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Rundbrief | Juni 2015 „Ich möchte den Spenderinnen und Spendern meinen Dank aussprechen für deren aufrichtigen Wunsch, die NS-Opfer jetzt an ihrem Lebensabend moralisch und materiell zu unter- stützen. Nur wenige konnten damals aus der Feuerhölle ihrer brennenden Dörfer fliehen und überleben.“ Natalia Kirillowa, Historikerin, frühere Leiterin der Gedenkstätte Chatyn, unsere Partnerin in Belarus. Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer 70 Jahre danach Bundespräsident Gauck am 6. Mai 2015 in der Gedenk- stätte des Kriegsgefangenenlagers Stukenbrock: „Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wur- den […] Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden – sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. […] Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfinden, dass die Toten für die Lebenden eine Ver- pflichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, ,Ja‘ zu dieser Verpflichtung.“

KONTAKTE-KOHTAKTbI Rundbrief

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Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer

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Page 1: KONTAKTE-KOHTAKTbI Rundbrief

Rundbrief | Juni 2015

„Ich möchte den Spenderinnen und

Spendern meinen Dank aussprechen

für deren aufrichtigen Wunsch, die

NS-Opfer jetzt an ihrem Lebensabend

moralisch und materiell zu unter-

stützen. Nur wenige konnten damals

aus der Feuerhölle ihrer brennenden

Dörfer fl iehen und überleben.“

Natalia Kirillowa, Historikerin,

frühere Leiterin der Gedenkstätte

Chatyn, unsere Partnerin in Belarus.

Bürger-Engagementfür vergessene NS-Opfer70 Jahre danach

Bundespräsident Gauck am 6. Mai 2015 in der Gedenk-stätte des Kriegsgefangenenlagers Stukenbrock: „Der Krieg ging endlich zu Ende, der unseren Kontinent verwüstete, in dem die Juden Europas ermordet wur-den […] Millionen von Soldaten der Roten Armee sind in deutscher Kriegsgefangenschaft ums Leben gebracht worden – sie gingen an Krankheiten elendig zugrunde, sie verhungerten, sie wurden ermordet. […] Dies ist einer der Orte, an denen wir schmerzhaft und intensiv empfi nden, dass die Toten für die Lebenden eine Ver-pfl ichtung sind. Sagen wir also heute, siebzig Jahre nach dem Ende des Krieges, ,Ja‘ zu dieser Verpfl ichtung.“

Page 2: KONTAKTE-KOHTAKTbI Rundbrief

Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.

Liebe Leserin, lieber Leser,

vor zwölf Jahren protestierten KOHTAKTbI-Mitglieder vor dem Berliner Oberverwaltungs-gericht erstmals gegen ein Bundesgesetz „Kriegsgefangenschaft begründet keine Lei-stungsberechtigung“, womit die Klage zweier ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener abgewiesen wurde. Wir wussten schon damals, dass die Abgewiesenen zu Überlebenden der größten NS-Opfergruppe nach den Juden zählten. Einige hatten uns bereits in Briefen mitgeteilt, was sie seit ihrer in deutschen Sterbelagern verlorenen Jugend seelisch belastet.

Wir empfanden die moralische Pfl icht zur aktiven Solidarität mit diesen Menschen und erklärten dies neben unserer Partnerschaft für leukämiekranke Kinder zum Schwerpunkt des weiteren Vereinslebens. Zwölf Jahre später bereute im Bundestag einer der Verant-wortlichen: „Hätten wir damals gewusst, was wir heute wissen, wäre das Gesetz so nicht beschlossen worden.“ Dieser Satz fi el am 18. Mai während einer Anhörung von Historikern und einem Völkerrechtler, die zu einer Sitzung des Haushaltsausschusses eingeladen wor-den waren. Auch die von den Christdemokraten eingeladenen Experten sprachen das aus, was wir zwölf Jahre lang erklärten und forderten. Zwei Tage später überraschte uns die Schlagzeile auf der Webseite des Bundestages:

„Ja zur Entschädigung von Sowjet-Kriegsgefangenen“

Die Regierungsparteien haben sich darauf geeinigt, den 4 000 vermutlich noch lebenden ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen insgesamt zehn Millionen Euro als symbolische Anerkennungsgeste – also jedem 2 500 Euro – auszuzahlen. Unter den Leserinnen und Lesern dieses Rundbriefs haben sich viele all die Jahre mit engagiert. Immerhin konnten wir deshalb an 7 500 Betroffene insgesamt 3,7 Millionen Euro durch unsere regionalen Partner übermitteln. DANKE!

Aus Minsk/Belarus mailte der 93-jährige Boris Popow: „Das Geld ist erfreulich. Aber wichtiger ist die Anerkennung der Tatsache, dass es die grobe Verletzung der Rechte der Kriegsgefan-genen überhaupt gegeben hat. Früher oder später musste das passieren – anders als in der Türkei gegen die Armenier –, sonst hätte das heutige Deutschland keinen Platz unter den zivilisierten Völkern Europas verdient.“Als das armenische Fernsehen berichtete, brach Jubel aus unter den 120 noch lebenden Mitgliedern des Vereins der rehabilitierten Gefangenen des Zweiten Weltkrieges. Für diese Menschen sind 2 500 Euro so viel wie zwei Jahresrenten! Ich schrieb ihnen einen Rundbrief. Darin heißt es:

KONTAKTE-KOHTAKTbI rief zusammen mit dem Historiker Götz Aly auf zu einer Feier am 9. Mai 2015 vor dem sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten. Als Redner erinnerten der frühere Brandenburger Ministerpräsident Matthias Platzeck und unser Mit-glied Peter Jahn an bisher wenig beachtete Opfer des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion.

Titelbild:Sommer 1941, sowjetische Kriegsgefangene beim Arbeits-einsatz im Gebiet Brjansk. Im darauf folgenden Herbst und Winter starben zwei Millionen von ihnen an Hunger, Kälte, Seuchen, viele wurden erschla-gen, erschossen. Auf dem Friedhof des Kriegsgefange-nenlagers Stukenbrock konn-ten bisher über zehntausend Tote identifiziert werden.(Foto: Gerhard Radczuweit)

Page 3: KONTAKTE-KOHTAKTbI Rundbrief

KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer

Tausende Rundbriefe mit Informationen schicken wir in die Ukraine, nach Russland, Belarus. Aus den Antworten erfahren wir, wer noch lebt. 70 Jahre nach ihrer Befreiung aus deutschen Lagern erhalten diese ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen vom Deut-schen Bundestag eine späte Geste der Anerkennung erlittenen Unrechts. Die Auszahlungs-prozedur wird voraussichtlich drei Jahre dauern. So lange werden wir weiterhin Nothilfen an ehemalige sowjetische Kriegsgefangene vergeben.

Gegen das Vergessen

Das Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer endet nicht, wenn diese „Vergessenen“ endlich erkannt und anerkannt werden. Andere leben noch im deutschen „Erinnerungs-schatten“ (J. Gauck). Hunderte Dörfer in Belarus wurden mitsamt den Einwohnern ver-brannt. Kinder überlebten im Versteck und wuchsen als Waisen auf. Wir finden sie und helfen. Am 22. Juni, dem Jahrestag des Überfalls, eröffnen wir dort, wo Kriegsgräuel und Shoah auch im Gedächtnis der Nachkriegsgenerationen haften, in der Stadt Witebsk, unsere Wanderausstellung. Denn die Geschichte verpflichtet uns zu nachhaltig wirkender Erinnerungskultur. Aus Geschichtserkenntnis kann der Immunstoff gegen eine in West und Ost mit hoher Ansteckungsgefahr grassierende geistige Seuche gewonnen werden: Nationalismus! Wenn unsere Zeitzeugen verstummen, die den extremsten Nationalismus bezeugten, müssen wir auf ihren Ruf nach einer friedlicheren Welt mit neuem Engage-ment antworten.

Der 91-jährige Papik Papjan im März 2015 beim Empfang einer Spende

Der Weg in die Gefangenschaft(Foto: Gerhard Radczuweit)

„…. Wir haben nicht nur 12 Jahre lang protestiert, sondern Aufklärungsarbeit geleistet. Dabei haben uns viele Ihrer Kameraden als Zeitzeugen unterstützt mit ihren Erinnerungen, die sie uns in Briefen mitteilten. Somit halfen ehemalige sowjetische Kriegsgefangene mit, dass unsere Regierung jetzt Geld zahlt. Danke!

Wir verstehen gut Ihre Ungeduld, mit der Sie auf die Geldüberweisung warten. Des halb müssen Sie wissen, warum das lange dauern wird: Die deutsche Regierung muss mit den Regierungen der Länder über die Prozedur der Auszahlung ver handeln. Es dürfen keine Abgaben von den 2500 Euro erhoben werden. Das alles dauert länger als Ihre Geduld reicht. Deshalb wird KONTAKTE-KOHTAKTbI auch im Juni wieder Geld auf das Konto Ihres Vereins überweisen, um die Wartezeit zu überbrücken und um Ihre dringendsten sozialen Ausgaben zu ermöglichen.“

Page 4: KONTAKTE-KOHTAKTbI Rundbrief

KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.10827 BerlinFeurigstraße 68Telefon 0 30/78 70 52 88 Telefax 0 30/78 70 52 89info@kontakte-kontakty.dewww.kontakte-kontakty.dewww.freitagsbriefe.de

Spendenkonto:IBAN: DE48 100 900 00 306 55 99 006 BIC: BEVODEBB

Kennwörter: Kriegsgefangene,Bürger-Engagement, Armenienhilfe

Wir danken den ehrenamtlich tätigen Übersetzerinnen und Übersetzern im Rahmen der Korrespondenz mit den ver-gessenen NS-Opfern.

Vorstand: Dr. Gottfried Eberle (Vorsitzender), RA Bernhard Blankenhorn, Gisela Hanßen, Dr. Peter Plieninger, Eberhard Radczuweit,

Ingrid Schmidt M.A., Dr. med. Arend von Stackelberg | Beirat: Dr. Helmut Domke, Dr. Peter Jahn, Prof. Dr. Günter Henze, Prof. Dr. Alexander

Karachunskiy, Prof. Dr. Jutta Limbach, RA Lothar C. Poll, Dr. Hilde Schramm, Prof. Dr. Wolfram Wette

Für die freundliche Unterstützung danken wir der Werbeagentur „frank & frei“ in Wiesbaden:

www.frankundfrei.de

Einnahmen – Ausgaben 1. Januar bis 2. Juni 2015Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer: Spendeneinnahmen – gesamt 119.453,37 €Ausgaben – gesamt 207.075,11 €Spendenübermittlung an ehemalige Kriegsgefangene 149.809,76 €Spendenübermittlung an Überlebende der verbrannten Dörfer 61.200,00 €Sachkosten (Übersetzungen, Korrespondenz, Verwaltung der Partner, Bankgebühren) 17.265,35 €

Der Spendenüberhang 2014 betrug 110.779 €

Ghettoüberlebende:Spendeneingang 3.560,00 €Spendenübermittlung 10.000,00 €

Der Spendenüberhang 2014 betrug 18.032 €

Herzlichen Dank an alle Spenderinnen und Spender!

Zum Weiterverteilen kann dieser Rundbrief nachbe-stellt werden. Wenn Sie uns dabei helfen möchten, unsere Portokosten zu reduzieren, dann senden wir Ihnen den Newsletter künftig gerne im pdf-Format per E-Mail. Bitte teilen Sie uns dazu Ihre E-Mail-Adresse mit. Vielen Dank.

25 Jahre KONTAKTE-KOHTAKTbI Es sei nach meiner ein Vierteljahrhundert langen Vereinsa-ktivität eine persönliche Anmerkung gestattet. Es ging mir wie vielen Altersgenossen, die mit den Feldpostbriefen ihrer in Russland gestorbenen Väter nicht klar kamen. So ermun-terte ich im Januar 1990 Bekannte zur Vereinsgründung, die in ihren Familiengeschichten Motive zum Mitmachen emp-fanden. Unter den Gründungsmitgliedern waren welche aus der Friedensbewegung und Mitmenschen unterschiedlichs-ter Anschauungen oder religiöser Bindung. Allen bot KON-TAKTE-KOHTAKTbI als Plattform nur den Begriff HUMA-NISMUS. Manche kündig ten ihre Vereinsmitgliedschaft aus Enttäu schung über das Ende der Perestrojka. Anderen war unsere deutsch-russische Partnerschaft für leukämiekranke Kinder Ausdruck einer humanen Gesellschaft. Rund

6 000 Kinder verdanken dieser Partnerschaft bisher das Leben! Unser Engagement ließ sich nicht ablenken durch die Strömungen eines Zeitgeistes, der gegenwärtig in die Fahrspur des Kalten Krieges rutscht. Wir haben auf unseren Reisen durch Länder der ehemaligen So-wjetunion Gastfreundschaft genossen und sind selbst freundliche Gastgeber gewesen. Aber Meinungsstreit sollte nicht gescheut werden, solange der Respekt voreinander gewahrt bleibt.

All das, was in diesem Rundbrief oder auf unserer Webseite steht, mögen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, hinsichtlich einer Fördermitgliedschaft bedenken. Unser Verein bekommt keine institutionelle Förderung. Ihre Mitgliedschaft kann unsere Vereinsexistenz sichern.

Eberhard RadczuweitEhrenamtlicher Geschäftsführer

Bürger-Engagement für vergessene NS-Opfer KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.

Sibylle Suchan-Floß und Eber-hard Radczuweit im Gespräch am 8. Mai vor dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst