.
4) Differenzierung von Ortsnamen durch ein nichtdekliniertes Adjektiv, z.B. Groß-
Berlin, Alt-Neuburg (vgl. Fleischer/Barz 2007: 132).
2.2.3.3.2 Das deonymische Kompositum
Die Struktur der deonymischen Komposita besteht aus einem Eigennamen als Erstglied und
einem Nomen als Zweitglied. Auch hier kann man verschiedene Modelle wahrnehmen. Nach
Fleischer/Barz (Vgl. 2007: 134-135) erwähne ich die wichtigsten:
1) In einem ersten Modell steht ein Personenname als Erstglied:
42
a. Das Kompositum bezeichnet ein Werk von oder über eine historische
Persönlichkeit, z.B. Bach-Konzert, Wallenstein-Trilogie.
b. Das Kompositum, in dem das Erstglied auf den Namen eines Firmeninhabers
bezogen ist, bezeichnet ein Erzeugnis, einen Mitarbeiter oder drückt eine
allgemeinere Beziehung aus, z.B. Jacobs-Kaffee, Opel-Erfolge.
c. Das Kompositum bezeichnet die genealogische Zusammengehörigkeit, z.B.
Nguyen-Dynastie.
d. Das Kompositum fungiert als ehrende Benennung für eine Auszeichnung, z.B.
Herdermedaille, Nobelpreis.
e. Das Kompositum ist ein technischer Terminus, z.B. Bunsen-Element, Seebeck-
Effekt.
f. Okkasionell werden Vor- und Familienname einer historischen Persönlichkeit
mit einem Appellativ gekoppelt, um mit dem Namen verbundene
Assoziationen zu wecken, z.B. Caspar-David-Friedrich-Gefühle.
g. Auch die Namen von Märchengestalten, literarischen Figuren, usw. werden
verwendet, z.B. Adamskostüm, Dornröschenschlaf.
2) Zweitens können auch Ortsnamen als Erstglied stehen. Sie bringen meist eine lokale
oder thematische Beziehung zum Ausdruck, z.B. Berlin-Reise, Stuttgart-Reportage.
3) Auch Flussnamen dienen als Erstglied, z.B. Donauwellen, Elbmündung.
4) Und letztens auch Staats- und Landschaftsnamen, z.B. Frankreich-Export, Belgien-
Krise.
2.2.3.4 Die Reduplikation
Die Reduplikation – auch Iteration genannt - ist eine kaum produktive und folglich eher
seltene Wortbildungsart, bei der durch Doppelung eines Wortes ein Kompositum gebildet
wird.58
Sie ist im Deutschen kaum systematisch ausgebaut und zählt etwa hundert Bildungen.
Viele davon sind nur umgangssprachlich bzw. kindersprachlich zu verwenden. Es gibt vier
große Arten der Reduplikation:
1) Einfache Doppelung, z.B. Pinkepinke (salopp) ‚Geld‟; Blabla ‚leeres Gerede‟.
58
Nicht als Reduplikationsprodukte, sondern als Determinativkomposita aufzufassen sind die Selbstkomposita,
die vorrangig die Hervorhebung dienen, z.B. graugrau Hemden ‚Hemden, die unter allen grauen Hemden als
besonders grau wahrgenommen werden‟ (vgl. Donalies 2005: 89).
43
2) Reimdoppelung, z.B. Techtelmechtel (ugs.), Flirt‟, Larifari (ugs.) ‚Geschwätz‟.
3) Ablautdoppelung, meist i zu a, z.B. Singsang ‚leises Vor-sich-hin-Singen‟; Klingklang
‚helles, wohltönendes Klingen‟.
4) Partielle Iteration. Hier wird ein Segment des Wortes mehrfach wiederholt.59
Diese
Wiederholung bezeichnet dann ikonisch eine fortgesetzte Handlung bzw. das damit
verbundene Geräusch. Diese Art wird vor allem in Comics und der Kindersprache
verwendet, z.B. rumpumpeln , klapperdiklap (vgl. Duden 2006: 679-680).60
2.2.3.5 Die Kontamination
Die Kontamination ist eine nicht besonders produktive Wortbildungsart, bei der zwei Wörter
ineinander verschachtelt werden. Außerdem werden so auch die Wortinhalte beider Wörter
miteinander verschmolzen, z.B. Mammufant (Mammut + Elefant) ‚Ein Tier, das eine
Kreuzung zwischen Mammut und Elefant ist.‟61
Morphologisch kann man zwei verschiedene Kategorien von Kontaminationsprodukten
unterschieden: zuerst Komposita, deren Einheiten keine gemeinsamen Laut- bzw.
Buchstabenfolgen haben und nach Kriterien der phonologischen Wohlgeformtheit ineinander
geschoben werden, z.B. Mammufant, Infotainment (Information + Entertainment) Zweitens
Komposita, deren Einheiten gemeinsame Laut- bzw. Buchstabenfolgen haben und die sich
genau darin überschneiden, z.B. Utopiate (utopische Opiate), Lakritzelei (Lakritz + Kritzelei).
Kontamination ist aber keine Kurzwortbildung, denn hier wird nämlich kein Wort oder Phrase
inhaltlich verkürzt, sondern zwei Wörter zu einem inhaltlich ganz neuen Wort
zusammengefügt. Es handelt sich hier oft um Gelegenheitsbildungen (vgl. Donalies 2005:
90).
3 Neologismen
Die Komposita, die für diese Arbeit relevant sind, sind diejenigen, die sich als neu anhören
und als Neologismen zu betrachten sind. Es gibt jedoch ein Problem bei der Neologismus-
Bezeichnung: „ab wann und bis wann ist ein neues Wort als Neologismus zu bezeichnen?“
(Elsen 2004: 19).
59
Oft mit eingeschobenem -di- Element (vgl. Duden 2006: 680). 60
Diese Wortkonstruktionsbildungen soll man nicht mit Onomatopöien wie Kuckuk, Tamtam, usw. verwirren.
Onomatopöien sind nicht aus Wörtern gebildet; nur lautmalerisch urgeschöpft und folglich keine Komposita
(vgl. Donalies 2005: 89). 61
“Von der Kontamination abzugrenzen sind die so genannten Verschmelzungen oder Portmanteau-Morpheme
(z.B. am, beim, unters), die nicht zur Wortbildung, sondern zur Syntax gehören.“ (Donalies 2005: 90).
44
3.1 Definition
Eine eindeutige Definition des Begriffs Neologismus gibt es nicht. Die Bestimmung des
Begriffes variiert in den verschiedenen Arbeiten zur Lexikologie und Lexikographie. Gemäß
dem oben genannten Zitat von Elsen unterscheiden sich die Definitionen in dem Maße, dass
sie von den Untersuchungszielen der Autoren abhängen. So wird der eine Linguist einen neu
zu beobachtenden deutlichen Konnotationswandel als ausreichendes Kriterium für den Status
eines Neologismus betrachten, und muss für den anderen ein Neologismus sich entweder in
Form oder Inhalt oder in beiden von vorhandenen Lexemen unterscheiden, für den anderen
nicht; usw. (vgl. Elsen 2004: 19-20). Über ein Kriterium sind alle Linguisten sich jedoch im
Klaren: „Neue Wörter gelten nicht mehr als Neologismen, wenn sie im Kern- bzw.
Allgemeinwortschatz etabliert sind, das heißt, sie sind in die Standardwörterbücher
aufgenommen.“ (Elsen 2004: 21).
Da eine ausführliche Darlegung in Bezug auf den Begriff Neologismus uns zu weit führen
würde, trete ich Elsen (2004: 23) bei, die den Begriff „Neologismus“ zusammenfassend
bezieht auf neue Fremdwörter, Schöpfungen und auf Wortbildungen und
Wortgruppenlexeme, die in Form oder Bedeutung oder beidem neu sind, d.h., sie sind noch
nicht in den aktuellen Wörterbüchern der Standardsprache aufgenommen. Wichtig ist zu
bemerken, dass ich mich während meiner Darlegungen nur auf die Komposita beziehen
werde.
3.2 Okkasionalismen
Eine besondere Gruppe Neologismen bilden die so genannten Okkasionalismen, auch Einmal-
, Augenblicks-, Gelegenheits- oder Ad-hoc-Bildungen genannt. “Eine Ad-hoc-Bildung ist
eine Wortbildung, die nicht im mentalen Lexikon des Sprechers/Hörers mit einem eigenen
Lexikon-Eintrag gespeichert ist.“ (Hohenhaus 1996: 31). Sie sind noch nie zuvor gebildete
Wörter - einmalige Neubildungen - die häufig nur im Kontext verständlich sind und oft
textrelevante Aufgaben übernehmen.62
Sie üben sprachökonomische oder verschiedene
62
Indem sie nur einmal im Text vorkommen, zählen einige Linguisten - wie Schippan (1992) - die
Okkasionalismen nicht zu den Neologismen. Laut ihnen gehen Neologismen in den allgemeinen Sprachgebrauch
ein und sollen nicht studiert werden (vgl. Elsen 2004: 21). Matussek (1994: 33) bemerkt, dass, da
Okkasionalismen zunächst auf Textebene produziert werden, sie zum Zeitpunkt ihrer aktuellen Bildung nur über
eine Textbedeutung verfügen. Gemäß Elsen (2004) betrachte ich sie jedoch als Neologismen.
45
stilistische Funktionen aus und füllen lexikalische Lücken. Elsen (2004: 89) erwähnt, dass
Okkasionalismen im Prinzip drei verschiedene Funktionen erfüllen. Je nach der Bedeutung
des Okkasionalismus betrachtet man eine Funktion als primär:
1) Erstens können Ad-hoc-Bildungen den textuellen Zusammenhang formal bzw.
inhaltlich mitbestimmen. Diese Wortbildungskonstruktionen haben dann eine primäre
textuelle Funktion. Diese Wortbildungskonstruktionen komprimieren Information in
einer höchst ökonomischen Art und Weise. So dienen sie der Sprachökonomie (vgl.
Matussek 1994: 36). Laut Elsen (2004: 89) kann je nach der Blickrichtung diese
Funktion in vier Gruppen untergliedert werden:
a. Formal: Die Okkasionalismen ersetzen andere Wörter, um Wiederholungen
oder komplexe Phrasen zu vermeiden und damit die Sätze zu verkürzen, z.B.
Der Neujahrssturm statt der Sturm, der es auf Neujahr gab.
b. Inhaltlich: Die Okkasionalismen dienen der Informationsverdichtung, der
Verbildlichung oder dem Kontrast. Sie ergänzen oder differenzieren
Informationen oder erleichtern das Verständnis.
c. Thematisch: Die Okkasionalismen konstituieren ein Thema, halten es,
variieren es, kombinieren mehrere Themen oder tragen die Leitmotivik.
d. Textuell: Die Okkasionalismen sind textbildend: Sie dienen dazu, Texte zu
konstituieren, Texte bzw. Textteile zu verflechten, zu verdichten, zu gliedern,
zusammenzufassen. So verbindet ein Okkasionalismus wie US-
Waffeninspektor im Anschluss an Waffeninspektionen und US-Botschaft
verschiedene Sätze und stellt einen Zusammenhang her (vgl. Elsen 2004: 89).
2) Demgegenüber können Okkasionalismen eine primär referentielle Funktion ausüben.
Das Auftreten neuer Gegenstände und Sachverhalte lässt das Bedürfnis aufkommen,
diese Dingen zu benennen. Die Okkasionalismen sind folglich weitgehend ohne
Textzusammenhang verständlich (vgl. Matussek 1994: 35). Mit anderen Wörtern, sie
dienen der Begriffsbildung und leisten strenggenommen nichts für den Text. So sind
die Wörter Briefkastenmaurer und Schulranzenschneiderin perfekt ohne
Zusatzinformationen vorstellbar (vgl. Elsen 2004: 89). Kurz gesagt: Ein okkasionelles
Kompositum hat eine referentielle Funktion, wenn es eher sachlich-neutral,
informierend auf einen Gegenstand oder eine Sache verweist (vgl. Elsen 2004: 103).
46
3) Drittens können okkasionelle Komposita eine primär stilistische Funktion haben.
Obwohl auch sie Gegenstände und Sachen benennen, kann man ihre Funktion nicht
als referentiell betrachten. Sie sind metaphorisch, expressiv gebildet und haben als
Absicht, bei der Benennung von Gegenständen und Sachen bestimmte Effekte beim
Leser auszulösen. Meist sind logischere bzw. neutrale Benennungen - d.h. Wörter mit
einer primär referentiellen Funktion - verfügbar. Die Neologismen dagegen dienen
dem Leseanreiz, weil sie auffällig sind, die Spannung erhöhen und wertend oder sogar
manipulativ wirken (vgl. Elsen 2004: 88-90). In manchen Fällen haben sie eine
pejorative bzw. meliorative Konnotation, d.h. sie stellen einen Gegenstand schlechter
bzw. verbessernd dar, z.B. ein Kilometerfresser ‚Ein Auto, das viel Benzin braucht‟;
der Backkaiser ‚der Bäcker, der das bessere Brot backt‟. Daneben können sie auch
verschleiernd bzw. euphemistisch wirken, z.B. die Militäraktion statt der Angriff, oder
eine primär unterhaltende, spielerische oder poetische Funktion haben, z.B.
Frühlingserwachen (vgl. Elsen 2004: 109-111).
Die verschiedenen Funktionen sind in der Regel nicht isoliert, sondern treten in
unterschiedlichen Kombinationen auf. In den Kombinationen ist dann jeweils eine Funktion
primär in Vergleich zu den anderen. Dies ist vor allem bei den okkasionell gebildeten
nominalen Komposita der Fall (vgl. Elsen 2004: 90).
Eine andere Sichtweise auf die Funktionen von - nominalen - okkasionellen Komposita
vertritt Wildgen (1981). Er spricht von primären und sekundären Makroprozessen bei der
Verwendung nominaler Okkasionalismen. Die drei Funktionen von Elsen (2004) kann man
jedoch in diesen Prozessen zurückfinden:
Die primären Prozesse sind Prozesse, die für alle okkasionellen Komposita gelten. Sie sind
mit der textuellen Funktion von Elsen (2004) gleichzusetzen. Sie betten das Kompositums in
die textuelle Struktur des Textes ein. Laut Wildgen (2004: 6) sind die Variationsprozesse hier
von entscheidender Bedeutung. Als wichtigsten dieser Prozesse erwähnt er die Prozesse bei
den anaphorischen und kataphorischen Komposita:
1) Anaphorische Komposita sind Komposita, deren Konstituenten bereits vorher im
Text erwähnt wurden; Sie haben daher eine raffende Funktion. Im Grunde
47
unterscheidet Wildgen (2004: 7) zwei anaphorische Prozesse: den Prozess der
anaphorischen Verdünnung und den Prozess der anaphorischen Komposita.
a. Im Falle des Prozesses der anaphorischen Verdünnung ist ein Kompositum
bezogen auf ein vorher im Text erwähntes Kompositum. Es unterscheidet
sich dadurch von dem ersten Kompositum, dass lexikalisches Material
eingespart wird. Die sprachökonomische Reduktion des ersten
Kompositums hat jedoch keinen Einfluss auf die herkömmliche
Bedeutung, z.B. Geldtransportauto → Geldauto, Natururanreaktor →
Naturreaktor (vgl. Wildgen 1981: 6-8). Die anaphorischen Komposita sind
so Klammerformen der vorher im Text erwähnten - lexikalischen oder
okkasionellen - Komposita (vgl. 2.2.3.1.1.1.3).
b. Im Gegensatz zu den Komposita der anaphorischen Verdünnung werden
die Komposita, die über den Prozess der anaphorischen Komposition
gebildet werden, aus Strukturen anders als Komposita gebildet. Das heißt,
dass hier eine Selektion inhaltlicher Elemente und eine Reorganisation in
der Form des Kompositums stattfindet. Das okkasionelle Kompositum
kann auf Nominalphrasen, Sätze oder Texte bzw. Textteile Bezug nehmen,
z.B. ein eckiger Ball → ein Eckball, Dienst ist Dienst und Schnaps ist
Schnaps (Kurt Tucholsky) → Schnaps-Dienst (vgl. Wildgen 1981: 9-11).
2) Demgegenüber sind kataphorische Komposita Komposita, die eine ausführliche
Interpretation bzw. Bedeutung eines Sachverhalts im Text vorausgehen. Sie
enthalten nur die wichtigsten Elemente der eigentlichen Bedeutung, was zur Folge
hat, dass sie an erster Stelle oft zu doppeldeutigen Interpretationen führen.
Deshalb soll man den Text weiter lesen, um die richtige Interpretation zu ermitteln
(vgl. Wildgen 1981: 13). Wildgen (1981: 14) unterscheidet drei Typen
kataphorischer Komposita: kataphorische Komposita mit:
a. anschließender Erklärung, z.B. Diese Dienstleistungsfläche für den
Straßenbahn, die Bürgersteig heißt (SZ 01/01/79).
b. anschließender Exemplifizierung, z.B. Das Ein-Satz-Gutachten: „Ihr
müsst mehr arbeiten“ (SZ 01/01/80).
48
c. textumgreifenden Prozessen, z.B. Im Zero-Nebel (Titel) (letzter Satz
vorher wurde erklärt, dass Zero eine Kunstrichtung ist) „Es scheint
dringend geboten, den Zero-Nebel aufzulösen, der sich über die Szene
gelegt hat.“ (SZ 28.12.80).
Als sekundäre Prozesse betrachtet Wildgen (2004: 18) die Nebeneffekte und
Markiertheitseigenschaften der primären Prozesse bzw. der textuellen Funktion. Diese
Prozesse sind mit der referentiellen und stilistischen Funktion von Elsen (2004)
gleichzusetzen. Während die primäre Funktion bei Wildgen (2004) also für alle okkasionellen
Komposita die textuelle ist, ist auf einer zweiten Ebene entweder die referentielle oder die
stilistische Funktion primär.
Die referentielle Funktion besteht bei Wildgen (2004: 20-24) im Großen und Ganzen aus
dem Prozess der deskriptiven Ausfüllung und aus dem Prozess der Abwechslung: Der Prozess
der deskriptiven Ausfüllung besagt, dass die okkasionellen Komposita im Text nicht nur eine
syntaktische bzw. textuelle Funktion haben, sondern auch eine charakterisierende
Beschreibung bzw. Benennung des Referenten inhalten. Daran anschließend beinhaltet der
Prozess der Abwechslung, dass man aus stilistischen Gründen beim Referieren
Wiederholungen vermeiden soll.
Okkasionelle Komposita, bei denen die stilistische Funktion primär ist, betrachtet Wildgen
(2004: 24) als enigmatische Komposita. Diese Komposita referieren zwar auf die
Gegenstände und Sachverhalte, weichen aber von den referierenden Komposita ab, indem sie
nicht in einer neutralen Weise referieren, sondern rätselhaft bzw. metaphorisch, expressiv
gebildet sind. Laut Wildgen (2004: 26) haben diese Komposita zwei Bedeutungsfacetten: Die
eine besteht aus der Angabe des Referenten an sich und die andere - die als primär zu
betrachten ist - besteht darin, dass der Sprecher-Schreiber dem Hörer-Leser die Perspektive,
die Grundstimmung, die er gegenüber dem Referenten einnimmt, mitteilt. Wie bei der
Auffassung von Elsen (2004) erwähnt, haben die Komposita so bestimmte Effekte auf den
Hörer-Leser und dienen sie dem Leseanreiz.
Persönlich schließe ich mich der Einteilung von Wildgen (1981) an, denn ich bin der
Meinung, dass bei okkasionellen Komposita die primären Makroprozesse bzw. die textuelle
Funktion nicht mit den sekundären Makroprozessen bzw. der referentiellen und stilistischen
49
Funktion gleichgesetzt werden können.63
Die zwei Ebenen sind voneinander zu
unterscheiden. Die Ebene der primären Makroprozesse betrachte ich ab jetzt als die
textlinguistische Ebene und diejenige der sekundären Makroprozesse als die semantische
Ebene. Auf textlinguistischer Ebene gilt dann immer die textuelle Funktion und auf
semantischer Ebene kann entweder die referentielle oder die stilistische Funktion als primär
zu betrachten sein.
Zuletzt bemerkt Elsen (vgl. 2004: 21), dass Okkasionalismen sich zu den eigentlichen
Neologismen und schließlich zu etablierten Wortschatzeinheiten entwickeln - z.B. Ozonloch
(64
) - oder vorher wieder verschwinden. Im ersten Falle wird ein Wort schrittweise
lexikalisiert bzw. in der Standardsprache aufgenommen. Als Beispiel eines lexikalisierten
Wortes in Entwicklung erwähne ich Raketenschach (FAZ, (07.11.08)), eine scheinbare Ad-
hoc-Bildung, der ich während meiner Forschung begegnet bin. Dieses Kompositum verweist
auf die Raketenstationierungsfrage zwischen den Vereinigten Staaten und Russland anfangs
des November 2008.65
Die Herkunft dieser Frage liegt sich jedoch einige Jahrzehnte früher:
während des Kalten Kriegs, wenn sich eine ähnliche Situation ergab.66
Mit anderen Worten,
indem eine ähnliche Situation sich ergibt, wird ein damaliger Okkasionalismus wieder
verwendet.67
Man braucht aufs Neue den damaligen Begriff, um die Lage bestens zu
definieren. Hierdurch erhöht sich jedoch die Frequenz der Gelegenheitsbildung und könnte sie
schließlich - im besten Falle - lexikalisiert werden.
Im folgenden Kapitel werde ich die Verwendung der okkasionellen nominalen Komposita auf
die Zeitungssprache beschränken und erläutern.
3.2.1 Okkasionalismen in der Zeitungssprache
63
Statt jedoch von den verschiedenen primären und sekundären Makroprozessen zu sprechen, werde ich ab jetzt
nur noch die drei Funktionen von Elsen (2004) als Termini erwähnen. 64
Matussek (1994: 37) bemerkt, dass Ozonloch zum ersten Male im neuesten Rechtschreibungsduden ihrer Zeit
(1991) aufgeführt ist. 65
„Dem künftigen amerikanischen Präsidenten Obama gratulierte er (Medwedjew,hrg.) mit der Ankündigung,
das geplante amerikanische Raketenabwehrsystem in Osteuropa mit der Aufstellung taktischer
Kurzstreckenraketen in Kaliningrad […] zu beantworten.“ (FAZ 07.11.08). 66
Die Schlagzeile des Artikels verweist auch indirekt auf den Kalten Krieg: ‚Die Rückkehr des Raketenschachs‟
(FAZ 08.12.08). 67
Wichtig ist zu bemerken, dass Raketenschach während des Kalten Kriegs schon den Status eines eigentlichen
Neologismus erworben hatte. Dies schließe ich daraus, dass ich im Internet viele Verweise auf Artikel und
Bücher bezüglich des Kalten Krieges gefunden habe, z.B. Talbott, S. (1984), Raketenschach, München/Zürich.
50
Da die Zeitungssprache stets neue, aktuelle Themen behandelt, bildet sie eine ergiebige
Quelle für Okkasionalismen. Die Journalisten brauchen häufig neue Wörter und Ausdrücke,
um die aktuelle Thematik möglichst adäquat bzw. knapp zu definieren (vgl. Elsen. 2004: 91).
Forschung von Elsen (2004) zeigt, dass in der Zeitungssprache der Wortbildungstyp der
Komposita die gute Mehrheit der neuen Wörter stellt. Von den 512 Wörtern mit
Neuheitswert, die sie auf der ersten vier Seiten der Süddeutschen Zeitung (08.08.2002) und
der ersten drei Seiten der ZEIT (08.08.2002) fand, gab es 412 Komposita, d.h. über 80% der
Gesamtzahl (vgl. Elsen 2004: 107).68
Eine vollständige Übersichtstabelle (vgl. Tabelle 1) der
Ergebnisse ihrer Forschung findet man im Anhang meiner Arbeit. Dass die Komposita die
größte Gruppe bildet, erklärt Elsen (2004: 108) folgendermaßen: Zuerst sind Komposita die
wichtigste Wortbildungsmittel des Deutschen. Außerdem verbinden sie in der Regel
mindestens zwei selbständige Inhalte und komprimieren so Information. Gleichzeitig sind die
semantischen Kombinationsmöglichkeiten - wie in Kapitel 2.2.3.1.1.1.2 mehrmals gezeigt
wurde - praktisch unbegrenzt. Meist sind sie auch multifunktional, d.h. sie können
verschiedene Funktionen haben. Wie im vorigen Kapitel (vgl. Kapitel 3.2) erwähnt, sind diese
Funktionen bei nominalen okkasionellen Komposita die textuelle, referentielle und stilistische
Funktion.
Nach dem Modell von Wildgen (1981) haben die nominalen okkasionellen Komposita in
Zeitungstexten auf textlinguistischer Ebene eine textuelle Funktion. Die Komposita in den
Zeitungstexten selbst sind dann je nach ihrer Stelle entweder anaphorisch oder kataphorisch
(vgl. Kapitel 3.2). Die Komposita in Schlagzeilen von Zeitungstexten sind jedoch immer
kataphorisch. Als Gründe hierfür betrachte ich erstens die Tatsache, dass eine Schlagzeile der
Titel eines Zeitungstextes ist und ihr folglich kein Text vorangeht. So können Komposita in
Schlagzeilen keinen Bezug auf einen vorher genannten Textteil des Zeitungstextes nehmen.
Zweitens können Komposita in Schlagzeilen auch nicht in dem Sinne anaphorisch sein, dass
sie nur auf die außersprachliche Realität verweisen. Zeitungstexte sind so gebildet, dass die
Texte an sich immer auf die außersprachliche Realität bzw. auf den durch das Kompositum
hervorgerufenen Kontext zurückverweisen. Häufig verwendet der Journalist hierzu einen
Untertitel, z.B. Schlagzeile: Einträgliche Tunnelwirtschaft; Untertitel: In Rafah leben viele
Menschen vom Schmuggel durch die zahllosen Tunnel – in Gaza wie in Ägypten. (FAZ
09/01/09). Beim Lesen der Schlagzeile soll man das okkasionelle Kompositum im Voraus
68
Alle Wörter mit Neuheitswert wurden anhand von Wahrig Deutschem Wörterbuch (2002) und Duden (2001)
überprüft (vgl. Elsen 2004: 104).
51
nicht mit einer Bedeutung verknüpfen, denn erst der Untertitel bzw. der weitere Text
verdeutlicht bzw. interpretiert die Schlagzeile. Außerdem gilt die Schlagzeile als
Aushängeschild eines Zeitungstextes: In einigen Wörtern fasst sie irgendwie den ganzen Text
zusammen (vgl. Kapitel 1.1). Die okkasionellen Komposita in Schlagzeilen haben dann nach
der Auffassung von Elsen (2004) bezüglich der Blickrichtungen der textuellen Funktion
folgende Zwecke: Sie verdichten Information des Zeitungstextes, verbildlichen den
Zeitungstext, konstituieren das/ein Thema des Zeitungstextes, tragen die Leitmotivik des
Zeitungstextes oder fassen den Zeitungstext zusammen (vgl. Kapitel 3.2).
Gemäß den oben genannten Ausführungen in Kapitel 3.2 haben okkasionelle Komposita in
Zeitungstexten auf semantischer Ebene entweder eine primär referentielle oder primär
stilistische Funktion. Die Bezeichnung der Funktion hängt zusammen mit der Art und Weise,
wie das Kompositum den Gegenstand bzw. die Sache referiert: entweder sachlich-neutral
(referentiell) oder expressiv-wertend (stilistisch) (vgl. Kapitel 3.2). Es fragt sich, wann und
wo okkasionelle Komposita mit referentieller bzw. stilistischer Funktion verwendet werden.
Obwohl jeder Journalist einen Text betreffs der Wortwahl relativ frei aufstellt, wurde doch
eine Tendenz konstatiert. Elsen (2004: 116-117) sagt, dass okkasionelle Komposita mit
referentieller Funktion primär in informationsbezogenen Texten vorkommen. Diese Texte
haben die Absicht, einen Gegenstand oder ein Ereignis objektiv zu melden und folglich
neutral, unauffällig zu referieren. Demgegenüber findet man okkasionelle Komposita mit
stilistischer Funktion eher in den Texten der Boulevardpresse. Wie im Kapitel 1.1 schon
erwähnt, verwendet die Boulevardpresse in ihren Texten stärker bildhafte, auffällige,
emotional gefärbte Sprache und daher auch gern polemische Komposita, um ihr
Leserpublikum zu ergreifen und zu unterhalten. Deshalb betrachte ich ab jetzt derartige Texte
als appellative Texte. Elsen (2004: 103-104) bemerkt, dass okkasionelle Komposita mit
stilistischer Funktion auch in Zeitungen mit überwiegend informationsbezogenen Texten -
seriöse Zeitungen - wahrzunehmen sind. So äußert ein Kolumnist wie der Schreiber eines
Kommentars oder eines Leserbriefs unverblümt seine Meinung und verwendet dabei
expressive Wörter, und so findet man in Reportagen und Nachrichten häufig expressive
Zitate. Im ersten Falle – die Kolumne, der Kommentar und der Leserbrief – hat man es durch
den subjektiven Einschlag mit appellativen Textsorten zu tun, im zweiten Falle mit
informativen Textsorten, in denen eine Person zitiert wird. Außerdem betont Elsen (2004:
103-104) nach Jesensek (1995a: 270), dass Neologismen in Textsorten wie Nachrichten auch
stilistisch gefärbt sein können, ohne jemand zu zitieren. Umgekehrt gibt es in der
52
Boulevardpresse auch okkasionelle Komposita mit referentieller Funktion, vor allem um neue
Gegenstände oder Sachen zu benennen (vgl. Elsen 2004: 104).
Die Tendenz bemerkt auch Matussek (1994). Die Ergebnisse ihrer Forschung bezüglich
Wortneubildung in Zeitungstexten ergeben, dass von den insgesamt 102 Wortneubildungen
mit stilistischer Funktion 89 (87%) in appellativen Texten vorkommen und nur 13 (13%) in
informativen Texten. Von den 300 Wortneubildungen mit referentieller Funktion gab es nur
123 (41%) in appellativen Texten und 177 (59%) in informativen Texten (vgl. Matussek
1994: 139-142). Obwohl die Wortneubildungen nicht nur Komposita enthalten - sondern auch
Derivate, Konversionen, usw. - , bleibt die Schlussfolgerung meiner Meinung nach dieselbe:
Informationsbezogene Texte enthalten okkasionelle Komposita mit primär referentieller
Funktion, und in appellativen Texten gibt es okkasionelle Komposita mit primär stilistischer
Funktion.69
Jetzt ist es fraglich, ob diese Tendenz auch auf die Schlagzeilen zutrifft. Sind okkasionelle
Komposita in Schlagzeilen zu informativen Texten auch überwiegend referentiell und
diejenigen zu appellativen Texten überwiegend stilistisch, oder gibt es hier einen Unterschied
zu oben genannter Tendenz? Während meiner Literaturerforschung habe ich keine
Untersuchungen und Daten in Bezug hierauf gefunden, aber meiner Meinung nach ist ein
Unterschied nicht ausgeschlossen. Die Schlagzeile ist das Aushängeschild des Textes und soll
eine sichere Anziehungskraft auf den Leser bzw. einen Leseanreiz ausüben. Deswegen glaube
ich, dass okkasionelle Komposita in Schlagzeilen an erster Stelle häufig so gewählt sind, dass
sie auffallen und folglich eine stilistische Funktion haben. Ich gehe also von der
Arbeitshypothese aus, dass sowohl in appellativen als auch in informativen Texten die
okkasionellen Komposita in den Schlagzeilen überwiegend eine stilistische Funktion haben;
dies soll nun Objekt meiner eigenen Untersuchung sein.
4. Die Untersuchung
4.1 Arbeitsmethode
In meiner Untersuchung werde ich dreißig nominal-kompositionelle Okkasionalismen aus
Zeitungsschlagzeilen untersuchen. Gemäß Kapitel 3.2 betrachte ich nominale Komposita als
69
Grund für die angenommene Identität der Schlussfolgerung erblicke ich in der Tatsache, dass die Mehrheit der
Wortneubildungen prinzipiell aus Komposita besteht.
53
Okkasionalismen, wenn sie nur im Kontext verständlich und noch nicht lexikalisiert sind. Die
nominal-kompositionellen Okkasionalismen habe ich über folgende Arbeitsmethode
gefunden: Während des Lesens verschiedener Zeitungen habe ich jede Komposition mit
möglichem Neuheitswert unterstrichen und notiert. Die möglichen Ad-Hoc-Bildungen habe
ich dann anhand des großen Wörterbuches von Duden (1999) und des Wörterbuchs von
Neologismen der neunziger Jahre von Herberg (2004) kontrolliert. Wörter, die in diesen
Wörterbüchern vorkamen, betrachtete ich als lexikalisiert und habe ich folglich für diese
Arbeit außer Betracht gelassen.70
Wörter, die nicht in diesen Wörterbüchern vorkommen,
wurden dann noch mal anhand des neuesten einteiligen Wörterbuches von Duden (2007)
überprüft.71
Nominale Komposita, die auch hier nicht aufgenommen sind, betrachtete ich als
nominal-kompositionelle Okkasionalismen. Wichtig ist zu bemerken, dass ich Komposita,
deren Zweitglied häufig verwendete Wörter bzw. hochproduktiv sind, nicht berücksichtigt
habe, z.B. Komposita mit –Streit: Handelsstreit (FAZ 26.01.09), Fruchtgummi-Streit (BILD
29.01.09), Gasstreit (FAZ 26.01.09), Ortstafelstreit (FAZ 29.11.08).72
In der Untersuchung wird jeder Okkasionalismus einzeln studiert und erörtert werden.
Zunächst wird die ganze Schlagzeile und ihre Fundstelle in der Zeitung erwähnt, um dann
anschließend den Okkasionalismus zu erläutern. Erstens werde ich ihn als Kompositum
behandeln. Gemäß der Theorie in Kapitel 2.2.3 werde ich das Wort analysieren, benennen und
besprechen. Zweitens werde ich das Wort als Okkasionalismus betrachten und dazu seine
Funktionen berücksichtigen: An erster Stelle werde ich mich hier auf die textlinguistische
Ebene bzw. die textuelle Funktion des Okkasionalismus beschränken. Für diesen Teil der
Untersuchung nehme ich Bezug auf die Auffassungen von Elsen (2004) und Wildgen (1981),
die in Kapitel 3.2 besprochen wurden. Die textuelle Funktion des Okkasionalismus werde ich
anhand von Äquivalenten, Äquivalentteilen bzw. Verweisen im Text herauszufinden
versuchen.73
Deshalb werde ich neben dem Okkasionalismus selbst auch seine Äquivalente
bzw. Äquivalentteile bzw. Verweise im Text suchen und erwähnen. Umschreibungen bzw.
Verweise im Text, schon vom Journalisten angeführte Äquivalente und zitierte Äquivalente
70
Diese erste Kontrolle diente vor allem dazu, Wörter, die schon in den neunziger Jahren lexikalisiert wurden,
aus der Untersuchung herauszunehmen. 71
Diese zweite Kontrolle diente dazu, neuere Wörter, die schon lexikalisiert sind, aus der Untersuchung
herauszunehmen. 72
Hierzu verweise ich auf das Lexikon zum öffentlichen Sprachgebrauch (Brisante Wörter von Agitation bis
Zeitgeist (1989)) von Gerhard Strauß et al. 73
Als Äquivalente betrachte ich Wörter, die semantisch völlig Synonym mit dem Schlagzeilenkompositum sind.
Äquivalentteile dagegen sind Wörter, die einen Teil des Schlagzeilenkompositums bzw. ein Synonym enthalten,
aber nicht als ein richtiges Synonym des Schlagzeilenkompositum betrachtet werden können.
54
werde ich zwischen Anführungszeichen stellen.74
Bei den Äquivalenten bzw. Äquivalentteilen
werde ich die Komponenten, die formell mit dem Schlagzeilenkompositum übereinstimmen,
im Fettdruck erscheinen lassen, bei den Verweisen diejenigen, die semantisch mit dem
Schlagzeilekompositum verwandt sind. Daneben werde ich ebenfalls relevante Untertitel
erwähnen und Fälle, in denen der Kontext dann noch nicht deutlich ist, durch einen Abriss des
Artikels deutlich machen.75
Im Anhang findet man hierzu auch die verwendeten Artikel
zurück.76
Die hervorgetretene textuelle Funktion werde ich deutlichkeitshalber im Text im
Fettdruck erscheinen lassen. Letztens werde ich mich der semantischen Funktion des
Okkasionismus zuwenden. Hier werde ich herauszufinden versuchen, ob die Komposition
entweder überwiegend referentiell oder stilistisch zu betrachten ist. Pro Okkasionalismus
werde ich das Ergebnis und die Indizien letzteren Untersuchungsaspektes im Fettdruck
erscheinen lassen. Anhand der hervorgetretenen Ergebnisse letzterer Frage werde ich eine
Tabelle aufstellen und versuchen, die Hauptfrage in Kapitel 3.2.1 zu beantworten.
4.2 Material
Als Material für diese Untersuchung habe ich fünf deutschsprachige Zeitungen verwendet.
Die dreißig nominal-kompositionellen Okkasionalismen kommen entweder aus der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der ZEIT, der Süddeutschen Zeitung (SZ), Grenz-
Echo oder der Bild-Zeitung. Erstgenannte vier sind seriöse Zeitungen (vgl. Kapitel 1.1.1), in
denen also überwiegend informative Texte zu finden sind, Letztgenannte ist eine
Boulevardzeitung (vgl. Kapitel 1.12). Neben den Zeitungen in Papierversion, habe ich auch
online die FAZ, die SZ, die ZEIT und die Bild-Zeitung zu Rate gezogen. Alle konsultierten
Zeitungen und Onlineberichte datieren aus der Periode vom 8. November 2008 bis zum 01.
Mai 2009. Demzufolge handeln die gefundenen Okkasionalismen hauptsächlich von
Ereignissen und Problematik dieser Periode. Im Folgenden werde ich die verschiedenen
verwendeten Zeitungen kurz vorstellen:
- Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ist eine überregionale
deutsche Abonnement-Tageszeitung, die in Frankfurt am Main von
der Fazit-Stiftung verlegt wird. Die erste Ausgabe erschien am 1.
74
Bei zitierten Äquivalenten findet man die zitierten Urheber zwischen Klammern. 75
Der Kontext ist auch für die semantische Bestimmung des Kompositums wichtig (vgl. Kapitel 2.2.3.1.1.1.2). 76
Die Verweise, Äquivalente und Äquivalentteile in den Artikeln sind von mir unterstrichen worden.
55
November 1949. Ihre Auflage beträgt etwa 400.000 Exemplare und
hat die höchste Auslandsverbreitung aller deutschen seriösen
Zeitungen. Ihre politische Haltung gilt als klassisch liberal. Genaue
Berichterstattung in Sachen Politik, Wirtschaft, usw. leisten mehrere
spezialisierte Inland- und Auslandskorrespondenten. Seit 2001 ist die
FAZ mit einem eigenständigen Nachrichten-Portal im Internet
vertreten (FAZ.NET) (vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Allgemeine_Zeitung
(21/04/09)). Für meine Untersuchung habe ich 17 Zeitungen der FAZ
durchgenommen und FAZ.NET besucht.
- Die ZEIT ist eine überregionale deutsche Wochenzeitung, die jeden
Donnerstag erscheint. Sitz der Zeitung ist Hamburg; sie wird von der
Verlagsgruppe Holtzbrinck verlegt. Die erste Ausgabe erschien am
21. Februar 1946. Jetzt hat die ZEIT eine Auflage von etwa 546.000
Exemplaren. Ihre politische Haltung gilt - wie die der FAZ - als
liberal; ihre Zielgruppe sind vor allem Akademiker bzw.
Bildungsbürger. Seit 1996 berichtet das Internetangebot Zeit Online
über das tagesaktuelle Geschehen. (vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Zeit (21/04/09)) Für meine
Forschung habe ich eine Zeitung der ZEIT durchgenommen und Zeit
Online besucht.
- Die Süddeutsche Zeitung (SZ) ist mit einer Auflage von etwa 461.000
Exemplaren die größte deutsche überregionale Abonnement-
Tageszeitung. Sie wird im Süddeutschen Verlag in München verlegt.
Die erste Ausgabe erschien am 6. Oktober 1945. Auch ihre politische
Haltung gilt als liberal. Im Sommer 2005 wählten deutsche
Journalisten die Süddeutsche Zeitung als „Leitmedium“ Nummer
Eins. Im Internet berichtet sueddeutsche.de über die täglichen
Ereignisse (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Süddeutsche _Zeitung
(21/04/09)). Für meine Forschung habe ich zwei Zeitungen der SZ
durchgelesen und sueddeutsche.de besucht.
- Grenz-Echo ist die einzige deutschsprachige Tageszeitung Belgiens.
Sie ist auf die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens - die
Ostkantone - und die angrenzenden Gebiete in Deutschland gerichtet
56
und wird vom Grenz-Echo Verlag in Eupen verlegt. Sie hat eine
Auflage von etwa 12.500 Exemplaren und bestimmt sich selbst als
eine politisch unabhängige, tolerante und christliche Tageszeitung.
Grenzecho.net berichtet im Internet über die täglichen Ereignisse
(vgl. http://nl.wikipedia.org/wiki/Grenz-Echo (21/04/09)). Zum
Zwecke meiner Forschung habe ich 14 Zeitungen von Grenz-Echo
durchgelesen.
- Die Bild-Zeitung ist die bekannteste Boulevardzeitung Deutschlands
und mit etwa 3.345.000 Exemplaren die auflagenstärkste
Tageszeitung Europas. Seit dem 24. Juni 1952 erscheint sie im Axel-
Springer-Verlag (Berlin). Obwohl man Bild-Leser klischeehaft als
„Proleten“ betrachtet, hat die Zeitung einen großen kommerziellen
Erfolg.77
Im Internet findet man die Bild-Zeitung als Bild.de zurück.
(vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Bild_(Zeitung) (21/04/09)). Für
meine Forschung habe ich ein einzelnes Exemplar der Bild-Zeitung
durchgenommen und Bild.de besucht.
Wichtig ist zu bemerken, dass die Zahl der gelesenen Exemplare bzw. die Zahl der
gefundenen nominal-kompositionellen Okkasionalismen pro Zeitung für diese Arbeit nicht
relevant ist. Die gefundenen Wörter in der FAZ, SZ, ZEIT und Grenz-Echo gehören der
Allgemeingruppe der seriösen Zeitungen an, diejenigen der Bild-Zeitung der
Allgemeingruppe der Boulevardzeitungen. M.a.W., die gefundenen Komposita der FAZ, SZ,
ZEIT und Grenz-Echo Zeitung betrachte ich alle als Komposita seriöser Zeitungen und die
gefundenen Komposita der Bild-Zeitung als Komposita der Boulevardzeitungen.
Der Grund, warum ich nur eine Boulevardzeitung verwendet habe, ist zweiteilig: Erstens
sollen vor allem die Okkasionalismen in Schlagzeilen seriöser Zeitungen fokussiert werden,
denn ich gehe davon aus, dass Okkasionalismen in Schlagzeilen der Boulevardpresse
überwiegend dieselbe Funktion haben als im Text - und zwar eine stilistische. Zweitens ist die
Bild-Zeitung die einzige leicht erhältliche deutschsprachige Boulevardzeitung in Flandern.
4.3 Die eigentliche Untersuchung
77 Leser der Boulevardzeitungen gehören meist der mittleren Mittelschicht bis zur unteren Unterschicht an (vgl.
Kapitel 1.1.2).
57
1.
Schlagzeile: „Weniger Idiotentests“ (Bild-Zeitung 11.11.08)
Äquivalente im Text:
Medizinisch-psychologische Untersuchungen
Kompositum:
Idiotentests ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Idioten (A) + Tests (B). Semantisch gesehen
kann das Kompositum, ohne den Kontext zu betrachten, verschiedene Bedeutungen haben,
z.B. ‚Tests für Idioten‟ (‚Final‟: ‚B ist für A bestimmt‟), ‚von Idioten ausgefüllte Tests‟
(‚Agens‟: ‚B erzeugt A‟), ‚über Idioten handelnde Tests‟ (‚Thematisch‟: ‚A ist Thema von
B‟). Das Äquivalent medizinisch-psychologische Untersuchungen macht deutlich, dass es hier
um Untersuchungen handelt, die die geistige Gesundheit ihrer Patienten zum Objekt hat. Die
Untersuchungen bzw. Tests sind also für die Patienten bestimmt. Da der Okkasionalismus die
Patienten als Idioten benennt, kann man Idiotentests als ‚Tests für Idioten‟ bezeichnen.
Okkasionalismus:
Das Äquivalent im Text (medizinisch-psychologische Untersuchungen) kann als ein Synonym
von Idiotentests betrachtet werden. Demzufolge kann man folgern, dass die textuelle Funktion
inhaltlicher Art ist: Idiotentests benennt den im Text vorkommenden Begriff medizinisch-
psychologische Untersuchungen anders. Beide Wörter verweisen im Grunde auf denselben
Gegenstand, es gibt jedoch einen Unterschied in Stil: Psychologisch-medizinische
Untersuchungen verweist objektiv auf den Gegenstand. Das Wort ist eine referentiell neutrale
Benennung des betreffenden Gegenstands. Außerdem braucht man keine Zusatzinformation,
um sich den Begriff vorzustellen. Idiotentests demgegenüber kann man nicht als rein
referentiell betrachten. Das Kompositum ist eher salopp und subjektiv. Es bezeichnet die
Personen, die die - psychologisch-medizinische - Tests machen, als Idioten. Zuerst liegt die
Subjektivität des Wortes hierin, dass es schon zuvor alle Beteiligten der Tests als psychisch
gestört zu bestimmen scheint. Zweitens ist Idioten eine saloppe, abschätzige Benennung für
seelisch Kranke. Dies alles hat zur Folge, dass Idiotentest in Bezug auf den betreffenden
Gegenstand eine pejorative Konnotation hat. Folglich hat der nominal-kompositionelle
Okkasionalismus hier eine primär stilistische Funktion.
58
2.
Schlagzeile: „Behörden warnen vor „Blau-Bären“ (Bild-Zeitung 11.11.08)
Äquivalente im Text:
- Betrunkene Braunbären
- Die „Blau-bären“78
Kompositum:
Blau-Bären ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Adjektiv-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindestrich-Kompositum‟, in dem
das Erstglied ein adjektivisches Simplex und das Zweitglied ein nominales Pluralsimplex ist:
Blau (A) + Bären (B). Semantisch gesehen soll das Adjektiv das Nomen attribuieren: ‚Bären,
die blau sind‟, ‚Blaue Bären‟. Wenn man das Äquivalent betrunkene Braunbären in Betracht
zieht, soll man jedoch schließen, dass es sich hier im Grunde nicht um blaue Bären handelt,
sondern um braune. Man könnte meinen, dass Blau-Bären so eine Klammerform von Blau-
Braunbären ist. Dies ändert die semantische Interpretation des Kompositums jedoch nicht.
Nach Duden Wörterbuch (2003: 296) bedeutet blau neben der Farbe ‚blau‟ metaphorisch auch
‚betrunken‟ (ugs.). In dieser Hinsicht ist das Erstglied blau also metaphorisch zu betrachten.
Da das Erstglied das Bestimmungswort (Determinans) des Kompositums ist und das
Zweitglied folglich das Grundwort (Determinatum), kann man das ganze Kompositum nicht
78
Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hier um einen Okkasionalismus des Journalisten selbst
handelt.
59
als metaphorisch betrachten: Blau-Bären bezeichnet tatsächlich Bären. M.a.W., das
Zweitglied (Bären) bezeichnet den Gegenstand und das Erstglied (blau) bestimmt das
Zweitglied metaphorisch-expressiv näher.
Okkasionalismus:
Das Äquivalent des im Text vorkommenden Okkasionalismus „Blau-Bären“ sind betrunkene
Braunbären. Da es sich hier um ein Synonym des Okkasionalismus handelt, kann man
folgern, dass die textuelle Funktion inhaltlicher Art ist: Das schon im Text vorkommende
„Blau-Bären“ benennt den Begriff betrunkene Braunbären anders. Beide Wörter – „Blau-
Bären“ und betrunkene Braunbären - verweisen im Grunde auf denselben Gegenstand, es
gibt jedoch einen Unterschied in Stil: betrunkene Braunbären verweist objektiv auf den
Gegenstand. Das Wort ist eine referentiell neutrale Benennung des betreffenden Gegenstands.
Außerdem braucht man keine Zusatzinformation, um sich den Begriff vorzustellen: Es
handelt sich um Bräunbären, die betrunken sind. „Blau-Bären“ demgegenüber verweist - wie
oben schon erwähnt - durch das metaphorische Erstglied expressiv auf den betreffenden
Gegenstand. Außerdem gibt es ein Wortspiel mit Farbenwechsel im Kompositum: Die
Braunbären werden als „Blau-Bären“ referiert. So fällt „Blau-Bären“ auf und dient es dem
Leseanreiz. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär
stilistische Funktion.
3.
Schlagzeile: „Das 45-Meter-Mega-Grätschen-Tor“ (Bild.de, Sport 26.04.09)
Verweis im Text:
- „Gegen Leverkusen grätschte der KSC-Verteidiger [Sebastian Lang] im Mittelkreis einen
Ball von Bayers Renata, schaufelt die Kugel nach vorn. Und die schlägt tatsächlich hinter
dem weit vor dem Tor stehenden René Adler im Bayer-Kasten ein…“
Äquivalente im Text:
- Das Supertor
- Das Tor
Kompositum:
45-Meter-Mega-Grätschen-Tor ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es
binär in unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Phrase-
Nomen-Kompositum, in dem das Erstglied ein adjektivische Phrase und das Zweitglied ein
60
nominales Simplex ist: 45-Meter-Mega-Grätschen (A) + Tor (B). Semantisch gesehen
attribuiert das Erstglied das Zweitglied: Das Kompositum bezeichnet ein Tor, das von 45
Meter her geschossen wurde. Die Äquivalente im Text bestätigen die Bedeutung: Von
Mittelkreis bis Tor gibt es 45 Meter, und ein derartiges Tor kann man wegen des
Schwierigkeitsgrades als ‚super‟ betrachten.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Verweis im Text von 45-Meter-Mega-Grätschen-Tor ansieht, kann man
folgern, dass die textuelle Funktion des Kompositums formaler Art ist: Das Kompositum
verkürzt den ganzen Verweis zu einem Wort. Dabei übernimmt es das im Verweis
verwendete Verb grätschen und ersetzt es Mittelkreis durch die Strecke zwischen Mittelkreis
und Tor: 45 Meter. Daneben wird im Okkasionalismus das Einschlagen des Balls durch Tor
ersetzt. Die Äquivalente im Text demgegenüber benennen den betreffenden Gegenstand eher
vag. Sie umfassen keine Details des Tores. Die Wörter des Erstgliedes von 45-Meter-Mega-
Grätschen-Tor referieren dagegen den Gegenstand nicht neutral. Das Kompositum stellt das
Tor mittels des Adjektivs mega und des substantivierten Verb (das) Grätschen expressiv
dar.79
So streicht 45-Meter-Mega-Grätschen-Tor den betreffenden Gegenstand heraus und hat
es eine meliorative Konnotation. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus
hier eine primär stilistische Funktion.
4.
Schlagzeile: „Cholesterinsenker für alle“ (SZ, Wissen 11.11.08)
Äquivalente im Text:
- Medikamente gegen einen erhöhten Cholesterinspiegel
- Die auch Statine genannten Arzneien
- Statine
Kompositum:
Cholesterinsenker ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein Suffixderivat ist:
Cholesterin (A) + Senker (B). Semantisch gesehen kann man die Bedeutung ohne den
Kontext ermitteln: ‚Die Senker senken Cholesterin‟ (‚Agens‟: ‚B tut etwas mit A‟). Der
79
Grätschen (Fußball): mit gestrecktem Bein auf dem Ball (und die Füße des Gegenspielers) zurutschen (vgl.
Duden Wörterbuch 2003: 674).
61
Kontext macht deutlich, dass die Senker Statine sind und dass das Kompositum als Plural zu
betrachten ist: Die Äquivalente stehen im Plural: Medikamente, Statine, Arzneien.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente im Text von Cholesterinsenker ansieht, kann man folgern,
dass die textuelle Funktion des Kompositums inhaltlicher Art ist: Das Kompositum benennt
die Gegenstände anders als die Äquivalente. Cholesterinsenker verweist sachlich, objektiv auf
die Statine genannten Medikamente gegen einen erhöhten Cholesterinspiegel und stellt den
betreffenden Gegenstand so neutral dar. Außerdem kann der Okkasionalismus nicht von
einem logischeren Wort ersetzt werden, ohne dass die spezifische Bedeutung geändert wird.
Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle
Funktion.
5.
Schlagzeile: „Der Finanzterrorist“ (SZ, Geld 11.11.08)
Untertitel: „Jérôme Kerviel verspekuliert fünf Milliarden Euro und treibt damit die Bank
Société Générale an den Rand des Abgrunds“
Äquivalente im Text:
- Der bekannteste unter den gescheiterten Spekulanten dieser Welt
- Jérôme Kerviel
- „Destruktiver, kleiner Händler“ (Daniel Bouton, Bankchef der Bank Société Générale)
- „Terrorist“ (Daniel Bouton, Bankchef der Bank Société Générale)
- Der Held von Anti-Kapitalisten
Kompositum:
Finanzterrorist ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein Suffixderivat ist:
Finanz (A) + Terrorist (B). Semantisch gesehen kann man die Bedeutung wie folgt
interpretieren: ‚Der Terrorist terrorisiert die Finanz‟ (‚Agens‟: ‚B tut etwas mit A‟). Wenn
man den Kontext in Betracht zieht, stellt man fest, dass es sich hier nicht um einen wirklichen
Terroristen handelt, sondern um eine Person, die durch Verspekulierung der Bank Société
Générale Schaden zufügt. In dieser Hinsicht ist das Zweitglied metaphorisch zu betrachten:
Die betreffende Person wird ein Terrorist genannt. Da das Erstglied (Finanz) das
Bestimmungswort des Kompositums ist und das Zweitglied (Terrorist) folglich das
Grundwort, kann man das ganze Kompositum als metaphorisch betrachten: Finanzterrorist
62
bezeichnet keinen Terroristen, sondern eine Person, die fünf Milliarden Euro verspekuliert
hat.
Okkasionalismus:
Obwohl Finanzterrorist Bezug nimmt auf die zitierte Benennung von Daniel Bouton
(„Terrorist“), benennt es die betreffende Person (Jérôme Kerviel) anders als die Äquivalente
im Text. Demzufolge kann man folgern, dass die textuelle Funktion des Okkasionalismus
inhaltlicher Art ist. Wie oben schon erwähnt, verweist das Kompositum metaphorisch auf die
betreffende Person. Es stellt sie expressiv und verbildlicht dar: Es macht aus der Person, die
fünf Milliarden Euro verspekuliert hat, einen Terroristen. Der Spekulant wird so schlechter,
negativer als in Wirklichkeit dargestellt. Durch die Verbildlichung und pejorative
Konnotation dient Finanzterrorist dem Leseanreiz. Folglich hat der nominal-kompositionelle
Okkasionalismus hier eine primär stilistische Funktion.
6.
Schlagzeile: „Sprachbad für die Pressezwerge“ (SZ, Abschied und Aufbruch 11.11.08)80
Äquivalente im Text:
1)
- Die Kinder
- Die kleinen Besucher
2)
- Der SV-Kindergarten81
- „Eine ambitionierte Kombination von Kindergarten und Kinderkrippe, mit besserem
Personalschlüssel als gewöhnlich, finanziell vom Unternehmen [Süddeutscher Verlag]
gefördert.“
- Das Projekt
- „Pressezwerge“82
Komposition:
Pressezwerge ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Presse (A) + Zwerge (B). Semantisch gesehen
ist dieses Kompositum schwieriger zu interpretieren. Aus dem Kontext kann man ableiten,
dass Pressezwerge auf dem gleichlautenden Namen der vom SZ-Verlag finanzierten
80
“Abschied und Aufbruch” ist eine Sonderbeilage der SZ anlässlich des Umzugs des Hauptsitzes der SZ. 81
SV = Süddeutscher Verlag. 82
Hier steht „Pressezwerge“ zwischen Anführungszeichen, weil es auf den Eigennamen bzw. die
Kindertagesstätte verweist.
63
Kindertagesstätte basiert (siehe 2)) bzw. auf die Kinder der Kindertagesstätte verweist. Somit
kann man sagen, dass das Kompositum metaphorisch zu betrachten ist: Das Zweitglied, das
als Grundwort gilt, bestimmt die Kinder metaphorisch als Zwerge. Das Erstglied Presse, das
als Bestimmungswort gilt, bestimmt die von der Presse finanzierten Kindertagesstätte
metonymisch als Presse. In dieser Hinsicht kann man Pressezwerge analysieren als ‚Kinder
(Zwerge), die zu der von der Presse finanzierten Kindertagesstätte (Presse) gehören‟
(‚Adhäsiv‟: ‚B gehört zu A‟).
Okkasionalismus:
Im Folgenden lasse ich die Interpretation von Pressezwerge als Eigennamen einer
Kindertagesstätte außer Betracht (siehe oben 2)), denn Pressezwerge in der Schlagzeile
verweist nur auf den Gegenstand, besprochen in 1).83
Pressezwerge benennt den betreffenden
Gegenstand anders als die Äquivalente im Text. Demzufolge kann man folgern, dass die
textuelle Funktion des Okkasionalismus inhaltlicher Art ist. Es gibt einen Unterschied in Stil
zwischen dem Kompositum und seinen Äquivalenten: Die Kinder und die kleinen Besucher
verweisen eher objektiv auf die Kinder, die die Kindertagesstätte besuchen. Die Wörter sind
neutrale, sachliche Benennung des betreffenden Gegenstands. Deshalb kann man das
Äquivalent im Text als referentiell betrachten. Pressezwerge demgegenüber umschreibt die
Personen - wie oben schon erwähnt - metaphorisch. Es stellt die kleinen Kinder, die die
Tagesstätte besuchen, expressiv und verbildlicht dar, nämlich als Zwerge. So fällt
Pressezwerge auf und dient es dem Leseanreiz. Folglich hat der nominal-kompositionelle
Okkasionalismus hier eine primär stilistische Funktion.
7.
Schlagzeile: „Querstrichland, die Perle der östlichen Provinzen“ (SZ, Abschied und
Aufbruch 11.11.08)
Äquivalente im Text:
- Steinhausen/Zamdorf
- Der neue SV-Standort
- Querstrichland
83
Als Grund hierfür betrachte ich die Tatsache, dass Pressezwerge nicht zwischen Anführungszeichen steht und
die Verwendung des Eigennamens in der Schlagzeile unlogisch scheint, da der Eigenname keinen Artikel hat.
64
Verweise im Text:
- „Der Querstrich zwischen den zwei Orten […] deutet schon an, welch zerrissene Seele in
unserer neuen Heimat wohnt.“
- „Die Ortsgrenzen wechseln hier so schnell, dass man fast an jeder Straßenkreuzung ein
neues Schild entdeckt und manche Bewohner […] gar nicht genau sagen können, wo sie sich
befinden.“
Komposition:
Querstrichland ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Kompositum und das Zweitglied ein Simplex ist:
Querstrich (A) + Land (B). Indem die semantische Interpretation dieses Kompositum an
erster Stelle unlogisch scheint, soll man den Kontext zu Rate ziehen. Mit dem Kompositum
Querstrichland bezeichnet der Journalist einen Ort bzw. ein Stück Land
(Steinhausen/Zamdorf), das zwei Gemeinden umfasst, die schwierig voneinander zu trennen
sind. Das Erstglied Querstrich (Wortbildungsmäßig selber aus quer + Strich
zusammengesetzt) ist als Bestimmungswort des Kompositums (Determinans) metaphorisch
zu betrachten, das Zweitglied Land ist folglich das Grundwort des Kompositums
(Determinatum).84
So kann man das ganze Kompositum nicht als metaphorisch betrachten:
Querstrichland bezeichnet tatsächlich ‚Land‟. M.a.W., das Zweitglied (Land) bezeichnet den
Gegenstand und das Erstglied (Querstrich) bestimmt das Zweitglied metaphorisch-expressiv
näher.
Okkasionalismus:
Querstrichland ist Synonym von Steinhausen/Zamdorf, dem Ort, der in den Verweisen
besprochen wird. Demzufolge ist die textuelle Funktion des Kompositums inhaltlicher Art.
Querstrichland benennt den betreffenden Gegenstand anders als das Äquivalent im Text
(Steinhausen/Zamdorf). Während Steinhausen/Zamdorf den betreffenden Ort neutral, sachlich
referiert, benennt Querstrichland ihn - wie oben schon erwähnt – durch das metaphorische
Erstglied expressiv. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine
primär stilistische Funktion.
8.
84
Hinweis auf die Metapher im Erstglied ist der Schrägstrich in der neutralen Benennung des Ortes
Steinhausen/Zamdorf. Auch im Text wird hierauf verwiesen: Der Querstrich zwischen den zwei Orten […].
65
Schlagzeile: „Haarpolitik“ (Die ZEIT, Kolumne 20.11.08)
Untertitel: „Was Cem Özdemir mit seinen Koteletten sagen will“
Verweise im Text:
- „Özdemir [Vorsitzender der Grünen] […] wurde in den ersten Kommentaren vor allem für
seine neue Haartracht gerühmt.“
- „[E]r hat sich selbst erfahrungsälter und zugleich physisch jünger, cooler gemacht.“
- „Warum also ließ Cem Özdemir sich für sein politisches Comeback Koteletten wachsen?“
Komposition:
Haarpolitik ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Haar (A) + Politik (B). Semantisch scheint
das Kompositum an sich unlogisch, deshalb ist es notwendig, dass man sich den Kontext
ansieht. Das Kompositum Haarpolitik verweist auf die Politik des neuen Vorsitzenden der
Grünen Cem Özdemir, eines Mannes mit Koteletten. Man könnte behaupten, dass Haarpolitik
von ‚Politik (B) bezüglich des Haares (A)‟ handelt.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Verweise im Text ansieht, kann man folgern, dass Haarpolitik die in den
Verweisen behandelte Thematik bezeichnet. Demzufolge ist die textuelle Funktion des
Kompositums thematischer Art: Die Verweise bzw. der Text handeln von - wie oben schon
erwähnt - der Politik des neuen Vorsitzenden der Grünen Cem Özdemir, eines Mannes mit
Koteletten. Indem Haarpolitik die Politik von Cem Özdemir, einem Mann mit besonderem
Haarwuchs, bezeichnet, kann man behaupten, dass es so neutral, objektiv den betreffenden
Gegenstand referiert. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine
primär referentielle Funktion.
9.
Schlagzeile: „Königin-Attentäter tot“ (Zeit Online, Politik 01.05.09)
Untertitel: „Der Mann, der versucht hat, einen Anschlag auf die niederländische Königin zu
verüben, ist tot. Er starb an den Folgen seiner Verletzungen nach der Amokfahrt“
Äquivalente im Text:
- Der 38-Jährige
- Karst T.
- Der Mann
- Der Amokfahrer
- Der Attentäter
66
Kompositum
Königin-Attentäter ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindesstrich-Kompositum‟, in dem
das Erstglied ein Movierungssuffix –in hat und das Zweitglied ein Suffixderivat ist: Königin
(A) + Attentäter (B). Das Kompositum kann man an sich semantisch interpretieren, es wird
vom Untertitel erklärt: ‚Der Attentäter (Karst T.), der versucht, ein Attentat auf die
niederländische Königin zu verüben‟ (‚Agens‟: B tut etwas mit A‟).
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Untertitel ansieht, kann man folgern, dass die textuelle Funktion von
Königin-Attentäter formaler Art ist: Das Kompositum verkürzt die nominalen Phrase der
Mann, der versucht hat einen Anschlag auf die niederländische Königin zu verüben zu einem
Wort(Univerbierung). Die Äquivalente im Text demgegenüber benennen die betreffende
Person meiner Meinung nach eher vag und allgemein. Sie bringen das Anschlagsziel der
betreffenden Person nicht zum Ausdruck. Königin-Attentäter benennt die Person, die versucht
hat, einen Anschlag auf die niederländische Königin zu verüben, sachlich und objektiv.
Demzufolge hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle
Funktion.
10.
Schlagzeile: „Höffnung für die Kellerkinder“ (Die ZEIT, Chancen 20.11.08)
Äquivalente im Text:
- Die Risikogruppe, jene Fünfzehnjährigen, die nicht richtig lesen und schreiben können
- Die Sitzenbleiber
- Kinder
- Die Bremer Schüler
Verweise im Text:
- „In den drei von Pisa getesteten Bereichen […] findet sich Bremen einmal mehr am Ende
der Tabelle der sechzehn Bundesländer.“85
Komposition:
85
Die PISA-Studien sind internationale Schulleistungsuntersuchungen, die zum Ziel haben, alltags- und
berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-jähriger Schüler zu messen (vgl.
http://de.wikipedia.org/wiki/PISA-Studien ( 21.04.09).
67
Kellerkinder ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Keller (A) + Kinder (B). Semantisch könnte
man interpretieren, dass das Kompositum Kinder bezeichnet, die in einem Keller leben
(‚Lokal‟: ‚B befindet sich in A‟).86
Wenn man sich den Kontext ansieht, stellt man fest, dass
es sich hier um einen bildlichen Keller handelt: Mit Keller werden die letzten Plätze bzw. die
schwächsten Resultate der PISA-Tabelle gemeint. Das Erstglied Keller ist so als metaphorisch
zu betrachten. Da das Erstglied als Bestimmungswort gilt und das Zweitglied als Grundwort,
kann man das ganze Kompositum jedoch nicht als metaphorisch betrachten: Kellerkinder
bezeichnet tatsächlich ‚Kinder‟. Mit anderen Worten, das Zweitglied (Kinder) bezeichnet den
Gegenstand und das Erstglied (Keller) bestimmt das Zweitglied metaphorisch-expressiv
näher.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente im Text ansieht, kann man folgern, dass Kellerkinder die
betreffenden Kinder anders als die Äquivalente im Text benennt. Demzufolge ist die textuelle
Funktion des Okkasionalismus hier inhaltlicher Art. Es gibt einen Unterschied im Stil
zwischen dem Kompositum und seinen Äquivalenten: Sitzenbleiber, Kinder, die Bremer
Schüler und Die Risikogruppe, jene Fünfzehnjährigen, die nicht richtig lesen und schreiben
können verweisen eher objektiv auf die Kinder, deren Ergebnisse in den PISA-Studien die
schwächsten waren. Kellerkinder demgegenüber stellt die Kinder durch das metaphorische
Erstglied jedoch expressiv dar, als ob sie sich in einem Keller befinden würden. Folglich hat
der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär stilistische Funktion.
11.
Schlagzeile: „Die Banken haben die Schnäppchenkultur gefördert“ (FAZ.NET, Finanz
29.11.08)
Äquivalente im Text:
- Die Schnäppchenkultur
Äquivalentteile im Text:
- Das Schnäppchendenken
- Eine solche Schnäppchenjagd
86
Vor allem in der heutigen Gesellschaft, in der häufig Fälle von Kindermisshandlung und Pädophilie
auftauchen.
68
Verweise im Text:
- „Die Anleger ihrer Bank haben ihrer Bank den Rücken gekehrt und sich auf
Schnäppchenjagd begeben.“
- „Der Bankkunde rennt jedem Zehntelprozent hinterher.“
Komposition:
Schnäppchenkultur ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem die erste UK ein Suffixderivat und die zweite UK ein Simplex ist:
Schnäppchen (A) + Kultur (B). Semantisch könnte man das Kompositum an sich richtig
interpretieren, der Kontext verdeutlicht aber den Begriff: Es handelt sich um eine Kultur, die
von Schnäppchendenken und Schnäppchenjagd geprägt ist. Die Schnäppchen sind gleichsam
das Thema der (Schnäppchen)Kultur (‚thematisch: ‚A ist Thema von B‟).
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Verweise und das Äquivalent von Schnäppchenkultur ansieht, kann man
folgern, dass die textuelle Funktion des Kompositums thematischer Art ist: Das Kompositum
thematisiert die in den Verweisen und dem Äquivalent besprochene Thematik, nämlich die
Tatsache, dass man sich in einer Periode befindet, in der Bankkunden sich um preisgünstige
Angebote (Schnäppchen) bemühen. Schnäppchenkultur verweist sachlich, objektiv auf diese
Kultur des Schnäppchendenkens und benennt den betreffenden Gegenstand somit neutral.
Außerdem kann der Okkasionalismus nicht von einem logischeren Wort ersetzt werden.
.Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle
Funktion.
12.
Schlagzeile: „Die Klagen des Koalitionsherkules“ (FAZ.NET, Inland Politik 27.11.08)
Äquivalente im Text:
- Horst Seehofer
- Neuer Ministerpräsident von Bayern
- Bayrischer CSU-Vorsitzende
- Koalitionsherkules
Verweise im Text:
- „ Mit drei Parteien in Koalition“
69
- „Er [Horst Seehofer] befinde sich in München und Berlin mit drei Parteien in Koalition –
mit der CDU, der SPD und der FPD.“
- Den Seufzer des „Wie-Wir-Wo“, das die Leitmelodie seiner Regierungszeit werden könnte,
stieß Seehofer im „Handelsblatt“ so heftig aus, als gäbe es irgendwo eine Wunderkraft, die
ihn von der FDP, der SPD, ja vielleicht sogar von der CDU befreien könnte.
Komposition:
Koalitionsherkules ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Koalition(A) + Fugenelement -s- + Herkules
(B).87
Semantisch kann man an dem Erstglied und dem Kontext bemerken, dass der Herkules
keine Person mit einer großen Körperkraft ist, sondern eine (Horst Seehofer), die mit drei
Parteien in Koalition ist. M.a.W., die Kraft der Person äußert sich nicht in Körperkraft,
sondern in mentaler bzw. Unternehmenskraft. Da das Zweitglied Herkules, das als Grundwort
gilt, an sich selber metaphorisch ist - der Ausdruck referiert die Person im Grunde als der
Halbgott Herkules, ist das ganze Kompositum folglich als metaphorisch zu betrachten. In
dieser Hinsicht kann man Koalitionsherkules als ‚eine Person, die eine große Koalition
gegründet hat‟ betrachten (‚Agens‟: B erzeugt A‟) oder als ‚eine Person mit großen
(Unternehmens)Kraft, die einer Koalition angehört‟ (‚Adhäsiv‟: ‚B gehört zu A‟).
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente und den Verweis von Koalitionsherkules ansieht, kann man
folgern, dass die textuelle Funktion des Kompositums inhaltlicher Art ist: Das Kompositum
benennt die betreffende Person anders als die Äquivalente, nämlich im Rahmen seiner
Koalition mit 3 Parteien (siehe Verweis). Es gibt jedoch einen Unterschied im Stil zwischen
den Äquivalenten und dem Okkasionalismus. Die Äquivalente verweisen objektiv und sind
deshalb referentiell neutrale Benennungen der betreffenden Person. Koalitionsherkules
demgegenüber kann man nicht als primär referentiell betrachten. Es bezeichnet die Person,
die eine Koalition mit drei Parteien schloss bzw. die Person, die einer Koalition angehört,
expressiv-metaphorisch als einen Herkules, einen Menschen mit großer Kraft. So lobt
Koalitionsherkules meiner Meinung nach die betreffende Person als Helden der Koalition und
87
Neben dem griechischen Halbgott Herkules (Eigenname) wird Herkules im Duden Wörterbuch (2003: 750)
auch als ‚Mensch mit großer Körperkraft‟ (abgeleitet von der Kraft des Halbgottes Herkules) umschrieben. Da
diese Benennung lexikalisiert ist, kann man der Herkules als vollwertiges Nomen (Gattungsname) betrachten.
70
hat es demzufolge eine meliorative Konnotation. Der nominal-kompositionelle
Okkasionalismus hat hier eine primär stilistische Funktion.
13.
Schlagzeile: „ ‚Kofferbomber‟ hofft auf Freispruch“ (FAZ.NET, Inland Politik
26.11.08)
Äquivalente im Text:
- Jussif al Hajj Dib
- Der 24 Jahre alte Libanese
- Das im nordlibanesischen Tripoli aufgewachsene jüngste von 13 Geschwistern
- Der Bombenbauer
Äquivalentteile im Text:
- Der sogenannte „Kofferbomber“-Prozess
Kontext: Der Artikel handelt von der Rechtssache gegen einen der Terroristen (Jussif al Haij
Dib), die versuchten, einen Anschlag auf zwei Regionalzüge im Kölner Hauptbahnhof Ende
Juli 2006 zu verüben. Hierzu hatten die Terroristen Koffer mit Sprengstoff mitgebracht.
Komposition:
Kofferbomber ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein Suffixderivat ist:
71
Koffer (A) + Bomber (B).88
Semantisch könnte man das Kompositum an sich auf zwei
plausible Weise interpretieren: ‚eine Person, die Koffer bombardiert‟ (‚Agens‟: B tut etwas
mit A‟) und ‚eine Person, die Kofferbomben macht und legt‟ (‚Agens‟: ‚B erzeugt A‟). Wenn
man den ganzen Kontext in Betracht zieht, muss man schließen, dass hier die letztere
Bedeutung gemeint ist.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente von „Kofferbomber“ ansieht, kann man folgern, dass die
textuelle Funktion des Kompositums inhaltlicher Art ist: Das Kompositum benennt, neben
Bombenbauer, die betreffende Person anders als die Äquivalente, nämlich im Rahmen seines
Verbrechens: Kofferbomben bauen (siehe Kontext). Genau wie die Äquivalente verweist
„Kofferbomber“ sachlich, objektiv auf die betreffende Person. Außerdem kann der
Okkasionalismus nicht von einem logischeren Wort ersetzt werden, ohne dass seine
spezifische Bedeutung geändert wird. Demzufolge hat der nominal-kompositionelle
Okkasionalismus hier eine primär referentielle Funktion.
14.
Schlagzeile: „Im Weltwirtschaftsgewitter“ (sueddeutsche.de, Wirtschaftspolitik
29.11.08)
Untertitel: Marx ist aktuell: Er beschrieb die Gesellschaft, in der wir heute leben - die jetzige
Finanzkrise eingeschlossen
Äquivalentteile im Text:
- Krisezeiten
Verweise im Text:
- „Schon bevor die Finanzkrise über die Welt hereinbrach, waren die Schriften von Marx in
Deutschland wieder gefragt.“
Kontext: Der Text selbst handelt von den Einflüssen des Marxismus bzw. des Kapitalismus
auf die Weltwirtschaft.
Komposition:
Weltwirtschaftsgewitter ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied selber ein nominales Kompositum und das Zweitglied ein
Simplex ist: Weltwirtschaft (A) + Fugenelement -s- + Gewitter (B). Semantisch gesehen
88
Bomber wird hier nicht in dem umgangssprachlichen Sinne eines Bombenflugzeugs verwendet, sondern in
dem saloppen Sinne eines Bombenlegers. (vgl. Duden 2003: 306).
72
braucht man den Kontext, um die richtige Interpretation zu bilden. Es handelt sich hier nicht
um ein wirkliches Gewitter, der Journalist vergleicht nur die Weltwirtschaft und ihren
Finanzkrisen mit einem Gewitter. So versucht er, das Chaotische und das Drohende, das mit
einem Gewitter gepaart einhergeht, auf die Finanzkrisen zu übertragen. Das Zweitglied
Gewitter ist so als metaphorisch zu betrachten. Da das Erstglied Weltwirtschaft als
Bestimmungswort gilt und das Zweitglied als Grundwort, kann man das ganze Kompositum
als metaphorisch betrachten.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Untertitel, das Äquivalentteil, den Verweis und den Kontext von
Weltwirtschaftsgewitter ansieht, kann man folgern, dass die textuelle Funktion des
Kompositums thematischer Art ist: Das Kompositum thematisiert und benennt die
Weltwirtschaft mit ihrem Chaos bzw. ihren Krisenzeiten als das Weltwirtschaftsgewitter.
Weltwirtschaftsgewitter ist - wie oben schon erwähnt - als metaphorisch zu betrachten. Es
stellt den Gegenstand expressiv und verbildlicht dar: Es bezeichnet die Finanzkrisen, die
über die Welt hereinbrachen bzw. hereinbrechen, als ein Gewitter. Durch die Verbildlichung
des Gegenstands fällt Weltwirtschaftsgewitter auf und dient es so dem Leseanreiz. Folglich
hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär stilistische Funktion.
15.
Schlagzeile: „ ‚Nichts gesehen‟, Schilderfrevler ohne Namen“ (Grenz-Echo, Hier und
Heute 03.11.08)
Äquivalente im Text:
- Schildbeschmierer
- Die Schildermaler
- „Pinselhelden“89
- Die nächtlichen Täter
- Schmierer
Komposition:
Schilderfrevler ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein Suffixderivat ist:
89
Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hier um einen Okkasionalismus des Journalisten selbst
handelt.
73
Schilder (A) + Frevler (B). Semantisch kann man das Kompositum an sich interpretieren, der
Kontext ist jedoch notwendig, um die Frevel zu benennen: Es handelt sich um Frevler, die
Schilder beschmieren (‚Agens‟: ‚B tut etwas mit A‟).
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente von Schilderfrevler ansieht, kann man folgern, dass die
textuelle Funktion des Kompositums inhaltlicher Art ist: Das Kompositum benennt die
betreffenden Personen anders als die Äquivalente, aber nicht deutlicher. Schilderfrevler
benennt nur allgemein die Schilderfrevel der Personen. Im Gegensatz zu den meisten
Äquivalenten benennt es die Art der Frevel nicht: malen, schmieren, beschmieren, pinseln.
Trotzdem verweist Schilderfrevler objektiv auf die betreffenden Personen und ist folglich als
sachlich, neutral zu betrachten. Der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hat hier eine
primär referentielle Funktion.
16.
Schlagzeile: „Steinmeier warnt vor ‚Stationierungswettlauf‟ “ (FAZ, erste Seite
07.11.08)
Äquivalente im Text:
- „Stationierungswettlauf“ (Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD))
Verweise im Text:
- „[…] die russische Reaktion auf die amerikanischen Pläne, in Polen und der Tschechischen
Republik ein Raketenabwehrsystem zu stationieren, sei ‚verständlich‟.“ (SPD-
Fraktionsvorsitzender Peter Struck)
- „Eine neue Aufrüstungsspirale“ (FDP-Vorsitzender Guido Westerwelle)
Komposition:
„Stationierungswettlauf“ ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär
in unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Suffixderivat und das Zweitglied selber ein
Kompositum ist: Stationierung (A) + Fugenelement -s- + Wettlauf (B). Semantisch gesehen
kann man das Kompositum an sich richtig interpretieren. Der Kontext ist jedoch notwendig,
um zu wissen, was genau stationiert wird. Das Kompositum handelt von dem Wettlauf
zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, Raketen zu stationieren. Mit anderen
74
Worten, Stationierungswettlauf bezeichnet einen Wettlauf, der mit der Stationierung (von
Raketen) einhergeht.
Okkasionalismus:
„Stationierungswettlauf“ ist ein Okkasionalimus, der von Außenminister Frank-Walter
Steinmeier zitiert wird und schon im Text vorkommt. Wenn man sich den ersten Verweis von
„Stationierungswettlauf“ ansieht, kann man folgern, dass die textuelle Funktion des
Kompositums formaler Art ist: Das Kompositum verkürzt den Verweis zu einem
Wort(Univerbierung), erwähnt aber nicht, was stationiert wird. Stationierungswettlauf
verweist objektiv auf den betreffenden Gegenstand und ist folglich als sachlich, neutral zu
betrachten. Außerdem kann der Okkasionalismus nicht von einem logischeren Wort ersetzt
werden, ohne dass seine spezifische Bedeutung geändert wird. Demzufolge hat der nominal-
kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle Funktion.
17.
Schlagzeile: „Streifzüge im Reich der Plastikknirpse“ (FAZ, Beruf und Chance 08.11.08)
Äquivalente im Text:
- Die Playmobil-Figuren
- Die daumengroßen Kunststoffknirpse
- Die bunten Plastikmännchen mit den steifen Armen und der markanten Zackenfrisur.
- Die mondgesichtigen Plastikpüppchen
Komposition:
Plastikknirpse ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Plastik (A) + Knirpse (B). Semantisch
gesehen könnte man das Kompositum an sich wie folgt interpretieren: ‚Kleine Jungen, aus
Plastik gemacht‟ (‚Material‟: ‚B besteht aus A‟). Wenn man den Kontext berücksichtigt, stellt
man fest, dass es sich hier nicht um Personen, sondern um Püppchen bzw. Playmobil-Figuren
handelt. Plastikknirpse ist so als metaphorisch zu betrachten, und zwar durch das Zweitglied
Knirpse. Das Erstglied Plastik bestimmt das Kompositum nur objektiv näher. Da das
Erstglied jedoch als Bestimmungswort gilt und das Zweitglied als Grundwort, kann man das
ganze Kompositum also als metaphorisch betrachten.
75
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente im Text von Plastikknirpse ansieht, kann man folgern, dass
die textuelle Funktion des Okkasionalismus inhaltlicher Art ist. Der Okkasionalismus
benennt die betreffenden Gegenstände (Playmobil-Figuren) anders als die Äquivalente, denn
es gibt einen Unterschied im Stil: Die Äquivalente bezeichnen die Figuren eher objektiv und
referieren folglich eher neutral und sachlich. Plastikknirpse demgegenüber benennt die
Figuren - wie oben schon erwähnt - metaphorisch. Es stellt die Playmobil-Figuren expressiv
und verbildlicht dar, nämlich als kleine Jungen. So fällt Plastikknirpse auf und dient es dem
Leseanreiz. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär
stilistische Funktion.
18.
Schlagzeile: „ Zwischenerholung an den Schwellenbörsen“ (FAZ, Finanzmärkte und
Geldanlage 04.11.08)
Äquivalente im Text:
- Die Börsen der Schwellenländer
- Die Schwellenmärkte
- Die Aktienmärkte der Schwellenländer
Kompositum:
Schwellenbörsen ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem beide UK Simplizia sind: Schwelle (A) + Fugenelement -n- + Börsen
(B). Wichtig ist zu bemerken, dass es sich hier um eine Klammerform des Kompositums
Schwellenländerbörsen handelt. Da die Bedeutung der Klammerform (Schwellenbörsen) mit
diejenigen des herkömmlichen Kompositums (Schwellenländerbörsen) völlig übereinstimmt,
kann man Schwellenbörsen semantisch als ‚die Börsen der Schwellenländer‟ (‚Lokal‟: ‚B
stammt von A‟) interpretieren.
Okkasionalismus:
76
Wenn man sich die Äquivalente im Text von Schwellenbörsen ansieht, kann man folgern,
dass die textuelle Funktion des Okkasionalismus inhaltlicher Art ist: Der Okkasionalismus
ist ein Synonym der Äquivalente. Schwellenbörsen verweist genau wie seine Äquivalente
sachlich, objektiv auf die betreffende Gegenstände und stellt sie so neutral dar. Außerdem
kann der Okkasionalismus nicht durch ein logischeres Wort ersetzt werden, ohne dass seine
spezifische Bedeutung geändert wird. Folglich hat der nominal-kompositionelle
Okkasionalismus hier eine primär referentielle Funktion.
19.
Schlagzeile: „Der Null-Komma-nix-Kredit“ (sueddeutsche.de, Geld 06.12.08)
Untertitel: „Mit ihrem 0,0-Prozent-Kredit ist die SEB Bank scheinbar in vorweihnachtlicher
Stimmung. Doch letztlich entpuppt sich das Kreditangebot nur als Marketing-Gag.“
Äquivalente im Text:
- Ein Kredit für 0,0 Prozent effektiven Jahreszins
- Der Null-Zins-Kredit
- Der Kredit
- Der Null-Komma-nix-Kredit
Kompositum:
Null-Komma-nix-Kredit ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Phrase-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Numeralwortphrase und das Zweitglied ein Simplex
ist: Null-Komma-nix (A) + Kredit (B). Semantisch gesehen kann man Null-Komma-nix-
Kredit als ein Kompositum, bei dem eine Menge angegeben wird, interpretieren. Aus dem
Kontext schließt man, dass es um einen Kredit zu 0,0 Prozent effektivem Jahreszins handelt.
Okkasionalismus:
77
Wenn man sich den Untertitel und die Äquivalente im Text - außer dem Okkasionalismus
selbst - von Null-Komma-nix-Kredit ansieht, kann man folgern, dass die textuelle Funktion
des Okkasionalismus inhaltlicher Art ist: Er benennt den im Untertitel und den Äquivalenten
besprochenen Gegenstand anders. Obwohl man über die Rolle des nix-Elements diskutieren
könnte - Man könnte meinen, dass es als Konnotation ‚äußerst wenig‟ hat, glaube ich nicht,
dass es den Zweck hat, explizit die Aufmerksamkeit auf den Okkasionalismus zu lenken.
Null-Komma-nix-Kredit verweist meiner Meinung nach wie seine Äquivalente sachlich,
objektiv auf den betreffenden Gegenstand und stellt ihn so eher neutral als stilistisch dar.
Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle
Funktion.
20.
Schlagzeile: „Einträgliche Tunnelwirtschaft“ (FAZ, Politik 09.01.09)
Untertitel: „In Rafah leben viele Menschen vom Schmuggel durch die zahllosen Tunnel – in
Gaza wie in Ägypten.“
Äquivalente im Text:
- „Tunnelwirtschaft“90
- Das wohl organisierte Schmuggelgeschäft
- Die Schmuggeltunnel
Verweise im Text:
- „Seit der Gazastreifen von den Israelis hermetisch abgeriegelt worden ist, sind die Tunnel
vom palästinischen zum ägyptischen Rafah unter der Grenze und einer Betonmauer hindurch
die wichtigste Einnahmequelle für das Städtchen.“
- „[…]weil der Bau, der Unterhalt und die Transporte durch die Tunnel der einträglichste
Wirtschaftszweig im Gazastreifen wurden.“
Kompositum:
Tunnelwirtschaft ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein Suffixderivat ist:
90
Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hier um einen Okkasionalismus des Journalisten selbst
handelt.
78
Tunnel (A) + Wirtschaft (B). Für die Bedeutung des Kompositums braucht man den Kontext:
Es handelt sich im Text um den Handel und Schmuggel im Tunnel von Gaza nach Ägypten.
Deshalb kann man Tunnelwirtschaft semantisch als ‚die Wirtschaft, die sich im Tunnel
vollzieht‟ (‚Lokal‟: ‚B vollzieht sich in A‟) interpretieren.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Untertitel, den Verweis und die Äquivalente im Text von
Tunnelwirtschaft ansieht, kann man folgern, dass die textuelle Funktion des Okkasionalismus
formaler Art ist: Der Okkasionalismus benennt den Handel und Schmuggel durch den Tunnel
in einem Wort, nämlich als eine Tunnelwirtschaft. Das Kompositum verweist sachlich,
objektiv auf den betreffenden Gegenstand und stellt ihn so neutral dar. Außerdem kann der
Okkasionalismus nicht von einem logischeren Wort ersetzt werden, ohne dass seine
spezifische Bedeutung geändert wird. Deshalb verwendet der Journalist den Okkasionalismus
auch im Text selbst. Er hat ihn notgedrungen erfunden, denn eine schon existierende
Benennung des Gegenstands in einem Wort gibt es nicht. Folglich hat der nominal-
kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle Funktion.
21.
Schlagzeile: Der Krisencoach (FAZ, Unternehmen 05.01.09)
Untertitel: „Hans Kreis hat jahrelang selbst Unternehmen gegründet – jetzt richtet er
ausgebrannte Manager wieder auf.“
Äquivalente im Text:
- Der Chef
Verweise im Text:
- „Hans Kreis […] kümmert sich um Manager in Krise.“
- „Ich bin Deutschlands erster Coach“ (Hans Kreis)
Kompositum:
Krisencoach ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein entlehntes Simplex ist:
Krisen (A) + Coach (B). Aus dem Kontext kann man schließen, dass das Kompositum eine
Person (Hans Kreis) benennt, die Manager in Krise unterstützt. In dieser Hinsicht kann man
79
einen Krisencoach semantisch als ‚ein Coach, bestimmt für Krisen‟ (‚Final‟: ‚B ist bestimmt
für A‟) bezeichnen.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Untertitel und die Verweise im Text von Krisencoach ansieht, kann man
folgern, dass die textuelle Funktion des Okkasionalismus formaler Art ist: Der Journalist
verkürzt mit dem Okkasionalismus den Untertitel und die Verweise zu einem Wort und
verwendet hierbei einen Ausdruck, der von der betreffenden Person (Hans Kreis) selbst
geäußert wurde: Coach. Krisencoach verweist sachlich, objektiv auf die betreffende Person
und stellt sie so neutral dar. Außerdem kann der Okkasionalismus nicht von einem
logischeren Wort ersetzt werden, ohne dass seine spezifische Bedeutung geändert wird.
Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär referentielle
Funktion.
22.
Schlagzeile: Inzest-Monster Fritzl als Studienobjekt (Bild.de, Vermischtes 29.01.09)
Äquivalente im Text:
- Inzest-Monster Josef Fritzl
- Verbrecher
- Der Mann, der seine heute 43-jährige Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem
Kellerverlies gefangen hielt, 3000 Mal vergewaltigte, mit ihr sieben Kinder zeugte (und
eines davon im Ofen verbrannte)
- Das Monster
Kompositum:
Inzest-Monster ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindesstrich-Kompositum‟, in dem
beide UK Simplizia sind: Inzest (A) + Monster (B). Aus dem Kontext kann man folgern, dass
das Kompositum kein hässliches Fabelwesen, das Inzest verübt, benennt, sondern eine Person
(‚Agens‟: ‚B erzeugt A‟). Josef Fritzl, der seine eigene Tochter inzestuös misshandelte, wird
im Kompositum mit einem Monster bzw. Unmenschen gleichgesetzt. Inzest-Monster ist so als
metaphorisch zu betrachten, und zwar durch das Zweitglied Monster. Das Erstglied Inzest
bestimmt das Kompositum nur objektiv näher. Da das Erstglied jedoch als Bestimmungswort
80
gilt und das Zweitglied als Grundwort, kann man das ganze Kompositum also als
metaphorisch betrachten.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente im Text von Inzest-Monster ansieht, ist es schwierig zu
folgern, welche textuelle Funktion der Okkasionalismus hat: Die betreffende Person wird
sowohl im Text als in der Schlagzeile als (Inzest-)Monster bezeichnet. Nur auf das zweite und
dritte Äquivalent im Hinblick, kann man folgern, dass die textuelle Funktion von Inzest-
Monster inhaltlicher Art ist: Der Okkasionalismus benennt die betreffende Person anders als
diese zwei Äquivalente: Es gibt einen Unterschied im Stil. Der Mann, der seine heute 43-
jährige Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem Kellerverlies gefangen hielt, 3000 Mal
vergewaltigte, mit ihr sieben Kinder zeugte (und eines davon im Ofen verbrannte) und
Verbrecher verweisen eher objektiv auf den Inzest-Verbrecher Josef Fritzl und benennen ihn
so eher sachlich, neutral. (Inzest-)Monster demgegenüber metaphorisiert - wie oben schon
erwähnt – diese Person. Es stellt Josef-Fritzl expressiv und verbildlicht dar, nämlich als ein
Monster. (Inzest-)Monster löst Ekel und Abneigung bei den Lesern aus und hat so eine
pejorative Konnotation. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier
eine primär stilistische Funktion.
23.
Schlagzeile: „Baby-Alarm beim ‚Tor-Tier‟“ (Bild.de, Sport 29.01.09)
Äquivalente im Text:
- Francois Fortier (29)
- Der Kanadier
- Fortier, das „Tor-Tier“ (mit nun insgesamt schon 103 Treffern Freezers-
Rekordtorschütze)91
- Der Eis-Profi
- Der Stürmer
- „Frankie“92
- Der Papa
Kompositum:
91
Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hier um einen Okkasionalismus des Journalisten selbst
handelt. 92
Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hier um einen Okkasionalismus des Journalisten selbst
handelt.
81
Tor-Tier ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in unmittelbare
Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-Kompositum, und
zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindesstrich-Kompositum‟, in dem beide UK Simplizia
sind: Tor (A) + Tier (B). Wichtig ist zu bemerken, dass es sich hier nicht um eine
Reduplikation handelt. Tor-Tier ist kein Kompositum, das durch Doppelung eines Wortes
gebildet wurde. Hier hat jede UK eine gesonderte Bedeutung, d.h. das Kompositum ist mit
zwei verschiedenen Wörtern gebildet worden. Wenn man das Kompositum an sich betrachtet,
könnte man denken, dass es sich hier um ein Tier, das Tore schießt, handelt (‚Agens‟: ‚B
erzeugt A‟). Aus dem Kontext kann man folgern, dass das Tier im Grunde Francois Fortier,
Rekordtorschütze einer Eishockeymannschaft, ist. Tor-Tier ist also als metaphorisch zu
betrachten, und zwar durch das Zweitglied. Das Erstglied Tor bestimmt das Kompositum nur
objektiv näher. Da das Erstglied jedoch als Bestimmungswort gilt und das Zweitglied als
Grundwort, kann man also das ganze Kompositum also als metaphorisch betrachten.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente im Text von Tor-Tier ansieht, kann man folgern, dass die
textuelle Funktion des Okkasionalismus inhaltlicher Art ist. Neben „Frankie“, benennt der
Okkasionalismus die betreffende Person (Francois Fortier) anders als die Äquivalente im
Text, denn es gibt einen Unterschied im Stil: Die Äquivalente bezeichnen die Person eher
objektiv und referieren folglich eher neutral und sachlich. Tor-Tier demgegenüber benennt die
Person - wie oben schon erwähnt - metaphorisch. Es stellt den kanadischen Eis-Profi Francois
Fortier expressiv und verbildlicht dar, nämlich als ein Tier. Außerdem hört Tor-Tier sich
durch seine „reduplikationsähnliche“ Zusammensetzung poetisch bzw. als ein Wortspiel an.
Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär stilistische
Funktion.
24.
Schlagzeile: „Klimaschutz verloren im Koalitions-Dschungel“ (Zeit Online,
Energiesparen 17.02.09)
Äquivalente im Text:
- Guttenbergs Truppe
- die Koalition
82
Verweise im Text:
- „[…] von allen Seiten hagelt es nur Kritik am vorliegenden Entwurf.“
Kontext: Der Text handelt von dem vorgeschlagenen Gesetz zur Energieeffizienz von
Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Gutenberg (CSU), das in der Bundesregierung
Protest von den anderen Parteien kennt.
Kompositum:
Koalitions-Dschungel ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindestrich-Kompositum‟, in dem
beide UK Simplizia sind: Koalition (A) + Fugenelement -s- + Dschungel (B). Semantisch
gesehen braucht man den Kontext, um die richtige Interpretation vornehmen zu können. Erst
dann weiß man, dass es sich hier nicht um einen undurchdringlichen Wald von Koalitionen
(‚Material‟: ‚B besteht aus A‟) handelt, sondern um Chaos bzw. Uneinigkeit in den
verschiedenen Bundeskoalitionen in Bezug auf das neue Klimaschutzgesetz: Es hagelt von
allen Seiten Kritik, und die Koalition wird im Text als eine Truppe bezeichnet. Das
Kompositum ist also metaphorisch zu betrachten, und zwar durch das Zweitglied Dschungel.
Das Erstglied Koalition bestimmt das Kompositum nur objektiv näher. Da das Erstglied
jedoch als Bestimmungswort gilt und das Zweitglied als Grundwort, kann man das ganze
Kompositum also als metaphorisch betrachten.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Verweis von Koalitions-Dschungel ansieht, kann man folgern, dass die
textuelle Funktion des Kompositums formaler Art ist: Das Kompositum benennt mittels
eines Wortes den im Verweis und den Äquivalenten teils umschriebenen Gegenstand, nämlich
die Uneinigkeit in der Koalition. Koalitions-Dschungel verweist aber nicht objektiv auf die
Uneinigkeit. Es ist - wie oben schon erwähnt - als metaphorisch zu betrachten, denn es stellt
den Gegenstand expressiv und verbildlicht dar: Es macht aus der Uneinigkeit in der Koalition
einen Dschungel, in dem ein Ausweg bzw. ein Konsens bezüglich des vorgeschlagenen
Gesetzes zur Energieeffizienz unmöglich scheint. Durch die Verbildlichung des Gegenstands
fällt Koalitions-Dschungel auf und dient es folglich dem Leseanreiz. Der nominal-
kompositionelle Okkasionalismus hat hier eine primär stilistische Funktion.
83
25.
Schlagzeile: „Vettel übt die Tank-leer-Taktik“ (Bild.de, Sport, 03.03.09)
Verweise im Text:
- „Der Formel-1-Star testete […] heikle Rennsituationen.“
- „Wir haben geschaut, wie lange das Auto noch fährt, nachdem die Tankanzeige mir gesagt
hat, dass das Benzin alle ist.“ (Sebastian Vettel, Formel-1-Pilot)
- „Der Sinn: die optimale Einstellung der Sensoren.“
- „Du musst als Fahrer in der Praxis wissen, ist da noch ein Liter im Tank? Schaffe ich jetzt
noch eine Runde? Manchmal sind ja wenige Meter entscheidend.“ (Sebastian Vettel, Formel-
1-Pilot
Kompositum:
Tank-leer-Taktik ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Satz-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Satz und das Zweitglied ein Simplex ist: Tank-leer (A)
+ Taktik (B). Wichtig ist zu bemerken, dass der Satz Tank leer ein Kurzsatz ist, in dem das
Prädikat ist elliptisch ausgespart ist. Das Kompositum an sich könnte man semantisch nicht
interpretieren, ohne den Kontext zu berücksichtigen. Man braucht den Kontext, um zu wissen,
warum diese Taktik nützlich ist bzw. warum sie überhaupt eine Taktik ist: Du musst als
Fahrer in der Praxis wissen, ist da noch ein Liter im Tank? Schaffe ich jetzt noch eine Runde?
Manchmal sind ja wenige Meter entscheidend. Tank-leer-Taktik kann man nach dem Kontext
dann bezeichnen als ‚die Taktik, mit der man prüft, wie lange das Auto noch fährt, nachdem
die Tankanzeige angibt, dass der Tank leer ist.‟
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Verweise von Tank-leer-Taktik ansieht, kann man folgern, dass die
textuelle Funktion des Kompositums thematischer Art ist: Das Kompositum thematisiert
mittels eines Wortes die im Text besprochene Taktik, mit der man prüft, wie lange das Auto
noch fährt, nachdem die Tankanzeige angibt, dass der Tank leer ist. Tank-leer-Taktik
verweist sachlich, objektiv auf die im Text erklärte Taktik und stellt sie so neutral dar.
Außerdem kann die betreffende Taktik nicht durch ein logischeres Wort benannt bzw.
umschrieben werden. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine
primär referentielle Funktion.
26.
84
Schlagzeile: „Jetzt gegen Sushi-Boxer“ (Bild.de, Sport 03.03.09)
Äquivalente im Text:
- Ein „Sushi-Boxer“93
- Der ungeschlagene Japaner Koji Sato (28)
- Der Samurai aus Tokio
- Sato
Kompositum:
Sushi-Boxer ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindestrich-Kompositum‟, in dem
das Erstglied ein fremdes Simplex und das Zweitglied ein Suffixderivat ist: Sushi (A) + Boxer
(B). Semantisch könnte man das Kompositum an sich als ‚einen Boxer, aus Sushi gemacht‟
(‚Material‟: ‚B besteht aus A‟) interpretieren, oder noch eher ‚einen Boxer, der Sushi isst‟;
Sushi ist ja ein japanisches Gericht. Wenn man aber den Kontext berücksichtigt, kommt man
zu dem Schluss, dass das Kompositum eigentlich einfach den japanischen Boxer Koji Sato
bezeichnet. Der Journalist verwendet als Erstglied einen typisch japanischen Gegenstand, um
die Heimat des Boxers zu benennen. Das Erstglied Sushi ist so als metaphorisch zu
betrachten. Da das Erstglied als Bestimmungswort gilt und das Zweitglied als Grundwort,
kann man das ganze Kompositum jedoch nicht als metaphorisch betrachten: Sushi-Boxer
bezeichnet tatsächlich einen Boxer. Mit anderen Worten, das Zweitglied (Boxer) bezeichnet
den Gegenstand und das Erstglied (Sushi) bestimmt das Zweitglied metaphorisch-expressiv
näher.
Okkasionalismus:
Wenn man sich die Äquivalente des im Text - zwischen Anführungszeichen - vorkommenden
Kompositums Sushi-Boxer ansieht, kann man folgern, dass die textuelle Funktion des
Okkasionalismus inhaltlicher Art ist: Das Kompositum ist als Synonym der Äquivalente zu
betrachten. Die Äquivalente der ungeschlagene Japaner Koji Sato (28) und Sato verweisen
sachlich, objektiv auf den betreffenden Boxer und stellen ihn so eher neutral dar. Sushi-Boxer
(und das Äquivalent der Samurai aus Tokio) demgegenüber metaphorisiert - wie oben schon
erwähnt - den betreffenden Boxer. Es stellt ihn expressiv und verbildlicht dar. Die
93
Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hier um einen Okkasionalismus des Journalisten selbst
handelt.
85
Verbindung zwischen dem Boxer und seiner Heimat Japan wird in Sushi-Boxer (und der
Samurai aus Tokio) über den Verweis auf einen typisch japanischen Gegenstand deutlich
gemacht: Sushi (bzw. Samurai). Demzufolge gibt es logischere, neutralere Benennungen als
Sushi-Boxer, die den betreffenden Boxer bezeichnen, nämlich der japanische Boxer und der
Boxer aus Japan. Die Verbildlichung Sushi-Boxer fällt aber auf und dient so dem Leseanreiz.
Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär stilistische
Funktion.
27.
Schlagzeile: „Silber-Ulrike hatte Löcher in den Lungen“ (Bild.de, Sport 03.03.09)
Äquivalente im Text:
- Die angehende Polizistin Gräßler
- Gräßler
- Ulrike
Verweise im Text:
- „Zweimal deutsches Silber bei der Nordischen Ski-WM in Liberec/Tschechien.“
- „Vorher flog Ulrike Gräßler (21, Klingenthal) ins Glück – Platz 2 im Skispringen.“
Kompositum:
Silber-Ulrike ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindestrich-Kompositum‟, in dem
das Erstglied ein Simplex und das Zweitglied ein Eigenname ist: Silber (A) + Ulrike (B).
Semantisch gesehen könnte man das Kompositum an sich als ‚eine Frau Ulrike, die aus Silber
besteht‟ (‚Material‟: ‚B besteht aus A‟) betrachten. Wenn man sich aber den Kontext ansieht,
86
bemerkt man, dass es sich hier um Ulrike Gräßler handelt, die Silber (Platz 2) im Skispringen
erworben hat. Das Kompositum ist so als ein Spitzname für Ulrike Gräßler zu betrachten. Mit
anderen Worten, Silber-Ulrike ist ein onymisches Kompositum, in dem das Zweitglied das
onymische Element und das Erstglied ein appellativisches Element ist.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Verweis und die Äquivalente im Text von Silber-Ulrike ansieht, kann
man folgern, dass die textuelle Funktion des Okkasionalismus sowohl inhaltlicher als auch
formaler Art ist: Auf einer ersten Ebene ist das Kompositum als Synonym der Äquivalente
zu betrachten. Auf einer zweiten Ebene verkürzt das Kompositum den Verweis Vorher flog
Ulrike Gräßler (21, Klingenthal) ins Glück – Platz 2 im Skispringen zu einem Wort: Die
betreffende Person und ihre Leistung (Platz 2 im Skispringen) werden in Silber-Ulrike
erwähnt, indem das Erstglied (Silber) auf die Medaille, welche der Zweite nach einem Spiel
bekommt, verweist und das Zweitglied (Ulrike) der Vorname der betreffenden Person ist. Der
Okkasionalismus ist - wie oben schon erwähnt - als Spitzname für Skispringerin Ulrike
Gräßler zu betrachten. Die expressive Benennung hat zur Folge, dass es logischere, neutralere
Benennungen als den Okkasionalismus gibt, nämlich Ulrike Gräßler. Silber-Ulrike fällt aber
auf und dient so dem Leseanreiz. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus
hier eine primär stilistische Funktion.
28.
Schlagzeile: „Mit Schottersäulen punktgenau in den Schlick“ (FAZ, Technik und Motor
11.11.08)
Untertitel: „Bis zu 30 Meter lange Pfähle aus aufgeschüttelten Steinen verfestigen weiche
Boden. Das gelingt neuerdings auch unter Wasser, präzise und ohne Schotter zu
verschwenden.“
Äquivalente im Text:
- Sogenannte Schottersäule
- Säulenartige Pflöcke
- Die Pfähle
Kompositum:
Schottersäule ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, in dem das Erstglied ein Suffixderivat und das Zweitglied ein Simplex ist:
Schotter (A) + Säule (B) Semantisch gesehen kann man Schottersäule als ‚aus Schotter
87
bestehende Säule‟ (‚Material‟: ‚B besteht aus A‟) interpretieren. Diese Interpretation wird
vom Kontext bestätigt: lange Pfähle aus aufgeschüttelten Steinen.
Okkasionalismus:
Wenn man sich den Untertitel und die Äquivalente im Text des auch im Text selber
vorkommenden Okkasionalismus Schottersäule ansieht, kann man folgern, dass die textuelle
Funktion des Okkasionalismus vor allem formaler Art ist: Er verkürzt den im Untertitel
besprochenen Gegenstand zu einem Wort. Die Pfähle des Untertitels werden im dem
Kompositum durch Säulen ersetzt, und wegen der Länge wird das Wort Schotter statt der
nominalen Phrase aufgeschüttelte Steine verwendet. Die Äquivalente säulenartige Pflöcke
und die Pfähle umschreiben meiner Meinung nach den betreffenden Gegenstand zu vag. Sie
nennen keine Details bezüglich des Materials des Gegenstands. Schottersäule verweist
sachlich, objektiv auf die aus aufgeschüttelten Steinen angefertigten langen Pfähle und stellt
den betreffenden Gegenstand so neutral dar. Das heißt, dass der Okkasionalismus nicht von
einem logischeren, neutraleren Wort ersetzt werden kann. Außerdem weist das Äquivalent
sogenannte Schottersäule meiner Meinung darauf hin, dass der Ausdruck im Fachgebiet
schon bekannt ist und man die betreffenden Gegenstände fachsprachlich tatsächlich
Schottersäule nennt. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine
primär referentielle Funktion.
29.
Schlagzeile: „Ärzte warnen vor ‚Wartelisten-Medizin‟“ (süddeutsche.de, Wissen
26.04.09)
Untertitel: „Deutschland hat zwar immer mehr Ärzte - doch die Zahl der Kranken steigt
schneller. Die Folge: Es fehlt in vielen Regionen und Fachgebieten an Medizinern.“
Äquivalente im Text:
- Der Ärztemangel
Verweise im Text:
- „Wir bewegen uns auf eine Wartelisten-Medizin zu“ (Vizepräsident der
Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery)
- „[Patienten] beklagten Wartezeiten und kämen schwieriger an Termine für
hochspezialisierte Angebote.“
Kompositum:
88
Wartelisten-Medizin ist ein Determinativkompositum. Strukturell gesehen kann es binär in
unmittelbare Konstituenten (UK) gegliedert werden und bildet es so ein Nomen-Nomen-
Kompositum, und zwar orthographisch ein sogenanntes ‚Bindestrich-Kompositum‟, in dem
das Erstglied selber ein Kompositum und das Zweitglied ein Simplex ist: Wartelisten (A) +
Medizin (B) Semantisch gesehen könnte man das Kompositum an sich richtig interpretieren,
der Kontext erklärt es jedoch genauer. Indem Ärzte Patienten nicht sofort behandeln können,
entstehen Wartelisten. So kreiert die gehandhabte Form der Medizin gleichsam die
Wartelisten (‚Agens‟: ‚B erzeugt A‟).
Okkasionalismus:
Der vom Vizepräsidenten der Bundesärztekammer zitierte Okkasionalismus „Wartelisten-
Medizin“ verkürzt die im Untertitel und dem zweiten Verweis erwähnte Problematik zu
einem Wort: Indem die Zahl der Kranken schneller steigt, es so an Medizinern fehlt und lange
Wartezeiten entstehen, wird es Wartelisten in der Medizin geben. Demzufolge kann man
folgern, dass die textuelle Funktion hier formaler Art ist. Obwohl Wartelisten-Medizin sich
ziemlich plastisch anhört, referiert es den Gegenstand bzw. die Problematik meiner Meinung
nach eher sachlich, neutral. Es gibt für die betreffende Problematik keine logischere
Benennung, denn Wartelisten in der Medizin sind die wirklichen Folgen dieser
aufkommenden Problematik. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier
eine primär referentielle Funktion.
30.
Schlagzeile: „ Tolle Bilder aus Eurobama“ (Zeit Online, Kolumne 26.04.09)
Untertitel: „Der neue US-Präsident hat für die Woche der Gipfeltreffen die Show geliefert,
die Europäer die Kulisse. Und schon scheinen alle Probleme lösbar zu sein.“
Äquivalente im Text:
- Die Europa-Reise von Barack Obama
- Die bilderselige und farbenfrohe Europareise von Barack Obama
Kompositum:
Eurobama ist eine Kontamination. Die zwei Wörter, die hier ineinander verschachtelt werden,
sind Europa und Obama. Morphologisch ist die Kontamination so gebildet, dass ihre
Einheiten einen gemeinsamen Laut und Buchstaben haben: Eur-o-bama. Die Einheiten und
ihre semantische Interpretation sind nur deutlich, wenn man sich den Kontext ansieht:
89
Eurobama bezeichnet die Europa-Reise des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten,
Barack Obama.
Okkasionalismus:
Da die Kontamination Eurobama die in den Äquivalenten vorkommenden Wörtern Europa(-
Reise) und (Barack) Obama zu einer Zusammensetzung verkürzt und verknüpft, kann man
folgern, dass die textuelle Funktion formaler Art ist. Eurobama referiert expressiv und auf
eine originelle Art und Weise an die Europa-Reise von Barack Obama. Es gibt jedoch eine
logischere, neutralere Benennung des Gegenstands, nämlich die Europa-Reise von Barack
Obama. Eurobama fällt durch seine Sonderbildung als Kontamination auf und dient so dem
Leseanreiz. Folglich hat der nominal-kompositionelle Okkasionalismus hier eine primär
stilistische Funktion.
4.4 Ergebnisse
Wie in der Darlegung der Arbeitsmethode (vgl. 4.1) schon erwähnt, werde ich mich in diesem
Kapitel nur auf die Ergebnisse des letzten Untersuchungsaspektes beschränken, nämlich auf
die Frage, wo die Gelegenheitsbildungen primär referentieller bzw. wo sie primär stilistischer
Natur sind.
Von den dreißig untersuchten Okkasionalismen stammen acht aus der Boulevardpresse (#8
der Bild-Zeitung) und zweiundzwanzig aus seriösen Zeitungen (#7 der SZ, #5 der ZEIT, #9
der FAZ und #1 der Grenz-Echo). Die Anzahl der Okkasionalismen mit referentieller
Funktion beträgt dreizehn und diejenige mit stilistischer Funktion siebzehn. Die folgende
Tabelle zeigt die Gesamtzahl der Okkasionalismen in der Boulevardpresse und in den
seriösen Zeitungen, sowie die Zahl der Bildungen mit primär stilistischer bzw. primär
referentieller Funktionen:
Referentiell stilistisch Gesamtzahl
# Boulevardpresse 1 7 8
% 12,5 87,5 100
90
# seriöse Zeitungen 12 10 22
% 54,45 45,45 100
Tabelle 2: Anzahl der Okkasionalismen und ihre Funktionen.
In der Tabelle kann man sehen, dass von den acht in der Boulevardpresse gefundenen
Okkasionalismen nur eine (bzw. 12,5%) eine primär referentielle Funktion aufweist und
sieben (bzw. 87,5%) eine primär stilistische haben. Von der zweiundzwanzig in den seriösen
Zeitungen gefundenen Okkasionalismen haben zwölf (bzw. 54,45%) eine primär referentielle
Funktion und die anderen zehn (45,45%) eine primär stilistische.
Bei den seriösen Zeitungen weisen beide Prozentsätze ein eher ähnliches Resultat auf, hier
soll man jedoch den Unterschied machen zwischen seriösen Nachrichten und eher
appellativen Textsorten. Seriöse Nachrichten verwenden - wie in Kapitel 3.2.1 schon erwähnt
- im Text überwiegend okkasionelle Komposita mit referentieller Funktion, appellative
Textsorten dagegen benützen überwiegend solche mit stilistischer Funktion. Bei der Auswahl
der Okkasionalismen in seriösen Zeitungen habe ich aus beiden Textsorten Auszüge
gemacht. Pro Funktion teile ich jetzt die in den seriösen Zeitungen gefundenen
Okkasionalismen anhand ihrer Fundstelle – entweder in einer seriösen Nachricht oder einer
appellativen Textsorte - in einer Tabelle ein:
Fundstelle seriöse Nachricht Appellative Textsorte Gesamtzahl
# 7 3 10
Tabelle 3: In seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen mit stilistischer Funktion.
Fundstelle seriöse Nachricht Appellative Textsorte Gesamtzahl
# 11 1 12
Tabelle 4: In seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen mit referentieller Funktion.
Tabelle 3 zeigt, dass von den zehn in seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen mit
stilistischer Funktion sieben aus seriösen Nachrichten und drei aus appellativen Textsorten
kommen. Tabelle 4 dagegen, zeigt, dass von den zwölf in seriösen Zeitungen gefundenen
Okkasionalismen mit referentieller Funktion elf aus seriösen Nachrichten kommen und nur
einer aus appellativen Textsorten kommt. Die appellativen Textsorten, die in der
Untersuchung vorkommen, sind Kolumnen (Haarpolitik und Eurobama) und subjektive
Artikel in Abschied und Aufbruch, einer Sonderbeilage der SZ anlässlich des Umzugs des
Hauptsitzes der SZ (Pressezwerge und Querstrichland). Da die appellativen Textsorten für
die seriösen Zeitungen nicht typisch sind - d.h. sie kommen nur selten vor und sind im Grunde
91
nicht als informierende Artikel zu betrachten - finde ich sie nicht relevant, um die Frage
„stilistisch oder referentiell?“ zu beantworten. Deshalb lasse ich die vier in appellativen
Textsorten der seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen außer Betracht.94
Dies hat
zur Folge, dass von den übrigen (22-4 = ) achtzehn in seriösen Zeitungen gefundenen
Okkasionalismen nur sieben eine stilistische Funktion haben und elf eine referentielle. Wenn
man nun die insgesamt (30-4 = ) sechsundzwanzig übrigen Okkasionalismen der
Boulevardpresse und der seriösen Zeitungen und ihre (Prozent)Zahlen mit primär stilistischer
bzw. primär referentieller Funktion betrachtet, bekommt man folgende Tabelle:
Referentiell stilistisch Gesamtzahl
# Boulevardpresse 1 7 8
% 12,5 87,5 100
# seriöse Zeitungen 11 7 18
% 61,1 38,9 100
Tabelle 5: (Prozent)Zahl der Okkasionalismen pro Funktion.
Tabelle 5 zeigt, dass von den insgesamt acht in der Boulevardpresse gefundenen
Okkasionalismen einer bzw. 12,5% eine referentielle Funktion hat, sieben bzw. 87,5%
dagegen eine stilistische. Von den achtzehn in den seriösen Artikeln der seriösen Zeitungen
gefundenen Okkasionalismen haben elf bzw. 61,1% eine referentielle und sieben bzw. 38,9%
eine stilistische Funktion. Aus den Daten kann man schließen, dass die Okkasionalismen der
Boulevardpresse überzeugend eine stilistische Funktion haben und die der seriösen Zeitungen
überwiegend eine referentielle.
Wichtig ist zu bemerken, dass, obwohl die Daten sowohl aus Papierversionen als auch aus
Internetseiten der Zeitungen genommen sind, dies nur einen minimalen Einfluss auf die
Ergebnisse hat. M.a.W., die Ergebnisse zu den in Papierversionen gefundenen
Okkasionalismen reichen von den Ergebnissen bei den im Internet gefundenen
94
Die vier in appellativen Textsorten der seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen zeigen jedoch, dass
Okkasionalismen in appellativen Textsorten, neben in den Texten, auch in den Schlagzeilen überwiegend eine
stilistische Funktion haben: Okkasionalismen mit stilistischer Funktion: 3 (bzw. 75%), Okkasionalismen mit
referentieller Funktion: 1 (bzw. 25%)!
92
Okkasionalismen nicht ab. Beide Medien bieten also verhältnismäßig je dieselben Ergebnisse,
d.h. die Resultate widersprechen einander nicht, sondern bestätigen einander. Dies lässt sich
in folgender Tabelle präsentieren:
referentiell stilistisch Gesamtzahl
Papierversion 0 2 2
% 0 100 100
Boulevardpresse
Internet 1 5 6
% 16,7 83,3 100
Tabelle 6: In der Boulevardpresse gefundenen Okkasionalismen je nach Medium unterteilt und erklärt.
referentiell stilistisch Gesamtzahl
Papierversion 7 3 10
% 70 30 100
seriöse Zeitungen
Internet 4 4 8
% 50 50 100
Tabelle 7: In den seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen je nach Medium unterteilt und erklärt.
Tabelle 6 zeigt, dass von den insgesamt zwei der in Papierversionen der Boulevardpresse
gefundenen Okkasionalismen keine einzige eine referentielle Funktion hat und zwei eine
stilistische. Prozentual ergibt das 0% Okkasionalismen mit referentieller Funktion gegenüber
100% Okkasionalismen mit stilistischer Funktion. Von den insgesamt sechs der im Internet
gefundenen Okkasionalismen hat einer eine referentielle Funktion und fünf eine stilistische.
Prozentual ergibt das 16,7% Okkasionalismen mit referentieller Funktion gegenüber 83,3%
Okkasionalismen mit stilistischer Funktion. Wenn man die Prozentzahlen der Papierversion
und diejenigen des Internets hinsichtlich der Funktion miteinander vergleicht, bemerkt man,
dass es eine Differenz von 16,7% (referentiell: 16,7-0 bzw. stilistisch: 100-83,3) gibt. Obwohl
diese Differenz nicht zu vernachlässigen ist, verhalten beide Ergebnisse sich im Großen und
Ganzen proportional zueinander.95
Vor allem wenn man das Ergebnis der im Internet
gefundenen Okkasionalismen mit dem allgemeinen Ergebnis (vgl. Tabelle 5) vergleicht,
bemerkt man die Kongruenz zwischen beiden: in der Boulevardpresse gefundenen
Okkasionalismen mit referentieller Funktion: 16,7% gegenüber allgemein 12,5% (vgl. Tabelle
95
Die große Differenz ist der unzureichenden Anzahl der Okkasionalismen in den Zeitungen der
Boulevardpresse zuzuschreiben.
93
5); in der Boulevardpresse gefundenen Okkasionalismen mit stilistischer Funktion: 83,3
gegenüber allgemein 87,5% (vgl. Tabelle 5).
Tabelle 7 zeigt, dass von den insgesamt zehn der in Papierversionen der seriösen Zeitungen
gefundenen Okkasionalismen sieben eine referentielle Funktion haben und drei eine
stilistische. Prozentual ergibt das 70% Okkasionalismen mit referentieller Funktion gegenüber
30% Okkasionalismen mit stilistischer Funktion. Von den insgesamt acht der im Internet
gefundenen Okkasionalismen haben vier eine referentielle Funktion und vier eine stilistische.
Prozentual ergibt das 50% Okkasionalismen mit referentieller Funktion gegenüber 50%
Okkasionalismen mit stilistischer Funktion. Wenn man die Prozentzahlen der Papierversion
und diejenigen des Internets hinsichtlich der Funktion miteinander vergleicht, bemerkt man,
dass es eine Differenz von 20% (referentiell: 70-50 bzw. stilistisch: 50-30) gibt. Wenn man
diese Ergebnisse mit dem allgemeinen Ergebnis (vgl. Tabelle 5) vergleicht, ergibt das: in den
seriösen Zeitungen gefundene Okkasionalismen mit referentieller Funktion: 70%
(Papierversion) bzw. 50% (Internet) oder insgesamt 61,1% (vgl. Tabelle 5) ; in den seriösen
Zeitungen gefundene Okkasionalismen mit stilistischer Funktion: 30% (Papierversion) bzw.
50% (Internet) oder insgesamt 38,9% (vgl. Tabelle 5). Man bemerkt also, dass es in den
Papierversionen prozentual mehr Okkasionalismen gibt mit referentieller Funktion bzw.
weniger Okkasionalismen mit stilistischer Funktion als im Internet.
Dadurch, dass die im Internet gefundenen Okkasionalismen prozentual gleichmäßig eine
referentielle (50%) und stilistische Funktion (50%) haben und ihre Funktionen sich folglich
ausgewogen verhalten, haben sie im Grunde keinen entscheidenden Einfluss auf das
allgemeine Ergebnis. Aus den Prozentsätzen kann man schließen, dass derjenige des im
Internet gefundenen Okkasionalismen mit referentieller Funktion denjenigen der in den
Papierversionen gefundenen referentiellen Okkasionalismen mäßigt. Der Prozentsatz der im
Internet gefundenen Okkasionalismen mit stilistischer Funktion erhöht dann in geringem
Maße denjenigen der in den Papierversionen gefundenen stilistischen Okkasionalismen. Fazit:
Weil die Prozentsätze der im Internet gefundenen Okkasionalismen nicht den gleichen Wert
besitzen, als diejenigen der in den Papierversionen gefundenen Okkasionalismen - Sie sind
aus einer verschiedenen Anzahl Okkasionalismen hergeleitet -, kann man das allgemeine
Ergebnis (vgl. Tabelle 5) nicht als Durchschnittssumme der beiden Prozentsätze (bezüglich
der referentiellen bzw. stilistischen Okkasionalismen) betrachten. Dies alles ergibt dann das
allgemeine Resultat: referentiell: 70% Papierversionen / 50% Internet = 61,1% (vgl. Tabelle
5); stilistisch: 30% Papierversionen / 50% Internet = 38,9% (vgl. Tabelle 5).
94
Letztens habe ich in der Untersuchung in Bezug auf die Okkasionalismen einige Unterschiede
zwischen Boulevardpresse und seriösen Zeitungen herausbekommen: Zunächst habe ich
bemerkt, dass alle in der Boulevardpresse gefundenen Okkasionalismen mit stilistischer
Funktion von den Journalisten selbst völlig erfunden sind. So werden z.B. „Blau-Bären“,
„Tor-Tier“ und „Sushi-Boxer“ nicht vom Kontext antizipiert, d.h. das Kompositum oder
eine seiner UK wurden im Kontext nicht schon von einer Person zitiert. Tank-leer-Taktik, der
einzige referentielle Okkasionalismus der Boulevardpresse, ist in diesem Sinne antizipiert,
dass die Wörter der ersten UK von Formel-1-Pilot Sebastian Vettel direkt (Tank) und indirekt
(„[…],dass das Benzin alle ist.“) zitiert sind. Sieben der acht (bzw. 87,5%) in der
Boulevardpresse gefundenen Okkasionalismen sind also von den Journalisten selbst erfunden.
Die in den seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen dagegen sind häufig von
Personen zitiert bzw. antizipiert. Beispiele von Okkasionalismen mit referentieller Funktion
sind hier: „Stationierungswettlauf“ (zitiert vom deutschen Außenminister Frank-Walter
Steinmeier), Krisencoach (antizipiert von Hans Kreis: „Ich bin Deutschlands erster Coach“),
„Wartelisten-Medizin“ (zitiert vom deutschen Vizepräsidenten der Bundesärztekammer Frank
Ulrich Montgomery). Beispiel eines Okkasionalismus mit stilistischer Funktion ist hier
Finanzterrorist (antizipiert vom Bankchef der Bank Société Générale Daniel Bouton:
„Terrorist“). Insgesamt sind hier dreizehn der achtzehn (bzw. 72,2%) in den seriösen
Zeitungen gefundenen Okkasionalismen von den Journalisten selbst erfunden.
5. Zusammenfassung / Schlussfolgerung
In dieser Arbeit habe ich nominal-kompositionelle Okkasionalismen in Schlagzeilen
untersucht. Hierzu habe ich als Einleitung die betreffenden Begriffe in einigen Kapiteln
erklärt. An erster Stelle habe ich mich mit dem Begriff ‚Zeitung‟ beschäftigt. In diesem ersten
Kapitel bin ich näher auf die Aspekte ‚Zeitungssprache’ und ‚Schlagzeile’ eingegangen.
Hier habe ich erstens darauf hingewiesen, dass man die Zeitungssprache je nach dem
Sprachgebrauch in zwei Gruppen unterteilen kann. Zuerst gibt es die seriösen Zeitungen. In
diesen Zeitungen hat der Sprachgebrauch rein als Funktion, über den Gegenstand oder
Sachverhalt objektiv, neutral zu referieren. Die Boulevardpresse dagegen hat als Hauptzweck,
über Nachrichten sensationell zu berichten. Deshalb ist der Wortschatz in diesen Zeitungen
emotionsbefrachtet und folglich eher als subjektiv, stilistisch zu betrachten. Zweitens habe ich
dargelegt, dass die Schlagzeilen als Titel eines Artikels das Gesicht der Zeitungstexte bilden
95
und so mittels formaler und inhaltlicher Merkmale die Aufmerksamkeit auf sich ziehen
müssen.
In einem zweiten Kapitel habe ich mich mit dem Begriff ‚Komposition’ beschäftigt. Hier
habe ich an erster Stelle Komposition als eine der deutschen Wortbildungsarten definiert.
Zweitens habe ich kurz auf ihre Funktion und möglichen Einheiten hingewiesen, um dann
drittens einige Kompositionsarten darzulegen. Hier habe ich erwähnt, dass man eine
Hauptgliederung zwischen Determinativ- und Kopulativkomposita machen kann: Im Grunde
sind die Determinativkomposita hypotaktisch segmentiert - d.h. die zwei unmittelbaren
Konstituenten (UK) stehen in einer subordinierten Beziehung miteinander - und die
Kopulativkomposita parataktisch – d.h. die UK stehen in einem koordinierenden Verhältnis.
Die nominalen Determinativkomposita habe ich dann je nach dem Erstglied sowohl
strukturell als auch semantisch erläutert, um dann kurz das Kopulativkompositum zu
erwähnen. Daneben habe ich auch kurz auf zwei kompositionelle Sonderarten Bezug
genommen: die Reduplikation und die Kontamination.
In einem dritten Kapitel habe ich mich mit dem Begriff ‚Okkasionalismus’ beschäftigt.
Diesen Begriff habe ich zuerst in den weiteren Bereich der Neologismen eingeordnet, um sie
dann als einmalige Wortbildungen, die häufig nur im Kontext verständlich sind, zu definieren.
Daneben habe ich auf die Funktionen der kompositionellen Okkasionalismen hingewiesen.
An erster Stelle finde ich mit Wildgen (1981), dass jeder kompositionelle Okkasionalismus
auf textlinguistischer Ebene eine textuelle Funktion hat. M.a.W., jeder kompositionelle
Okkasionalismus bestimmt den textuellen Zusammenhang formal bzw. inhaltlich mit. Auf
einer zweiten Ebene, die ich die semantische Ebene genannt habe, kann dann entweder die
referentielle oder die stilistische Funktion primär sein. Kompositionelle Okkasionalismen mit
einer referentieller Funktion benennen die betreffenden (neuen) Gegenstände sachlich-neutral.
Diejenigen mit einer stilistischen Funktion dagegen sind eher expressiv, metaphorisch
gebildet und haben nicht als Absicht, neutral zu referieren, sondern bei der Benennung von
(neuen) Gegenständen bestimmte Effekte beim Leser auszulösen.
In einem Unterkapitel habe ich mit Elsen (2004) erwähnt, dass kompositionelle
Okkasionalismen in informationsbezogenen Texten der seriösen Zeitungen überwiegend eine
primär referentielle Funktion haben und diejenigen in Texten der Boulevardpresse
überwiegend eine stilistische. Danach fragte ich mich, ob diese Tendenz auch auf die
Schlagzeilen zutraf. Hier stellte ich die Hypothese auf, dass kompositionelle Okkasionalismen
96
in Schlagzeilen - die die Aushängeschilder des Textes sind - häufig so gewählt sind, dass sie
auffallen. Folglich behauptete ich, dass sowohl diejenigen in Schlagzeilen seriöser Zeitungen
als auch in Schlagzeilen der Boulevardpresse eine primär stilistische Funktion hätten.
Meine Untersuchung von dreißig in den seriösen Zeitungen und der Boulevardpresse
gefundenen nominal-kompositionellen Okkasionalismen bestätigte meine Hypothese jedoch
nicht: Sie zeigte, dass von den acht in der Boulevardpresse gefundenen nominal-
kompositionellen Okkasionalismen nur einer (bzw. 12,5%) eine referentielle Funktion hatte
und sieben (bzw. 87,5%) eine stilistische Funktion hatten. Also, in Bezug auf die in dieser
Presse gefundenen Komposita stimmt meine Behauptung, dass die in der Boulevardpresse
gefundenen nominal-kompositionellen Okkasionalismen in den Schlagzeilen eine stilistische
Funktion haben. Dies scheint hier jedoch logisch, denn schon in den Texten selbst werden
überwiegend Okkasionalismen mit stilistischer Funktion verwendet.
Die Untersuchung zeigte weiter, dass von den achtzehn in den informationsbezogenen Texten
der seriösen Zeitungen gefundenen Okkasionalismen elf (bzw. 61,1%) eine referentielle
Funktion hatten und sieben (bzw. 38,9%) eine stilistische. Hier widersprechen die Daten
meiner Hypothese, denn die in den seriösen Zeitungen gefundenen nominal-kompositionellen
Okkasionalismen haben nicht nur in den (informationsbezogenen) Texten selbst, sondern auch
bereits in den Schlagzeilen überwiegend eine referentielle Funktion.
Die von Elsen (2004) konstatierte Tendenz - Kompositionelle Okkasionalismen in
informationsbezogenen Texten der seriösen Zeitungen haben überwiegend eine primär
referentielle Funktion und diejenigen in Texten der Boulevardpresse überwiegend eine
stilistische - trifft also auch auf die Schlagzeilen zu. Dies erklärt meiner Meinung nach denn
auch den Befund am Ende des Ergebnisteils, der besagt, dass fast alle in der Boulevardpresse
gefundenen Okkasionalismen von den Journalisten selbst erfunden sind und dass diejenigen,
die in den seriösen Zeitungen anzutreffen sind, häufig zitiert bzw. antizipiert sind. Meiner
Ansicht nach haben die in der Boulevardpresse gefundenen Okkasionalismen mit stilistischer
Funktion fast ausnahmslos die Absicht, rein stilistisch zu fungieren. Diejenigen aber, die in
den seriösen Zeitungen begegnen, haben neben der rein stilistischen Funktion auch häufig die
Absicht, neutral über die expressiven Aussagen und Zitate einer Person zu referieren.
97
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http://nl.wikipedia.org/wiki/Grenz-Echo
www.stupidedia.org/stupi/Kellerkind
7. Anhang
Tabelle 1: Möglichkeiten der Wortschatzerweiterung, Zeitungssprache
509 Lexeme absolut in %
Komposition 412 80,94
Wortgruppenlexembildung 17 3,34
Derivation 26 5,11
Präfixoidbildung / 0
Suffixoidbildung / 0
Konversion 26 5,11
Kurzwortbildung 6 1,18
Rückbildung 3 0,59
Zusammenrückung 1 0,2
Bedeutungsveränderung 13 2,55
Fremdwortübernahme 5 0,98
Kontamination 2 0,39
Kunstwortbildung 1 0,2
[vgl. Elsen 2004: 107]
Im Internet gefundene Artikel:
100
3
Bild.de (26.04.09), Sport
Das 45-Meter-Mega-Grätschen-Tor
Schütze Langkamp spielte in der Hinrunde noch bei den Amateuren
Mit dem Ding ist Sebastian Langkamp (21) jetzt Top-Favorit bei der Wahl zum „Tor
des Jahres“...
Gegen Leverkusen grätschte der KSC-Verteidiger im Mittelkreis in einen Ball von Bayers
Renato, schaufelt die Kugel nach vorn. Und die schlägt tatsächlich hinter dem weit vor dem
Tor stehenden René Adler im Bayer-Kasten ein...
„Ein geiles Gefühl“, jubelt der Supertor-Schütze, „ich wollte einfach nur klären. Nach dem
Motto: Hauptsache ins Aus. Ich hatte mich schon abgedreht, dachte, der geht auf die Tribüne.
Dass er reingeht, hätte ich nicht gedacht...“
Sympathisch ehrlich, der KSC-Bubi, der noch in der Hinrunde bei den Amateuren in der
Regionalliga kickte. Gestern machte er erst sein achtes Bundesligaspiel.
Der überraschte Bayer-Torwart Adler: „Solch ein Tor schießt er nur einmal in seinem Leben.“
Dem KSC ist es egal. Nach zuletzt neun sieglosen Spielen der erste Erfolg und mit 22
Punkten wieder Hoffnung im Abstiegskampf!
Leverkusen rutscht immer tiefer in die Krise. Achtes Heimspiel ohne Sieg! Sportchef Rudi
Völler stürmte nach der Pleite gestern in die Kabine und motzte: „Charaktertest nicht
bestanden.“
9
Zeit Online (01.05.09)
Königin-Attentäter tot
Der Mann, der versucht hat einen Anschlag auf die niederländische Königin zu verüben, ist
tot. Er starb an den Folgen seiner Verletzungen nach der Amokfahrt.
101
Ein niederländischer Fernsehsender meldete am Freitagmorgen den Tod des 38-Jährigen. Er
sei nach einer Operation gestorben. Karst T. war am Donnerstag bei einem Umzug zum
niederländischen Nationalfeiertag in der Stadt Apeldoorn mit seinem Kleinwagen auf den
offenen Festbus der Königin zugerast. Er durchbrach Absperrungen und riss 17 Menschen zu
Boden.
Drei Männer und zwei Frauen wurden getötet. Zwölf Menschen erlitten Verletzungen – unter
ihnen der Amokfahrer.
Der Attentäter verfehlte jedoch das Fahrzeug mit der Königin, Kronprinz Willem-Alexander
und dessen Frau Máxima. Sein Auto prallte unweit von dem Bus gegen ein Denkmal. Bevor
er ohnmächtig wurde, sagte der Mann Polizisten, er habe die königliche Familie treffen
wollen.
Genaueren Aufschluss über das Motiv und den Hergang der Tat hatten sich die Ermittler von
weiteren Befragungen des Mannes erhofft. Sie können jetzt nicht mehr stattfinden. In
Medienberichten war der Mann als verzweifelter Arbeitsloser beschrieben worden. Die
Ermittler prüfen unter anderem, ob es im Falle einer längeren Planung der Tat Mitwisser gab.
Derweil haben Zehntausende Niederländer in Kondolenzbüchern sowie auf Internetseiten ihr
Beileid mit den Opfern und deren Hinterbliebenen bekundet. Auch aus allen Teilen der Welt
seien Beleidsschreiben eingegangen, teilte ein Regierungssprecher mit.
In Apeldoorn wurde für Freitag zu einem Gedenkgottesdienst eingeladen. Bereits in der Nacht
hatten viele Menschen am Ort des Geschehens Kerzen entzündet und Blumen niedergelegt.
11
FAZ.NET (29.11.08), Finanz
„Die Banken haben die Schnäppchenkultur
gefördert“
Auf Knüllerzinsen lässt sich keine Altersvorsorge aufbauen, meint Bankenberater Christoph
Pape
28. November 2008 Tagesgeld bei Kaupthing, Zertifikate von Lehman Brothers, viele Banken
brauchen Hilfe vom Staat - die Beziehungen zwischen den Kreditinstituten und den Kunden
sind derzeit angespannt. Auch in dieser Hinsicht herrscht eine Vertrauenskrise. Diese haben
die Banken zum Teil selbst herbeigeführt, meint der Bankenberater Christoph Pape von
Christoph Paper & Partner in Frankfurt.
102
Herr Pape, viele Anleger fühlen sich in dieser Finanzkrise von ihrer Bank schlecht
beraten. Was haben die Geldhäuser falsch gemacht?
Die Banken haben es versäumt, über eine längere Zeit das Vertrauen der Kunden aufzubauen.
Die Vertriebskultur entspricht nicht dem, was gut wäre für eine langfristig angelegte
Kundenbasis. Es geht darum, dem Kunden die Produkte anzubieten, die er auch wirklich
braucht, und sie ihm dann anzubieten, wenn er sie braucht. Diesen Grundsatz haben zu viele
Banken nicht mehr berücksichtigt. Stattdessen ging es den Banken in den vergangenen Jahren
mehr darum, Produkte zu verkaufen. Das und ein häufiger Beraterwechsel haben das
Vertrauen in die Banken untergraben.
Und in der Folge haben die Anleger ihrer Bank den Rücken gekehrt und haben sich auf
Schnäppchenjagd begeben?
Genau, das ist die Antwort der Kunden, und aus ihrer Sicht ist das auch richtig. Das ist die
Folge, dass die Banken sich nicht mehr intensiv genug mit den Bedürfnissen der Kunden
auseinander gesetzt haben.
Wollen Sie damit sagen, dass die Banken selbst die Schnäppchenkultur gefördert haben,
die beispielsweise zu den Geschehnissen um Tagesgeld bei der Kaupthing-Bank oder um
Zertifikate von Lehman Brothers geführt haben?
Der Kunde wurde in dieses Schnäppchendenken gedrängt, weil die Banken in der Beratung zu
wenig einen ganzheitlichen Ansatz gefördert haben. Die Banken haben mit Höchstzinsen
geködert statt umfassende Komplettlösungen im Dienste der Kunden anzubieten. Das war der
Fehler.
Gleichzeitig haben Lockangebote überhand genommen, in denen mit scheinbar hohen
Anlagezinsen geworben wurde, die aber mit zahlreichen Nebenbedingungen verknüpft
worden sind. Hat das nicht auch dazu geführt, dass die Banken als Verkäufer
wahrgenommen werden?
Grundsätzlich ist es ja nicht verwerflich, wenn Banken Bankprodukte verkaufen wollen. Nur
sollte sich der Kunde mit ihnen wohl fühlen und die Bank auch. Wenn über einen fundierten
Beratungsprozess ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wird, rennt der Bankkunde nicht jedem
Zehntelprozent hinterher. Er sieht dann nämlich, dass eine solche Schnäppchenjagd ihn nicht
reich macht, sondern dass eine ruhige und disziplinierte Langfristorientierung lohnender ist.
In Gelddingen verhält es sich umgekehrt wird mit der Gesundheit: In jungen Jahren muss man
oft zur Finanzberatung und im Alter weniger, weil das Basiswissen der Anleger einfach viel
zu gering ist. Darauf sollten sich die Banken stärker einstellen.
Sie zeichnen eine Idealwelt, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.
Es ist richtig, dass ich eine Idealwelt beschreibe. Aber hier liegt die Herausforderung, die vor
den Banken liegt. Und diese ist aus Bankensicht nicht utopisch. Die Aufgabe in der
Geldanlage ist ja nicht unlösbar. Im Prinzip geht es darum, dass die Banken ihren Kunden
helfen, relativ einfache Anlageziele, wie zum Beispiel ein finanziell abgesichertes Alter, zu
erreichen. Die Lösung allerdings und die passenden Produkte dazu zu finden, diese Aufgabe
ist komplex. Kunden, die ein klares Anlageziel formulieren und sich bewusst auf solch eine
103
Beratung einlassen, fahren langfristig nicht nur besser, sondern fühlen sich in der Regel von
ihrer Bank nicht übervorteilt.
Seit Jahren steht im Raum, dass die Banken ihre Beratung den Kunden in Rechnung
stellen, so wie es Rechtsanwälte oder der Steuerberater auch tun. Warum setzt sich
Honorarberatung bei Banken nicht durch?
Bisher finanziert die Bank ihre Beratung über Produktprovisionen. Hinter der Kritik an
diesem Vergütungssystem steht der Verdacht, dass die Banken Produkte verkaufen, die vor
allem in ihrem Gewinnstreben dienen und weniger im Kundeninteresse stehen. Je mehr eine
Bank auch fremde Produkte anbietet oder gar keine eigenen herstellt, desto mehr fällt dieser
Verdacht weg. Heute müssen die Vertriebsprovisionen sowieso offen gelegt werden. Nichts
spricht dagegen, dass die Bank diese Gebühren mit einem Beratungshonorar verrechnet.
Meiner Erfahrung nach fragen jedoch die Kunden das wenig nach. Das bisherige System hat
ja auch für sie Vorteile: Anders als der Rechtsanwalt steht der Bankberater auch nach dem
Produktverkauf kostenlos zur Verfügung, ohne dass sofort die Uhr angeht.
Droht den Bankkunden, dass in Zukunft noch mehr aggressive Werbeangebote auf die
Bankkunden niedergehen und fundierte Beratung verdrängt wird?
Es wird beide Modelle geben, weil beide Modelle ihre Existenzberechtigung haben. Es wird
auch in Zukunft die ganzheitliche Beratung mit einem Komplettcheck für die großen
Anlageziele im Leben geben und Werbeaktionen, die gezielt für einzelne Produkte gedacht
sind. Und es wird auch in Zukunft Banken geben, die beide Modelle unter einem Dach
vereinen. Aus Kundensicht geht es aber darum, dies klar zu trennen und die Anlageziele
sorgfältig zu identifizieren. Denn eins ist auch klar: Auf Knüllerzinsen lässt sich keine
Altersvorsorge aufbauen.
12
FAZ.NET (29.11.08), Inland Politik
Die Klagen des Koalitionsherkules
27. November 2008 An sich könnte Horst Seehofer herrliche Tage erleben - schließlich ist das
Amt des Ministerpräsidenten, das er seit einem Monat innehat, in Bayern die Fortsetzung der
Monarchie mit demokratischen Mitteln.
Gerade eben hat Seehofer in der Staatskanzlei am Hofgarten, nur einen Katzensprung entfernt
von der einstigen Residenz der Wittelsbacher, eine mächtige Tanne aus der Gemeinde
Adelschlag im Landkreis Eichstätt in Empfang genommen, um Land und Leute weihnachtlich
einzustimmen; schon kann er sich darauf freuen, im frisch renovierten Cuvilliés-Theater zum
bayerischen Verfassungstag ein Grundsatzreferat zu der Frage „Wie bedeutend ist Bayern?“
zu halten - die im Glanz des kurbayerischen Rokoko selbstverständlich nur rhetorischen
Charakter haben kann, genau wie Nachforschungen zur Bedeutung eines bayerischen
Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden.
104
Störende Petitessen für den „Pater Patriae“
Seehofer müsste als glücklicher „Pater Patriae“, wie der Ministerpräsident beim alljährlichen
Starkbieranstich auf dem Nockherberg tituliert wird, betrachtet werden, wären da nicht einige
Petitessen, welche die Laune zwischen Staatskanzleitannen und Selbstfeierlichkeiten
verderben könnten. Da ist am Donnerstag die Abstimmung im Bundestag über die Reform der
Erbschaftsteuer gewesen.
Seehofer hatte sich zuvor zwar angestrengt, bei den Verhandlungen in der Berliner Koalition
als Schutzpatron des privaten Wohneigentums und der Familienbetriebe aufzutreten. Der
Erfolg blieb ihm auch nicht versagt: Allein die Frage, in welches juristische Verhältnis die
Pflegebedürftigkeit eines Erben, der das geerbte Haus nicht mehr selbst bewohnen kann, zu
einer Nachversteuerung zu setzen ist - unter besonderer Berücksichtigung der Pflegestufe -,
könnte Generationen von Steuerjuristen in eine ganzjährige vorweihnachtliche Stimmung
versetzen.
Kampf für das Privateigentum
Die Botschaft, dass es angesichts solcher Unwägbarkeiten erst recht zur obersten Pflicht eines
jeden CSU-Bundestagsabgeordneten gehöre, Seehofers Kampf für das Privateigentum zu
rühmen, war in der CSU-Landesgruppe im Bundestag aber erst nach intensivem
Nachhilfeunterricht verstanden worden - mit Einsatz der unter Parlamentspädagogen gängigen
Hilfsmitteln.
Bei der namentlichen Abstimmung stimmten zwar nur noch sechs CSU-Abgeordnete gegen
den Reformentwurf, darunter der ewige Großmeister der Parteidissidenten, Peter Gauweiler.
Doch ein allzu kräftiges bundespolitischen Fortissimo, mit dem er die CSU als Partei der
Erben zu Gehör brachte, konnte Seehofer nach der Abstimmung nicht anstimmen, auch wenn
er pflichtgemäß von einer „eindrucksvollen Bestätigung für die Handschrift der CSU“ sprach:
Zu vernehmlich waren die Dissonanzen innerhalb der Landesgruppe gewesen.
Steuerpolitische Forderungen an die Schwesterpartei
Der Schwung, mit dem die CSU beim Publikum dafür werben wollte, nach der
Erbschaftsteuer werde sie noch für weitere steuerliche Entlastungen sorgen, ist erst einmal
gebremst worden - mag Seehofer seine Geläufigkeitsübungen auf der Machtklaviatur des
bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden auch noch steigern.
Schon jetzt hat er alle Tasten mindestens einmal angeschlagen, bis hin zu der von seinem
Vorvorgänger Stoiber zur Meisterschaft entwickelten Fertigkeit, durch Kabinettsbeschluss das
Aufgabenheft der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Merkel zu ergänzen. Rechtzeitig
vor Beginn des CDU-Parteitags in Stuttgart am Sonntag hat Seehofer sie durch dieses
bewährte Kommunikationsmittel abermals an die steuerpolitischen Forderungen der CSU
erinnert, von der Wiedereinführung der Pendlerpauschale bis zur Anhebung des
Grundfreibetrags bei der Einkommensteuer.
Nicht nur steuerpolitisch ist der bayerische Kabinettsbeschluss vom Dienstag als
Gedächtnisstütze für Frau Merkel ausgestattet: Fein säuberlich ist darin auch aufgelistet,
woran es im Investitionsprogramm der Bundesregierung aus Münchner Sicht fehlt. Eigentlich
müsste Seehofer gar nicht mehr als Gastredner nach Stuttgart fahren, um die CDU wissen zu
105
lassen, was sie alles falsch macht; allerdings könnte Seehofer dann dort nicht in seiner Rolle
als Koalitionsherkules brillieren.
Mit drei Parteien in Koalitionen
Vorsorglich hat er schon daran erinnert, dass er sich in München und Berlin mit drei Parteien
in Koalitionen befinde - mit der CDU, der SPD und der FDP: „Ich muss pausenlos klären, wie
wir wo abstimmen. Das geht so nicht.“ Den Seufzer des „Wie-Wir-Wo“, das die Leitmelodie
seiner Regierungszeit werden könnte, stieß Seehofer im „Handelsblatt“ so heftig aus, als gäbe
es irgendwo eine Wunderkraft, die ihn von der FDP, der SPD, ja vielleicht sogar von der
CDU befreien könnte.
In Seehofers Klage schwingt auch mit, dass an diesem Freitag ein Rollenwechsel bevorsteht,
welcher der CSU noch größere Schmerzen bereiten könnte als die Geschwisterregelungen im
Erbschaftsteuerrecht und die Turbulenzen um die Bayerische Landesbank, deren Durst nach
frischen Milliarden wieder einmal tüchtig zugenommen hat.
Bayern wird sich im Bundesrat bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf, mit dem die
Aufgaben des Bundeskriminalamts erweitert werden sollen, der Stimme enthalten; die CSU
hat sich den Bedenken der FDP beugen müssen. Beim Schutz der inneren Sicherheit immer
ganz vorne - ein Transparent mit dieser Losung hatte die CSU immer möglichst hoch
gehalten; an diesem Freitag muss sie es im Bundesratsgebäude möglichst unauffällig in einer
Ecke abstellen.
Eine mittlere vorweihnachtliche Depression dürfte sich für Seehofer nur durch volle
Konzentration auf den Sonntag vermeiden lassen, wenn er im Cuvilliés-Theater das britische
„Pomp and Circumstance“ bayerisch einfärben darf, mit einem weiß-blauen „Land of Hope
and Glory“.
13
FAZ.NET (26.11.08), Inland Politik
„Kofferbomber“ hofft auf Freispruch
Eigentlich hätte Jussif al Hajj Dib schon vor zwei Wochen sein Schlusswort sprechen sollen.
Doch weil die Verteidiger des 24 Jahre alten Libanesen neue Beweisanträge einreichten, zog
sich der Verhandlungstag zu sehr in die Länge. Zwar lehnte der von Richter Ottmar Breidling
geleitete Senat am Oberlandesgericht Düsseldorf die beantragte Ladung weiterer Zeugen ab -
zum Schlusswort kam es trotzdem nicht. Denn vor Präsentation seiner wahrscheinlich letzten
Worte in Freiheit wollten Hajj Dibs Anwälte dessen vorbereiteten Text noch einmal mit dem
Angeklagten durchgehen.
Heute aber, nach mehr als fünfzig Verhandlungstagen im so genannten „Kofferbomber“-
Prozess, soll es wirklich soweit sein. Bereits zu Beginn des im Dezember 2007 begonnenen
106
Prozesses war das im nordlibanesischen Tripoli aufgewachsene jüngste von 13 Geschwistern
in einer persönlichen Erklärung in Erscheinung getreten.
Zweifel an der Richtigkeit der Tat
Den Vorwurf der Bundesanwaltschaft (BAW), seinen mutmaßlichen Komplizen Jihad Hamad
zum Anschlag auf zwei nordrhein-westfälische Regionalzüge im Juli 2006 gedrängt zu haben,
wies er zurück. Die BAW geht davon aus, dass den Bombenbauern lediglich ein
handwerklicher Fehler unterlief oder sie nicht imstande waren, das richtige Gasgemisch
herzustellen. Hajj Dib habe Hamad zu der Tat inspiriert.
Hajj Dib behauptet das Gegenteil: Nicht er, sondern der im Libanon zu zwölf Jahren Haft
verurteilte Hamad sei die treibende Kraft hinter dem gescheiterten Anschlag gewesen. Weil
ihm mehr und mehr Zweifel an der Richtigkeit der Tat gekommen seien, habe er sich im
letzten Moment gegen die Beimischung von Sauerstoff in zwei Propangasflaschen
entschieden - die Bomben hatten also gar keine Chance zu explodieren. So sei der Mord an
Dutzenden Menschen verhindert worden.
Schutzbehauptungen und Attrappen
Über Monate hinweg hatten die beiden Libanesen in Hamads Kölner Wohnung die Flaschen
präpariert, die sie am 31. Juli 2006 in zwei Rollkoffern platzierten. Noch während die
Regionalzüge vom Kölner Hauptbahnhof Richtung Koblenz und Neuss unterwegs waren,
begaben sie sich über Istanbul und Damaskus auf die Flucht zurück in die Heimat: Dass die
Bomben nie explodierten, habe ihn nicht überrascht - angesichts des fehlenden Sauerstoffs sei
das gar nicht möglich gewesen, sagte er bei seiner letzten längeren Einlassung Anfang des
Jahres.
Die Bundesanwaltschaft (BAW) gab in ihrem Schlussplädoyer zu erkennen, dass sie das
gänzlich anders sieht. Um eine „Schutzbehauptung“ handele es sich bei Hajj Dibs Erklärung,
die Bomben seien lediglich als „Attrappen“ konstruiert worden, um die Öffentlichkeit zu
erschrecken. Ziel war in Wirklichkeit die Tötung möglichst vieler Menschen gewesen, das
Strafmaß entsprechend hoch anzusetzen: lebenslang. Auch Richter Breidling ließ bereits
durchblicken, dass er der Argumentation der Verteidigung nicht zu folgen bereit ist.
Ob es Hajj Dib in seinem Schlusswort gelingt, den als „Hardliner“ verschrienen Richter von
seiner vermeintlichen Unschuld zu überzeugen, ist fraglich. Das Urteil setzte er nach etlichen
Verschiebungen nun auf Donnerstag nächster Woche an. Und da an den vergangenen beiden
Verhandlungstagen selbst bislang unzugängliche polizeiliche Vernehmungsprotokolle
Hamads in libanesischer Haft Eingang in das Verfahren fanden, stehen die Chancen gut, dass
der „Kofferbomber“-Prozeß ein Jahr nach seinem Beginn tatsächlich zu Ende geht.
14
Süddeutsche.online (29.11.08), Wirtschaftspolitik
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Im Weltwirtschaftsgewitter
Marx ist aktuell: Er beschrieb die Gesellschaft, in der wir heute leben - die jetzige
Finanzkrise eingeschlossen.
Ende der siebziger Jahre wurde in Westberlin eine Postkarte feilgeboten. Unter dem Konterfei
von Karl Marx standen die ironischen Worte "Knapp daneben ist auch vorbei". Gemeint war
damit, dass der Marxismus einpacken könne; schließen konnte man, dass jene, die ihm immer
noch das Wort redeten, sich bitte bald packen sollten.
Als das Sowjetreich untergegangen war, brachte der Historiker Francis Fukuyama eine These
unter die Leute, die weniger geistreich, dafür aber eingängiger war: Der Kapitalismus habe
nun ein für alle Mal gesiegt, die Geschichte sei zu Ende, denn zu anderem als dem
Kapitalismus sei die Welt nicht bestimmt. Diese Behauptung war ungefähr so tiefsinnig, wie
es ist, wenn ein Tyrann sich in die Brust wirft und schmetternd verkündet, er sei der Stärkste.
"Das Kapital" statt Religion
Wer auf der Suche nach ehernen Gesetzen ist, die die Geschichte lehrt, kann bei Fukuyama
fündig werden: Eine so steile und gleichzeitig so banale These wie die seine konnte nicht
lange Bestand haben. Mit Fukuyamas Diktum wollen die Leute sich heute nicht mehr
abfinden - es ist längst historisch geworden. Schon bevor die Finanzkrise über die Welt
hereinbrach, waren die Schriften von Marx in Deutschland wieder gefragt.
Hartz IV und die Angst brachten die Leute dazu, die bestehenden Verhältnisse nicht fraglos
hinzunehmen. Und wenn die Individuen sich über den Kapitalismus hinaus für andere
Gesellschaftsentwürfe interessieren, wenn sie zu Citoyens werden, kann von einem "Ende der
Geschichte" keine Rede sein. Es gibt - wie einst in den sechziger und siebziger Jahren - kleine
Lesezirkel, die versuchen, Marx' Gesellschaftsanalyse zu verstehen.
In früheren Jahrhunderten wandten die Menschen sich in Krisenzeiten der Religion zu.
Heutzutage lesen sie auch "Das Kapital". Und wenn sie es nicht lesen, dann berufen sie sich
darauf. Als Finanzminister Peer Steinbrück neulich schlechter Laune war, erklärte er, Marx'
Krisentheorie sei doch nicht ganz falsch.
Jetzt bekommen all jene Recht, die immer gesagt haben, dass Marx nicht auf den Müllhaufen
der Geschichte gehört. Aber was genau ist es, was heute noch gilt? Der Historiker Eric
Hobsbawm hat 1998 für eine Neuausgabe des "Kommunistischen Manifests" ein Vorwort
geschrieben, in dem er darlegt, dass Marx eigentlich erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts
wirklich aktuell sei.
"Produktivität" ist das Zauberwort
Im 19. Jahrhundert war die Weltwirtschaft noch nicht besonders entwickelt, die einzelnen
Nationalökonomien konnten ihre Rechnungen ohne Rücksicht auf das Ausland machen. Erst
die Revolutionierung des Transport- und Verkehrswesens nach dem Zweiten Weltkrieg, so
Hobsbawm, habe eine "kosmopolitische" Wirtschaftsgestaltung möglich gemacht.
Entscheidend sei, dass die durch den Kapitalismus veränderte Welt, die Marx 1848 "mit
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düsterer, lakonischer Eloquenz beschreibt, unübersehbar die Welt ist, in der wir 150 Jahre
später leben".
Aber das wollte 1998, als neoliberale Theorien die Köpfe beherrschten, so gut wie niemand
hören. Als eine Ironie der Geschichte bezeichnete es der Soziologe Oskar Negt in seiner
Abschiedsvorlesung 2003, dass in einer Zeit, da "der Kapitalismus Triumphgesänge über alle
Alternativen anstimmt, das Kapital erstmalig in der modernen Welt genau so funktioniert, wie
Marx es in seinem 'Kapital' beschrieben hat".
Wer verstehen will, wie Geschichte abläuft, ist seit jeher gut damit bedient gewesen, Marx in
Betracht zu ziehen. Man darf "Moden" nicht mit "Fortschritt" verwechseln. Fortschritt im
Sinn der Wohlfahrt der Menschen ließ sich jahrhundertelang am Bevölkerungszuwachs und
an der Steigerung des durchschnittlichen Lebensalters messen. Beides hängt davon ab, wie
produktiv die Ressourcen verwendet wurden, zu denen auch die menschliche Arbeitskraft
gehört.
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Süddeutsche.de (06.12.08), Geld
Der Null-Komma-nix-Kredit
Mit ihrem 0,0-Prozent-Kredit ist die SEB Bank scheinbar in vorweihnachtlicher Stimmung.
Doch letztlich entpuppt sich das Kreditangebot nur als Marketing-Gag. Von Marco Völklein
Klar, es ist Advent. Da verschenkt man gerne mal was. Offenbar auch Banken. Die SEB Bank
mit Sitz in Frankfurt zum Beispiel, eine Tochter der schwedischen SEB. Die offeriert vom
kommenden Montag an eine Woche lang einen Kredit für 0,0 Prozent effektiven Jahreszins.
Anlass dafür ist das "Lichterfest zu Ehren von St. Lucia", das die Schweden traditionell am
13. Dezember feiern, teilt die Bank mit. "Wir wollen unseren Kunden ein vorweihnachtliches
Geschenk machen", sagt eine SEB-Sprecherin. Zugleich sei der Null-Zins-Kredit aber
natürlich auch "ein Weg zur Neukundengewinnung".
Ähnlich sieht es Niels Nauhauser von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg: "Das ist
ein Marketing-Gag - mehr nicht." Denn begrenzt ist das Darlehen auf 2000 Euro, bei einer
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Laufzeit von zwölf bis 24 Monaten. "Die Banken lassen sich viel einfallen, um neue Kunden
zu sich zu ziehen."
Außerdem gibt es den Kredit nicht online, sondern nur in den bundesweit 174 SEB-Filialen.
"Die Bank will das Beratungsgespräch nutzen, um dem Kunden nicht einen Kredit über 2000,
sondern vielleicht über 10.000 Euro zu verkaufen", sagt Nauhauser. "Cross-Selling" heißt das
im Fachjargon. Nauhauser: "Die Banken setzen natürlich darauf." Für jeden Darlehens-Euro
über der Marke von 2000 Euro, den der Kunde aufnimmt, fallen bei der SEB Bank effektive
Jahreszinsen zu einem Satz ab 4,49 Prozent an. Diese werden bonitätsabhängig berechnet.
Bonitätsabhängig heißt, dass auch deutlich höhere Zinsen für den Kunden möglich sind -
nämlich dann, wenn die Bank seine Kreditwürdigkeit niedrig einstuft. Wird dann auch noch
eine Restschuldversicherung verkauft, "sind auch mal zehn Prozent und mehr drin", sagt
Georg Tryba von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Zumal man sich ohnehin bei
Krediten stets fragen sollte, ob man das Geld zurückzahlen kann.
Ganz ausgefuchste Sparer könnten allerdings auf die Idee kommen, den 2000-Euro-Kredit zu
nehmen, das Geld auf ein Tagesgeldkonto zu legen und die Zinsen einzustreichen. Doch auch
davon rät Finanzexperte Nauhauser ab. Bei einem Tagesgeldkonto, das mit drei Prozent
verzinst wird, käme nach einer Laufzeit von zwölf Monaten am Ende ein Zinsertrag von rund
30 Euro zusammen - die Tilgung des Kredits mit eingerechnet. "Ein Pfennigfuchser sollte sich
da mal den Stundenlohn ausrechnen", sagt Nauhauser. Schließlich müsse sich der Sparer auch
beim Beratungsgespräch vom Bank-Mitarbeiter bearbeiten lassen.
Vor eineinhalb Jahren hatte die SEB Bank eine ähnliche Aktion gestartet - damals zum
schwedischen "Midsommar-Fest" am 22.Juni. Auch damals gab es den Null-Komma-nix-
Kredit für 2000 Euro Darlehenssumme. Die Aktion habe der SEB viele Neukunden gebracht,
sagt die Sprecherin. Zahlen nennt sie zwar nicht. Aber: "Auch das Cross-Selling war sehr
erfolgreich." Aha.
22 Bild.de (29.01.09), Vermischtes
INZEST-MONSTER FRITZL ALS
STUDIENOBJEKT
„Sie sollen in die Abgründe meiner Seele blicken“
Ist das pervers! Inzest-Monster Josef Fritzl (73) sonnt sich in seiner zweifelhaften
Berühmtheit, arbeitet an seiner „Unsterblichkeit“ als Verbrecher.
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Der Mann, der seine heute 43-jährige Tochter Elisabeth 24 Jahre lang in einem Kellerverlies
gefangen hielt, 3000 Mal vergewaltigte, mit ihr sieben Kinder zeugte (und eines davon im
Ofen verbrannte), will sich jetzt der Wissenschaft als Studienobjekt zur Verfügung stellen.
Er will sich nach seinem Prozess im März in seiner Zelle von den besten Psychiatern
und Profilern befragen lassen: „Damit sie Einblicke in die tiefsten Abgründe meiner
Seele bekommen – und daraus für künftige Kriminalfälle lernen.“
Das Monster hat sich auch schon zurechtgelegt, wer ihn interviewen darf. Natürlich nur
Österreichs Beste: Seelenforscher Reinhard Haller (schrieb „Die Seele des Verbrechers“) und
Profiler Thomas Müller („Bestie Mensch“).
Ein Teil von Fritzls abgründiger Seele ist aber schon enthüllt. Eine Gerichtsgutachterin
hat für den Prozess bereits auf 130 Seiten ein Psychogramm des Inzest-Monsters erstellt.
Die Psychiaterin: „Er ist wie ein Vulkan. Er fühlt sich zerrissen und hat festgestellt, dass er
eine bösartige Ader hat, eine kaum mehr einbremsbare Flut an destruktiver Lava.“ Josef
Fritzl: „Ich bin zur Vergewaltigung geboren. Ich habe ihr (seiner Tochter, Anmerkung d.
Red.) beim Sex nie ins Gesicht gesehen... Ich habe ihr ja nur so viele Kinder gemacht, damit
sie immer bei mir bleibt, weil sie ja als sechsfache Mutter für andere Männer nicht mehr
attraktiv ist.“
Laut Gutachterin ist Fritzl zwar „krank“, aber trotzdem „voll zurechnungsfähig“, ein
möglicher Wiederholungstäter.
Künftig sind bei Fritzl wohl Langzeitstudien möglich, denn das Inzest-Monster dürfte zu
lebenslänglicher Haft verurteilt werden...
23 Bild.de (29.01.09), Sport
Baby-Alarm beim „Tor-Tier“ (29/01/09)
ES BERICHTET ALEX V. KUCZKOWSKI
Francois Fortier (29) ist kein Mann der vielen Worte. Selten beantwortet er Fragen mit
mehr als zwei Sätzen. Es scheint, als bringe den Kanadier nichts aus der Ruhe. Fast
nichts. In diesen Tagen ist er so aufgeregt wie noch nie.
Fortier, das „Tor-Tier“ (mit nun insgesamt schon 103 Treffern Freezers-
Rekordtorschütze) kann‘s kaum erwarten, das erste Mal Papa zu werden.
Zwar ist bei seiner Marilyn erst am 10.2. Stichtag. Aber der Eis-Profi hat so eine Vorahnung:
„Die Ärzte sagen, es könnte jetzt jederzeit losgehen. Ich glaube, dass Kind kommt früher.
Vielleicht schon Freitag.“ Oha! Da müssen die Freezers abends in Nürnberg ran...
Baby-Alarm beim „Tor-Tier“.
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Was ist, wenn die Wehen tatsächlich am Spieltag einsetzen? „Dann mache ich mich sofort auf
den Weg zurück nach Hamburg. Ich möchte unbedingt bei der Geburt dabei sein. Vielleicht
miete ich mir ein Auto“, sagt Fortier, der sein Handy immer in der Nähe hat.
Wenn der Stürmer über seinen Nachwuchs redet, leuchten seine Augen. Plötzlich
sprudelt‘s aus ihm heraus: „Wir bekommen ein Mädchen.“
Das Kinderzimmer ist schon eingerichtet. Komplett in Pink. So wie es sich gehört.
Trotzdem stöberten Marilyn und „Fränkie“ (seit 8 Jahren ein Paar) gestern noch mal im
„Baby-Dorf“ in Sasel. Im Einkaufswagen landete letztlich ein Strampler – natürlich in Pink.
Die kleine Fortier kann kommen. Hoffentlich schafft‘s der Papa, dabei zu sein...
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Zeit.online (17.02.2009), Energiesparen
Klimaschutz verloren im Koalitions-Dschungel
Von Marlies Uken | © ZEIT ONLINE 17.2.2009 - 08:07 Uhr
Klimaschutz bedeutet vor allem Energiesparen – das betont die Bundesregierung immer
wieder. Doch sie legt einen vermurksten Gesetzentwurf vor.
Das hatte sich der Freiherr wohl nicht träumen lassen. Kaum im Amt, muss sich
Bundeswirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) gleich mit einem Gesetz zur
Energieeffizienz beschäftigen – die Klimadebatte ist auch in seinem Haus angekommen.
Guttenbergs Vorgänger Michael Glos hinterlässt dem Neuen einen kruden Gesetzentwurf zu
dem Thema, voller kursiv gedruckter Änderungswünsche von Umweltminister Siegmar
Gabriel (SPD) und immer wieder mit der Anmerkung, das Justizministerium melde Bedenken
an. Dabei soll das Gesetz per Hauruckverfahren noch in dieser Legislaturperiode durch die
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Instanzen gebracht werden, denn es ist seit knapp einem Jahr überfällig; ein Strafverfahren
der Europäischen Union droht.
Der sparsamere Einsatz von Energie ist eines der wichtigsten Anliegen der Bundesregierung.
In den richtungsweisenden Beschlüssen von Meseberg, getroffen 2007, nimmt die
Energieeffizienz neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien eine Schlüsselrolle beim
Klimaschutz ein. Die Europäische Union hatte schon 2006 eine Richtlinie vorgelegt, die von
den Nationalstaaten verlangt, sich einem nationalen Einsparziel zu verpflichten und - recht
sperrig formuliert – einen "Markt für Energiedienstleistungen" zu schaffen.
Doch von allen Seiten hagelt es nur Kritik am vorliegenden Entwurf. So werde das Gesetz
dem Thema auf keinen Fall gerecht, da müsse schon etwas Substanzielleres kommen, heißt es
unisono bei Grünen, Energieversorgern und Verbraucherzentralen. Der Bund für Umwelt und
Naturschutz (BUND) verlangt sogar, den Entwurf zurückzuziehen. "Er ist unzureichend und
widersprüchlich", sagt BUND-Energiefachmann Thorben Becker.
Einer der umstrittensten Punkte ist das Energie-Einsparziel, das sich Deutschland verordnen
soll. In dem Entwurf klafft an dieser Stelle eine Lücke, in einem Anhang spricht die
Bundesregierung davon, die Energieproduktivität bis 2020 im Vergleich zu 1990 verdoppeln
zu wollen. Ein absoluter Einsparwert an prominenter Stelle im Gesetz fehlt. "Die
Bundesregierung will Weltmeister bei der Energieeffizienz werden", sagt Becker, "sie sollte
sich auf eine Senkung um jährlich zwei Prozent des Endenergieverbrauchs festlegen".
Doch wie erreicht man dieses Ziel? Das Umweltministerium hat ganz konkrete Vorstellungen.
Es sind genau jene Passagen, die für Unmut in Guttenbergs Truppe sorgen. Unter anderem
sollen BP, Aral und andere Tankstellenbetreiber Autofahrern zukünftig Schulungen anbieten,
wie sie den Fuß vom Gaspedal nehmen können und effizienter fahren. Für die
Ordnungspolitiker im Wirtschaftsministerium ist dieser Plan ein Graus.
Zudem plant das BMU, E.on und andere Energieversorger, aber auch Kohle- und
Heizöllieferanten dazu zu verpflichten, bei ihren Kunden Effizienzprogramme durchzuführen
und sie über Energieeinsparungen zu informieren. Jährlich soll die gelieferte Menge an Strom
oder Heizöl so um ein Prozent sinken.
Noch ist aber unklar, ob das überhaupt umsetzbar ist. Schließlich haben die Energieversorger
wohl kaum ein Interesse daran, dafür zu werben, weniger Energie zu verkaufen. Der
Bundesverband Neue Energieanbieter, der Unternehmen wie Yello oder Lichtblick vertritt,
warnte schon in der Welt, es könne kaum sein, dass ein Stromkonzern dafür verantwortlich
gemacht werde, wenn der Kunde partout keine Energie einsparen wolle.
"Verfassungsrechtliche Bedenken" meldete auch das Justizministerium an.
Vor allem gegen das „betriebliche Energiemanagement“ in Unternehmen wehrt sich das
Wirtschaftsministerium. Doch gerade im produzierenden Gewerbe sieht das
Umweltministerium ein riesiges, bislang unerschlossenes Einsparpotenzial, etwa beim Einsatz
von Elektromotoren. Es will Betriebe dazu verpflichten, ihren Energieeinsatz zu
dokumentieren und kontinuierlich zu verbessern. Bis zu 100.000 Euro Strafe drohen nach
seinen Plänen, falls Energieversorger und Betriebe der Dokumentationspflicht nicht
nachkommen.
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Ob sich Gabriel und Guttenberg in den nächsten Tagen einigen, ist vollkommen unklar.
Guttenberg hat andere Baustellen – das HRE-Gesetz, den 100 Milliarden Euro schweren
Notfonds für Unternehmen. Und immer öfter zeigte sich in jüngster Zeit, wie schwer es der
Koalition fällt, sich überhaupt noch zu einigen. Ob das Energieeffizienzgesetz, wie
ursprünglich geplant, am Mittwoch im Kabinett diskutiert wird, wird deshalb immer
unwahrscheinlicher.
25 Bild.de (03.03.09), Sport
Vettel übt die Tank-leer-Taktik
Ist Sebastian Vettel (21) mit seinem Red Bull schon wieder liegen geblieben? Nein!
Diesmal war es Absicht.
Der Formel-1-Star testete gestern bei Regen-Chaos in Jerez (Spanien) heikle Rennsituationen.
Vettel zu BILD: „Wir haben geschaut, wie lange das Auto noch fährt, nachdem die
Tankanzeige mir gesagt hat, dass das Benzin alle ist.“
Der Sinn: Die optimale Einstellung der Sensoren.
Vettel: „Du musst als Fahrer in der Praxis wissen, ist da noch ein Liter im Tank? Schaffe ich
jetzt noch eine Runde? Manchmal sind ja wenige Meter entscheidend.“
All das soll den Red Bull perfekt auf das erste Rennen am 29. März in Melbourne
einstellen. Vettel fuhr gestern von sieben Fahrern (Schnellster war Timo Glock im
Toyota) nur die fünftbeste Zeit. Dafür legte er insgesamt 102 Runden (449 km) zurück.
Mehr als eine Renndistanz.
26 Bild.de (03.03.09), Sport
Jetzt gegen Sushi-Boxer
Premiere für unseren Mittelgewichts-Champ Felix Sturm: Erstmals bekommt der
WBA-Weltmeister aus dem Universum-Stall einen „Sushi-Boxer“ serviert.
Am 25. April verteidigt Sturm (30) in Krefeld (live, ZDF) seinen Titel gegen den
ungeschlagenen Japaner Koji Sato (28). Der Samurai aus Tokio siegte in allen 14 Kämpfen,
13 Mal durch K.o. Eine starke Quote von 92,8 Prozent.
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Sato belegt bei der WBA Platz 14, der WBC führt den Normalausleger auf Rang 6.
Zuletzt siegte Sturm (31 Siege, 2 Niederlagen, 1 Remis) in seiner Pflichtverteidigung
gegen Sebastian Sylvester.
27 Bild.de (03.03.09), Sport
Silber-Ulrike hatte Löcher in den Lungen VON MICHAEL WINDISCH
Endlich die ersten Medaillen: Zweimal deutsches Silber bei der Nordischen Ski-WM in
Liberec/Tschechien!
Kombinierer Tino Edelmann (23, Zella-Mehlis) wurde Zweiter hinter Todd Lodwick (USA).
Vorher flog Ulrike Gräßler (21, Klingenthal) ins Glück – Platz 2 im Skispringen.
Genoss den Platz auf dem Treppchen: Ulrike Gräßler, die bei der WM-Premiere der
Skispringerinnen auf Platz 2 landete
Die angehende Polizistin Gräßler: „Ich bin überglücklich. Es ist schwer, das alles zu
begreifen.“
Denn Gräßler musste ihre Karriere schon fast beenden, bevor sie überhaupt begann. „2001
wurde bei mir ein Loch in der Lunge diagnostiziert. 2005 passierte das plötzlich auf der
anderen Seite. Die Ärzte sagten mir, ich darf keinen Sport mehr machen.“
Aber Ulrike gab nicht auf, ließ sich operieren und kam zurück. „Das war damals keine leichte
Zeit für mich. Umso schöner ist die Medaille jetzt.“
Im Langlauf über 15 Kilometer wurde Tobias Angerer (Vachendorf) als bester Deutscher
Achter.
29 Süddeutsche.de (26.04.09), Wissen
Ärzte warnen vor „Wartelisten-Medizin“
Deutschland hat zwar immer mehr Ärzte - doch die Zahl der Kranken steigt schneller. Die
Folge: Es fehlt in vielen Regionen und Fachgebieten an Medizinern
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Trotz steigender Ärztezahlen wird einer neuen Analyse zufolge der wachsende Bedarf immer
weniger gedeckt. "Wir bewegen uns auf eine Wartelisten-Medizin zu", sagte der
Vizepräsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, am Dienstag.
Allein 2008 stieg die Zahl der berufstätigen Ärzte nach Daten der Analyse, die von der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung erstellt wurde, um 1,5 Prozent auf 319.697. Seit 1991
wuchs sie um mehr als 30 Prozent. Trotzdem verringerte sich die von allen Ärzten zusammen
geleistete Arbeitszeit seitdem um 1,6 Prozent, wie KBV-Experte Thomas Kopetsch sagte.
Er erklärte dies unter anderem damit, dass es immer mehr Ärztinnen gibt und Frauen im
Schnitt geringere Arbeitszeiten haben. Außerdem schlage der allgemeine Trend zur
Arbeitszeitverkürzung auch bei den Medizinern durch.
Gleichzeitig wächst der Bedarf. "Die Expansion des Möglichen in der Medizin führt zu einem
deutlich erhöhten Ärztebedarf", sagte Kopetsch. Zum Beispiel gebe es erst seit dem ersten
Retortenbaby von 1978 Bedarf an In-Vitro-Fachleuten. Auch spezialisieren sich die
Mediziner immer stärker. 1924 gab es der Analyse zufolge nur 14 unterschiedliche
Fachgruppen, heute sind Mediziner mit 160 verschiedenen Fachbezeichnungen am Markt.
Darüber hinaus schlägt dieser Analyse zufolge bereits die Demografie durch. Machten 1991
die Über-60-Jährigen 20,4 Prozent der Bevölkerung aus, so lag der Anteil 2007 bereits bei
25,3 Prozent - ein Zuwachs um ein Fünftel. Ab 60 nimmt statistisch gesehen der
Behandlungsbedarf stark zu. Er liegt bei 326 Prozent dessen, was Unter-60-Jährige benötigen,
wie Kopetsch sagte.
Auch Patienten spürten den Ärztemangel bereits, sagte Montgomery.
Sie beklagten Wartezeiten und kämen schwieriger an Termine für hochspezialisierte
Angebote. In den Krankenhäusern seien in vielen Abteilungen 20 bis 50 Prozent der Stellen
unbesetzt. Mangel gebe es auch auf dem Land, nicht nur in den neuen Ländern.
Seien noch vor zehn Jahren Tausende Mediziner arbeitslos gewesen, so verzeichne man nun
"Traumarbeitslosenraten" von nur ein bis zwei Prozent. Rund 1000 Mediziner pro Jahr
verliere man unter dem Strich an das Ausland, sagte der Kammervizepräsident.
Montgomery appellierte an die Politik, die Bedingungen für Ärzte zu verbessern. Moderne
junge Menschen seien nicht mehr bereit, ihren Lebensstil dem Beruf unterzuordnen und
Überstunden ohne Ende zu leisten. Nötig seien mehr Stellen in Krankenhäusern und eine
bessere Vergütung, bessere Honorare für niedergelassene Ärzte sowie flankierende
Maßnahmen wie Entlastung von Bürokratie oder Ausbau von Kinderbetreuung, sagte er.
Die gerade von Ärzten und Kassen vereinbarte Nachbesserung der Honorarreform kritisierte
Montgomery. Es handele sich nur um eine Umverteilung: Einigen Ärzten werde mehr
gegeben, anderen etwas weggenommen. Nötig sei jedoch mehr Geld. Eine Summe wollte er
jedoch nicht nennen. Auch der zusätzliche Bedarf an Ärzten in den kommenden Jahren sei
noch nicht zu beziffern. Man stehe erst am Anfang der Analyse. Nötig sei mehr
Versorgungsforschung, sagte Montgomery.
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30 Zeit Online (26.04.09), Kolumne
Tolle Bilder aus Eurobama
Der neue US-Präsident hat für die Woche der Gipfeltreffen die Show geliefert, die Europäer
die Kulisse. Und schon scheinen alle Probleme lösbar zu sein
Prag ist eine wunderschöne Stadt. Doch wo liegt sie? Im Schatten des Prager Hradschin
träumte der amerikanische Präsident von einer atomwaffenfreien Welt, und 30.000 Menschen
jubelten ihm zu. Die Rede galt also der Welt, der Jubel dem Mann aus der großen, weiten
Welt, und die Bilder und Worte der Beobachter gingen auch rundum die Welt.
Europa? Kein Thema, diesmal nicht. Aber war da nicht was, hatten sich die tschechischen
Spitzenpolitiker nicht gerade noch wegen der Zukunft Europas heillos zerstritten, hatte nicht
der geschasste Ministerpräsident des Landes eben noch den europäischen Ratspräsidenten
gemimt?
Überhaupt: Endete an diesem Sonntag in Prag schon die Europa-Reise von Barack Obama –
oder nicht erst in der Hauptstadt der Türkei, das Obama nur zu gern in der Europäischen
Union sähe, sehr zum Verdruss des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und auch
Angela Merkels?
Weltwirtschaft, Nato, Nuklearwaffen, es ging bei Obamas erster Präsidentenreise in die alte
Welt um die Umrisse einer neuen – also nicht um Europa. Doch auch wieder nur darum, ohne
diesen amerikanischen Präsidenten wird die Europäische Union ihre eigene Zukunft nicht
gestalten können. Und er die eigene nicht ohne die Europäer.
Das ist nicht neu, weshalb auch weniger der EU-US-Gipfel von Prag die Akzente setzte als
der Londoner G-20-Gipfel – die Umrisse einer neuen Welt wurden dort deutlich sichtbar, mit
Russen und Chinesen, Saudis und Mexikanern, Indonesiern und Brasilianern. Was im Fußball
längst Alltag ist, es findet in der Politik erst jetzt statt: Weltmeisterschaft, jeder mit jedem auf
gleicher Augenhöhe, jeder gegen jeden nach Spielplan, nur dass es in der Politik am Ende
nicht den einen Sieger geben wird und darf.
Selbst in den Jahren mit oder vielmehr gegen George W.Busch waren Gipfeltreffen zwischen
Amerikaner und Europäern immer routineverdächtig. Um so mehr dieses Mal, als das grelle
Welt-Licht aus London alles andere in den Schatten stellte. Was dort wortgewaltig erklärt und
versprochen wurde, kann jedes Prager Schlusskommuniqué nur blässlich wirken lassen.
Macht nichts, diesmal nicht. Zumal von der T-Frage abgesehen kaum Kontroversen
aufbrachen. Und überhaupt, warum soll sich ein Amerikaner in Prag nicht für die Türkei als
EU-Mitglied stark machen dürfen, wo doch das etliche EU-Mitglieder ihrerseits auch tun,
selbst wenn Paris und Berlin oder Wien das anders sehen?
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Aufs Ganze gesehen, war diese bilderselige und farbenfrohe Europareise von Barack Obama,
am Freitag Buckingham Palace, am Samstag Baden-Badener Casino, Sonntag Prager Burg,
ziemlich überraschungsfrei. Das Londoner Treffen erbrachte jene Einigkeit, die sich und uns
der Präsident vorab versprochen hatte; der Sechzigste der alten Tante Nato verlief
harmonisch, selbst die erwarteten Demonstranten konnten daran nichts ändern.
Auch das angedrohte türkische Veto gegen einen dänischen Nato-Generalsekretär in spe
nicht; der jährliche EU-US-Gipfel schließlich verlief wie die Fortsetzung einer
liebgewordenen Gewohnheit. Mit der Türkei muss, mit Russland kann weiter geredet werden,
über den nächsten Nato-Generalsekretär oder über eine atomwaffenfrei Welt. Die Welt ist
darum noch lange nicht im Lot, aber die Dinge sind im Fluss, und das in die richtige
Richtung.
Das alles ging nicht von selbst, Reden hat manchmal geholfen, vor allem aber die richtige
Geste am rechten Ort, hierin erwies sich der neue US-Präsident als Meister aller
Kommunikationsklassen. "Obama küsst Deuschland", titelte die Bild-Zeitung ganz begeistert,
"Obama küsst Europa" wäre auch nicht falsch gewesen.
Der eine war die Show, die anderen illuminierten die Kulissen. Wem das der Harmonie zuviel
gewesen ist, zumal kamerareif inszeniert, der mag sich damit trösten, das die gewaltigen
Aufgaben dieser Zeit sich leichter anpacken lassen, wenn wenigstens die Stimmung perfekt
ist. Die gute Miene war die Message. Die ist in Europa bestens angekommen.
Für die in den Papierversionen gefundenen Artikel siehe nächste Seiten: