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Kuesse auf samtweicher Haut

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Küsse auf samtweicher Haut

Beverly Bird

Tiffany Duo 083–02 01/96

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Catherine Landano hat gleich zwei Gründe, sich in dem abgeleenen Navajo-Reservat aufzuhalten: Sie will ein Praktikum als zukünftige Ärztin absolvieren und sich doch verstecken. Denn sie flüchtete vor ihrem Mann, einem bekannten Senator. Nachdem sie seine Verbindung zur Mafia entdeckt hatte, konnte sie nur knapp seinem Mordanschlag entgehen. Die meisten Indianer, und ganz besonders der unglaublich männliche Schamane Jericho Bedonie, begegnen ihr anfangs äußerst ablehnend. Erst als es ihr gelingt einen schon todgeweihten Patienten zu retten, gewinnt sie ihr Vertrauen. Auch Jerichos Abwehr schmilzt dahin: Er nimmt sie in seine Arme, um ihr zu gratulieren. Alles, was danach in dieser romantischen Nacht geschieht, scheint gar nicht von ihnen gesteuert zu werden – eine fremde Macht läßt sie zu Liebenden werden...

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1. KAPITEL Catherine Landano hatte Angst. Vom Gefühl her wußte sie, daß sie

etwas unternehmen mußte, doch als sie in der Nähe der Telefonzelle am Flughafen angelangt war, zögerte sie wieder und fragte sich, ob sie es wagen konnte, ihren Vater anzurufen.

Was sollte sie ihm sagen? Hi, Paddy. Ich bin unterwegs nach New Mexico, um das, was ich angefangen habe, zu Ende zu führen. Ach, und nebenbei, Victor hat versucht, mich umzubringen, deshalb nenne ich mich jetzt Lanie McDaniel.

Sie unterdrückte ein verzweifeltes Auflachen. Ein guter Name, Cat, würde Paddy sagen, na, wir werden ja sehen, was diesmal aus deinen beruflichen Plänen wird.

Paddy Callahan war ein nüchtern denkender, unkomplizierter Mann, der niemals verstanden hatte, warum sie damals ihr Medizinstudium vor dem letzten Praktikum an den Nagel gehängt hatte, um Victor Landano zu heiraten. Ebensowenig wie er jetzt verstehen würde, warum sie davonlief.

Ein Callahan läuft vor nichts davon. Allerdings war auf einen Callahan bisher - zumindest ihres Wissens nach - auch noch nicht geschossen worden.

Sie trat von der Telefonzelle zurück und kämmte sich selbstver-gessen mit den Fingern ihr volles, einst kupferrotes glattes Haar, das ihr nun in langen schwarzen Korkenzieherlocken auf die Schul-tern hinabfiel. Als die Maschine eine Zwischenlandung gemacht hatte, war sie auf dem Flughafen beim Frisör gewesen, um sich das Haar färben und eine Dauerwelle machen zu lassen. Das Rot schimmerte zwar an verschiedenen Stellen noch immer durch, doch Catherine hoffte, daß die Veränderung so weitreichend war, daß niemand sie auf Anhieb würde erkennen können. Nur an ihrer Augenfarbe einem intensiven Grün - war nichts zu machen,

Gefärbte Kontaktlinsen konnte sie nicht tragen, dazu waren ihre Augen zu empfindlich.

Victor hätte sie natürlich sofort erkannt, sie glaubte jedoch nicht, daß er sich selbst auf die Suche nach ihr machen würde. Wahrscheinlicher war, daß er einen seiner Komplizen mit einem Foto von ihr hinter ihr

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herschicken würde. Wurde sie bereits beobachtet? Sie unterdrückte den Wunsch, sich

umzusehen, und suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Ticket. Da wurde auch schon ihr Flug aufgerufen. Sie ging mit den anderen Passagieren an Bord und quetschte sich steif zwischen den Knien eines jungen Mannes und der Lehne des Vordersitzes hindurch zu ihrem Platz am Fenster.

Als das Flugzeug schließlich abhob, verspürte Catherine das vertraute unangenehme Kribbeln in der Magengrube. Sie war nie gern geflogen, doch nun sehnte sie sich so sehr danach, wegzukommen, daß sie den Moment der Angst in vollen Zügen auskostete und erleichtert aufatmete. In Sicherheit. Hoffentlich.

Nun bereute sie es fast schon wieder, Paddy nicht angerufen zu haben, einen Moment später sagte sie sich dann aber, daß es auf jeden Fall besser war, wenn niemand wußte, wo sie sich aufhielt.

Nachdem die Maschine die volle Höhe erreicht hatte, lehnte Catherine sich zurück und schloß die Augen. Obwohl sie es nicht für möglich gehalten hätte, schlief sie ein.

Irgendwo über dem Mittleren Westen gerieten sie in Turbulenzen. Catherine erwachte und war peinlich berührt, als sie bemerkte, daß ihr Kopf auf die Schulter ihres Nebenmannes gesunken war.

„Entschuldigen Sie“, murmelte sie verlegen, rutschte beiseite und quetschte sich in die andere Seite ihres Sitzes.

„Es war mir ein Vergnügen“, gab der Mann zurück. „Ehrlich.“ Als sie ihm ins Gesicht sah, bekam sie einen leisen Schreck. Der rund-

gesichtige junge Mann von vorhin war verschwunden. An seine Stelle war ein Mittdreißiger mit freundlichen grauen Augen und leicht ver-strubbeltem braunen Haar getreten. Erst einen Augenblick später wurde ihr klar, daß der Mann beim Zwischenstop in Atlanta zugestiegen sein mußte, ohne daß sie es bemerkt hatte. Keinesfalls aber sah er aus wie einer von Victors Schlägern, sie konnte also ganz beruhigt sein.

Er schien sich über ihre momentane Ratlosigkeit zu amüsieren. „Sie haben den Zwischenstop und das Abendessen verschlafen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, daß ich der Stewardeß gesagt habe, daß Sie wunschlos glücklich sind.“

Wunschlos glücklich - schön wär's ja. Catherine zuckte die Schultern.

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Essen war im Moment ihr geringstes Problem. „Und was führt Sie nach Albuquerque?“ erkundigte sich der Fremde

interessiert. „Leben Sie dort? Oder haben Sie keine Lust auf eine geistlose Unterhaltung mit jemandem, den Sie gar nicht kennen?“

Wider Willen mußte Catherine lächeln, doch gleich darauf versteifte sie sich wieder. Du mußt lernen zu lügen, sagte sie sich. Wenig später beschloß sie allerdings, die Wahrheit zu sagen. In diesem Fall brauchte sie nicht zu lügen. Nicht jetzt. Die Frage, die er ihr gestellt hatte, konnte sie bedenkenlos ehrlich beantworten.

„Ich studiere Medizin und trete eine Praktikumsstelle an.“ „An der Universitätsklinik, nehme ich an, stimmt's?“ Catherine räusperte sich. „Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit

mit den Ärzten dort“, erwiderte sie ausweichend. „Das hoffe ich auch. Er streckte ihr - wegen der Enge etwas

unbeholfen - die Hand hin. „Richard Moss. Ich bin Arzt an der Universitätsklinik.“

Er erwartete offensichtlich, daß sie sich nun ebenfalls vorstellte. Catherine öffnete den Mund, wußte jedoch auf einmal nichts zu sagen. Nun, da es an der Zeit war zu lügen, war ihr Gehirn plötzlich leer.

„Lanie brachte sie schließlich mühsam heraus. Der Vorname ihrer Großmutter. „McDaniel.“ Der Mädchenname ihrer Mutter. Wohlüberlegt hatte sie einen Namen gewählt, der ihr geläufig war, und doch wäre er ihr plötzlich um ein Haar entfallen.

Weil er etwas seltsam berührt zu sein schien, beeilte sie sich, ihm eine Frage zu stellen. „Welches Fachgebiet?“

„Epidemiologie. Eigentlich arbeite ich am Center for Disease Control in Atlanta, aber man hat an der Universitätsklinik in Albuquerque eine vorübergehende Stelle für mich eingerichtet.“

„Wegen der Mystery Disease?“ Nachdem Catherine von der geheimnisvollen Krankheit, für deren Entstehung es noch keine Er-klärung gab, in der Zeitung gelesen hatte, hatte sie sich sofort ans Telefon gehängt in der Hoffnung, daß sich für sie etwas ergeben könnte, da sie sich vor vier Jahren Epidemiologie als Spezialgebiet ausgewählt hatte.

Richard nickte. „Dann sind wir ja in gewisser Weise Kollegen.“ Nicht ganz, dachte Catherine. „Genau gesagt werde ich an einer Klinik

in der Reservation arbeiten.“

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„In der Navajo-Reservation draußen bei Shiprock?“ Sie nickte vorsichtig.

„Ich habe gehört, daß man große Schwierigkeiten hat, diese Stelle zu besetzen.

Er musterte sie eingehend, und sie hielt seinem Blick stand. Es ärgerte sie, daß er womöglich denken könnte, sie hätte den Praktikumsplatz in der Reservation nur deshalb angenommen, weil ihre Noten unter dem Durchschnitt lagen. Was nicht stimmte. Oder weil sie mit dem Rücken zur Wand stand... was richtig war. Richard wandte als erster den Blick ab.

„Und was halten Sie von der Mystery Disease?“ fragte er schließlich. Sie wußte nur das, was sie in den Zeitungen darüber gelesen hatte. Das

war nicht genug, um ihm eine fundierte Antwort geben zu können. Die mysteriöse Krankheit war zum erstenmal Anfang dieses Jahres in der Gegend um Four Corners in New Mexico zum Ausbruch gekommen und hatte überwiegend junge, gesunde Menschen innerhalb von Stunden dahingerafft. Da die Artikel in den Zeitungen für Laien geschrieben worden waren und vor Sensationslüsternheit strotzten, lechzte Catherine geradezu nach fachkundiger Erklärung.

Eine gute Gelegenheit, entschied sie. „Vielleicht eine Art von Immunitätsschwäche?“ stellte sie vorsichtig

eine Vermutung an. „Glaube ich nicht.“ „Was dann?“ „Die Navajos werden Ihnen erzählen, daß ein wolfman

dahintersteckt.“ „Ein was?“ „Ein Hexer. Sie sind überzeugt davon, daß irgend jemand über die von

der Krankheit Befallenen einen Fluch verhängt hat, aber ich persönlich denke eher, daß Umweltfaktoren die entscheidende Rolle spielen. Waren Sie schon mal in einer Reservation?“

Sie schüttelte den Kopf. „Dann machen Sie sich auf was gefaßt. Die Leute leben teilweise in

unbeschreiblichen Verhältnissen, die Armut ist groß.“ Sie war überrascht. Nachdem die Entscheidung, daß sie den

Praktikumsplatz bekommen würde, gefallen war, hatte sie sich ausgiebig

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informiert. „Ich dachte, die Navajos sind der reichste Indianerstamm im ganzen Land“, wandte sie ein.

Richard wußte es besser. „Der Stamm als Ganzes gesehen ja“, erklärte er. „Aber die einzelnen Menschen haben meist nur sehr wenig. Offen gestanden vermeide ich es, wenn möglich, dort rauszufahren. Die Leute leben bestenfalls in Wohnwagen, gewöhnlicherweise jedoch hausen sie in Hogans. „

„Hogans“, wiederholte sie langsam. „In Schlammhäusern.“ „Schlamm?“ Immerhin schien er nun leicht beschämt aufgrund der harschen

Zustandsbeschreibung, die er ihr gegeben hatte. „Nun gut, Schlamm ist vielleicht übertrieben“, schwächte er ab. „Aber es sind Hütten aus Baumstämmen und Lehm mit Strohdächern, die nur aus einem einzigen runden Raum bestehen. Als hätte es die letzten zweihundert Jahre keinen Fortschritt gegeben. Die Schafe und Ziegen und Hühner rennen herum, wo es ihnen gerade Spaß macht, oft sogar in den Hütten. Kein Wunder, daß unter solch unhygienischen Umständen Krankheiten ausbrechen.“

„Tun sie das?“ erkundigte sie sich. Er wurde rot. Da er eine helle Haut hatte, war es unübersehbar.

„Der Alkoholismus grassiert. Die Menschen glauben an Geister und Wunderheiler. Und jetzt das.“

„Der Alkoholismus ist in den meisten Reservationen ein Problem.“ Das wußte sie noch aus der Schule.

„Zumindest scheinen die Navajos die einzigen zu sein, die das Problem wenigstens sehen.“

Catherine nickte langsam. Plötzlich hatte sie genug von Richard Moss Gerede. Das, was er sagte, klang so verächtlich. Und dabei war er doch hergekommen, um diesen Leuten zu helfen. Sie wandte sich ab und starrte in die dunkle Nacht hinaus.

Doch Richard Moss gab sich nicht geschlagen. „Wir sind gleich da. Das dort drüben müßte bereits Santa Fe sein. Dahinter liegt Albuquerque.“

In weiter Entfernung konnte sie einen schwachen Lichtschimmer ausmachen. Alles andere war in tiefschwarze Dunkelheit gehüllt.

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Worauf hatte sie sich da nur eingelassen? Doch dann sagte sie sich, daß ihr ja keine andere Wahl geblieben

war. Die besten Praktikumsplätze waren natürlich an diejenigen gegan-gen, die dieses Jahr ihr Examen gemacht hatten, und für jemanden wie sie, die ein Jahr vor ihrem endgültigen Abschluß das Handtuch geworfen hatte, waren nur noch die desolatesten und deprimierendsten Stellen zu haben. Damit mußte sie sich abfinden.

Zumindest bist du hier, am Ende der Welt, wenigstens sicher, tröstete sie sich.

Als ihr auffiel, daß Richard noch immer nicht aufgehört hatte zu reden, wandte Catherine ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zu. „Um halb zehn sollen wir laut Flugplan landen“, sagte er. „Darf ich Sie für Ihr ausgefallenes Dinner vielleicht mit einem Drink entschädigen? Währenddessen könnte ich Ihnen noch ein bißchen was erzählen.“

Da sie keine Lust hatte, sich ihre eigenen Eindrücke von seinen zynischen Ansichten trüben zu lassen, verneinte sie höflich, aber bestimmt.

Catherine fuhr trotz Dunkelheit und später Stunde bis Gallup. Sie

war neugierig geworden auf die Reservation - ungeachtet oder vielleicht gerade wegen Richard Moss Warnungen. Die Nacht verbrachte sie in einem billigen Motel und war schon früh am nächsten Morgen wieder auf den Beinen. Sie trug Jeans und flache Riemchensandaletten. So war sie - falls das, was Richard gesagt hatte, zutraf - wenigstens nicht overdressed.

Unterwegs hielt sie an einem Imbiß und holte sich einen Becher Kaffee und einen Doughnut. Dann breitete sie ihre Landkarte auf der Kühlerhaube des Mietwagens, den ihr der Indian Health Service zur Verfügung gestellt hatte, aus und studierte sie. Die Wagenschlüssel waren ihr nicht wie üblich an der Rezeption der Autovermietung ausgehändigt worden, sondern draußen auf dem Parkplatz, wo der alte braune Ford ein wenig abseits von den anderen Autos wie ein Ausgestoßener hinter einer Absperrkette geparkt war.

Kein Lüftchen regte sich. Der Himmel war klar und blaßblau, und die Sonne stieg langsam höher. Für einen Moment vergaß Catherine die Karte und blickte hinaus auf die Wüste, die hinter dem Highway lag.

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Sie war mit Buschwerk bewachsen und schien nirgends zu enden. Der rote Sand war mit spärlichen Grasbüscheln bedeckt. Catherine grub in ihrem Gedächtnis, was von ihren Kenntnissen über die Landschaft, die vor ihr lag, übriggeblieben war. Viel war es nicht, doch immerhin fiel ihr ein, daß die höheren Büsche Mesquite hießen. Die kleineren blaßgrünen, stachligen Pflanzen waren möglicherweise rabbitbrush. Sie blickte wieder auf die Karte, doch irgend etwas lenkte sie ab, und sie mußte wieder hinausschauen auf die Wüste.

Es war wohl die Weite des Landes. Selbst hier, am Rande der Stadt, überkam einen ein Gefühl von Unermeßlichkeit, und es erschien einem, als bestünde die ganze Welt nur aus blauem Himmel und roter Wüste mit ein paar grünen Einsprengseln. Man hätte meinen sollen, daß diese Empfindung in ihr ein Übermaß an Verletzlichkeit und Ungeschütztheit freigelegt hätte, doch das war nicht der Fall. Das einzige, was passierte, war, daß sie sich so klein und unwichtig fühlte wie eine Stecknadel in einem Heuhaufen.

Nachdem sie die Karte zusammengefaltet hatte, stieg sie ins Auto, verließ den Interstate und bog, der Wegbeschreibung, die sie vom Indian Health Service erhalten hatte, folgend nach Norden auf die U.S. Route 666 ab.

Fern am Horizont stiegen nachtschwarze Gewitterwolken auf, und noch bevor sie die Straße erreicht hatte, auf der sie wieder abbiegen mußte, öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Regen prasselte erbarmungslos auf das Autodach. Wasserkaskaden rannen an den Frontscheiben herab, und die Scheibenwischer stöhnten.

Ihre Schußverletzung begann zu schmerzen, so als ob Victor selbst auf die Entfernung all ihre Anstrengungen, ihm zu entkommen, vereiteln wollte. Catherine fuhr an den Straßenrand, preßte eine Hand auf ihre rechte Seite, dorthin, wo die Kugel sie gestreift hatte, und warf einen Blick auf die Karte. Sie hatte direkt nach Shiprock fahren wollen, doch Shadow - ihre Kontaktfrau - hatte ihr gesagt, daß sie diesen Weg, den sie nun fuhr, einschlagen sollte.

Sie nahm den Fuß von der Bremse und ließ den Wagen vorsichtig den Berg hinunterrollen, doch schon nach kurzer Zeit hörte die Straßenasphaltierung auf, und sie rutschte auf einem verschlammten Weg talabwärts. Der Ford schlingerte bedenklich, und sie kämpfte

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mit dem Steuerrad. Nein, hier war sie bestimmt falsch. Hart trat sie in die Bremsen. Ihre Wunde schmerzte jetzt höllisch,

wahrscheinlich als Reaktion auf die dampfende, warme Feuchtigkeit, die im Wagen, der nicht mit einer Klimaanlage ausgestattet war, herrschte. Sie biß sich auf die Unterlippe und beschloß, noch ein paar Meilen weiterzufahren. Wenn sie bis dahin nicht auf ein Dorf gestoßen sein würde, würde sie umkehren und die andere Straße nehmen.

Als sie wieder Gas gab, drehten die Räder durch. „Nein. Oh, nein.“ Sie stieß die Wagentür auf und steckte den Kopf hinaus in den

strömenden Regen. Die Reifen des Ford steckten tief in rotem Schlamm. Was nun? Schieben? Unmöglich. Selbst wenn sie die Kraft dazu aufbringen sollte, den Wagen von der Stelle zu bewegen, fehlte jemand hinter dem Steuer.

Der Regen wurde stärker. Catherine schlug die Autotür wieder zu und schloß die Augen. Großer Gott.

Plötzlich drang ein Motorengeräusch an ihre Ohren. Sie wischte die beschlagenen Scheiben ab und spähte durch den dichten Regenvorhang hinaus. Ein vierrädriges Gefährt unbestimmbaren Alters bahnte sich langsam seinen Weg durch den tiefen Schlamm auf sie zu. Erleichtert riß sie die Wagentür auf und winkte, wobei sie den plötzlichen absurden Gedanken, daß Victor ihr gefolgt sein könnte, um in einer gottverlassenen Gegend sein Werk zu vollenden, energisch verdrängte.

Das Fahrzeug - ein Landrover, wie sie beim Näherkommen erkannte - hatte sie mittlerweile erreicht und rutschte in dem Schlamm noch ein Stück vorwärts, als der Fahrer auf die Bremsen trat. Dann öffnete sich die Wagentür, ein Mann stieg aus und kam auf sie zu. Der strömende Regen schien ihn offensichtlich vollkommen kalt zu lassen.

„Kann ich helfen?“ fragte er kurzangebunden. „Äh... ja. Ich suche Shadow Bedonie. Kennen Sie sie vielleicht?“

Die Chancen standen natürlich eins zu hundert, und plötzlich kam sie sich reichlich dämlich vor. Überraschenderweise nickte er jedoch zustimmend.

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Sie wartete darauf, daß er etwas sagen würde, aber er schwieg und musterte zuerst sie, dann das Auto mit kritischer Ungeduld.

„Können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann?“ erkundigte sie sich schließlich.

„So nicht.“ „Wie dann?“ „Schätze, da müssen Sie sich schon zu Fuß durch den Schlamm

schleppen.“ Frustration machte sich in ihr breit. „Könnten Sie mir vielleicht eine

richtige Antwort geben?“ „Dachte, das hätte ich.“ Damit wandte er sich um und stapfte wieder auf seinen Landrover zu.

„Warten Sie!“ Ohne sich nach ihr umzusehen blieb er stehen. Ihre Frustration

wandelte sich in Panik. Was sollte sie tun, wenn er sie nun einfach hier zurückließ? Verzweifelt sah sie sich um. Es konnte Tage dauern, bis hier wieder

ein Fahrzeug vorbeikam. „Bitte“, versuchte sie es noch einmal. „Ich muß Shadow Bedonie

finden.“ Sie hörte selbst, wie gepreßt und kläglich ihre Stimme klang. Ihre

Verzweiflung schien den Mann umgestimmt zu haben, denn er drehte sich zu ihr um und deutete auf seinen Truck.

„Sie kann ich mitnehmen, aber Ihr Auto muß bis morgen hierbleiben.“

Was hatte sie schon für eine andere Wahl? Catherine watete durch den Schlamm hinüber zu dem Rover. Als

sie einsteigen wollte, rutschte sie vom Trittbrett ab und versank bis zu den Knöcheln in dem roten Matsch, während er tatenlos hinter ihr stand und sie beobachtete.

„Dauert das noch lange?“ Nach dem zweiten Anlauf hatte sie es geschafft. Sarkastischer,

arroganter Idiot, dachte sie, nachdem sie sich in den Sitz gehievt hatte. „Vielen Dank“, schnappte sie. Sarkastisch oder nicht, er war im Moment ihre einzige Hoffnung.

Er ging um das Auto herum und kletterte ebenfalls hinein. Schweigend

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startete er und wendete. In der lastenden Stille, die sich nun ausbreitete, musterte sie ihn aus den Augenwinkeln.

Sie schätzte ihn auf etwa fünfunddreißig. Um seine Augen lagen winzige Fältchen, die auf häufigem Aufenthalt in Sonne und freier Natur hindeuteten. Sein Haar, schwarz wie die Nacht, fiel ihm glatt und glänzend bis auf den Kragen hinunter. War er ein Navajo? Einer ihrer zukünftigen Patienten womöglich? Eine Rasur könnte ihm nicht schaden, fand sie, während sie den Geruch nach Rauch und nassem Leder, den seine abgewetzte Lederjacke ausströmte, wahrnahm. Alles in allem gesehen machte er jedoch einen sehr... anziehenden Eindruck.

Seine Augen waren - soweit sie es in dem schwachen Licht beurteilen konnte - dunkel. Man hätte ihn fast als schön bezeichnen können - wenn er nicht diesen harten Zug um den Mund gehabt hätte. Doch seine Lippen waren voll, schön geschwungen und weich.

Sie ließ ihre Blicke über seine Gestalt wandern. Er war groß - weit über einsachtzig -, breitschultrig, schmalhüftig und muskulös.

„Und Sie glauben, daß ich morgen mein Auto dort wieder rauskriege?“ „Ja. Bis dahin ist der Lehm getrocknet.“ „Meinen Sie, daß es bald aufhört zu regnen?“ Sie lehnte sich nach

vom und starrte durch die Frontscheibe hinauf zum Himmel. „Viel zu bald.“ „Ist das Auto dort, wo ich es stehengelassen habe, sicher? „Auf jeden

Fall sicherer, als wenn Sie noch drin säßen.“ „Wie bitte?“ Er brachte den Rover vor einer der Lehmhütten, die Richard

erwähnt hatte, zum Stehen. Nachdem, sie einen Moment darauf gestarrt hatte, wandte sie sich dem Mann wieder zu.

„Wir sind da“, sagte er. „Das kann doch nicht Shiprockk sein. Das ist doch keine... Stadt.“ „Kaum.“ Als sie ihn dennoch weiterhin erstaunt ansah, bequemte

er sich hinzuzufügen: „Hier wohnt Shadow Bedonie. Sie haben doch gesagt, daß Sie zu ihr wollen.“

Wieder schaute sie zweifelnd auf den Hogan, dann stieß sie Wagentür auf und stieg aus. Sofort versank sie wieder bis zu den Knöcheln im Schlamm und stieß einen spitzen Schrei aus.

Er zuckte nicht einmal mit der Wimper.

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2. KAPITEL Catherine hätte ihn am liebsten erwürgt. Um sich nichts anmerken zu

lassen, drehte sie sich abrupt um und machte sich auf den Weg zu dem Hogan.

Sie hatte die Hütte fast erreicht, als eine kleine Schafherde und ein paar meckernde Ziegen um die Ecke kamen. Entschlossen steuerte sie ihr Ziel an, doch als sie hinter sich die Tür des Rover ins Schloß fallen hörte, zögerte sie und blieb stehen. Er schien hinter ihr herzukommen.

Gerade als sie sich nach ihm umdrehen wollte, war er auch schon neben ihr.

„Sie sind ganz schön kratzbürstig für ein Stadtmädchen, das noch nicht mal weiß, wo es eigentlich hin will.“

Der Regen hatte ihr das Haar an die Stirn geklatscht. Catherine schob es zurück. „Ich versuche nur, Shadow zu finden.“

„Sie ist nicht da.“ „Was?“ Warum hatte er sie dann hierhergebracht? Großer Gott,

womöglich arbeitete er wirklich für Victor. Die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er studierte es einen

Moment lang mit zusammengekniffenen Augen, dann machte er eine Handbewegung in Richtung eines kleinen Stalles, dessen Tür offenstand.

„Ihr Pferd ist weg.“ Sein Ton war wie eine Ohrfeige - er tat geradeso, als ob selbst der

größte Trottel wissen müßte, daß Shadow Bedonie ein Pferd besaß. Und plötzlich wurde sie wirklich kratzbürstig, doch es war keine Arroganz, wie sie Leute aus der Großstadt manchmal an den Tag legen, wenn sie aufs Land kommen, sondern sie fühlte sich einfach brüskiert. Sie war eine Callahan. Bevor Victor es gelungen war, ihr seinen Stempel aufzudrücken, war sie die Tochter irischer Einwanderer gewesen. Und die hatten nun einmal ihren eigenen Kopf.

Der Mann wandte sich von ihr ab und sah hinaus auf die Wüste. Sie ließ ihre Blicke den seinen folgen und erkannte eine Frau, die ebenso unbeeindruckt vom Regen wie er, auf einem Pferd herangaloppiert kam.

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„Hi“, sagte er, nachdem sie ihr Reittier neben ihnen zum Stehen gebracht hatte.

Catherine machte ein finsteres Gesicht. In dieser einen Silbe lag mehr Wärme als in all den Sätzen zusammen, die er mit ihr gewechselt hatte. Nun, wenigstens schien er nicht alle Menschen so verächtlich zu behandeln wie sie.

Die Frau schwang sich aus dem Sattel und sprang hinab. Sie lächelte. „Jericho! Du warst viel zu lang weg.“

Die Frau umarmte ihn, was er sich zu Catherines Erstaunen gern gefallen ließ. Ihr langes Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Es glänzte vor Nässe. Ihre Gesichtszüge waren so perfekt, daß sie keines Make-ups bedurften.

„Zuni“, sagte er. Der Frau schien seine verschlüsselte Erwiderung offensichtlich etwas zu sagen, denn sie nickte. „Die Töpferwaren waren nicht von uns.“

„Gut zu wissen.“ Schließlich wanderten ihre Blicke zu Catherine, und zuerst schien sie einen Moment verwirrt, dann lächelte sie. „Sie müssen Lanie McDaniel sein. Ich bin Shadow Bedonie.“

Noch bevor Catherine Shadows dargebotene Hand ergreifen und etwas sagen konnte, schaltete sich Jericho ein. „Ich habe sie unten in Chaco Wash aufgesammelt. Wahrscheinlich ist ihr Wagen inzwischen fortgespült worden. Hab mir schon gedacht, daß sie eine von deinen ist.“

Seine Stimme war wieder hart geworden. Catherine fand die Feindseligkeit, die er ihr entgegenbrachte, verletzend. Dieses Reservat hier war so groß, daß er ihr - ein bißchen Glück vorausgesetzt - wahrscheinlich nie wieder unter die Augen kommen würde. Er brauchte sie nicht zu interessieren. Das einzige, was sie interessierte, waren Victor, sein Revolver und seine Helfershelfer. Während sie nun so im strömenden Regen dastand und darüber nachdachte, überlief sie ein Schauer, und sie begann zu zittern. Der kalte, gutaussehende Fremde sollte ihre letzte Sorge sein.

Sein abweisender Blick glitt über sie hinweg. „Eine von ihren was?“ fragte Catherine. „Flügellahmen Tauben.“ Die Frau lachte ein bißchen nervös. „Jericho denkt immer, daß

mein Problem darin besteht, daß ich mich zuviel mit verlorenen

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Seelen abgebe.“ Sie sah ihn wieder an. „Lanie wird beim Health Service arbeiten. Jack Keller hat mich darum gebeten, ihr alles zu zeigen. Warum hätte ich es ihm abschlagen sollen? Ich mache es gern.“

Jericho hob eine Schulter. „Was hat das mit dir zu tun? Du arbeitest im Museum und nicht für Jack Keller.“

„Ich freue mich, daß sie da, ist. Ellen und Kolkline brauchen dringend Hilfe.“

„So eine aber nicht. Schroff wandte er sich ab, und Catherine stellte sich ihm, noch

bevor ihr klar war, was sie eigentlich vorhatte, in den Weg. „Bin ich Ihnen irgendwie zu nahe getreten?“ „Zu nahe getreten?“ wiederholte er in einem so spöttischen Ton,

daß sie rot wurde. „Hätten Sie mir nicht sagen können, daß Gefahr besteht, daß

mein Auto weggespült wird?“ „Und dann? Was hätten Sie dagegen getan?“ Sein verächtlicher

Blick sprach Bände. Er schien ihr nicht viel zuzutrauen. „Sie hätten mir helfen können, es auf festeren Boden zu schieben.“ Er schaute auf ihre Sandaletten, und sie bezwang den inneren Wunsch,

vor Verlegenheit ihre Zehen zu krümmen. Seine Augen waren so hart, so schwarz und gnadenlos, daß seine Blicke sich in ihre Füße fast einzubrennen schienen.

„Dachte, Sie würden schon allein zurechtkommen.“ Schlagartig wurde ihr klar, was mit ihm nicht stimmte. Für ihn gehörte sie nicht hierher. Verhielten sich die Navajos generell so

feindselig gegenüber Außenstehenden? Nachdenklich musterte sie Shadow. Nein, entschied sie dann. Shadow mit ihren freundlichen Augen und dem entgegenkommenden Lächeln war ganz anders. Es lag an diesem Mann. Es war etwas Persönliches.

Instinktiv wich sie einen Schritt zurück. Während er sie mit einem weiteren mißtrauischen Blick streifte, ging er um sie herum, und kurz darauf verlor sich seine breitschultrige Silhouette hinter dem dichten Regenvorhang.

„Danke, daß du zu den Zunis gegangen bist“, rief Shadow ihm noch nach, doch er antwortete nicht.

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Der Hogan war rustikal, aber gemütlich eingerichtet. Nachdem

Catherine sich umgesehen hatte, wurde ihr klar, daß Richards Beschreibung entschieden zu unfreundlich ausgefallen war.

Die Hütte, wie ein Blockhaus aus dicken Holzstämmen erbaut, bestand aus einem großen Raum, der aber nicht rund war, sondern sechseckig. Der einzige Lehm, den sie entdecken konnte, war der, mit dem die Zwischenräume zwischen den Stämmen ausgefüllt waren. Obwohl der Regen unaufhörlich niederprasselte, hatte man es hier drin trocken und warm. Alles war peinlich sauber und aufgeräumt, in einer Ecke hatte ein schmales Lager seinen Platz, über dem eine bunte Indianderdecke ausgebreitet war. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Herd mit blitzenden Pfannen und Töpfen, und an den Wänden hingen getrocknete blaue Wildblumensträuße.

Catherine wünschte sich, daß Shadow sie auffordern würde, sich, neben den Herd zu setzen, damit sie sich etwas ausruhen und aufwärmen könnte. Irgendwie hatte sie das unbestimmte Gefühl, daß sie sich hier schnell erwärmen würde - sowohl innerlich als auch äußerlich.

Statt dessen jedoch reichte ihr die Frau ein Handtuch und folgte Catherines Blick.

„Die Heiligen Wesen - unsere Götter - schreiben uns vor, daß die Eingänge und Fenster unserer Häuser nach Osten gehen müssen, um die Sonne hineinzulassen. Der Osten ist im spirituellen Sinn der Ort der Geburt oder des Anfangs. Hinzu kommt noch, daß die Stürme aus den Chuska Mountains wehen, und die liegen westlich. Da unsere Türen nach Osten hinausgehen, regnet es kaum rein.“

„Und nachts?“ erkundigte sich Catherine mit Blick auf den Eingang, der nur eine Art offener Torbogen ohne Tür war. „Kommen nachts nicht die Tiere rein?“ Sie erinnerte sich, was Richard ihr über die Schafe un Ziegen erzählt hatte.

Shadow zuckte die Schultern. „Üblicherweise nicht.“ „Wird es nicht schrecklich kalt im Winter?“ „Der Herd gibt viel Wärme ab, und der Raum ist ja nicht so groß. Er

ist leicht zu heizen. Wenn das Wetter ganz schlecht ist, hänge ich eine Decke vor die Tür.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich bin zwar nicht

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ganz so traditionsbewußt wie manche unserer Leute, aber dennoch schlagen auch bei mir die alten Sitten und Gebräuche immer wieder durch.“

„Und Jericho?“ hörte Catherine sich fragen. „Ist er traditionsbewußt?“ Wen interessierte das schon? Sie. Aus irgendeinem Grund - warum wußte sie nicht - war sie neugierig.

Shadow zuckte wieder die Schultern. „Wie man's nimmt. In mancher Hinsicht ja, in anderer überhaupt nicht.“ Plötzlich sah sie Catherine leicht schuldbewußt an. „Ich weiß, daß mein Bruder manchmal etwas schroff sein kann. Es ist... Er ist Fremden gegenüber sehr zurückhaltend.“

„Ihr Bruder?“ Shadow lachte. „Sie beide sind so verschieden wie Tag und Nacht“, platzte Catherine

gegen ihren Willen heraus. „Sie sind so warmherzig, und er ist so... unnahbar.“

Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, war sie entsetzt über sich selbst. Sie hatte sich viel zu weit vorgewagt.

Doch Shadow schien sich nicht daran zu stören. „Das scheint nur auf den ersten Blick so. Wenn Sie ihn erst mal ein bißchen besser kennen, werden Sie sehen, daß der Unterschied zwischen uns gar nicht so groß ist.“ Nachdem Catherine sich die Haare getrocknet hatte, nahm sie das Handtuch wieder entgegen. „Kommen Sie, ich will Ihnen jetzt die Klinik und Ihre Unterkunft zeigen.“

Jericho legte zwar den Gang ein, doch er fuhr nicht ab, sondern

wartete, bis die beiden Frauen wieder am Eingang des Hogan auftauchten und durch den Regen zu Shadows hinter der Hütte geparktem Truck eilten.

Diese Fremde hatte etwas an sich, das ihn einerseits irritierte und reizbar machte, andererseits aber auch erregte.

Vielleicht war es ihr Haar, diese Kaskade wilder schwarzer Locken. Oder ihre Augen - weit auseinanderstehend und wachsam wie die einer Katze, die nachts auf Beutezüge geht. Und ihre Beine schienen überhaupt nicht aufhören zu wollen. Obwohl sie groß war, wirkte sie schlank und zierlich, mit elfenbeinfarbener Haut und klassischen

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feingeschnittenen Gesichtszügen. Und auf dem Nasenrücken hatte sie ein paar Sommersprossen. Okay, sie war ein verletzter Vogel. Er hatte es bemerkt, noch bevor sie

dazu gekommen war, nach Shadow zu fragen. In ihrer Stimme lag Verzweiflung. Sie hatte Angst. Das war für ihn unübersehbar gewesen. Ebenso unübersehbar allerdings war später auch ihre Verärgerung gewesen.

Ein- oder zweimal hatte er schon befürchtet, sie würde gleich wie ein nasser kleiner Terrier mit gefletschten Zähnen auf ihn losgehen.

Er grinste vor sich hin und verschluckte sich fast, als er es merkte. Plötzlich wünschte er sich, seine Schwester hätte sich weiterhin damit zufriedengegeben, herrenlosen Hunden ein Heim zu bieten und in ihrem Museum fragwürdige archäologische Ausgrabungsstücke zu inventarisieren.

Nun, wie auch immer. Diese Taube war nicht nur flügellahm, er nahm auch den schwachen Geruch von Geld und Kultiviertheit wahr, den sie ausströmte. Jericho wußte aus Erfahrung, daß das erbarmungslose Navajoland eine solche Frau in kürzester Zeit zur Strecke brachte. Sie würde die Beine in die Hand nehmen und in ihren lehmverkrusteten Sandalen nach Hause rennen so schnell sie nur konnte, die großen grünen Augen weit aufgerissen vor Bestürzung. Und würde sie nicht davonlaufen, würde sie verkümmern - so wie Anelle verkümmert war.

Der Schmerz war schon alt, die Wunde vernarbt, und doch versetzte die Erinnerung daran ihm noch immer einen Stich. Er ließ die Kupplung zu abrupt kommen, und der Landrover schoß mit einem großen Satz nach vorn.

Catherines Augen weiteten sich vor Schreck, und sie holte tief

Luft, als der Truck wie wildgeworden den aufgeweichten Weg entlangholperte. Sie hüpfte auf ihrem Sitz auf und nieder, so daß sie sich fast den Kopf an der Decke stieß. Krampfhaft umklammerte sie die Armstütze.

Als sie von der Straße abbog und den Weg in die Wüste hinein nahm, warf Shadow ihr einen kurzen Blick zu. „Sind Sie okay? Halten Sie sich gut fest und verriegeln Sie die Tür, sonst springt sie auf.“

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Catherine tat, was Shadow gesagt hatte. „Diese Reservation ist riesengroß. Man braucht einen ganzen Tag, um

von Punkt A nach Punkt B zu gelangen.“ Shadow unterbrach sich und kämpfte mit der Lenkung, da sie gerade eine besonders unwegsame Wegstrecke zu bewältigen hatte. Einen Moment später fügte sie hinzu: „Hier sind nur ein paar wenige Hauptverkehrsstraßen geteert.“

Plötzlich wurde ihr Weg von einer Schafherde blockiert. Shadow nahm das Gas weg und steuerte das Fahrzeug vorsichtig zwischen den Tieren hindurch.

„Laufen sie nicht weg?“ fragte Catherine erstaunt, da sie nirgendwo einen Zaun entdecken konnte.

Shadow deutete auf eine größere Ansammlung von Unterständen weiter draußen in der Wüste. „Sie wandern herum, und ihre Besitzer ziehen hinter ihnen her. Dort drüben ist das Camp, in dem sie wohnen. Wahrscheinlich ist das die...“ sie überlegte einen Moment, „...Yellowhorse-Truppe.“

„Was für eine Truppe?“ „Die Yellowhorse-Truppe. Das sind einige entfernt miteinander

verwandte Leute, die sich zusammengetan haben zu einer Gruppe, die kleiner ist als ein Clan, aber größer als eine Familie. Sie sind sehr traditionsbewußt, und die meisten von ihnen leben irgendwo hier draußen, südlich vom Beautiful Mountain.“

Nachdem der Wagen mühsam einen schmalen, gewundenen Weg hinaufgekeucht war, zeichnete sich vor ihnen am Horizont der Beautiful Mountain ab. Sein Anblick ließ Catherine an einen Wachposten denken, der Wache hielt über diesem rauhen, zerklüfteten Land.

Als sie sich dem Camp näherten, hatte sie plötzlich das Gefühl, als sei die Zeit stehengeblieben. Frauen in farbenprächtigen langen Gewändern liefen geschäftig zwischen den Unterständen hin und her, und ein Mann mit bloßem Oberkörper und schulterlangem, blauschwarzem, glattem Haar, das von einem Stirnband aus dem Gesicht gehalten wurde, ritt gerade an die Spitze der Schafherde. Es hätte Catherine nicht überrascht, wenn er über der Schulter auch noch einen Köcher mit Pfeilen gehabt hätte.

Sie konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. Victor würde

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niemals auf die Idee kommen, hier nach ihr zu suchen. Sie war in einer anderen Welt, einer Welt, die so weit entfernt war von der seinen wie der Mond von der Sonne.

Shadow warf ihr einen neugierigen Blick zu. „Es ist herrlich“, sagte Catherine und merkte, daß sie das, was sie sagte,

auch wirklich meinte. Der Berg kam näher, und einige Zeit später erreichten sie eine Straße,

auf die Shadow abbog. Als sie durch eine tiefe Pfütze fuhr, wirbelten die Reifen Schlamm auf, und hohe Wasserfontänen spritzten zu beiden Seiten des Wagens empor. Wenig später schließlich bog Shadow ein weiteres Mal ab, auf eine sehr schmale Straße diesmal, und dann tauchten plötzlich vor ihnen zwei große Wohnwagen auf.

Irgendwie wirkten sie hier inmitten der Wüstenlandschaft, fernab von jeglicher Zivilisation, fehl am Platz. Der vordere Trailer war modern und glänzte in Silbermetallic, der dahinter war wohl ehemals weiß gewesen, doch der Zahn der Zeit hatte seine Farbe mittlerweile in ein ödes Graubraun verwandelt.

Auf einem kleinen Sandstück, das als Parkplatz diente, parkte neben einer großen Wassertonne und einem brummenden Generator ein rostzerfressener Toyota, hinter dem Shadow anhielt. Sie stiegen aus und wateten durch den tiefen Schlamm zu dem silbernen Wohnwagen.

„Um Wasser brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen“, sagte Shadow, wobei sie auf die Tonne deutete. „Der Tank wird zweimal in der Woche von einem Truck, der aus Shiprock kommt, aufgefüllt.“

„Und wo liegt Shiprock?“ Catherine war eigentlich der Meinung gewesen, daß sich die Klinik in Shiprock befände.

Dem war offensichtlich nicht so. Shadow deutete auf die Straße. „Etwa hundert Meilen in dieser Richtung.“

Sie stiegen die drei Stufen hinauf, und als sie die Klinik betraten, blieb Catherine vor Überraschung fast der Mund offenstehen. Nachdem sie Shadows Hogan und das Camp gesehen hatte, hatte sie sich bezüglich der Bedingungen, unter denen sie in der nächsten Zeit würde arbeiten müssen, keinerlei Illusionen hingegeben. Doch sie hatte sich geirrt. Der Kliniktrailer war bestens ausgestattet.

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Aus einem der hinteren Räume trat eine Krankenschwester, die auf den ersten Blick sehr hübsch war, doch sobald sie der beiden Frauen ansichtig wurde, verhärteten sich ihre Züge, und in ihre Augen trat Feindseligkeit.

Catherine spürte Mutlosigkeit in sich aufsteigen. Die Krankenschwester wollte sie ebensowenig hierhaben wie Jericho. Das war offensichtlich. Jetzt war sie noch nicht einmal einen Tag in der Reservation und hatte sich aus ihr völlig unerfindlichen Gründen bereits zwei Feinde gemacht.

„Lanie McDaniel, Ellen Lonetree“, stellte Shadow die beiden Frauen einander freundlich vor, doch Ellens Gesicht blieb abweisend.

Lastendes Schweigen hing über dem Raum. Shadow räusperte sich. „Nun gut sagte sie schließlich. „Dr. Kolkline ist nicht da?“ .

Ellen sah sie ungläubig an. „Soll das ein Witz sein?“ „Ich nehme an, daß ich mit ihm zusammenarbeite“, schaltete sich

Catherine ein. Ihr Einwurf brachte ihr einen stechenden Blick von Ellen ein, und

gleich darauf wandte sich die Krankenschwester wortlos ab, um wieder nach nebenan zu gehen. Shadow zuckte entschuldigend die Schultern.

„Also, früher oder später werden Sie ihn schon noch kennenlernen. Er läßt sich nur sehr selten hier blicken.“ Sie zögerte einen Moment, doch dann entschied sie sich für Offenheit.

„Abe Kolkline“, versuchte sich Shadow nun an einer Erklärung, „schaut nur ab und zu mal vorbei, und die meisten unserer Leute sind auch nicht gerade wild auf seine Anglo-Medizin. Erst seit wir die Mystery Disease hier haben, hat sich die Situation ein bißchen verändert, aber besonders gefragt ist er noch immer nicht. Meistens hängt er in Albuquerque in der Uniklinik rum, und wenn er gebraucht wird, ruft Ellen ihn an.“

Catherine konnte ihr ansehen, daß das nicht sehr oft vorkam. Nun ging Shadow zur Tür, und Catherine folgte ihr nach draußen.

„Ellen ist eine respektierte Heilerin“, fuhr Shadow fort, während sie zu dem anderen Wohnwagen hinübergingen. „Sie kennt sich bestens aus mit Heilkräutern, und unsere Leute ziehen ihre Methoden denen von Kolkline bei weitem vor. Sie hat zwar eine

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Schwesternschule in Albuquerque absolviert, weil es Vorschrift ist und sie sonst gar nicht in der Klinik arbeiten dürfte, aber ich schätze mal, daß sie ihre guten Gründe hat, der Medizin der Weißen ablehnend gegenüberzustehen. Mit den Ärzten, die sie uns schicken, ist es immer wieder dasselbe. Entweder kümmern sie sich überhaupt nicht, oder sie verstehen die spirituellen Bedürfnisse der Leute nicht. Bei uns sind Gesundheit und Glaube sehr eng miteinander verwoben, und das ist für Außenstehende, denen unsere Weltanschauung fremd ist, schwer faßbar.“ Sie zuckte die Schultern, während sie die Tür aufschloß. „Und Praktikanten... nun, wie soll ich sagen... sie sitzen eben meist nur ihre Zeit ab und machen dann schleunigst, daß sie wieder wegkommen, aber sie sind alles, was sich unser Gesundheitsdienst an Assistenten leisten kann.“

Sie traten ein, und als sich Shadow abrupt zu Catherine umdrehte, loderte in ihren Augen das gleiche Feuer wie in denen ihres Bruders. „Ich hoffe, Sie sind anders“, bekannte sie freimütig. „Wir brauchen jemanden, der bleibt, der sich um uns kümmert, selbst wenn das den meisten Leuten nicht klar ist.“

Catherine spürte, wie sie rot wurde. Es war das erstemal, daß es ihr schwerfiel, Shadow in die Augen zu schauen. Wenn Victor erst hinter Schloß und Riegel saß, würde auch sie wieder nach Boston zurückkehren.

Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich mit einemmal ganz trocken an. „Ich glaube nicht, daß Ihr Bruder Ihre Meinung teilt“, antwortete sie

und zuckte kaum, daß sie die Worte ausgesprochen hatte, innerlich zusammen.

In dem Bemühen, sich die Gedanken an Jericho Bedonie aus dem Kopf zu schlagen, schaute sie sich um. In dem Wohnwagen herrschte öde Leere. Im hinteren Teil befand sich ein schmales Bett, weiter vorn ein alter wackliger Tisch mit zwei Stühlen. Das war alles. An der einen Wand befand sich eine Tür, die in ein winziges Bad führte.

„Nicht gerade überwältigend, stimmt's?“ Shadow seufzte. Nein. Aber wenigstens war sie hier sicher. Catherine lächelte. Eine

Erwiderung erübrigte sich. „Ich muß heute nachmittag nach Shiprock“, fuhr Shadow in ihrer

beherzten und praktischen Art fort. „Ich werde versuchen, jemanden

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zu finden, der sich um Ihren Wagen kümmert.“ „Mein Gepäck ist noch im Kofferraum“, fiel Catherine plötzlich

siedendheiß ein. Shadow kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Kommen Sie bis

morgen ohne Ihre Sachen zurecht? Ich nehme an, daß im Bad Zahnpasta und Seife sind.“ Sie ging nach nebenan“ um nachzusehen, und kam gleich darauf zustimmend nickend wieder zurück. „Es ist alles da, was Sie brauchen. Auch Handtücher.“

Dann fiel ihr Blick auf Catherines Füße. „Haben Sie Stiefel dabei?“ „Ich besitze nicht mal welche.“ „Nun, die werden Sie hier brauchen. Was für eine Größe haben

Sie? Achtunddreißig? Ich kann Ihnen aus Shiprock ein Paar mitbringen. Brauchen Sie sonst noch etwas?“

Catherine schaute sich um und hatte Mühe, ein verzweifeltes Auflachen zu unterdrücken.

„Etwas, worin ich mir einen Kaffee kochen kann, vielleicht. Shadow grinste verschmitzt. „Wenn Sie es lange genug hier aushalten,

um ihn zu trinken, bringe ich Ihnen Kaffee für einen ganzen Monat vorbei.“

„Falls ich irgendwann mal an meine Koffer komme, habe ich Kaffee.“ Ihre Lieblingssorte war French-Vanilla, und da sie sich keine Hoffnungen gemacht hatte, ihn in der Reservation aufzutreiben, hatte sie sich einige Pakete davon mitgebracht.“ Aber ich verspreche Ihnen trotzdem, es hier, noch ein bißchen auszuhalten“, fügte sie hinzu. Zumindest so lange, bis sich für ihr Problem mit Victor eine Lösung gefunden hatte. Außerdem mußte sie das, was sie sich vorgenommen hatte, zu Ende führen, im anderen Fall hätte sie keinen Beruf und keinerlei Aussicht darauf, die Scherben ihres zerbrochenen Lebens jemals zu kitten.

Shadow ging zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal um. „Geben Sie sich und uns eine echte Chance, Lanie. Das ist alles, worum ich Sie bitte.“

Als Catherine ihren angenommenen Namen hörte, zuckte sie zusammen. Plötzlich verspürte sie den Wunsch, sich Shadow anzuvertrauen.

Welch eine Erleichterung wäre es die Bürde, die schwer auf

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ihr lastete, mit jemandem teilen zu können. Aber sie wagte es nicht. Victor war mit allen Wassern gewaschen. Das Risiko bestand, daß er ihr selbst hier auf die Spur kam.

Sie nickte zustimmend, sagte aber nichts mehr. Gleich darauf war Shadow weg, und Catherine ging zum Fenster, um ihr nachzusehen. Plötzlich war es sehr still im Wohnwagen.

„Reiß dich zusammen, Lanie“, sagte sie laut. „Es hätte schlimmer kommen können. Du könntest jetzt schon tot sein.“

Statt dessen würde sie sich auf den Hosenboden setzen und von vorn anfangen, würde über Epidemiologie das lernen, was sie lernen mußte, und das offensichtlich ohne einen Arzt, der sie anleitete. Sie würde mit einer Krankenschwester vorliebnehmen müssen, die zweifellos all das haßte, was sie, Catherine, repräsentierte. Ebenso wie Jericho Bedonie.

Aber zumindest hatte sie einen Job und ein Dach über dem Kopf. Sie hörte ein Geräusch und zog irritiert die Augenbrauen

zusammen. Als sie hinüber zum Bett ging, entdeckte sie direkt daneben eine Pfütze. Schlimmes ahnend blickte sie hinauf zur Decke.

Ihre Befürchtung bewahrheitete sich. Das Dach des Wohnwagens leckte.

Aufstöhnend ließ sie sich aufs Bett fallen, Holz splitterte, der Lattenrost unter ihr gab nach, und sie stürzte zu Boden, direkt in die Wasserlache. Das erstemal seit Wochen lachte sie aus vollem Halse, sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen kamen.

Jericho sah den Truck seiner Schwester nach Norden in Richtung

Shiprock abbiegen und fuhr ihm nach. Als sie vor einem Haushaltswarengeschäft anhielt, aus dem Wagen stieg und hineinging, folgte er ihr.

Vor einem Regal mit Kaffeemaschinen holte er sie ein und stellte sich neben sie. Schweigend. Sie beachtete ihn nicht. Wahrscheinlich weil sie wütend auf ihn war. Da war er nun mittlerweile fünfunddreißig Jahre alt, und doch spürte er, wie ihn die Mißbilligung seiner kleinen Schwester in die Knie zwang.

„Und? Wie gefällt ihr ihr neues, gemütliches Heim?“ erkundigte er sich schließlich.

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Shadow hob eine Augenbraue in direkter Nachahmung einer seiner bevorzugten Lieblingsgesten. „Bist du den ganzen Weg hinter mir hergefahren, nur um mich das zu fragen? Wie schrecklich neugierig du doch bist.“

Jericho zuckte die Schultern. „Sie ist genau dein Typ, stimmt's?“ Das hätte sie nicht sagen sollen. Sie sah, wie er sich in sich

zurückzog, und, einen Moment lang befürchtete sie, er würde auf dem Absatz kehrtmachen und ohne ein weiteres Wort den Laden verlassen. Aber er zögerte einen Moment, was ihr Gelegenheit gab, das Thema zu wechseln.

„Wer hat den Wohnwagen leergeräumt?“ verlangte sie zu wissen. „Du oder Ellen?“

„Die Idee hätte mir gefallen, aber du hast mich ja mit den Zunis auf Trab gehalten.“

„Dieser wacklige Tisch steht doch normalerweise in Onkel Ernies Berghütte“, sagte sie anklagend.

„Kann sein. Ich war schon seit Monaten nicht mehr dort.“ „Ehrenwort?“

Sie beobachtete ihn aufmerksam. Er grinste, und seine Züge wurden weicher.

„Ehrenwort.“ Shadow nahm eine Kaffeemaschine aus dem Regal und machte

Anstalten, damit zur Kasse zu gehen. „Ich werde alles tun, damit sie sich hier wohl fühlt“, warnte sie ihn.

„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.“ An der Kasse stellte sich heraus, daß Shadow nicht genug Geld bei sich

hatte. Die Kaffeemaschine kostete mehr als zwanzig Dollar, aber sie hatte nur achtzehn. Nachdem sie Jericho scharf angesehen hatte, kramte er drei weitere Scheine aus seiner Hosentasche und legte sie zu den übrigen.

„Ich gebe ihr nicht mehr als zwei Wochen“, sagte er. „Selbst mit Kaffeemaschine.“

„Sie hat mir einen Monat versprochen.“ „Stadtmädchen haben nicht das Zeug dazu, ihre Versprechen auch

einzuhalten.“

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Shadow seufzte. „Ach, hör schon auf, Jericho. Sie sind nicht alle gleich. Das wäre genauso, als würde man behaupten, alle Schafe seien weiß.“

„Nicht alle, aber die meisten.“ Er trug ihr die Tüte zum Wagen. „Noch böse auf mich?“ „Du redest auf der Stelle mit Ellen und pfeifst sie zurück“, verlangte sie

kategorisch. „Ach, Shadow. Du mit deinen Illusionen. Ich sage dir, selbst wenn du

der kleinen Lanie noch soviel Gutes tust, wirst du sie damit nicht halten können. Schon allein die Abgeschiedenheit wird sie innerhalb kürzester Zeit fertig machen“, prophezeite er.

Shadow seufzte. Gegen das, was er sagte, ließ sich schlecht argumentieren.

Sie kletterte hinters Steuer. „Hör zu. Wenn sie's weniger als einen Monat macht, kriegst du deine drei Dollar zurück, einverstanden?“

„Einverstanden.“ „Hoffe, du bist auf das Geld nicht angewiesen.“ Sie klang überzeugter, als sie in Wirklichkeit war. Sie mochte Lanie

McDaniel, sie mochte sie wirklich, aber sie spürte, daß sie ein Geheimnis hatte, und das beunruhigte sie.

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3. KAPITEL An ihrem ersten Morgen in der Reservation wurde Catherine bei

Sonnenaufgang vom Klagelied eines Kojoten begrüßt. Die schaurige Melodie sickerte in ihre Träume ein und verwandelte

sich in altbekannte Alpträume. Mit einem erstickten Schrei in der Kehle fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Als das Bett bedrohlich unter ihr ächzte, wußte sie wieder, wo sie sich befand. Sie hatte es am Abend vorher, mit einem Brett, das sie draußen gefunden hatte, notdürftig repariert.

Die Arme schützend um sich gelegt, tappte sie schlaftrunken barfuß zum Fenster und blickte hinaus. Noch war die Sonne nicht ganz aufgegangen, eine fahle Mondsichel hing über der Wüste am Horizont. Außer ihrem Wohnwagen und dem Kliniktrailer gab es kein Anzeichen von Zivilisation weit und breit.

Catherine schauerte zusammen. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt.

Sie rollte die Schultern. Am besten wäre es wohl, wenn sie sich gleich fertigmachte und nach nebenan in die Klinik ginge. Dann könnte sie sich wenigstens in aller Ruhe umschauen, bevor Ellen kam. Sie ging ins Bad, um nach ihren Kleidern zu sehen, die sie am Abend vorher im Waschbecken gewaschen hatte. Als sie ihre Jeans, die sie über die Duschstange gehängt hatte, herunterzog, stöhnte sie. Natürlich war sie noch feucht.

Glücklicherweise entdeckte sie unter dem Waschbecken einen Fön. Sie holte ihn hervor, schaltete ihn ein und richtete den heißen Luftstrahl auf ihre Hose. Bis sie schließlich trocken war, war die Sonne aufgegangen.

Catherine ging nach draußen auf den winzigen Vorbau, um ihre Sandaletten zu holen. Der Lehm hatte eine harte Kruste gebildet, die sie nun notdürftig abklopfte. Als sie fertig war, sah sie sich um. Das Wetter präsentierte sich von seiner besten Seite. Es versprach, ein herrlicher Tag zu werden. Über ihr spannte sich ein fast wolkenloser Himmel von dem strahlendsten Blau, das sie jemals gesehen hatte. Der gestern noch völlig durchweichte Lehmboden war über Nacht getrocknet.

Als sie nach dem Zähneputzen aus dem Bad kam, hörte sie das Zuschlagen einer Autotür. Sie versteifte sich und ging zum Fenster.

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Das Auto war ein Landrover. Jericho. Sie verspürte ein Kribbeln in der Magengrube. Was wollte er hier?

Womöglich hatte er eine Schrotflinte dabei, um sie davonzujagen. Egal. Auf sie war auch vorher schon geschossen worden, und sie war noch immer am Leben. Schnell öffnete sie die Tür und rannte im Laufschritt hinüber zur Klinik.

Die Tür stand offen. Catherine blieb stehen und schaute hinein. Jericho war nicht allein. Sie waren beide hier Jericho und Ellen. Dicht nebeneinander standen sie vor dem Schreibtisch, die Köpfe über irgend etwas gebeugt, das sie offensichtlich eingehend zu studieren schienen. Seine Lederjacke hatte er über einen Stuhl geworfen. Er trug ein blaues Hemd, und seine Jeans war so eng, daß Catherine bei seinem Anblick der Mund trocken wurde.

„Hallo“, sagte sie unsicher und blieb auf der Schwelle stehen. Jericho sah auf. Sein Blick wanderte ohne sichtbare Gefühlsregung

über sie hinweg, dann wandte er sich wieder dem Schreibtisch zu. Die beiden gönnten ihr kein einziges Wort.

Der Kaffeeduft, der zu ihr herausströmte, lockte sie schließlich hinein. Als sie durch den Raum ging, vermeinte sie Jerichos brennende Blicke in ihrem Rücken zu spüren, doch als sie sich umdrehte, schaute er noch immer konzentriert auf den Schreibtisch

„Kann ich auch eine Tasse Kaffee haben?“ fragte sie mit erzwungener Höflichkeit.

Erst sah es so aus, als wollte er sich gar nicht die Mühe machen, ihr zu antworten, doch dann zuckte er die Schultern. „Bedienen Sie sich.“

„Das würde ich ja, aber ich weiß nicht, wo er ist. Ohne sich ihr zuzuwenden, hob er eine Thermoskanne hoch, die auf

dem Schreibtisch stand. Einer von beiden hatte sie anscheinend mitgebracht. Ihr erster Impuls war plötzlich, abzulehnen. Trotzig sagte sie sich, daß sie lieber an Koffeinentzug sterben würde, als etwas von ihm anzunehmen, doch dann erinnerte sie sich daran, daß Paddy immer der Meinung gewesen war, Hochmut käme vor dem Fall. Also ging Catherine zu ihm hinüber und nahm ihm die Kanne ab.

„Vielen Dank“, sagte sie reserviert. „Unter der Spüle sind Pappbecher. Milch und Zucker gibt's nicht.“ „Ich trinke ihn sowieso schwarz.“ Sie holte sich einen Becher,

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goß sich ein und nippte an dem, höllisch starken Gebräu. Dabei warf sie einen unauffälligen Blick auf den Schreibtisch und versuchte herauszubekommen, womit sich die beiden so intensiv beschäftigten. Das Koffein schoß ihr belebend ins Blut.

Jerichos Blicke ruhten auf ihr, weniger neugierig als befriedigt. „Haut Sie wohl um, wie? In der Stadt macht man den Kaffee wohl nicht so stark?“

Sie biß die Zähne zusammen. „Er ist sehr gut.“ Nachdem sie sich gezwungen hatte, einen weiteren Schluck zutrinken,

trat sie näher und blickte ihm über die Schulter. „Was ist das denn?“ Prompt nahm Ellen das Papier vom Schreibtisch, doch Catherine hatte

bereits gesehen, worum es sich handelte. Es war, eine Karte, auf der kleine rote Punkte eingezeichnet waren. Markierungspunkte an den Orten, an denen die Mystery Disease aufgetreten war? Falls ihre Vermutung zutraf, warum, in aller Welt, versuchten sie, es vor ihr zu verbergen? Waren sie derart fest entschlossen, sie vollkommen zu ignorieren, daß sie sogar medizinische Daten vor ihr geheimhielten? Und was hatte Jericho überhaupt damit zu tun?

Er beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. „Sie wissen vielleicht, daß das hier nicht meine erste Epidemiologiestelle ist“, sagte sie. „Ich hatte vorher bereits zwei andere. Ganz ohne Sachkenntnisse bin Ich also nicht.“

„Gut für Sie.“, „Nein, für Sie“, gab sie scharf zurück. „Mir scheint, Sie könnten ein

bißchen Sachkenntnis brauchen.“ „Wir haben die Sachkenntnisse unserer Medizinmänner“, beschied Eilen

sie kalt. Hokuspokus, dachte Catherine und mußte sich zurückhalten, um

nicht mit ihrer Meinung herauszuplatzen. „Und was ist, wenn die Entstehungsursachen der Krankheit

organischer und nicht mystischer Natur sind?“ fragte sie statt dessen vorsichtig. Wenn Blicke töten könnten, wäre sie jetzt von dem Blick, den Jericho ihr zuwarf, auf der Stelle tot umgefallen. „Ich meine...“

„Oh, nur keine Sorge, Katzenauge, ich habe genau verstanden.“ Katzenauge? Sie schrak zusammen. Jetzt wurde er wirklich persönlich.

Aber war das nicht schon die ganze Zeit so? Ja, entschied sie.

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Sie holte tief Atem. „Es gibt eine Chance, daß...“ „Sie leben in einer anderen Welt. Es gibt eine Chance, daß Sie

sich nicht in Sachen einmischen, von denen Sie nichts verstehen.“ Ihr Mund wurde trocken, und ihre Kehle fühlte sich an wie

zugeschnürt. Glücklicherweise wurde sie einer Antwort enthoben, weil Shadow zur Tür hereinkam.

„Also wirklich, Kinder“ schalt sie mit betonter Leichtigkeit. „Seid nett zueinander.“

„Dann wird's interessant“, sinnierte Ellen. Shadow warf ihr einen warnenden Blick zu, wohingegen man den,

den sie ihrem Bruder gönnte, nur als vernichtend bezeichnen konnte. „Ich hatte wirklich gehofft, daß du zumindest fair bleiben würdest.“

Wortlos nahm er Ellen das Blatt aus der Hand, faltete es zusammen und steckte es in seine Brusttasche.

„Ich habe ein paar Sachen für Lanie im Kofferraum. Kannst du mir beim Ausladen helfen?

Catherine war überzeugt davon, daß er sich weigern würde, doch er nickte knapp und machte sich auf den Weg.

Catherine zögerte einen Moment, dann ging sie hinter den beiden her. Als sie vor der Ladefläche stand, riß sie vor Überraschung die Augen auf.

Nicht nur, daß Shadow ihr ihre Koffer mitgebracht hatte, nein, sie hatte auch eine Couch dabei, einen tragbaren Fernseher und einen alten Kühlschrank. In einer Kiste sah Catherine Stiefel, Vorhänge, eine bunte Decke, wie sie Shadow auch auf ihrem Bett liegen hatte, und eine Kaffeemaschine.

„Ein bißchen übertrieben, findest du nicht?“ fragte Jericho. „Nur fair“, konterte Shadow. Catherine war gerührt. Shadows Hilfsbereitschaft war nur eine

einfache Geste und doch so vielsagend. „Danke“, sagte sie schlicht. „Jericho wird den Kram reinbringen und Ihnen helfen, die Sachen

aufzustellen. Sagen Sie ihm nur, wo Sie was hinhaben wollen.“ Ungläubig sah er seine Schwester an. „Du gehst wirklich zu weit.“ „Schon gut“, bemühte sich Catherine zu schlichten. „Wenn Sie mir nur

das schwere Zeug reinbringen. Um alles andere kümmere ich mich

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dann schon selbst.“ Sie griff nach einem ihrer Koffer. Als sie ihn herausziehen wollte,

stieg ihr ein muffiger Geruch in die Nase. Sie verzog angewidert das Gesicht. „Ja leider gibt es auch eine schlechte Nachricht.“ Shadow seufzte. „Ihr Auto ist überschwemmt worden.“

„Überschwemmt?“ Catherine zog den zweiten Koffer heraus. Er stank genauso.

„Ja. Es ist innen durch und durch naß auch der Motor - und Sie werden einige Zeit wohl nicht damit fahren können. Aber ich kenne jemanden in Shiprock, der in einer Werkstatt arbeitet und sich ab und zu gern noch was nebenbei verdient. Vielleicht gelingt es ihm ja, den Ford wieder auf Vordermann zu bringen.“

„Mußtest du Eddie dafür erst den Arm verdrehen?“ erkundigte sich Jericho trocken.

Shadow sah ihn vernichtend an. „Nicht jedem muß erst der Arm verdreht werden.“

Seine Mundwinkel zuckten leicht, dann schlenderte er zu Catherines Wohnwagen hinüber.

„Fahr den Truck ganz ran“, rief er Shadow schroff zu. „Ich hab keine Lust, die Couch endlos weit zu schleppen.“

Shadow machte Anstalten einzusteigen. „Der Wagen gehört mir nicht mal. Vielleicht sollte ich einfach der

Verleihfirma Bescheid sagen und ihn zurückgeben. Ich nehme doch an, daß er versichert ist.“

„Nein“, sagte Shadow bestimmt. „Sie werden ihn hier brauchen. Wie lange beabsichtigen Sie zu bleiben - sechs Wochen?“ Catherine nickte.

„Sechs Wochen ohne Unterbrechung hier in der Einsamkeit sind zu lange, da drehen Sie durch. Sie müssen ab und zu mal in die Stadt unter Menschen.“

Ausgeschlossen. Das Risiko durfte sie nicht eingehen. Sie hatte das sichere Gefühl, daß da, wo Menschen waren, auch Victor sein könnte.

„In der Zwischenzeit“, fuhr- Shadow fort, „kann ich Ihre Kleider ja schon mal nach Shiprock in die Wäscherei bringen.“

Shadow musterte Catherine, die noch immer in ihre Gedanken versunken war, neugierig. Als Catherine es bemerkte, verspürte sie ein

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ungutes Gefühl in der Magengegend. „Bitte - was?“ „Ihre durchweichten Kleider müssen gewaschen werden. „Oh, ja - richtig.“ Sie kniete sich hin und öffnete einen Koffer. Wenigstens hatte ihr

Kaffee, gut verpackt in Blechdosen, die Überschwemmung unbeschadet überstanden. Ihr lag noch immer der Geschmack von Jerichos bitterem Gebräu auf der Zunge.

Nachdem sie mit Einräumen fertig waren, ging Catherine wieder

hinüber in die Klinik. Jericho war mit Ellen weggefahren, und so hatte sie Zeit und Muße, sich erst einmal gründlich umzusehen. Da es wenig wahrscheinlich war, daß sich Dr. Kolkline in der nächsten Zeit freiwillig hier blicken ließ, mußte sie selbst sehen, wie sie zurechtkam.

Sie zog sich den Schreibtischstuhl zu einem der Regale und setzte sich mit einem Schreibblock davor. Als erstes wollte sie eine Inventarliste erstellen, also machte sie sich an die Arbeit. Doch noch bevor eine Stunde vergangen war, verspürte sie hinter ihren Augen einen stechenden Kopfschmerz. Was war das? Sie konnte sich nicht erklären, warum sie plötzlich Kopfschmerzen hatte.

Sie bemühte sich, nicht daran zu denken, und arbeitete weiter. Die Medikamente, die in den Regalen lagen, kannte sie alle, ebenso wie die medizinischen Geräte. Im Fall des Falles würde sie sich schon zu helfen wissen. Nach einiger Zeit stieß sie auf eine Schachtel, die nicht beschriftet war und eine puderige Substanz enthielt. Schulterzuckend schloß sie sie wieder. Zwischen Klemmen und Skalpellen stand ein Glas mit getrockneten Kräutern.

Um sich das oberste Regalbrett vornehmen zu können, mußte sie auf ihren Stuhl klettern. Noch mehr Schachteln, und alle unbeschriftet.

Neugierig hob sie von der, die ihr am nächsten stand, den Deckel ab und zuckte erschrocken zurück. „Igitt.“ In der Schachtel lagen tote Vögel.

„Ich habe Sie gewarnt, die Finger von Dingen zu lassen, die Sie nicht verstehen.“

Sie wirbelte so schnell herum, daß sie fast das Gleichgewicht verloren hätte und vom Stuhl gefallen wäre. Der Stuhl schwankte bedenklich. Jericho war zurückgekommen. Zum Glück aber wenigstens

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allein. „Was wollen Sie schon wieder hier?“ erkundigte sie sich

angriffslustig. „Shadow hat mir nichts davon gesagt, daß Sie auch hier arbeiten.“

„Tu ich auch nicht. Kommen Sie runter, bevor Sie sich das Genick brechen.“

„Ich weiß schon selbst, was ich tun muß.“ „Hören Sie auf, Ihre Nase in Dinge zu stecken, die Sie verdammt noch

mal nichts angehen.“ Sie dachte gar nicht daran. So schon gar nicht. Seine Schroffheit erregte

ihren Trotz. Sie zwang sich, wieder den Deckel von der Schachtel mit den toten Vögeln abzuheben. „Was soll das?“

„Das benötigt man für die Feindweg-Zeremonie. Wenn der wolfman jemanden mit seinem Fluch belegt hat.“

Feindweg-Zeremonie? Fluch? Trotz all ihrer guten Vorsätze konnte sie einen kalten Schauer, der ihr eine Gänsehaut verursachte, nicht unterdrücken.

„Das ist ... das ist keine Medizin.“ „Hier schon.“ Blitzschnell streckte er die Hand aus, und noch bevor sie reagieren

konnte, hatte er die Schachtel aus ihrer Reichweite genommen. Dann legte er ihr den Arm um die Taille, hob sie hoch und setzte sie einigermaßen unsanft auf dem Boden ab.

Angst schnürte ihr plötzlich die Kehle zu. Einen Moment lang dachte sie, er würde ihr weh tun, doch er gab lediglich dem Stuhl mit der Stiefelspitze einen Stoß, so daß er auf seinen Rollen zum Schreibtisch zurückrollte, wo er krachend abprallte und stehenblieb. Catherines Herz begann wild zu klopfen. Er hielt sie noch immer umschlungen und schien nicht gewillt, sie loszulassen.

Sie versuchte, sich aus seinem Griff herauszuwinden. Gestern war er ihr auf den ersten Blick kalt und unnahbar erschienen, doch nun spürte sie die Hitze, die von ihm ausging. Eine gefährliche, wütende Hitze, leidenschaftlich und stark.

Sonnenstrahlen tanzten auf seinem Haar und ließen es blauschwarz aufschimmern. Er roch nach Holzfeuer und frischer Luft und unbeschreiblich männlich.

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Nun ließ er sie los, und sie trat, nach Atem ringend, einen schnellen Schritt beiseite, wobei sie versuchte, soviel Distanz wie möglich zwischen ihn und sich zu bringen.

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, forderte sie ihn heraus. „Worum ging's denn?“ fragte er seelenruhig, doch seine

brennenden Augen straften seine scheinbare Ruhe Lügen. Wollte er sie provozieren? „Ich habe Sie gefragt, was Sie hier zu suchen haben“, stieß sie hervor.

„Die Leute wissen, daß sie mich hier finden können.“ „Oh, ja. Natürlich.“ Ihr sarkastischer Tonfall veranlaßte ihn, eine Augenbraue zu heben.

Ansonsten gelang es ihm, sich bedeckt zu halten. Er weigerte sich, sich über ihre Motive Gedanken zu machen, aber sie machte es ihm fast unmöglich. Ihre großen grünen Augen lockten ihn, doch, er war fest entschlossen, nicht, in die Falle zu tappen. Er würde, sich nicht verlieren in diesen Augen. Er hatte schon früher Frauen wie sie gekannt, aber er hatte gelernt, ihnen aus dem Weg zu gehen. Ja, sie hatte traumhafte Beine, doch es gab Hunderte von Frauen hier in diesem Land - seinem Land - die ebenso schöne Beine hatten. Er wollte verdammt sein, wenn er sich noch einmal in etwas verwickeln lassen würde, was sich seiner Kontrolle entzog.

Bis an die Zähne gewappnet, stand er vor ihr. Als er sah, wie sie erschauerte, preßte er die Kiefer hart aufeinander und schluckte einen Fluch hinunter. Es war nur ein kurzer Schauer, nicht mehr, aber er wußte instinktiv, daß es nicht Angst war, was ihn verursacht hatte, sondern Erwartung.

Wider besseren Wissens schoß heißes Begehren durch seine Adern. Verdammt. Verdammt.

Abrupt wandte er sich ab. In diesem Moment wurde draußen eine Autotür zugeschlagen. Das Geräusch brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück. Catherine ging zur Tür und schaute hinaus.

„Eine Patientin“, sagte sie, und ihre Stimme klang noch immer leicht erregt. Dann stöhnte sie. „Oh, mein Gott. Und es ist kein Arzt da. Ich bin nur, eine Praktikantin - ich darf ohne Arzt nichts machen. Ohne Kolklines Zustimmung kann ich nichts verordnen, ich...“

„Keine Aufregung“, sagte er beiläufig. „Sie will zu mir.“

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Catherine wirbelte zu ihm herum. „Warum denn das?“ Was, in aller Welt, ging hier vor?

Jericho überhörte ihre Frage und ging der Frau, die mühsam die Stufen emporstieg, entgegen, nahm ihren Arm und führte sie hinein. Catherine trat beiseite. Die Frau, die sich schwer auf einen Stock aufstützte, schien schon sehr alt zu sein, aber sie wirkte nicht wirklich gebrechlich. Sie trug eine blaue Samtbluse und soviel schweren Silberschmuck mit Türkisen, daß sie dadurch ihr Gewicht wahrscheinlich fast verdoppelte.

„Grandmother Yellowhorse“, begrüßte Jericho sie warm. Catherine blieb vor Verblüffung fast der Mund offenstehen. In solch einem Ton hatte sie ihn bisher noch nicht sprechen hören.

Jetzt trat ein großer, schlaksiger Junge ein. Offensichtlich hatte er die Frau hergefahren, denn er klimperte mit den Autoschlüsseln. Als sein Blick auf Catherine fiel, lächelte sie, aber er tat so, als sei sie gar nicht vorhanden.

Seine Augen fixierten einen Punkt über ihrem Kopf, glitten dann weiter zum nächsten an der Wand über ihrer Schulter, und schließlich löste er sein Problem, indem er sich einfach umdrehte und ihr den Rücken zukehrte. Catherine fühlte Ärger und Frustration in sich aufsteigen, und hinter ihren Augen begann es wieder zu pochen.

„Es geht um Tommy.“ Die alte Frau seufzte schwer. „Er ist bei Two Gray Hills auf einen Fremden gestoßen. Jetzt hat er Träume.“

Jericho ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. „Was für welche denn?“

„Träume, in denen immer wieder chindis vorkommen.“ „Ist es ein Fremder oder jemand aus der Familie?“ Die alte Frau schnaubte verächtlich. „Wenn es ein Fremder wäre, könnte

ich ihm selbst helfen. Nein, es ist sein Vater. Wenn es jemand von der Familie ist, ist es schlecht, stimmt's?“

Jericho nickte nachdenklich. „Was meinst du, braucht er einen langen Gesang?“ „Drei Tage, Grandmother. Das weißt du doch ganz genau.“ „Ich bin eine arme Frau“, brummte sie. Plötzlich lächelte Jericho. Catherine fiel fast aus allen Wolken. Vor

Überraschung hielt sie den Atem an. Das Lächeln veränderte ihn

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vollkommen. Sein Gesicht war nicht länger hart und zornig, sondern stark und schön. Als er von der Schreibtischkante herunterrutschte und durch den Raum schlenderte, konnte Catherine nicht umhin, ihm ihre Blicke folgen zu lassen.

„Dann bin ich aber der Präsident der Vereinigten Staaten“, gab er gedehnt zurück.

Der Junge lachte laut auf. Die alte Frau warf ihm einen finsteren Blick zu, dann sah sie Jericho anklagend an.

„Da siehst du, was du angerichtet hast. Stellst mich vor meinem eigenen Neffen bloß.“

„Grandmother, du weißt genau, daß ich jedem dasselbe berechne. Wer mich gleich bezahlen kann, bezahlt gleich. Und wer es nicht kann, bezahlt später. Du allerdings kannst gleich bezahlen, das weiß jeder. Du hast so viele Schafe, daß die Leute schon darüber klatschen.“

„Du bist wirklich respektlos. Paß bloß auf, daß ich das nicht Onkel Ernie erzähle.“

„Wie geht's Onkel Ernie denn so?“ „Ihm hat jemand aus seiner Berghütte den Tisch geklaut.“ Er lachte wieder. „Hab ich schon gehört.“ „Also, wenn du willst, werde ich den Gesang für deinen Sohn

abhalten, Grandmother. Du gibst mir dafür fünfundzwanzig Schafe und siebenhundert Dollar. Vermutlich versucht der chindi seines Vaters, Tommy zu warnen. Wer weiß, vielleicht war der Fremde bei Two Gray Hills ja ein wolfman. Ich werde die Feindweg-Zeremonie abhalten, damit sie den Fluch, der über ihn verhängt wurde, neutralisiert.“

Die alte Frau schnaubte wieder und hievte sich mühsam aus dem Stuhl hoch. „Du bildest dir wohl ein, daß du genauso. gut bist wie Onkel Ernie, was?“

„Bin ich auch. Und außerdem hält Onkel Ernie keine Gesänge mehr ab.“

„Für mich macht er es. Für meinen Tommy.“ „Mag sein. Aber die Schafe wird er auch dafür verlangen. Zwanzig

davon soll Angie Two Sons bekommen. Du weißt so gut wie ich, daß sie nichts zu beißen hat, seit ihr Mann gestorben ist.“

Grandmother Yellowhorse machte ein finsteres Gesicht. „Okay, ich

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lasse Angie die Schafe zukommen, aber du kriegst nur dreihundert Dollar und keinen Cent mehr.“

„Fünf.“ Ihr Mund verzog sich zu einem befriedigten, fast zahnlosen Grinsen.

„Du verkaufst dich wirklich zu billig, Jericho. Aber jetzt bleibt's dabei.“ Damit wandte sie sich ab und schleppte sich, noch immer leise in sich

hineinlachend, nach draußen. Der Junge sah Jericho verständnislos an.

„Versteh ich nicht, warum du dich darauf eingelassen hast. Du weißt doch ganz genau, daß du ihr mit Leichtigkeit siebenhundert hättest abknöpfen können.

„Mag sein, aber mein Standardpreis für eine Feindweg-Zeremonie liegt nun mal nur bei fünfhundert.“

Der Junge schaute für einen Moment verwirrt drein, dann lachte er. „Ganz schön gerissen.“ Catherine spürte, wie es ihr heiß und kalt den Rücken hinunterrieselte.

Daß er im Umgang mit seiner Schwester viel Wärme ausstrahlen konnte, war ihr nicht entgangen. Und eben hatte sie wieder eine neue Seite von ihm kennengelernt. Zwar legte er auch seinen eigenen Leuten gegenüber eine unbestreitbare Arroganz und Bestimmtheit an den Tag, und dennoch verhielt er sich freundlich, entgegenkommend und warm. Wer auch immer Angie Two Sons sein mochte, sicher war, daß sie in ihm einen Freund hatte, auf den sie zählen konnte.

„Sag Bescheid, daß ich am Freitagmorgen schon ganz früh komme“, hörte sie nun Jericho zu dem Jungen sagen. „Ich will mir Tommy zuerst ansehen, bevor wir anfangen.“

„Okay.“ Draußen wurde wiederholt ungeduldig die Autohupe betätigt. „Ich muß gehen.“

Der Junge ging hinaus, und Jericho machte Anstalten, ihm zu folgen. „Was ist denn ein chindi?“ rief Catherine ihm hinterher.

Er blieb stehen und wandte sich um. „Was interessiert Sie das schon? Es ist etwas, das Sie sowieso nicht begreifen können, Katzenauge.“

„Aber Sie können es? Indem Sie einen Gesang abhalten?“ Er kniff die Augen zusammen. „Mehr oder weniger.“ „Und was sind das für Gesänge?“

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„Stammesgesänge aus unserer Mythologie. Wir haben für verschiedene Probleme verschiedene Gesänge.“

Er überwand die Distanz zwischen ihnen langsam, fast lässig, falls man überhaupt etwas an ihm als lässig bezeichnen konnte, weil seine Wesensart dafür möglicherweise zu intensiv war. Dabei durchbohrte er sie mit seinen Blicken, daß sie das Gefühl hatte, gleich in der schwarzen Tiefe seiner Augen versinken zu müssen..

„Ein chindi ist ein Geist“, erklärte er. „Nachts stehen die Toten wieder auf. Manchmal quälen sie Leute, indem sie sich in ihre Träume schleichen. Und manchmal besuchen sie ihre Familie und versuchen, sie vor Krankheit oder Tod zu warnen.“

Catherine schluckte hart. Es gelang ihr, nicht, seinem Blick auszuweichen. Vermutlich versuchte er nur, sie zu erschrecken, aber das würde sie nicht zulassen.

„Dann muß Tommy also sterben sagte sie erzwungener Leichtigkeit. „Nicht, wenn ich etwas dazu zu sagen habe.“ Er sah sie ernst an. Glaubte er diesen chindi-Kram wirklich? Sie

war sich nicht sicher. „Und wie können Sie das verhindern?“ „Indem ich seine Seele heile. Die Krankheiten beginnen in der

Seele. Haben Sie das auf Ihrer Universität nicht gelernt?“ „Ich... nein.“ „Natürlich nicht. Genau das ist der Grund, weshalb die Leute Sie hier

nicht brauchen, Katzenauge, Sie brauchen weder Sie noch einen Dr. Kolkline - alles was sie brauchen, sind ihre Schamanen. Sie wollen die Stammesgesänge und Lieder hören, die so alt sind wie die Welt. Das sind die Heilmittel, mit denen die Navajos seit vielen Jahrhunderten ihre Krankheiten kurieren.“

Seine Stimme klang seidig, sein Ärger war verflogen. Catherine bebte, sie fühlte sich hin und her gerissen. Einerseits hielt sie es. für klüger, sofort zu gehen, andererseits wollte sie nichts lieber als bleiben.

„Sind Sie einer dieser Schamanen?“ Sein Blick wanderte über ihr Gesicht. Er nickte. Mit einemmal war ihr Kopf wie leer. Mit dieser Antwort hatte sie

nicht gerechnet. Bei dem Wort „Schamane“ erstand vor ihrem geistigen Auge ein durchgeistigter alter Mann mit langem grauen

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Haar und brennenden Augen. Es paßte nicht zu ihm... Doch als sie ihn ansah, mußte sie zugeben, daß zumindest seine Augen

mit den Augen des Schamanen in ihrer Fantasie übereinstimmten. „Und Ellen auch?“ fragte sie. „Nein. Ellen ist eine Heilerin, die Krankheiten mit Kräutern behandelt.

Die Gesänge der Medizinmänner heilen nur die Seele. Ellen heilt den Körper, und ich kuriere die Seele, wenn Sie so wollen.“

Er war schon fast bei der Tür. „Wie viele gibt es denn?“ fragte sie rasch, um ihn am Gehen zu hindern. „Gesänge“ meine ich.

Er antwortete, ohne sie dabei anzusehen. „Über fünfzig. Manche davon haben unsere Vorfahren mit ins Grab genommen, wenn sie niemanden gefunden haben, an den sie sie weitergeben konnten. An andere können sich vielleicht nur noch ein oder zwei Ältere erinnern. Kein Schamane kennt mehr als ein halbes Dutzend.“

„Und Sie? Wie viele kennen Sie?“ „Drei.“ Er ging zum Regal und nahm behutsam die Schachtel mit den Vögeln

heraus. Jetzt verstand sie. Sie gehörten ihm. Plötzlich kam sie sich sehr, unsensibel und töricht vor.

Sie öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch zu spät. Er war schon gegangen.

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4. KAPITEL Dr. Kolkline ließ sich weder am nächsten noch am übernächsten

Tag sehen. Drei Patienten kamen vorbei, alle wollten zu Ellen. Sie verkaufte ihnen verschiedene seltsame Kräuter, von denen Catherine noch nie etwas gehört hatte und sich fragte, was wohl ihre Professoren zu derartigen Behandlungsmethoden sagen würden.

Nie im Leben hatte sie sich so nutzlos und fehl am Platz gefühlt. Sie saß hinter dem Schreibtisch und versuchte sich den

Kopfschmerz, der sich hinter ihren Augen eingenistet hatte und nicht vergehen wollte, dadurch zu vertreiben, daß sie sich die Schläfen massierte. Ohne Erfolg. Nicht genug damit, daß sie hier nichts lernte, sie verdiente sich nicht einmal ihren Lebensunterhalt. Kost und Logis waren frei, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie dafür überhaupt nichts gab. Aber sie hätte einfach nicht gewußt, was sie hätte geben sollen... Sie war frustriert, wütend und zu Tränen gelangweilt.

Und sie suchte Streit. Sie beobachtete Ellen, die gerade einen Strauß getrockneter Kräuter in

einem Glaskasten deponierte. „Was ist das?“ erkundigte sie sich und machte sich darauf

gefaßt, wie üblich keine Antwort zu erhalten. „Ich nehme an, Sie sind sich im klaren darüber“, fuhr sie angriffslustig fort, „daß es möglicherweise behördlicherseits Probleme geben könnte mit diesem Zeug.“

Ihre Worte zeigten Wirkung. Ellen hielt mitten in der Bewegung inne.

„Das ist alles vollkommen legal“, schnappte sie. „Die Kräuter wachsen überall in der Wüste. Ich sammle und trockne sie lediglich und gebe den Leuten Ratschläge, wie sie sie anwenden können.“

„Und warum wollen Sie mir dann nicht sagen, worum es sich dabei handelt?“

Ellen riß sich verärgert ihren weißen Kittel herunter und hängte ihn an die Garderobe. „Weil ich auf Ihren medizinischen Sachverstand verzichten kann. Was ich in dieser Hinsicht wissen muß, habe ich auf der Schwesternschule gelernt.“

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Hochrot im Gesicht und ohne einen Abschiedsgruß verließ sie die Klinik und stapfte wütend die Treppe hinunter. Catherine lehnte sich seufzend in ihrem Stuhl zurück. Nein, sechs Wochen würde sie das hier nicht aushalten.

Als sie draußen Schritte hörte, stand sie auf und ging zum Fenster. Sie hatte erwartet, daß Ellen womöglich zurückgekommen war, weil sie etwas vergessen hatte. Oder weil sie sie, Catherine, ein weiteres Mal darauf aufmerksam machen wollte, daß sie hier nicht erwünscht sei. Statt dessen aber schaute sie direkt in Jerichos dunkle wachsame Augen.

Er zögerte einen Moment, fast hatte es den Anschein, als sei er überrascht, sie noch hier vorzufinden. „Dachte, Sie würden sich beeilen, nach Hause zu kommen.“

„Aber sicher doch. Wo ich ja so einen weiten Heimweg habe.“ Seine Mundwinkel zuckten verdächtig, und er wandte sich schnell

ab. Nun sah Catherine, daß ein zweiter Mann hinter ihm die Klinik betreten hatte. Er schlurfte langsam näher, den Kopf gesenkt, während er leise in sich hineinstöhnte.

„Setz dich, Lance, das haben wir gleich.“ Jericho ging zu den Regalen, öffnete ein Gläschen und schüttete einige

weiße Tabletten in seine rechte Hand. Mit der anderen schnappte er sich ein Glas mit getrockneten Kräutern. Als Catherine sah, was er vorhatte, begann sich ihr Puls zu beschleunigen.

„Das dürfen Sie nicht“, stieß sie hervor. Er sah sie kalt an. „Würden Sie das bitte noch mal sagen?“ „Ich sagte ... das dürfen Sie nicht. „ Sie bemerkte, wie er seine

Stacheln aufstellte. Alles an ihm warnte sie davor, sich einzumischen. Aber nun konnte sie sich nicht mehr länger zurückhalten. Was er vorhatte, war nicht legal. Ellen mit ihrem Schwesternschulabschluß hatte wenigstens ein paar medizinische Kenntnisse, doch er wußte doch gar nicht, womit er da eigentlich hantierte.

„Hören Sie“, begann sie vorsichtig, „ich habe ja verstanden, daß Sie ein... Medizinmann sind, und ich bin überzeugt davon, daß Sie Ihre Sache auch sehr gut machen. Ich will mich wirklich nicht einmischen...“

„Dann tun Sie es auch nicht.“ „Sie haben aber keine Genehmigung zu praktizieren!“

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Sie konnte die Wellen von Zorn, die über ihn hinwegschwappten, geradezu spüren. Er kam näher, und sie trat wachsam einen Schritt zurück, doch er folgte ihr.

„Das hier“, mit sichtlich gebremster Wut hielt ihr die rechte Hand hin, „ist Aspirin. Und das“, er hob das Glas, „sind Präriegraswurzeln.“

„Ich ... oh.“ Sie wurde rot. „Schätze, dafür brauche ich keine Approbation, oder?“ Damit wandte er sich ab, ging zu Lance hinüber, der ihm wartend

die offene Hand hinstreckte, und legte ihm ein paar von den Wurzeln auf den Handteller. „Was du damit machen mußt, weißt du ja, alter Freund. Auskochen und mit dem Wasser die Tabletten runterspülen.“

„Was hat er denn?“ erkundigte sich Catherine. „Kopfschmerzen“, stöhnte der Mann. Die Antwort war nicht direkt an

sie gerichtet, sondern mehr an eine imaginäre Allgemeinheit. Er erhob sich und schlurfte zur Tür.

„Warten Sie!“ rief Catherine. Er blieb stehen. Jericho warf ihr einen warnenden Blick zu. „Ich möchte wenigstens Ihre Reflexe untersuchen. Mein Gott, Jericho,

Sie haben ihn sich ja nicht mal angeschaut. Tausend Sachen können Kopfschmerzen verursachen. Sind seine Pupillen geweitet? Was für Symptome hat er sonst noch?“ Sie riß einen Schrank auf und kramte nach dem Stethoskop. „Es könnte doch auch die Mystery Disease sein, oder nicht?“ fuhr sie erregt fort. „Und Sie schicken ihn mit Aspirin und einem bißchen getrockneten Gras nach Hause,“

„Es ist nicht die Tah honeesgai“, erwiderte Jericho mit Bestimmtheit. Catherine machte ein finsteres Gesicht. „Die was?“ „Tah honeesgai, so heißt die Krankheit, die ihr Mystery Disease

nennt, bei den Navajos. Es bedeutet ‚Krankheit, die unsere Medizin nicht heilen kann'. Aber Lance hat sie nicht.“

„Das können Sie doch nicht wissen!“ „Doch, ich weiß es.“ Er sah den Mann an. „Geh nach Hause,

Lance. Es ist okay.“ „Nein!“ protestierte Catherine. „Lassen Sie ihn gehen.“ Catherine versuchte, sich dem Mann in den Weg zu stellen. Im

nächsten Moment packte Jericho sie bei den Handgelenken und zog

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sie unsanft beiseite. Als sie den Zorn spürte, der von ihm ausging, wich ihr vor Schreck das

Blut aus dem Gesicht. Ohne ein Wort zerrte er sie zurück, bis sie an den Stuhl stieß und die Kante der Sitzfläche sich ein ihre Kniekehlen bohrte. Ihre Augen suchten Lance.

Er war gegangen. Ihre Schläfen pochten. Sie war nicht weniger wütend als Jericho.

„Das war unverantwortlich.“ „War es nicht. Und ich will verdammt sein, wenn ich es zulasse,

daß ausgerechnet Sie ihn in Verlegenheit bringen.“ Er ließ ihre Handgelenk los, ging um den Schreibtisch herum und setzte

sich, nach vorn gelehnt, ihr gegenüber, wobei er seine Hände gegen die Tischkante preßte, als müsse er sich Halt geben.

Und wenn es um sein Leben gegangen wäre, er hätte nicht erklären können, warum er sich überhaupt mit ihr abgab. Er schuldete ihr keine Erklärung. Und spätestens nächste Woche würde sie aufgeben und sich davonmachen, und er würde drei Dollar von Shadow kassieren. Sie war eine hochnäsige, sentimentale Prinzessin, die sich auf Zehenspitzen aus ihrem Elfenbeinturm herausgewagt hatte, um sich mal kurz aus Neugier unter die Wilden zu mischen. So machten sie es alle, und nach kürzester Zeit nahmen sie die Beine in die Hand und rannten davon, so schnell sie konnten.

Der alte Schmerz kam zurück und schnürte ihm die Kehle zu. „Lance trinkt“, brummte er unwillig. Seine Hände, dachte Catherine und starrte sie an. Sie waren sehnig und stark, und plötzlich erinnerte sie sich daran,

wie sie sich angefühlt hatten, als er sie vor ein paar Tagen vom Stuhl gehoben hatte. Hart und heiß lagen sie auf ihrer Taille. Sein Griff war wie eine Stahlklammer gewesen, aber er hatte ihr nicht weh getan. Samt und Stahl, dachte, sie und schluckte krampfhaft. Sie malte sich aus, wie sie sich auf ihrer empfindsamen Haut anfühlen würden, ohne Stoff dazwischen.

Was war bloß in sie gefahren? Langsam hob sie den Blick und sah ihn verwirrt an. „Ich...

Entschuldigung, ich habe nicht zugehört. Ich war gerade woanders.“ Jericho hatte das Gefühl, als hätte Ihm jemand eine unsichtbare

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Faust in die Eingeweide gerammt. Mach das nicht mit mir, Katzenauge. Verdammt noch mal, laß das.

Sie wand sich ein bißchen auf ihrem Stuhl, eine Bewegung, die ihm für einen Moment den Atem nahm und eine Hitzewelle durch seinen Unterleib schickte. Sie war so verdammt leicht durchschaubar, ihre Wachsamkeit so offensichtlich.

Hastig stand er auf und drehte ihr rasch den Rücken zu. „Lance trinkt“, wiederholte er. Er hörte, wie gepreßt seine Stimme klang. „Er hat die Angewohnheit“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „sich bei einer alten verlassenen Windmühle unweit von meinem Hogan, zu betrinken. Und meine Angewohnheit ist es, auf dem Nachhauseweg regelmäßig dort vorbeizuschauen. Ich mache ihn nüchtern, so gut es geht, und schicke ihn dann zu seiner keifenden, frustrierten Frau nach Hause, die den ganzen Tag darüber jammert, daß ihre Kinder die Reservation verlassen haben und jetzt irgendwo in der Stadt leben.“ Er holte tief Luft. „Mit Lance stimmt alles, bis auf seine Frau Ida und seinen schrottreifen Thunderbird.“

Bei seinen letzten Worten nahm er das Glas mit dem Präriegras und stellte es hart ins Regal. Und noch bevor Catherine etwas erwidern konnte, war er weg.

Sie saß bewegungslos auf ihrem Stuhl. Plötzlich war es ganz still im Raum, einem Moment später hörte sie von draußen das Anlassen eines Motors. Der Landrover.

Sie kam sich töricht vor, nutzlos... und bis in ihre Grundfesten hinein erschüttert. Sie kannte die Zusammenhänge nicht. Wie auch? Sie konnte nichts über die Leute wissen, weil sie sie nicht kannte. Und es war mehr als zweifelhaft, daß sie es zulassen würden, daß sie sie näher kennenlernte.

Plötzlich hatte sie Heimweh, so sehr, daß es fast schmerzte. Sie wünschte sich, wieder in Boston zu sein, wo die Menschen sie nicht verhöhnten und durch sie hindurchschauten. Mehr als alles andere aber drängte es sie, vor diesem Mann mit den brennenden Augen und den starken Händen davonzulaufen, vor diesem Mann, der in ihr Gefühle erweckte, die ihr angst machten.

Zitternd stand sie auf und wischte sich mit dem Handrücken zwei Tränen aus dem Gesicht. Sie machte das Licht aus und verschloß

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die Tür sorgfältig hinter sich. Am nächsten Tag ließ sich niemand in der Klinik blicken - weder

Jericho noch Ellen, auch Shadow nicht, von Dr. Kolkline ganz zu schweigen. Gegen Mittag hatte Catherine das Gefühl, langsam verrückt zu werden. Nicht daß sie Jericho oder Ellen vermißt hätte, es war die Untätigkeit, die an ihren Nerven zerrte.

Sie hatte mitbekommen, wie Ellen gestern beim Weggehen ihren Schlüsselbund in die Tasche ihres Arztkittels gesteckt hatte. Sie war nicht unbedingt scharf darauf, in dem verschlossenen Glasschrank herumzustöbern. Außer den Kräutern, mit denen sie sowieso nichts anfangen konnte, war nichts Interessantes darin. Die zwei Schubladen, die Ellen immer unter Verschluß hielt, erregten schon eher ihre Neugier. Sie probierte die Schlüssel durch und fand schließlich den passenden.

Die Patientenkartei. Sie war enttäuscht, obwohl ihr im Grunde genommen nicht klar war, was sie eigentlich erwartet hatte. Noch mehr Voodoo-Vögel vielleicht? Die Kartei war mehr als mager, was nicht weiter erstaunlich war, denn sie hatte bisher nicht bemerkt, daß Ellen sich Notizen gemacht hätte. Anscheinend hatte Dr. Kolkline sie angelegt. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß offensichtlich auch sein Vorgänger, ein Dr. Medford, Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Sie zählte sie rasch durch und kam auf zweiundvierzig. Zweiundvierzig Patienten in - wieviel - sieben Jahren? Kein Wunder, daß Kolkline sich nie hier blicken ließ. Er wurde nicht gebraucht.

Sie las sich die einzelnen Krankheitsbilder durch und stieß gleich zu Anfang auf fünf Patienten, die Opfer der Mystery Disease geworden waren. Wie hatte Jericho sie genannt? Tah honeesgai. Nun war sie bereits eine Woche hier und hatte noch immer nicht mehr darüber erfahren als das, was sie ohnehin aus den Zeitungen wußte. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und las weiter. Vielleicht würden ihr ja die Aufzeichnungen Aufschluß geben.

Das erste, was verwunderlich war, war der rasend schnelle Verlauf der Krankheit. Das erklärte, warum ein abergläubischer Mensch auf den Gedanken kommen konnte, daß über den Kranken ein Fluch verhängt worden war. Während des Weiterlesens machte sie sich ein paar

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Notizen. Hohes Fieber ging einher mit Muskelkrämpfen und Atemnot. Viele der Patienten hatten sich am Morgen noch gut gefühlt und waren am Nachmittag bereits tot.

Catherine schauerte zusammen. Bis man herausgefunden hatte, was die Krankheit verursachte, konnte man nur die Symptome behandeln.

Ein Motorengeräusch riß sie aus ihren Gedanken. Rasch sprang sie auf, lief zur Tür und schloß auf.

Neben dem Wassertank, parkte ein großer schwerfälliger Truck. Anscheinend die Wasserlieferung aus Shiprock, die Shadow erwähnt hatte.

Ein muskulöser junger Mann zerrte gerade einen Schlauch von der Ladefläche und schloß ihn an. Catherine schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß er sie nicht ebenso ignorieren möge wie alle anderen, und eilte zu ihm hinüber.

„Hi“, begrüßte sie ihn. „Kann ich Ihnen helfen?“ Erleichtert registrierte sie, daß er sie anlächelte. „Sind Sie ganz allein hier?“

„Scheint so.“ Sie zögerte. „Keine Ahnung, wo die anderen stecken.“

„Ich schon. Er lachte. „Jericho Bedonie hält heute bei der alten Lady Yellowhorse eine Feindweg-Zeremonie ab. Ich fahre auch hin, wenn ich hier fertig bin.“

Aber natürlich. Sie hatte ganz vergessen, daß heute Freitag war. Es war erschreckend, wie leicht man in dieser Einöde, die immer gleich blieb, und den Tagen, die sich ereignislos dahinschleppten, das Zeitgefühl verlor.

„Wie lange dauert die Zeremonie denn wollte sie wissen. „Wenn, ich mich recht erinnere, sagte Jericho etwas von drei Tagen.“

„Ja, ungefähr.“ Er drehte einen Hahn auf. „Der Gesang dauert drei Tage. Aber natürlich fahren die Leute danach nicht gleich nach Hause, sondern sie bleiben noch ein bißchen. Es ist eine gute Gelegenheit, Bekannte und Verwandte zu treffen, die man schon lange nicht mehr gesehen hat. Man tanzt und ißt und tauscht Neuigkeiten aus. So eine Zeremonie ist immer auch ein großes Fest.“

Absurderweise fühlte sich Catherine düpiert, daß sie nicht

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eingeladen worden war. Nicht einmal Shadow hatte daran gedacht. Oder sie hatte es bewußt nicht getan. Andererseits war sie erleichtert, den Grund zu wissen, warum sich heute niemand hatte blicken lassen.

„Bis Montag müssen Sie hier noch allein durchhalten.“ Er war fertig, hatte den Schlauch wieder aufgerollt und kletterte in seine Fahrerkabine. Zum Abschied winkte er ihr freundlich zu.

Catherine legte wie schützend die Arme um sich und starrte dem abfahrenden Truck hinterher.

Montag. Die Zeit bis dahin erschien ihr wie eine Ewigkeit. Am Sonntag schrubbte Catherine in Ermangelung anderer

Tätigkeiten den Fußboden in der Klinik. Ihren eigenen Wohnwagen hatte sie bereits so ausgiebig geputzt, daß man vom Boden essen konnte.

Sie rutschte gerade auf Knien durch den Raum, als sie ein Motorengeräusch vernahm. Ohne große Hoffnung ging ihr kurz durch den Kopf, daß man die Zeremonie womöglich früher als geplant beendet hatte. Ein Gedanke, den sie sogleich wieder verwarf. Bremsen quietschten, als das Auto draußen abrupt zum Stehen kam. Offensichtlich schien es jemand sehr eilig zu haben.

Catherine rappelte sich auf und rannte zur Tür. Als sie den Jungen sah, der aus dem Wagen sprang, erschrak sie plötzlich, ohne genau zu wissen, warum.

„Sind Sie der Doc?“ rief er ihr entgegen. Großer Gott. Panik schnürte ihr die Kehle zu, und einen Moment

lang brachte sie keinen Ton heraus. Sie nickte stumm. Sie ahnte, daß es nur einen einzigen Grund geben konnte, weshalb der Junge zu ihr kam statt zu Ellen oder zu Jericho. Wenn es etwas war, das sie behandeln konnten, wäre er mit Sicherheit nicht hier, sondern wäre gleich zu Grandmother Yellowhorse gefahren.

Aber er war hierher gekommen. Weil er Angst hatte. Weil sich die Tah honeesgai ein neues Opfer gesucht hatte.

Sie rannte zu ihm hin und sah ihn an. Bei näherer Betrachtung war sein Gesicht rot und verschwitzt, ansonsten schien ihm jedoch nichts zu fehlen. Sie atmete auf.

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Der Junge deutete auf den hinteren Teil des alten, zerbeulten Dodge.

„Meine Schwester. Sie ist da drin.“ Catherine machte die hinter Wagentür auf. Auf dem Rücksitz lag

apathisch ein etwa sechzehnjähriges Mädchen. Ihr Gesicht glühte, sie schien hohes Fieber zu haben. Als sie beim Versuch, sich aufzusetzen, Luft holen wollte, kam ihr Atem pfeifend. Von einem Muskelkrampf geschüttelt sank sie stöhnend wieder zurück.

„Hilf mir, sie reinzubringen.“ Sie zogen sie aus dem Wagen und schleppten sie mühsam die

Stufen hinauf in die Klinik. Catherines Herz klopfte bis zum Hals, und ihr Kopf schmerzte. Verzweifelt versuchte sie sich daran zu erinnern, was sie in den Krankenblättern gelesen hatte.

Verfluchter Kolkline. Er hatte die Strafe des Himmels verdient dafür, daß er sich sonstwo herumtrieb, statt hier zu sein. Er handelte mehr als verantwortungslos. Schließlich war es vier lange Jahre her, seit sie zuletzt Gelegenheit gehabt hatte, praktische Erfahrungen mit Patienten zu sammeln, und außerdem war sie nicht befugt, sie ohne ärztliche Anweisung zu behandeln.

Aber sie mußte etwas tun. Sie konnte sich jetzt nicht an Formalitäten klammern, sie war auf sich allein gestellt.

Sie legten das Mädchen auf den Tisch in dem Untersuchungsraum, und der Junge sah sie verängstigt und flehend an. „Wird sie sterben?“

Catherine schloß die Augen und dachte intensiv nach. Jetzt wurde sie gebraucht. Sie mußte etwas tun. Sie mußte alles versuchen, was in ihren Kräften stand.

Sie steckte dem Mädchen ein Fieberthermometer in den Mund. Fast vierzig Grad. Gefährlich hoch, aber das allein war es nicht. Das Fieber war ja nur der Ausdruck dafür, daß das Immunsystem alles daransetzte, die Infektion abzuwehren. Unglücklicherweise, aber wußte bisher noch kein Mensch, ob es sich um Viren oder Bakterien handelte. Deshalb hatte man keine Handhabe, den Körper in seinen Abwehrkräften zu unterstützen.

Catherine entschloß sich als erstes, die junge Frau an den Tropf zu hängen. Eine intravenöse Infusion mit Kochsalzlösung würde dazu

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beitragen, die Muskelkrämpfe zu lindern und würde einer Dehydrierung des Körpers vorbeugen. „Wann hat es angefangen?“ fragte sie den Jungen.

„Erst vor ganz kurzer Zeit. Wir waren bei Freunden in Two Gray Hills und wollte uns gerade auf den Weg machen, um zur Feindweg-Zeremonie zu fahren, die Jericho abhält. Da ging es plötzlich los.“

Two Gray Hills. Hatte sie den Namen nicht schon mal gehört? Wie auch immer, jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken.

Sie überlegte einen Moment. „Du weißt, wo die Zeremonie stattfindet?“ Er nickte. „Fahr hin, so schnell du kannst und sag Jericho, er soll sofort herkommen. Und Ellen Lonetree auch.“ Für Prinzipienreiterei war jetzt nicht der richtige Augenblick. Sie brauchte jede Hilfe, die sie nur bekommen konnte. In der Zwischenzeit mußte sie versuchen, Dr. Kolkline zu finden. Außerdem mußte das Center for Disease Control informiert werden.

„Aber der Gesang...“ begann der Junge. Es war ihr im Moment vollkommen schnuppe, wie heilig die

Zeremonie war. „Dies hier ist wichtiger. Los, fahr schon!“ Er rannte hinaus, während sie in fliegender Hast das Regal auf der

Suche nach einem rezeptfreien fiebersenkenden Mittel durchwühlte. Endlich hatte sie die Tabletten gefunden.

Die Krämpfe hätten mittlerweile etwas nachgelassen, dafür bekam das Mädchen immer weniger Luft. Rasselnd rang sie nach Atem.

Als draußen der Motor des Wagens aufheulte, ging Catherine nach nebenan, um die Universitätsklinik in Albuquerque anzurufen.

„Dr. Kolkline“, sagte sie atemlos, als sich eine gelangweilte weibliche Stimme meldete.

„Einen Moment bitte.“ Das Warten erschien ihr wie eine Ewigkeit. „Tut mir leid, aber er

scheint nicht an seinem Platz zu sein.“ Er ist also nicht mal dort regelmäßig anzutreffen, schoß es Catherine wild durch den Kopf. Dann fiel ihr ein, daß ja Sonntag war.

„Dann Dr. Moss, bitte.“ Gerade noch rechtzeitig war ihr Richard Moss, den sie im Flugzeug kennengelernt hatte, als Rettungsanker wieder eingefallen. „Richard Moss. Vom CDC.“

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„Von den Ärzten vom CDC habe ich keine Rufnummern. Sie sind im sechsten Stock.“

„Gibt es denn dort kein Telefon?“ „Aber natürlich.“ „Dann verbinden Sie mich um Himmels willen. Es handelt sich

um einen dringenden Notfall.“ Einen Moment später nahm ein Mann ab, dessen Namen sie nicht

verstand. Richard Moss war es jedenfalls nicht, was ihr jetzt aber auch egal war. Hauptsache, er konnte ihr weiterhelfen.

Sie sprudelte hastig hervor, wer sie war und worum es ging, und er versprach, ihr umgehend einen Rettungshubschrauber zu schicken.

„Was soll ich in der Zwischenzeit tun?“ „Wir tappen ja selbst noch im dunkeln. Geben Sie ihr ein

fiebersenkendes Mittel und Sauerstoff, wenn sie keine Luft mehr bekommt.“ Catherines Herz drohte auszusetzen. „Kann es soweit kommen?“

Er zögerte. „Zweifellos.“ Nachdem sie aufgelegt hatte, eilte sie in den Untersuchungsraum

zurück. Das Mädchen rang keuchend um Atem. Catherine riß eine Sauerstoffmaske, aus dem Regal und fing an, im stillen zu beten.

Das Mädchen war noch so jung. Tiefes Mitleid durchflutete Catherine, sie tastete nach der Hand der Kranken und drückte sie tröstlich. Dann setzte sie ihr die Sauerstoffmaske auf.

„Tief Luft holen“, redete sie ihr leise zu. „Ja, so ist es gut, Mädchen. Ein ... aus, gut. Das ist gut. Jetzt einatmen.“

Die junge Frau schaute sie an. In ihren. Augen stand Todesangst. Und auch als sie einen Moment später, erschöpft von der Anstrengung des Atmens, die Augen schloß, redete Catherine weiter leise und beruhigend auf sie ein.

Die Zeit schien stillzustehen. Endlich hörte sie das laute Brummen der Propeller des Rettungshubschraubers. Heiße Tränen der Erleichterung brannten in ihren Augen.

„Halt durch“, flüsterte sie. „Sie sind da. Jetzt wird alles gut.“ Als sie sich erhob, zitterten ihre Knie. Sacht löste sie ihre Hand aus der

des Mädchens. Als sie sich, die Augen blind vor Tränen, umwandte,

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um zur Tür zu gehen, prallte sie gegen Jericho. Sie keuchte vor Schreck und wich entgeistert einen Schritt

zurück. „Wie lange sind Sie schon hier?“ „Lange genug.“ „Und warum haben Sie nichts unternommen? Ihre Gesänge, Ihre

Vögel...“ Sie griff nach einem Strohhalm und zog so sogar Dinge in Erwägung, an die sie nicht glaubte, und beide wußten es. Er verzog das Gesicht.

„Es gibt nichts mehr, was ich tun könnte. Es ist zu spät.“ Sie verstand nicht, wollte nicht verstehen. Sie federte zurück,

wandte sich um und blickte auf das Mädchen. Der Brustkasten ihrer Patientin hob und senkte sich nicht mehr. Aber

sie trug noch immer die Sauerstoffmaske. Und solange sie die Maske trug, würde sie... mußte sie doch auch...

Wie betäubt ging Catherine auf sie zu und griff blind nach ihrem Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. Er stand still.

„Nein“, sagte sie tonlos. Und dann noch einmal, lauter diesmal, als weigere sie sich, das Unabänderliche zu akzeptieren. „Nein!“

Irgend jemand ergriff sie von hinten und zerrte sie zur Tür. Shadow. Sie führte Catherine an den Sanitätern und den Ärzten vom CDC vorbei hinaus ins Freie. Es war Abend geworden, langsam senkte sich der Schatten der Nacht nieder.

Es war eine viel zu schöne Nacht, um zu sterben. Catherine konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und weinte

zuerst still vor sich hin, wenig später packte ein Schluchzen sie und schüttelte ihren ganzen Körper. Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben und setzte sich auf den harten Lehmboden.“

„Sie haben getan, was in Ihren Kräften stand“, flüsterte Shadow. „Warum war bloß dieser verdammte Kolkline nicht da... Ein Arzt...

jemand, der weiß, was in so einem Fäll zu tun ist...“, schluchzte Catherine hilflos.

„Es gibt nichts mehr zu tun, wenn die Krankheit erst einmal ausgebrochen ist.

Catherine schüttelte wild den Kopf. Zumindest hätte Kolkline ihr etwas Wirksameres als Aspirin geben können...“

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Shadow zuckte nur mit den Schultern, aber als Catherine zu ihr aufschaute, sah sie, wie die andere Frau in ohnmächtiger Wut die Kiefer aufeinanderpreßte.

„Wer war sie?“ flüsterte Catherine. „Ich will ihren Namen wissen.“ Als ob das jetzt noch wichtig gewesen wäre.

Shadow legte die Arme um sich, so als ob sie sich wärmen müßte. „Lisa Littlehorn. Sie ist... sie war Onkel Ernies Enkelin.“

Catherine schnappte nach Luft. „Sie war verwandt mit Ihnen?“ Shadow schüttelte den Kopf. „Es war nicht das, was Sie unter

Verwandtschaft verstehen. Onkel Ernie ist kein richtiger Onkel. Von niemandem. Er ist der Älteste des Towering-Rock-Clans.“ Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. „Großer Gott. Jericho.“

Er war hinter der Bahre, auf der Lisa Littlehorn lag, aus der Klinik gekommen. „Was?“ fragte Catherine. „Was ist denn los?“

„Onkel Ernie steht ihm sehr nahe, er hat ihn die Gesänge gelehrt. Jericho wird es sehr schwer nehmen. Lanie, es tut mir leid, aber ich muß jetzt zu ihm. Er braucht mich im Moment mehr als Sie.“

Während Shadow zum Landrover ihres Bruders hinüberrannte, schaltete irgend jemand die Lichter des Helikopters ein. Catherine beobachtete, wie Shadow, getaucht in gleißende, unbarmherzige Helligkeit, leise auf Jericho, der mit hängenden Schultern dastand, einredete. Bei seinem Anblick brach sich plötzlich eine nie gekannte Traurigkeit in Catherine Bahn, und sie begann von neuem hemmungslos zu schluchzen.

Sie weinte um Lisa Littlehorn, um Jericho, dessen Trauer so offensichtlich war, um sich selbst und um die ganze Welt. Das ganze Leben erschien ihr plötzlich vollkommen sinnlos.

Plötzlich stemmte sie sich vom Boden hoch und machte zögernd ein paar Schritte vorwärts. Dann jedoch ging sie entschlossen auf Shadow und Jericho zu, obwohl ihr klar war, daß es besser wäre, sie allein zu lassen.

Sie war eine Fremde, eine Außenseiterin sie gehörte nicht hierher. Jericho haßte sie. Sie konnte ihn nicht trösten und sollte es lieber erst gar nicht versuchen. Und doch zog sie irgend etwas, entgegen allem gesunden Menschenverstand, an seine Seite.

Als er auf sie hinunterblickte, hätte sie zuerst schwören mögen, daß

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er sie gar nicht sah. Doch dann nahm er in Gedanken versunken eine Locke von ihr und wickelte sie sich um den Finger.

„Es tut mir so leid“, sagte sie leise. „Aber ich habe wirklich alles getan, was ich konnte.“

Seine Hand legte sich um ihren Nacken, und er zog sie näher zu sich heran. Vor Überraschung machte sie sich ganz steif und widerstrebte. Aber er lehnte nur seine Stirn gegen ihre und schloß dann die Augen.

„Ich weiß, Katzenauge. Ich habe es gesehen.“

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5. KAPITEL Lisas Tod änderte alles und nichts zwischen ihnen. Jerichos

Verhalten war so arrogant und unberechenbar wie eh und je, und doch fing Catherine immer öfter seine Blicke auf, wenn sie über sie hinwegglitten. Als würden sie nach etwas suchen. Dann flatterten Schmetterlinge in ihrem Bauch. Wenn er sie ansah, war es ihr unmöglich, sich auf irgend etwas zu konzentrieren.

Als er eines Tages mit Shadow in der Klinik auftauchte, war etwas mehr als eine Woche seit Lisas Tod verstrichen. Sie standen nebeneinander in der offenen Tür, und Shadow grinste.

Jericho warf seine Jacke über einen Stuhl. „Sie fahren heute wieder nach Hause?“ erkundigte er sich kurzangebunden.

Catherine zwinkerte verdutzt. „Wer? Ich?“ Jericho zuckte die Schultern, und Shadows Grinsen wurde breiter. Sie

klopfte sich auf die Gesäßtasche ihrer Jeans, wobei sie Jericho vielsagend ansah, und setzte sich auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

„Es macht wirklich Spaß, mit dir zu wetten, Bruderherz.“ Jericho gab nur ein unwirsches Brummen von sich. Catherine konnte sich auf das alles keinen Reim machen.

Offensichtlich ebensowenig wie Ellen. Die Krankenschwester ließ ihre Blicke mißtrauisch von Shadow zu Jericho wandern und wieder zurück.

„Wo ist die Karte?“ wollte Shadow wissen. „Gib sie Lanie. Wir haben sie uns schon hundertmal angesehen. Vielleicht fällt ihr ja was dazu ein.“

Jericho schnaubte ungehalten. „Reine Zeitvergeudung“, brummte er.

„Mag sein“, gab Shadow zur Antwort. „Hast du eine bessere Idee?“ „ Catherine fühlte Jerichos Blick auf sich ruhen. Sie unterdrückte

einen Schauer und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Oh, diese Augen. Sie sprang auf, als er ihr die Karte zuwarf. Es war dieselbe, die sie

am Tag nach ihrer Ankunft bereits zu Gesicht bekommen hatte. Unsicher schaute sie von Jericho zu Shadow. Dann klappte sie sie auf und legte sie auf den Schreibtisch.

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„An den eingezeichneten Stellen ist die Mystery Disease ausgebrochen?“ fragte sie.

Jericho kam zu ihr herüber und stellte sich neben sie, nah genug, daß sie seinen Duft wahrnehmen konnte. Sie schloß kurz die Augen und versuchte, nicht daran zu denken.

„Nein. Das sind die Orte, an denen sich die Erkrankten in den Tagen vor Ausbruch der Krankheit aufgehalten haben.“

„Two Gray Hills“, sagte sie lebhaft. Nun erinnerte sie sich wieder. Er kniff die Augen zusammen. „Was?“

„Lisas Bruder hat erzählt, daß sie dort waren, ehe seine Schwester krank wurde. Und sagte nicht Grandmother Yellowhorse ebenfalls etwas von Two Gray Hills?“

Ellen gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Zwischen Tommy und Lisa gibt es keine Gemeinsamkeiten.“

„Nein, warte.“ Jericho deutete auf die Karte. „Hier, drei andere erkrankte haben sich ebenfalls in der Nähe aufgehalten.“

„Nun ja, drei - von wie vielen?“ wandte Ellen skeptisch ein. „Es sind jetzt... sechsundzwanzig mit Lisa, wenn mich nicht alles

täuscht“, sagte Shadow. „Nein, das macht keinen Sinn.“ Jericho blickte düster vor sich hin.

„Und Tommy war verhext“, sinnierte Ellen. „Er hatte die Tah honeesgai nicht. Noch nicht zumindest. Dann bleiben nur vier.“

„Wissen wir von, jemandem, der in letzter Zeit neu zugezogen ist?“ fragte Shadow Jericho.

Jericho trat einen Schritt beiseite. Catherine atmete auf. „Nur einer“, sagte er schließlich. „Er nennt sich Becenti. An seinen

Vornamen erinnere ich mich nicht. Er hat erzählt, daß er aus L.A. kommt. Sein Vater war angeblich Navajo, aber wer weiß?“

„Der Stammesrat hätte ihm nicht gestattet, sich hier niederzulassen, wenn es nicht stimmen würde“, wandte Shadow ein.

Jericho hob eine Schulter. „Es wäre nicht das erstemal, daß sich fragwürdige Typen hier bei uns Unterschlupf suchen. Es dauert immer eine Weile, bis man ihnen auf die Schliche kommt, ich kenn doch diese Burschen.“

Catherine fühlte eine heiße Röte in sich aufsteigen. Fragwürdige Typen. Sie vermutete, daß sie in gewisser Weise auch so jemand war...

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ein Wolf im Schafspelz. Trug nicht auch sie einen falschen Namen und gab vor, jemand anders zu sein?

„Glauben Sie, daß dieser Fremde Leute ... verhext?“ fragte sie ungläubig. Nahmen sie wirklich so einen Hokuspokus für bare Münze? Und das war das zwanzigste Jahrhundert!

Shadow seufzte und rieb sich die Augen. „Die Tah honeesgai ist so plötzlich aufgetaucht. Und nur hier in unserer Reservation. Was sonst sollte es wohl sein?“

„Ich brauche jetzt einen Kaffee“, sagte Jericho ungehalten. Er griff nach der Thermoskanne und goß sich eine Tasse ein. Nachdem

er einen großen Schluck genommen hatte, hustete er und verzog dann das Gesicht. „Was ist denn das?“

Catherine fühlte, wie sie rot wurde. „Kaffee.“ „Teufel noch mal.“ Er schaute kopfschüttelnd in die Tasse, dann griff er wortlos

nach der Blechdose, öffnete den Deckel und schnüffelte. „French-Vanilla?“ Mit angewidertem Gesichtsausdruck verschloß er die

Dose wieder. „Ein netter kleiner Kaffee für ein nettes kleines Stadtmädchen.“

Catherine versteifte sich. War das als Beleidigung aufzufassen oder als Kompliment? „Sie müssen ihn ja nicht trinken.“

„Werde ich auch nicht.“ Er schob ihr die Tasse hin. „Hier. Für Sie.“ Absurderweise mußte sie sich regelrecht zwingen, aus der Tasse zu

trinken, aus der eben noch er getrunken hatte, ihre Lippen dorthin zu legen, wo gerade noch die seinen gelegen hatten. Es erschien ihr so intim - würde sie die Augen schließen, könnte sie sicher die Wärme und Weichheit seiner Lippen spüren. Als sie den Blick wieder hob, sah sie, daß er sie gespannt beobachtete. Plötzlich war sie sich sicher, daß er in ihr gelesen hatte wie in einem offenen Buch.

Sie mußte besser aufpassen. Wieder fühlte sie sich von diesen Augen gefangengenommen und hatte Mühe, ihren Blick abzuwenden. Als es ihr endlich gelang, blieb er an seinem Mund hängen.

„Hallo?“ fragte Shadow ruhig. Catherine und Jericho zuckten zusammen.

Shadow, die die Füße bequem auf den Schreibtisch gelegt hatte, nahm sie jetzt herunter und stützte statt dessen die Ellbogen auf.

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„Die Menschen bei uns haben eben ihre eigenen Theorien über die Sache“, fuhr sie, an das ursprüngliche Thema wieder anknüpfend, an Catherine gerichtet fort. „Und diese Theorien ernst zu nehmen ist genauso wichtig wie alles andere.

Catherine nickte mühsam und mied Jerichos Blick. Die ganze Woche über waren Leute in die Klinik gekommen und hatten geheimnisvoll flüsternd ausufernde Geschichten von riesigen Schatten, die so schnell flitzten wie Autos und die sich in Wölfe oder Kojoten oder sonstwas verwandeln konnten, erzählt. Wolfmen.

„Die Menschen spüren die Bedrohung.“ „Wir müssen etwas unternehmen“, sagte Shadow. „Sonst bricht

noch eine Panik aus. Jericho, ich finde, du solltest einen Gesang abhalten. Man muß den Menschen jetzt ein Gefühl der Sicherheit geben.“

Catherine kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Dagegen ließ sich schwer argumentieren. Wenn die Leute sich erst wieder sicherer fühlten, würden sie auch aufhören, sich gegenseitig mit diesen Geistergeschichten verrückt zu machen. Und das war sicher eine gute Sache.

Jerichos Gesicht verdüsterte sich. „Dazu müßte ich erst mit Onkel Ernie reden“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob wir die Riten so einfach ändern dürfen. Sie sind auf den einzelnen zugeschnitten.“

„Kannst du es rausfinden?“ drängte seine Schwester. Er zögerte, dann ging er zur Tür und blickte hinaus. „Onkel Ernie ist

im Moment nicht er selbst, aber er wird helfen wollen“, sagte er. „Lanie, ich bin der Meinung, Sie sollten diesmal auch mitkommen.“ „Ich? Warum?“ Catherine sah Shadow überrascht an. „Ja - warum?“ fragte nun auch Jericho und blickte über die

Schulter hinweg auf seine Schwester. Sein Ton war plötzlich schroff geworden.

„Genau. Warum eigentlich?“ Ellen mußte natürlich auch ihren Senf dazugeben.

Shadow schaute die beiden erstaunt an. „Weil es sie genauso wie jeden anderen hier auch betrifft. Tah honeesgai befällt nicht nur Navajos. Und ich persönlich hielte es für verdammt unfair, Lanie als einzige dem wolfman ungeschützt preiszugeben.“

In Catherines Kopf purzelte alles wild durcheinander. Wieder

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vermischten sich hier Verstandesgründe mit Aberglauben. Natürlich war die Zeremonie eine gute Sache, um die Menschen zu beruhigen, aber jetzt redeten sie schon wieder ganz selbstverständlich vom Schwarzen Mann, so als würde er tatsächlich gleich zur Tür hereinmarschieren.

„Ich ... äh ... ich nehme das Risiko auf mich“, entschied sie. „Das halte ich für keine gute Idee“, erwiderte Shadow bestimmt. „Sie

haben Lisa behandelt. Sie sind von uns allen am meisten gefährdet.“ Vom medizinischen Standpunkt aus gesehen hatte Shadow recht,

vorausgesetzt die Krankheit war ansteckend. Catherine bezweifelte jedoch, daß ihr im schlimmsten aller Fälle ein Gesang würde helfen können.

„Was ist, wenn der wolfman Leichengift auf Lisa geblasen hat?“ „Leichengift“, wiederholte Catherine und spürte voller Unbehagen,

wie ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterrieselte. „Darf ich fragen, was Sie damit meinen?“

Plötzlich merkte sie, daß Jericho hinter sie getreten war. Er legte seine Hände auf ihre Hüften und drehte sie zu sich herum. Keiner von beiden sah, wie Shadow verblüfft die Augenbrauen hob. Keiner von beiden hörte, wie Ellen angestrengt Luft holte.

„Sie dürfen“, antwortete er ruhig. Er war dabei, den Kopf zu verlieren, und er war sich dessen bewußt.

Er spielte mit dem Feuer, aber seine Neugier war stärker als er. Er mußte einfach wissen, ob sie auch diesmal auf seine Berührung reagieren würde, oder ob er sich das alles nur einbildet hatte.

Als er wieder spürte, wie sie unter seinen Händen zusammenzuckte, wußte er, daß er verloren war.

„Der wolfman streut den Staub von Toten über seine Opfer. Der Staub enthält das Böse, was bei Lebzeiten in ihnen war.“

Catherine nickte. Sie konnte und wollte sich nicht bewegen. Selbst wenn er ihr jetzt erzählt hätte, daß die Vereinigten Staaten am Rande des Dritten Weltkrieges stünden, hätte es sie nicht gekümmert.

„Und merkt das Opfer etwas davon?“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

„Nein. Es geschieht im Schlaf.“ „Aha.“

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Warum schlug sie nicht seine Hände weg und trat einfach einen Schritt beiseite? Es war vollkommen verrückt. Sie mochten sich doch nicht einmal. Er war arrogant und grob. Und er hielt sie für ein verwöhntes Stadtmädchen, wie er sich auszudrücken pflegte. Doch die Wärme seiner Hände, die durch den festen Baumwollstoff ihrer Jeans drang, bewirkte, daß sie wie angenagelt stehenblieb. Es war ihr unmöglich, sich seiner Nähe und der Männlichkeit, die er ausstrahlte, zu entziehen. Diese Erkenntnis erschütterte sie zutiefst.

Jericho bewegte sich als erster. Ein kalter Luftstrom ging über sie hinweg, als er seine Hände von ihren Hüften nahm.

„Laß Lanie da raus. Sie wäre nur eine Ablenkung.“ „Für wen?“ fragte Shadow trocken. „Für dich oder für die Leute?“ „Für die Leute. Sie müssen sich in dem Gesang verlieren, und das

können sie nicht, wenn jemand dabei ist, der nur gespannt darauf wartet, ob ihnen nicht vielleicht gleich Hörner wachsen.“

Er spürte, daß er dummes Zeug redete. Etwas, das er sonst nie tat. Aber er hatte das unbestimmte Gefühl, daß er soeben in einen vergitterten Käfig gesprungen war. Und nun machte seine Schwester Anstalten, den Schlüssel wegzuwerfen.

Er wollte Lanie McDaniel bei der Zeremonie nicht dabeihaben und damit basta.

Er mußte sie verachten, er durfte sie nicht mögen. Doch sie nahm sich alles so zu Herzen, und das brachte ihn fast um den Verstand. Weil es echt und unaufgesetzt wirkte. Von ihr ging eine Intensität aus, der er sich nicht entziehen konnte. Ihm fiel plötzlich wieder ein, wie sie neben Lisa Littlehorn gesessen hatte, und er dachte daran, wie sie unter seinen Händen zusammengeschauert war, und wie sie auf seine Hände gestarrt hatte, als er sie über Lance aufklärte.

Und sie war - trotz der Isolation, in der sie sich befand, und trotz der Niederlage, einen Wettlauf mit dem Tod verloren zu haben - noch immer hier. Lanie McDaniel war offensichtlich ein Mensch, der nicht so schnell aufgab.

Sie war anders als Anelle. Langsam dämmerte es ihm, daß er sich womöglich in ihr getäuscht

haben könnte. Vielleicht war sie gar keine flügellahme Taube. Doch wie auch immer, er wollte auf keinen Fall, daß sie ihn mit ihren großen,

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grünen, wachsamen Augen anstarrte und Spekulationen über ihn anstellte, währender einen heiligen Ritus zelebrierte...

Nein. Er mußte sofort raus hier. Er schnappte sich seine Jacke, die er über

einen Stuhl geworfen hatte, und wandte sich zur Tür. „Ich muß jetzt zu Onkel Ernie. Und wenn er keinen Weg sieht, wie man die Zeremonie den Umständen anpassen könnte, gibt's sowieso keinen Gesang.“

Eben als Catherine die Tür abschließen und hinüber in ihren

Wohnwagen gehen wollte, fuhr ein blitzsauberer, chromglänzender Wagen vor, dem man auf den ersten Blick ansah, daß er niemandem in der Reservation gehörte.

Sie bekam einen Schreck, und plötzlich fiel ihr auf, daß sie seit Tagen nicht einen einzigen Gedanken an Victor verschwendet hatte. Anscheinend hatte sie wirklich angefangen zu glauben, daß er sie hier niemals aufstöbern würde. Nun kehrte sie unsanft auf den Boden der Realität zurück.

Die Wagentür öffnete sich. Als sie sah, wer da ausstieg, fiel ihr, ein Stein vom Herzen. Es war kein anderer als Richard Moss.

„Oh!“ Vor Erleichterung wurden ihre Knie ganz weich. Sie umklammerte die Türklinke und lachte ein wenig kurzatmig.

Richard war verdutzt. „Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.“

„Nein, aber ich habe den Nachmittag damit verbracht, über Geister zu reden.“ Sie bat ihn herein.

„Ich habe Ihnen gleich gesagt, daß die Menschen hier anders sind.“ „Ja. Sie sind abergläubisch und verängstigt. Möchten Sie einen

Kaffee?“ Sie schüttelte die Thermoskanne. Vom Nachmittag war noch etwas übriggeblieben, das wohl noch für zwei Tassen reichen würde.

Er nickte, und sie schenkte ihm ein. Nachdem sie ihm einen Stuhl angeboten und sich selbst hinter den

Schreibtisch gesetzt hatte, schaute sie ihn an und merkte plötzlich, wie froh sie. war, ihn zu sehen. Richard hatte ein freundliches Gesicht, und er war Teil der anderen Welt, in der sie neunundzwanzig Jahre

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gelebt hatte, bevor sie in dieses zerklüftete, rauhe Land hier gekommen war.

„Freut mich, daß Sie sich hier rausgewagt haben. Sagten Sie, nicht, daß Sie am liebsten einen großen Bogen um die Reservation machen?“ erkundigte sie sich schließlich.

„Tja - sieht so aus, als hätte die Reservation seit einiger Zeit eine gewisse Anziehungskraft für mich bekommen.“ Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu, was ihr merkwürdigerweise irgendwie unangenehm war.

Er schien ihr Zögern zu bemerken, ging dann jedoch leicht darüber hinweg.

„Ich würde Ihnen gern zu dem Littlehorn-Fall ein paar Fragen stellen. Sie haben das Mädchen doch behandelt, oder?“

„Ich mußte. Dr. Kolkline war nicht da.“ Großer Gott, sie fing ja schon an zu reden wie Jericho - kurze, knappe

Sätze, die die Sache umgehend auf den Punkt brachten. Oder war es vielleicht deshalb, weil das Leben in der Reservation bereits anfing, auf sie abzufärben?

Sie wandte Richard wieder ihre Aufmerksamkeit zu. „Erzählen Sie mir, was passiert ist.“ Catherine öffnete eine Schublade. „Alles Wissenswerte steht hier drin.“

Sie hielt ihm eine Karteikarte hin. Er nahm sie, um sie kurz zu überfliegen. „Ausgezeichnet. Kann ich sie

mitnehmen?“ „Warum nicht? Aber ich hätte sie gern wieder zurück.“ „Wird mir ein Vergnügen sein.“ Er grinste sie an und ließ seinen

Charme sprühen. Dann vertiefte er sich wieder in ihre Aufzeichnungen. „Nun, Sie haben offensichtlich alles getan, was in Ihrer Macht stand.“

Obwohl es als Trost gemeint war, zuckte Catherine zusammen. „Ich war die letzte, die mit ihr gesprochen hat. Ich habe ihr versprochen, daß alles gut wird“ erwiderte sie schließlich hilflos.

Richard zuckte die Schultern. Plötzlich begann sie, sich über seine Gefühlskälte zu wundern. Natürlich hatte sie sie so oder ähnlich früher an anderen Ärzten auch schon wahrgenommen. Sie vermutete, daß es sich dabei um eine natürliche Abwehrreaktion gegenüber Leid und Tod handelte. Eine Art Abstumpfung.

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„Sie wissen ja, daß es noch kein wirksames Mittel gibt“, sagte Richard. „Wenn sie gleich damit in die Universitätsklinik gekommen wäre, hätten wir auch nicht viel mehr tun können als Sie. Aber natürlich hätten wir für Forschungszwecke eine Blutuntersuchung machen können, was wichtig gewesen wäre. Jetzt, nachdem sie tot ist, sind uns leider die Hände gebunden. Die Leute hier wehren sich mit Zähnen und Klauen gegen eine Autopsie.“

Catherine nickte langsam. „Ja. Das kommt wahrscheinlich daher, weil sie in ihrem Glauben sehr tief verwurzelt sind. Und sie sind überzeugt davon, daß die Mystery Disease keine organische Ursache hat, sondern das Werk eines wolfman ist.“

Sein rechter Mundwinkel hob sich verächtlich. „Ich habe Sie vorgewarnt.“

Nun erzählte sie ihm von der geplanten Zeremonie und was sie davon hielt.

Er sah sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. „Sie können so absurde Vorstellungen doch nicht ernsthaft unterstützen.“

„Aber warum denn nicht? Wäre es nicht denkbar, daß eine solche Zeremonie eine gewisse psychologische Funktion haben könnte? Sie könnte sich stabilisierend...“

„Ich weiß genau, was passieren wird“, unterbrach er sie schroff. „Wahrscheinlich brüten die Leute dadurch, daß sie alle auf einem Haufen hocken, wieder sechsundzwanzig neue Fälle aus.

Catherine fühlte Ärger in sich aufsteigen, obwohl sie sich nicht erklären konnte, weshalb. Bei Licht betrachtet war das, was er sagte, durchaus stichhaltig.

„Waren Sie nicht vor kurzem noch der Meinung, daß die Krankheit nicht durch Ansteckung übertragen wird?“ fragte sie steif.

Er schien verdutzt, daß sie sich noch daran erinnerte. „Theorien gibt es in Hülle und Fülle. Was wir brauchen, sind Fakten. Und solange wir die nicht haben, dürfen wir keinerlei Risiko eingehen. Diese Zeremonien sind nichts als Hokuspokus und aus den eben genannten Gründen ein Risikofaktor. Meiner Meinung nach sollte man sie strikt verbieten, bis man Näheres weiß.“

Verbieten? „Ich glaube nicht, daß wir das Recht dazu haben“, gab Catherine nachdenklich zurück. „In unserem Land herrscht schließlich

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Religionsfreiheit. Natürlich ist ihre Religion ein Grund dafür, daß sie sich auch mit ernsthaften Krankheiten keinem Arzt anvertrauen, sondern sich von ihren Wunderheilem mit getrockneten Wurzeln und toten Vögeln behandeln lassen. Aber solange unsere Ärzte ihren Glauben und ihre Ängste belächeln, werden sie auch nicht zu ihnen gehen.“

Richard erhob sich langsam. „Wollen Sie damit sagen, daß Sie auch schon an den Unsinn glauben, den die Navajos da verzapfen? Daß die Ursache für die Mystery Disease ein wolfman ist?“

„Sie glauben es, Richard. Das ist das einzige, was zählt.“ „Und Sie lassen sich zu einem solchen Unfug auch noch einladen?

Wollen Sie da wirklich hingehen?“ Catherine zögerte. „Ja“, sagte sie wenig später mit Bestimmtheit. Ja, ich

werde hingehen, dachte sie, und wenn Jericho sich auf den Kopf stellt.

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6. KAPITEL Shadow hatte ihr den Weg zu dem Ort, wo die Zeremonie stattfinden

sollte, aufgezeichnet. Als sie ihr zusätzlich die Wagenschlüssel für einen Jeep in die Hand drückte, war Catherine völlig verdutzt.

„Wem gehört der denn?“ fragte sie. „Wird er nicht gebraucht?“ „Erst am Montag wieder. Er gehört Eddie Begay - dem Jungen, der

versucht, Ihren Wagen wieder auf Vordermann zu bringen. Er fährt mit seinen Eltern zu dem Gesang und hat vor, bis Montag zu bleiben.“

„Ich ... oh.“ Catherine wußte nicht, was sie davon halten sollte. In Anbetracht dessen, daß die Leute einerseits so entschlossen schienen, ihre, Catherines, Anwesenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen, waren manche von ihnen andererseits doch außerordentlich entgegenkommend. Sie dachte an ihren Camaro, den sie in Boston zurückgelassen hatte, und mußte sich ehrlich eingestehen, daß sie ihn niemals jemandem, den sie gar nicht kannte, überlassen hätte.

„Wenn Sie möchten, können Sie natürlich auch jetzt gleich mit mir fahren“, bot Shadow an. „Ich bin mir nicht sicher, ob der Schutz ausreicht, wenn Sie erst am letzten Tag auftauchen.“

„Mit Sicherheit nicht“, erklärte Jericho kategorisch. Er war gerade dabei, Getreidepollen in kleine Fellsäckchen aus Hirschleder einzufüllen. „Aber was soll's. Der Gesang schützt sowieso nur diejenigen, die daran glauben.“

„Die Heiligen Wesen helfen jedem, der ihre Hilfe sucht“, widersprach Shadow.

„Sie sucht keine Hilfe. Sie sammelt nur Souvenirs.“ Catherine zuckte zusammen. War es das, was er von ihr dachte? Er

nahm die Beutel und ging zur Tür. „Ich verstehe ihn nicht“, murmelte Shadow. „Ich hatte den Eindruck,

er wäre mit Ihnen mittlerweile schon etwas warm geworden.“ Ich auch, dachte Catherine. Aber sie hatte sich wohl geirrt. Nach

wie vor schien er ihr feindlich gesonnen. „Sie sollten wirklich mit mir fahren“, machte Shadow noch einen

weiteren Versuch. Catherine schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will die Klinik nicht so lange

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Zeit allein lassen. Dafür hat mich schließlich Ihr Gesundheitsdienst nicht engagiert. „

Shadow zuckte die Schultern. „Kolkline würde es bestimmt nicht stören, und ansonsten überprüft es auch niemand. Aber machen Sie, was Sie wollen. Ich würde mich nur freuen, wenn Sie sich entscheiden könnten, mit mir zu kommen.“

Sie folgte ihrem Bruder nach draußen. Es wurde still. Catherine seufzte. Sie war wieder allein. Sie sah die Menschenmenge schon von weitem. Beim Näherkommen

fuhr sie an Pick-ups, Trucks und Pkws, die dicht an dicht standen, vorüber. Die Dunkelheit war mittlerweile bereits hereingebrochen, und auch in der Nähe der Feuerstellen, deren orangefarbene Flammen hell in den schwarzen Nachthimmel emporloderten, waren Wagen geparkt. Catherine lenkte ihren Wagen an Pferdefuhrwerken vorbei, bei deren Anblick sie sich wieder, wie schon öfter in den hinter ihr liegenden Wochen, in ein früheres Jahrhundert zurückversetzt fühlte, suchte sich einen Parkplatz und stieg aus.

Die Pferde schnaubten und stampften und zermalmten das harte Steppengras unter ihren Hufen. Männer in Jeans, mit Cowboyhüten auf dem Kopf, und junge Frauen - manche ebenfalls in Jeans, andere trugen die langen, traditionellen Röcke - liefen geschäftig hin und her und plauderten miteinander. In der Luft hing der Duft von gegrilltem Hammelfleisch und das Aroma, von süßem Kuchen, das ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Obwohl sie sich kaum sattsehen konnte an der bunten Szenerie, die sich da, für sie so fremdartig, vor ihren Augen entfaltete, fühlte Catherine sich doch sofort wieder wie ein Eindringling und wünschte sich, zu Hause geblieben zu sein.

Ihr erster Impuls war, auf dem Absatz kehrtzumachen. Bei ihrer Ankunft hatte sie niemand beachtet, und so war kaum anzunehmen, daß es irgend jemand zur Kenntnis nehmen würde, wenn sie gleich wieder abfahren würde. Gerade als sie die Tür des Jeeps öffnen wollte, hörte sie Shadows Stimme hinter sich.

„Schön, daß Sie hergefunden haben!“ Catherine schaute über die Schulter und sah, wie Shadow winkend zu

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ihr herüberkam. Sie war sich nicht sicher, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo wir sitzen.“ Shadow hatte sie erreicht, nahm sie am Arm und zog sie hinter sich her durch die Menschenmenge. Catherine war erstaunt über den Mangel an heiligem Ernst, der hier herrschte. Kinder rannten barfuß hin und her, und die Erwachsenen lachten und schwatzten.

„Nicht das, was Sie erwartet haben?“ fragte Shadow. „Ich dachte, es würde eher wie... ich weiß nicht, vielleicht wie eine

katholische Messe sein oder so. Ernst und feierlich.“ „Warten Sie's ab, das kommt noch“, versicherte ihr Shadow.

„Onkel Ernie hat gesagt, daß wir eine Feindweg-Zeremonie abhalten sollen, um den Bann des wolfman zu neutralisieren, aber dafür muß es ganz dunkel sein.“ Sie führte Catherine zwischen Feuerstellen und kreischenden Kindern hindurch. „Wolfmen maskieren sich tagsüber und sind so von normalen Menschen nicht zu unterscheiden“, fuhr Shadow fort, „deshalb ist es so schwierig, sie zu bekämpfen. Mit Hilfe unserer Heiligen Wesen und unserer Gesängen versuchen wir, das Schlechte, das sie verströmen, auf sie zurückzuwerfen. Unsere Vorfahren haben mit diesen Gesängen ihre Todfeinde bekämpft - die Utahs, die Mexikaner und die Weißen.“

„Na, da fühle ich mich gleich viel besser“, murmelte Catherine ironisch. Shadow sah sie erstaunt an, dann lachte sie. „Solange Sie kein

wolfman sind, können Sie sich ganz sicher fühlen. Plötzlich wurde es still. Catherine schaute zum Himmel empor und sah,

daß der Mond inzwischen aufgegangen war. Die Familien riefen ihre Kinder zu sich an die Feuerstellen.

Catherine ließ sich neben Shadow an einem der Feuer nieder und schaute in die Runde. Außer Ellen kannte sie niemanden. Daß Ellen hier war, erstaunte sie. War sie Gast von Shadow und Jericho? Warum saß sie nicht bei ihrer Familie?

Der einzige Grund, der ihr dafür einfiel, behagte ihr gar nicht. Deshalb verdrängte sie ihn rasch.

Die Menschenmenge hatte sich um einen Hogan herumgruppiert, vor dem Jericho stand. Als ihr Blick auf ihn fiel, verspürte sie ein Flattern im Bauch. Er erschien ihr anders als sonst... und doch vertraut.

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Seine Augen waren noch dunkler, noch feuriger, noch intensiver, jede Faser seines Körpers schien gespannt. Als er anfing zu singen, stockte ihr der Atem.

Das, was er sang, war kein Lied, sondern eine rhythmische, fast monotone Tonfolge in einer Sprache, die sie nicht verstand. Seine Stimme klang volltönend und weich und schien unendlich weit zu tragen. Sie ging ihr durch Mark und Bein und berührte sie in tiefster Seele an einer Stelle, die noch von niemandem und nichts berührt worden war.

Als er um den Hogan herumzutanzen begann, ließ sie ihm fasziniert ihre Blicke folgen. Seine Füße folgten dem harten, stampfenden Rhythmus der Melodie. Dazu wiegte er langsam und provozierend den ganzen Körper im Takt. Catherine fühlte, wie ihr Mund trocken wurde. Jetzt sang er auf englisch und warf den Fluch des wolfman in einem zornigen Gesang auf ihn zurück.

Als seine Stimme langsam verklang, ertönte hinter Catherine ein markerschütternder Schrei. Sie erschrak fast zu Tode und wollte schon aufspringen, da hielt sie Shadow am Arm fest.

„Bleiben Sie ganz ruhig“, flüsterte sie. „Das gehört dazu.“ Erleichtert atmete Catherine auf, und als sie sich umwandte, sah

sie, wie sechs Männer auf Pferden quer durch die Wüste auf den Hogan zugaloppierten.

Beim Näherkommen erkannte sie, daß einer von ihnen einen Stock in der Hand hielt, an dessen oberem Ende ein großer Fellbeutel aus Hirschleder hing. Shadow lehnte sich zu ihr hinüber.

„Da ist der Pelz des wolfman drin. Sie haben es in einem Meskitestrauch gefunden.“

Catherine wurde leicht schwindlig. Unfug. Es gibt keinen wolfman. Ihr Verstand sagte ihr, daß das Fell wahrscheinlich von einem unglücklichen Hund oder einem Kojoten stammte. Doch plötzlich war sie sich dessen gar nicht mehr so sicher.

Nun kamen von der anderen Seite hinter dem Hogan noch mehr Männer auf Pferden herangeprescht. Nachdem sie aufeinandergetroffen waren, begannen sie, miteinander zu kämpfen. Catherines Pulsschlag beschleunigte sich.

Jericho stand unbeweglich auf ein und derselben Stelle, bis der

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Kampf entschieden war. Dann mischte er sich unter die Menschenmenge. Catherine sah, daß er jetzt die Beutel in der Hand hatte, die er am Freitag vorbereitet hatte. Er öffnete sie und verstreute die Getreidepollen über die einzelnen Feuerstellen.

„Ihr werdet beschützt werden“, sagte er dabei. „Ihr werdet beschützt.“ Einige Frauen weinten vor Ergriffenheit, und die Männer nickten ihm

ehrfürchtig zu. Catherine erschauerte. Schließlich ging er zurück, um die Sandmalerei vor dem Hogan

auszulöschen. „Das Kunstwerk ist heilig“, erklärte Shadow. „Von ihm darf nach der

Zeremonie nichts mehr übrigbleiben.“ Catherine räusperte sich. „Ist jetzt alles vorbei?“ Shadow nickte. Die „Krieger“ gingen zu ihren Familien zurück, und Catherine

spürte, wie sie sich versteifte, als Jericho zu ihnen herüberkam und sich ihnen auf der anderen Seite des Feuers gegenübersetzte.

Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, wie er ihre Anwesenheit aufnahm, und wartete auf eine höhnische Bemerkung. Er jedoch ließ seine Blicke nur müßig über Ellen schweifen, die daraufhin sofort aufsprang.

„Es gibt gegrilltes Fleisch, gebackene Kartoffeln und gebratenes Brot“, sagte sie.

„Ich nehme ein bißchen Brot. Danke.“ „Ich habe auch noch Pfefferbohnen mitgebracht. Die ißt du doch so

gern.“ „Nett von dir, dran zu denken.“ Noch während er dies sagte, war

sein Blick weiter zu Catherine gewandert. „Hat es Ihnen gefallen?“ fragte er knapp. „Sehr gut.“ Er hob eine Augenbraue Ellen brachte das Brot. Es war ein runder, dünner Fladen, der

bedeckt war mit scharf gewürzten Bohnen, Salatblättern und Tomatenscheiben. Catherine lief das Wasser im Mund zusammen.

„Möchten Sie auch was?“ fragte Shadow. „Ich ... ja, gern.“

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Ihr erster Impuls war, sich nun, da Jericho sich zu ihnen gesetzt hatte, sich mit einer höflichen Ausrede davonzumachen. Die Zeremonie war vorüber, der Zauber verflogen. Catherine begann wieder, sich unwohl zu fühlen. Jericho kaute vor sich hin, wobei er sie unausgesetzt musterte. Würde sie sich jetzt verabschieden, könnte er ihr Weggehen womöglich als Eingeständnis ihrer Niederlage werten. Das durfte sie nicht zulassen. Nachdem alle außer Catherine mit dem Essen fertig waren, erhob sich Shadow. „Ich bin bald zurück“; sagte sie. „ich geh nur kurz zum Feuer der Two-Gray-Hills. Mal sehen, ob mir Casey Red Shirt was über Becenti erzählen kann.“

Catherine hätte sie am liebsten aufgehalten, weil sie Angst hatte, allein hier zurück zu bleiben. Doch Shadow war in der Dunkelheit verschwunden, noch bevor sie ihren Satz ganz beendet hatte.

Catherine starrte auf ihren Brotfladen und versuchte mit aller Kraft, die Hitzewellen, die Jerichos noch immer auf ihr liegender Blick in ihr auslöste, zu ignorieren.

„Sie müssen ihn zusammenrollen“, sagte er. „Wie bitte?“ „Rollen Sie den Fladen zusammen“, wiederholte er ungeduldig.

„Wie einen Taco.“ Sie tat, was er gesagt hatte, doch als sie abbeißen wollte, kullerten vorn

und hinten die Bohnen heraus und landeten auf ihrem Hosenbein. „Verdammt.“

Sie hörte, wie Ellen ein verächtliches Schnauben von sich gab und sah auf. Die Heilerin saß dicht neben Jericho, dessen rechter Mundwinkel sich in einem Fast-Grinsen leicht nach oben bog.

„Schätze, jetzt haben Sie Ihr Souvenir.“ „Gibt es denn hier keine Messer und Gabeln?“ fragte sie verzweifelt. „Bedaure, Katzenauge. Wir sind hier nicht im Ritz. Sie dinieren hier bei

den Wilden. Plötzlich reichte es ihr. Abrupt stand sie mit dem Fladen in der

Hand auf. Sollte er doch aus ihrem Verhalten den Schluß ziehen, sie eingeschüchtert zu haben. Es war ihr egal. Er hatte sowieso keine hohe Meinung von ihr. Mit gehetztem Blick sah sie sich nach Shadow um, um sich für die Einladung zu bedanken und sich zu verabschieden, doch sie konnte sie nirgends entdecken.

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„Ich fahre jetzt“, stieß sie hervor, drehte sich auf dem Absatz um und rannte Hals über Kopf davon. Als. sie an einem Papierkorb vorüberkam, warf sie den vollkommen durchweichten Brotfladen hinein.

Erst als sie ihren Jeep fast erreicht hatte, merkte sie, daß ihr jemand folgte. Sie drehte sich um. Es war Jericho.

„Wollen Sie noch ein paar Ihrer Pfeile abfeuern?“ Aus ihren Augen schossen Blitze, das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Das Mondlicht zeichnete Schatten auf sein Gesicht, die dessen markante Züge noch einmal mehr betonten. Seine Wildheit zog sie an, unwiderstehlich, und sie spürte die Hitze, die er selbst auf diese Entfernung in ihr zu erzeugen vermochte. Der Blick, den er ihr zuwarf, ging ihr durch und durch.

Sie schnappte nach Luft. „Warum haben Sie Ihre Meinung geändert?“ fragte er. „Warum sind

Sie hergekommen?“ Plötzlich gewann sie den Eindruck, als würde ihn ihre Antwort wirklich interessieren, ja, als sei sie sogar wichtig für ihn.

„Weil Richard Moss denkt, daß das sowieso alles nur dummes Zeug ist“, stieß sie hervor.

Er kniff die Augen zusammen. „Wer?“ „Einer von den CDC-Ärzten. Er hat mich am Mittwoch besucht.“ „Und was denken Sie? „Ich denke ...“ Ja, was dachte sie? Es hatte während der

Zeremonie tatsächlich Momente gegeben, da war selbst sie versucht gewesen, an die Existenz eines wolfman zu glauben. Sie hatte sich plötzlich ganz und gar gefangengenommen gefühlt von einer Religion, die nicht die ihre war. Doch mittlerweile war sie wieder in die Realität zurückgekehrt und war überzeugt davon, daß die Menschen der Mystery Disease nach wie vor schutzlos ausgeliefert waren.

Sie schluckte vorsichtig. „Ist doch egal, oder, nicht? Alles, was ich wollte, war, ein bißchen mehr über den Navajoglauben zu erfahren. Ich wollte herausfinden, ob so eine Zeremonie helfen könnte, eine Panikreaktion der Leute zu verhindern, wenn sich herausstellt, daß die Krankheit ansteckend ist.“

Er verzog finster das Gesicht und fluchte. Sie zuckte zusammen. „Sie haben selbst zugegeben, daß Sie glauben...“

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„Das einzige, was ich glaube, Lanie McDaniel, ist, daß Sie verdammt gut daran täten, endlich wieder nach Hause zu fahren.“

Damit wandte er sich um und ging weg. „Warum? Was habe ich denn falsch gemacht?“ rief sie ihm verzweifelt

hinterher. Er kehrte um, kam auf sie zu und trat nah an sie heran. Zu nah.

Catherine riß sich zusammen. „Es geht nicht darum, was Sie getan oder nicht, getan haben. Es

geht um das, was Sie sind.“ „Sie wissen doch gar nicht, was ich bin“, konterte sie. „Und so, wie Sie

es anstellen, werden Sie es auch nie erfahren.“ „Meinen Sie, ja?“ fragte er ruhig. „Wie könnte ich es denn Ihrer

Meinung nach besser machen?“ Faß mich an, durchfuhr es sie. Gleich darauf trat sie, erschrocken

über sich selbst, rasch einen Schritt zurück, wobei sie gegen den Jeep prallte. Sie saß in der Falle.

Er verfolgte jede ihrer Bewegungen mit diesen unergründlichen Augen.

„Ich denke“, sagte er mit seidiger Stimme, wobei er sich ihr wieder näherte, „Sie können sich ganz gut wehren.“

„Wie wehre ich mich denn?“ fragte sie, um Leichtigkeit im Tonfall bemüht.

„Anders als ich es erwartet hätte.“ Sie kämpfte mit gefährlicheren Waffen als mit Seufzern und Schauern und weit aufgerissenen Katzenaugen. Sie kämpfte mit der Zähigkeit eines Pitbull und der Wucht eines Hurrikans.“

Sein Mund war nur noch wenige Zentimeter von dem ihren entfernt. Ausweichen war nicht möglich. Fast panisch schon suchte sie seinen Blick. Würde er das tun, von dem sie dachte, daß er es gleich tun würde? Er schaute auf ihren Mund. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals.

„Willst du, daß ich dich küsse, Katzenauge?“ Kraftlos versuchte sie, den Kopf zu schütteln, aber es mißlang. „Schauerst du deshalb immer so zusammen?“ „Ich... schauere nicht zusammen.“ „Nein? Dann macht es dir ja nichts aus, wenn ich dich küsse. Ich

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habe nämlich Lust dazu. Irgendwie hast du mich verdammt neugierig gemacht. Laß es uns einfach ausprobieren, dann werden wir ja sehen, ob du zusammenschauerst oder nicht, einverstanden?“

„Ihre Arroganz ist wirklich unerträglich...“ Sein Mund legte sich auf ihre Lippen.

Ihr stockte der Atem. Dann begann sie zu beben. Er spürte es auch, und im selben Moment stöhnten sie beide laut auf.

Er berührte sie mit nichts, anderem als mit seinem Mund. Beide Hände an dem Jeep abgestützt, fuhr er mit seiner Zunge langsam über ihre Lippen, teilte sie, und ließ sie begehrlich in ihren Mund gleiten, und in diesem Tun lag ein Versprechen, das ihr einen heißkalten Schauer den Rücken hinabjagte. Er küßte sie hart, doch einen Moment später wurden seine Lippen weich und provozierend.

Langsam bewegte er den Kopf, während er ihren Mund intim erforschte. Eine heiße Welle des Begehrens schoß durch ihren Unterleib, und sie fühlte sich schwach werden. Noch immer glitt seine Zunge über ihre Lippen, ihre Zähne - bis sie schließlich gewahr wurde, daß sie mit ihrer Zunge die seine suchte, um seinen Kuß zu erwidern, seinen Geschmack zu kosten.

Wieder begann sie zu stöhnen und umklammerte mit beiden Händen seine Taille wie einen Rettungsanker. Er schmeckte nach dem heißen Wind, der über die Wüste hinwegfegt, und nach dunklen Geheimnissen. Das ist verrückt, dachte sie einen Moment später und setzte alles daran, dem verheerenden Einfluß seiner Lippen zu entkommen, doch sie konnte ihm nicht widerstehen, sie wollte seinen harten Körper spüren. Plötzlich fühlte sie, wie etwas zersprang in ihr, etwas, das sie die ganze Zeit über schmerzhaft eingeengt hatte. An seine Stelle trat etwas anderes, etwas Gefährliches, etwas, das mehr wollte.

Jericho spürte ihre Wildheit, spürte, wie sie versuchte, ihm nahezukommen, sich an ihn zu schmiegen, doch er mußte verhindern, daß sich ihre Körper berührten. Er mußte die Kontrolle über sich behalten, denn nun, da er es aufgegeben hatte, sie zu verhöhnen, brachte sie ihn fast um seinen Verstand. Er hatte vergessen, was sie war und wer sie war, und wußte, daß es für ihn fast lebensnotwendig war, sie sich vom Leib zu halten.

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Er spürte die innere Hitze, die von ihr ausging - eine Hitze, deren Vorhandensein er schon die ganze Zeit über geahnt hatte. Nun war sie real. Solange er seine Hände auf dem Jeep ließ, würde er sie sich nicht an ihr verbrennen können. Deshalb durfte er sich nicht bewegen. Es ist nur ein Kuß sein, dachte er, nichts als ein Kuß, aber er fühlte sein Verlangen wachsen und sich hilflos dem wilden, heißen Begehren ausgeliefert, das in ihm aufstieg, und plötzlich bemerkte er, daß seine Hände ihren angestammten Platz verlassen hatten und sich in ihre schwarzen, dichten Locken wühlten, während er wie ein Ertrinkender an ihren Lippen hing.

Sie legte den Kopf nach hinten und genoß es voller Hingabe, wie er ihren Hals, ihre Augen und ihre Ohrläppchen liebkoste, dann suchte sie wieder mit ihrem Mund seine Lippen.

„Oh, Gott“, stöhnte sie. Und plötzlich veränderte sich alles. Er brauchte nur einen

Herzschlag lang, um zu erkennen, daß sie mit einemmal anfing, sich gegen ihn zu wehren. Sofort ließ er sie los und trat einen Schritt beiseite. Sein Herz hämmerte wie wild.

Sie taumelte zurück und suchte an dem Jeep Halt. „Warum?“ stieß sie mühsam hervor. „Warum hast du das getan?“ Erst erschien ihm ihre Frage höchst seltsam, doch einen Moment

später verstand Jericho. Er entdeckte in ihren Augen die gleiche Angst, die er selbst auch verspürte.

Seine Entdeckung erschütterte ihn. „War nur ein kleiner Test.“ „Was für ein Test?“ „Das Leben in diesem Land ist wie dieser Kuß, Katzenauge

hart, heiß und gefährlich. Wollte nur mal sehen, ob du das Zeug hast, damit zurecht zukommen.“

„Und?“ fragte sie. Ja. Oh, ja. „Man wird sehen.“ Schnell, bevor ihr womöglich auffiel, daß auch seine Stimme nicht

die gewohnte Festigkeit hatte, wandte er sich ab und verschwand in der Dunkelheit.

Catherine sah ihm hinterher, und es dauerte lange, bis die Schwäche in ihren Beinen nachgelassen hatte und sie in ihren Jeep steigen konnte.

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7. KAPITEL Während der Rückfahrt zitterten ihre Hände noch, immer, und

in ihrem Kopf drehte sich alles. Und obwohl Catherine kaum klar denken konnte, kreisten ihre Gedanken doch immer wieder um dieselbe quälende Frage. Sie hatte sich in Victor so grausam getäuscht. Wie konnte sie dann ihren Gefühlen in bezug auf Jericho Bedonie trauen?

Sie konnte es nicht. Und sie durfte es nicht. Auch wenn sie noch niemals zuvor in ihrem Leben so geküßt worden war.

Er war hart und kompromißlos, sein Zorn war ungezügelt, und er hatte ihr keinen Ausweg offengelassen. Und doch sagte ihr ihr Gefühl, daß er ein guter Mensch war. Sie spürte, daß sie ihm trauen konnte sie war überzeugt davon, daß er sie nicht verletzen würde.

Aber hatte sie das gleiche nicht auch irgendwann von Victor gedacht? Sie hatte ihn für charmant und kultiviert gehalten, für einen Mann, der keiner Grausamkeit fähig war. Und dann hatte er auf sie geschossen.

Als sie die Abzweigung zu ihrem Wohnwagen nahm, spritzte zu beiden Seiten des Wagens der Schotter auf, und sie geriet leicht ins Schleudern, weil sie die Kurve zu schnell genommen hatte. Vollkommen idiotisch, zu dieser Zeremonie zu gehen, dachte sie, ungehalten über sich selbst. Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hatte mit dem Feuer gespielt und sich dabei die Finger verbrannt.

Aber, oh, dachte sie, was für atemberaubende Flammen. Seufzend stellte sie den Jeep ab und stieg aus. Als sie sich ihrem

Wohnwagen näherte, stutzte sie plötzlich und blieb stehen. Die Tür stand offen. Sie schloß die Augen, versuchte nachzudenken. Sie war direkt von der Klinik aus zu der Zeremonie gefahren. Hatte sie am Morgen vergessen, ihre Tür zuzumachen? Sie war sich nicht sicher.

Catherine überlegte einen Moment und ging dann hinüber zu dem Kliniktrailer, dessen Tür sie fest verschlossen vorfand. Wenn jemand auf die Idee gekommen wäre, einzubrechen, dann doch mit Sicherheit in der Klinik. Auf jeden Fall gab es dort mehr zu stehlen als in Ihrem, Wohnwagen.

Es sei denn, es wäre kein normaler Einbrecher gewesen. Victor?

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Diesen Gedanken verwarf sie allerdings postwendend. Er machte keinen Sinn. Weder Victor noch einer seiner Schläger wären so unvorsichtig gewesen, sie durch eine offenstehende Tür zu warnen.

Catherine nahm all ihren Mut zusammen und ging zu ihrem Wohnwagen hinüber. Vorsichtig, sich nach allen Seiten absichernd, ging sie hinein und schaltete das Licht an. Brummend erwachte der Generator zum Leben - ein beruhigendes und mittlerweile schon vertrautes Geräusch.

Alles war an seinem Platz. Shadows Vorhänge bewegten sich leise im Wind, der durch die geöffnete Tür hereinkam. Der Kühlschrank neben dem wackligen Tisch tuckerte, als ginge es ums Ganze, aber das war normal.

Dann fiel ihr Blick auf das Bett. Erschrocken schnappte sie nach Luft.

Auf der bunten Decke, die sie darübergebreitet hatte, kauerte ein dunkler Schatten. Irgendein Tier. Vor Angst richteten sich die feinen, Härchen in ihrem Nacken auf, und ihr erster Gedanke war, ganz einfach wegzurennen. Dann kam ihr Jericho in den Sinn. Das war es, was er von ihr erwartete. Daß sie davonlief. Energisch hob sie das Kinn.

Auf dem Bett lag eine Eule. Sie war tot. Als Catherine sie vorsichtig hochhob, entrang sich ihrer Kehle ein erstickter Schrei. Das Tier war erschossen worden. Unbewußt fuhr Catherine sich mit der freien Hand an die Stelle, wo eine Kugel bei ihr selbst eine Streifwunde hinterlassen hatte.

Die Eule blutete noch. Nein. Das war unmöglich. Trotz ihrer Angst funktionierte ihr logisches

Denken noch ganz gut. Der Vogel war schon kalt und steif, wie konnte es dann angehen, daß er noch blutete? Es konnte sich nur um Farbe handeln.

Gleich darauf machte Catherine jedoch voller Entsetzen eine weitere Entdeckung. Jemand hatte dem bedauernswerten Tier den Schnabel mit einem winzigen Stückchen Stoff zugebunden. Catherines Mund wurde trocken, und sie ließ den Vogel fallen, als ob sie sich an ihm verbrannt hätte.

Was hatte das zu bedeuten? Wußte jemand, wer sie war und warum sie

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hier war? Es schien ihr unglaublich, ja schier unmöglich, und doch wurde sie das sichere Gefühl nicht los, daß die tote Eule eine unmißverständliche Warnung darstellte.

Hatte Victor sie schließlich doch hier aufgestöbert? Oder haßte sie jemand, aus der Reservation so sehr, daß er alles daransetzte, sie zu vertreiben? Wollte man ihr solche Angst einjagen, daß ihre Beine unter den Arm nahm und wegrannte, so schnell sie konnte? Wer konnte das sein? Sie lachte grimmig auf. Ellen natürlich. Oder - welch schrecklicher Gedanke - Jericho womöglich?

Nein. Sie schüttelte den Kopf und preßte ihre Fingerspitzen gegen ihre Schläfen, die begonnen hatten zu hämmern. Jericho konnte es nicht gewesen sein. Er hatte drei Tage lang der Zeremonie. beigewohnt. Außerdem pflegte er seine Meinungsäußerungen nicht durch die Blume kundzutun. Hatte er es ihr doch bereits bei ihrer Ankunft direkt ins Gesicht gesagt, daß sie hier nicht erwünscht war. Nein, Jericho würde gewiß nicht zu einem solch kindischen Mittel greifen, das war nicht sein Stil.

Die Morgenröte überzog den lavendelblauen Himmel mit blassen

pinkfarbenen Schlieren, als Jericho seinen Landrover vor Ellens Wohnwagen zum Halten brachte. Ungeduldig drückte er zweimal auf die Hupe. Es dauerte nicht lange, und Ellen steckte ihren Kopf aus der einen spaltbreit geöffneten Tür. Wenig später kam sie verschlafen zu ihm heraus.

„Was ist?“ „Ich fahre zur Klinik. Wenn du mitfahren willst, mußt du ein bißchen

Gas geben“, sagte er kurzangebunden. Er wirkte angespannt. Ellen schien nicht gerade erfreut. „Warum die

Eile?“ Jericho hatte keine große Lust, sich mit langen Erklärungen

aufzuhalten, aber ihm war auch bewußt, daß er Ellen eine Begründung schuldig war. „Ich habe ein ungutes Gefühl“, bequemte er sich schließlich hinzuzufügen.

Ellens Gesichtsausdruck veränderte sich. „Wegen der Anglo-Ärztin.“ „Richtig.“ „Warum?“ brach es aus ihr plötzlich heraus. „Warum tust du dir das an?

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Hast du noch nicht genug vom letztenmal?“ Er sah sie nicht an. „Jericho! Um Himmels willen! Die Sache mit Anelle hat dich fast

umgebracht. Hast du denn daraus überhaupt nichts gelernt?“ „Doch - auf meinen Bauch zu vertrauen.“ Es war zwar ein mühsamer

Lernprozeß gewesen, aber immerhin, er hatte es gelernt. Wenn er damals auf seine innere Stimme gehört hätte, wäre er niemals auf die Idee verfallen, Anelle das Leben in der Reservation zuzumuten. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal begehen. Und im Moment sagte ihm diese innere Stimme, daß in der Klinik etwas nicht stimmte. Was auch immer es war, er mußte sich beeilen.

Er legte den Gang ein zum Zeichen, daß er die Diskussion für beendet hielt.

„Okay“, willigte Ellen nun ein. „Gib mir fünf Minuten. Ich muß nur noch schnell duschen.

„Dusch bei ihr, wenn wir in der Klinik sind.“ „Lieber würde ich sterben.“ „Wenn du so stur bist wie im Moment, bist du ein echtes Herzchen.“ „Da brauchst du nur in den Spiegel zu schauen“, schnappte sie

und beeilte sich, wieder in ihren Wohnwagen zu kommen. Jericho zählte währenddessen die Wolken am Himmel. Als ihm das zu

langweilig wurde, stöhnte er ungeduldig, sah auf seine Armbanduhr und schloß dann die Augen.

Und wenn Ellen nun doch recht hatte? Wenn das ungute Gefühl, das ihn schon die ganze Zeit über plagte, gar nichts mit der Klinik zu tun hatte, sondern ihn einfach nur vor Lanie McDaniel warnen wollte? Wenn ihm seine innere Stimme zu sagen versuchte, daß er die Sache beenden sollte, noch bevor sie richtig angefangen hatte? Ehe diese tödliche Faszination, die sie auf ihn ausübte, ihn zerstören konnte? Kurz nachdem sie gestern Abend weggefahren war, hatte er dieses ominöse Gefühl zum erstenmal verspürt. Und es hatte ihn die ganze Nacht über gequält, was es ihm fast unmöglich gemacht hatte zu schlafen. Früh in der Morgendämmerung war er dann aufgestanden, weil er es nicht mehr ausgehalten hatte.

Er konnte sich nicht trauen. Er durfte es nicht wagen, sich zu trauen. Ellen hatte recht. Einmal war genug. Wenn er damals rechtzeitig

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eingesehen hätte, daß Anelle einfach zu zart und zu zerbrechlich war für das harte Leben, das sie an seiner Seite erwartete, wäre womöglich alles anders gekommen.

Nachdenklich rieb er sich das Kinn. Was, zum Teufel, verführte ihn bloß dazu, zu glauben, daß Lanie stark und robust und zäh genug wäre, um in diesem Land überleben zu können? Stadtmädchen bleibt Stadtmädchen. Er hatte sich bereits einmal geirrt.

Wenig später kam Ellen, das Haar vom Duschen noch naß und einen Becher Kaffee in der Hand, heraus. Er lehnte sich zur Beifahrertür hinüber und stieß sie auf.

Catherine hatte die Nacht schlaflos auf einem Stuhl sitzend verbracht.

Sie hatte es weder gewagt, die tote Eule vom Bett zu nehmen noch gar sich hineinzulegen. Quer über ihrem Schoß lag ein dicker Stock, den sie sich gesucht hatte, um für den Fall, daß sich hier noch immer jemand herumtrieb, wenigstens nicht ganz wehrlos zu sein.

Als sie einen Wagen vorfahren hörte, stand sie auf. Ihr Rücken schmerzte höllisch, und ihre Augen brannten.

Als sie aus der Tür ihres Wohnwagens trat, sah Jericho sofort, daß mit ihr etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“ erkundigte er sich, und seine Stimme klang gepreßt. „Was ist passiert?“

Sie versuchte zu antworten, doch sie brachte keinen Ton heraus. Er schüttelte sie leicht und ging dann an ihr vorbei in den Wohnwagen. Catherine folgte ihm. Beim Anblick der Eule blieb er so ruckartig stehen, daß sie in ihn hineinrannte.

„Sie ist tot“, murmelte sie, die Stimme rauh. Er fluchte. „Was du nicht sagst.“ Hinter ihnen waren Schritte auf der Treppe zu hören, und als sie sich

umdrehten, sahen sie Ellen in der Tür stehen. In ihren Augen stand die blanke Qual.

Die jähe Erkenntnis traf Catherine wie ein Blitzschlag. Ellen liebte Jericho.

Hatten sie die Nacht miteinander verbracht? Und wenn schon, was ging es sie, Catherine, an? Der Kuß war ein Test gewesen, wie sie reagieren würde, nicht mehr. Das hatte er selbst gesagt.

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„Was ist los?“ fragte Ellen. Jericho deutete auf das Bett. Als Ellens Blicke seinem ausgestreckten

Zeigefinger folgten, wich plötzlich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Sie taumelte ein paar Schritte zurück.

„Was, zum Teufel, geht hier vor?“ wunderte sich Catherine. Ihr hatte man den Vogel hingelegt. Warum waren sie dann so erschrocken?

„Ellen, hol eine Schachtel.“ Jericho nahm Catherine den Stock, den sie noch immer in Händen hielt, aus der Hand. „Gib her.“

Er ging nicht näher an die Eule heran, als er unbedingt mußte. Dann berührte er sie mit dem Stock und drehte sie herum. „Man hat sie erschossen.“

„Das hätte ich dir gleich sagen können.“ „Wie konntest du das denn wissen?“ Perplex schaute sie ihn an. „Weil ich sie mir angeschaut habe. Hier...“

Sie trat näher und streckte die Hand aus. „Faß sie nicht an!“ Sie schrak zurück. Der Ton seiner Stimme verursachte ihr eine

Gänsehaut. „Ich ... ich verstehe nicht...“ Er sah sie an. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. „Für die Navajos ist eine Eule ein Todeszeichen. Wenn man von

einer Eule träumt oder nachts eine rufen hört, weiß man, daß jemand sterben wird, der einem nahe steht.“

„Aber die hier ist doch tot“, wandte sie ein. Er antwortete nicht. Da verstand sie. „Heißt das, daß ich sterben werde?“ flüsterte sie

entsetzt. Ellen tauchte mit einer Schachtel in der offenen Tür auf, die sie in

Jerichos Richtung warf. Sie landete vor seinen Füßen, und er schob sie mit seiner Stiefelspitze hinüber zum Bett. In diesem Moment wußte Catherine, daß es keiner von ihnen gewesen war, der ihr den Vogel hingelegt hatte. Sie waren beide zu offensichtlich schockiert.

Jericho schob die Eule mit dem Stock vom Bett herunter, und sie landete mit einem dumpfen Aufprall in der Schachtel. „Mit wem bist du in letzter Zeit übel umgesprungen, Katzenauge?“

Skeptisch sah sie ihn an. „Die hier Anwesenden ausgeschlossen?“ Seine Mundwinkel zuckten. „Ja.“

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„Da fällt mir niemand ein.“ „Hast du jemandem das Leben gerettet, dem es eigentlich vorbestimmt

war zu sterben?“ „Du weißt, daß es nicht so ist.“ Plötzlich dämmerte ihr, worauf er

hinauswollte. „Du glaubst, daß ich dem wolfman in die Quere gekommen bin, stimmt's? Du vermutest, daß ich mir seinen Zorn zugezogen haben könnte.“

Ellen erbleichte. „Er wird uns alle holen“, flüsterte sie. „Wenn hier, in der Klinik etwas geschehen ist, was ihn aufgebracht hat ...“

Catherine mochte Ellen zwar nicht, aber dennoch fiel es ihr schwer mit anzusehen, welche Höllenqualen der Angst die Krankenschwester litt.

Sie, Catherine, wußte sehr gut, daß nicht der wolfman für dies hier verantwortlich war, sondern vielmehr Victor. Sie setzte zu einer Erklärung an, sagte dann aber doch nichts.

Sie konnte Ellen Lonetree nicht trauen, ebensowenig wie sonst jemandem hier, es könnte sie das Leben kosten. Hilflos preßte sie die Lippen aufeinander.

„Was ist?“ fragte Jericho. Er hatte bemerkt, daß sie etwas hatte sagen wollen. Mit einemmal erschien es ihr, als könnte er ihre Gedanken lesen, wenn sie ihm nur genug Zeit dazu geben würde.

„Nichts“, flüsterte sie. „Ich ... ich denke nur ... du bist auf dem Holzweg.“

In seinen Augen blitzte etwas auf. Hatte er Verdacht geschöpft? Ihre Kehle fühlte sich plötzlich an wie zugeschnürt.

„Ja?“ fragte er zu mild. „Was für eine Theorie hast du denn?“ „Es gibt schrecklich viele Leute, die mich nicht hier haben wollen“,

brachte sie heraus. „Vielleicht will mir ja nur jemand einen Schreck einjagen.“

„Niemals mit solchen Mitteln. Es sei denn, es wäre ein wolfman. Catherine zuckte hilflos die Schultern.

Jericho lugte in die Schachtel. „Und das Ding um seinen Schnabel sagt dir auch nichts?“ „Ich... nein.“ Er sah sie wieder scharf an, doch dann nahm er wortlos die

Schachtel und trug sie zur Tür. Ellen sprang ängstlich zur Seite, und Catherine folgte ihm.

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„Was hast du damit vor? „Verbrennen. Und über der Asche einen Gesang abhalten.“ Er legte

die Schachtel draußen auf den Boden und sah Ellen an. „Ich brauche Streichhölzer. Sind drüben in der Klinik welche?“

„Ich gehe nachsehen.“ Damit eilte sie davon. „Hier? Jetzt?“ Catherine überlegte fieberhaft. Brauchte sie den Vogel

oder das Stückchen Stoff womöglich noch als Beweismittel? Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, weshalb, aber ganz ausgeschlossen war es nicht.

„Der Vogel darf auf keinen Fall hierbleiben“, erklärte Jericho kategorisch. „Der wolfman würde zurückkommen. Wolfmen haben nicht die Angewohnheit, irgendwelche Sachen von sich herumliegen zu lassen. Er käme mit Sicherheit zurück.“

„Dann wüßten wir wenigstens, wer es ist.“ Er kniff die Augen zusammen. „Er würde nicht in menschlicher

Gestalt kommen.“ In Catherines Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander.

Wie ernsthaft Jericho das sagte. Wieder hatte sie das Gefühl, daß ihr die Realität zwischen den Fingern hindurchrieselte wie Sand.

„Was wirst du singen?“ brachte sie schließlich mühsam heraus. „Machst du eine richtige Zeremonie?“

„Nein. Für das hier brauche ich nur einen einzigen Gesang.“ „Wird er wirken?“ „Ist das wichtig für dich?“ Ja, dachte sie. Ja, es war wichtig. Selbst in Anbetracht dessen,

daß der Feind Victor war, konnte sie doch alle Hilfe brauchen, die sie nur bekommen konnte, auch wenn es nur Indianerhokuspokus war.

Während sie nickte, fühlte sie sich plötzlich beschämt. „Entschuldige“, sagte sie leise. Er hob die Augenbrauen. „Was?“ „Daß ich so skeptisch bin. Wenn ich gläubig wäre, würde es mich

wahrscheinlich auch auf die Palme bringen, wenn mir ein Atheist ständig erklären würde, daß es keinen Gott gibt.“

Er sagte eine so lange Zeit nichts, daß sie schon damit rechnete, daß er ihr überhaupt nicht antworten würde. Seine Blicke schweiften über die zerklüfteten Berge, die sich vor dem Horizont erhoben. Schließlich

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atmete er seufzend aus. „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf, Katzenauge. Dies hier ist ein

fremdes Land mit uralten Sitten und Gebräuchen. Ihr in der Stadt habt Hexen und Geister. Bei uns gibt es eben wolfmen und chindis. Deine Leute reden nicht über die Geister, vor denen sie sich fürchten, meine dagegen akzeptieren sie als etwas, das zu ihrem Leben dazugehört. Manchmal ist es schwierig, die Grenzen zu ziehen, sogar für uns.“

Catherine rang sich ein schwaches Lächeln ab. „Nun, ich glaube aber auch nicht an Hexen und Geister.“

Ellen brachte die Sachen, die er brauchte, und Catherine trat einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen. „Ich könnte ja jetzt Eddie Begay den Wagen zurückbringen“, schlug sie schließlich vor.

Jericho, der inzwischen das Feuer angezündet hatte, sah auf. „So? Und wie willst du ihn finden?“

„Shadow hat gesagt, daß er in einer Werkstatt in Shiprock arbeitet.“ „In welcher?“ „Wie viele gibt's denn dort?“ „Drei.“ Sie war leicht verunsichert. „Dann frage ich mich eben durch.“ Die Wahrheit war, daß sie dringend telefonieren mußte und nicht

wagte, dieses Gespräch von der Klinik aus zu führen. Das Feuer brannte nun lichterloh. Der aufsteigende Gestank

verursachte ihr Übelkeit. „Und wie kommst du zurück?“ erkundigte er sich. Catherine zögerte. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. „Warte noch fünf Minuten, dann komme ich mit.“ Panik machte sich in ihr breit. Hundert Meilen mit ihm zusammen

eingesperrt in seinem Rover? Das hielt sie nicht aus. Außerdem durfte er keinesfalls dabeisein, wenn sie telefonierte. Würde sie andererseits sein Angebot ablehnen, wüßte sie in der Tat nicht, wie sie wieder hier herauskommen sollte.

„Ich kann ja schon mal vorausfahren, und wir treffen uns dann dort“, schlug sie vor.

Er nickte. „Die Werkstatt ist bei der Exxon-Tankstelle.“ „Okay.“

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In Shiprock hielt Catherine vor der ersten Telefonzelle, an der sie

vorbeikam. „Horace Shilling“, verlangte sie, nachdem sich am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme gemeldet hatte. Wenig später nahm ein Mann ab. „Hier ist Catherine Landano“, sagte sie.

Es knisterte in der Leitung. Schweigen. „Wo, zum Teufel, stecken Sie denn?“ kam es schließlich ungehalten.

Catherine fühlte Ärger in sich aufsteigen. „Mir blieb ja nichts anderes übrig, als mich selbst in Sicherheit zu bringen“, sagte sie widerborstig. „Mit Ihren Jungs bin ich ja nicht allzugut gefahren.“

Er äußerte sich nicht weiter dazu. „Wo sind Sie?“ wiederholte er. „Am Leben. Wo ist Victor?“ „Hier in Boston.“ „Sind Sie absolut sicher?“ „Seine Kaution ist futsch, wenn er die Stadt verläßt.“ Catherine lachte bitter auf. Das würde Victor gewiß nicht von einer

Sache abhalten, die er sich in den Kopf gesetzt hatte. „Wann ist die Gerichtsverhandlung?“ fragte sie dann.

„Am siebzehnten Dezember.“ „Was wird verhandelt? Nur der Mordversuch an mir oder alles

zusammen?“ „Wir sind noch immer dabei, Beweise für die Sache mit dem

Senator zusammenzutragen.“ „Versuchen Sie herauszubekommen, ob er sich gestern und heute in

Boston aufgehalten hat. Ich habe das Gefühl, er verfolgt mich. Und wenn nicht er es ist, hat er mir einen seiner Komplizen hinterhergeschickt.“

„Hinterhergeschickt! Wohin denn?“ versuchte Schilling sie auszuhorchen.

„Ich rufe Sie nächste Woche wieder an.“ Damit legte sie. auf. Das ungute Gefühl, das sie seit gestern abend

verspürte, war nicht von ihr gewichen. Als sie die Telefonzelle verließ, stand Jericho auf der

gegenüberliegenden Straßenseite in der offenen Tür eines Coffeeshops und sah zu ihr herüber.

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8. KAPITEL Catherine wartete ängstlich darauf, daß er den Telefonanruf

erwähnen würde, aber er tat es nicht. „Du brauchst eine Waffe“, sagte er statt dessen irgendwann.

Überrascht sah sie ihn an. „Ich dachte, Waffen seien in der Reservation verboten.“

Ein Muskel an seinem Kiefer spannte sich. „Mittlerweile kann man eine Sondererlaubnis beantragen.“

„Ah, ja.“ Catherine sah durchs Fenster die Sagebrush-Büsche vorüberfliegen. Sie entspannte sich. „Eine Waffe wofür? Kann man einen wolfman denn erschießen?“ fragte sie mit gespielter Naivität.

Doch Jericho schien über ihre Frage ernsthaft nachzudenken. „Nein“, erwiderte er schließlich. „Nicht wirklich. Man kann ihn nur durch einen Zauberspruch oder durch Feuer zerstören. Aber du willst ja schließlich keinen wolfman erschießen, oder?“

Sie zuckte zusammen und suchte nach einer, passenden Antwort, doch ihr fiel nichts ein. Die Angst, mit der sie so lange gelebt hatte, hatte sie wehrlos gemacht. Dann erwog sie, Unverständnis vorzutäuschen, aber sie machte sich nichts vor. Es würde ihr nicht gelingen, Jericho Bedonie ein X für ein U vorzumachen. Unaufrichtigkeit würde sein sowieso vorhandenes Mißtrauen wieder von neuem schüren, und er würde sofort jede Verbindung zu ihr abbrechen.

Diesen Gedanken fand Catherine unerträglich. Wenn er sich von ihr abwandte, würde er eine klaffende Lücke in ihr hinterlassen. Zweifellos lag es auf der Hand, daß ihre seltsame Beziehung keine Zukunft hatte. Und doch glomm in ihr ein winziges Hoffnungsfünkchen, an das sie sich klammerte wie an einen Strohhalm. Trotz alledem. Und trotz Ellen. Die ihn liebte und die nicht wie sie, Catherine, aus einer ihm fremden Welt kam.

„Nein”, hörte sie sich schließlich ruhig sagen. „Wen dann?“ Sie rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht

sagen.“

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Er musterte sie einen Augenblick scharf. Zu scharf. Dann nickte er überraschenderweise. „Okay.“

Sie erkannte, daß er bereit war, ihr Schweigen zu respektieren. Er war bereit, die Intimsphäre, die er für sich selbst beanspruchte, einem anderen ebenso einzuräumen.

„Wie auch immer, jedenfalls solltest du deine Rechnung nicht ohne den wolfman machen“; riet er ihr. „wolfmen wissen alles.“

„Ich verstehe nicht ganz...“ „Wer immer er ist, er weiß auch das, was du mir verschweigst.“ Ihr

Herz machte einen ängstlichen Satz. „Das ist ganz unmöglich.“ Er hob die Brauen. „Denk doch mal an eure Geister.“

„Ich habe dir schon gesagt, daß ich nicht an Geister glaube.“ „Macht ja nichts. Aber sie sind doch allmächtig, oder etwa nicht?“ Sie nickte widerstrebend. „Und dasselbe gilt für wolfmen.“ Ein paar Tage später tauchte er an einem Spätnachmittag - Ellen war

bereits mit Shadow nach Hause gefahren und Catherine putzte einen der hinteren. Räume - in der Klinik auf und erklärte, ihr das Schießen beibringen zu wollen.

„Wohin fahren wir?“ erkundigte sie sich, als sie schließlich neben ihm in seinem Landrover saß.

„Es gibt etwa eine Viertelmeile von hier einen kleinen Canyon mit steil abfallenden Felswänden - gut geeignet für Schießübungen.“

Nachdem sie den Canyon erreicht hatten, stellte Jericho den Wagen ab, und sie kletterten, einen steilen Abhang hinab. Als sie unten angelangt waren, sah Catherine sich um. Der Canyon war nicht breiter als ein Häuserblock und etwa dreimal so lang. An den Seiten war er von hohen, roten, zerklüfteten Felswänden eingeschlossen. Ausgedörrtes Wacholdergestrüpp bedeckte den Boden.

Weit und breit war keine Menschenseele. Catherine verspürte ein Prickeln auf der Haut. Sie war mit Jericho ganz allein, abgeschnitten von jeglicher Zivilisation.

Nachdem er ihr den Revolver in die Hand gedrückt hatte, förderte er aus seiner Jackentasche Munition zutage und hielt sie ihr hin. „Also los, zeig; was du kannst, Katzenauge.“

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Sie hob das Kinn. „Klar doch.“ Während sie den Revolver lud, spürte sie, wie sich seine Hand auf ihr

Haar legte. Als er es mit seinen Fingern durchzukämmen begann, fing ihr Herz

an zu rasen. Sie sah zu ihm auf, und ihr Mund wurde trocken. Beabsichtigte er, sie wieder zu küssen? Und falls ja, würde sie es zulassen?

Ja. Gott helfe ihr, aber sie wollte es wirklich. Es gab nichts, wonach sie sich mehr sehnte, obwohl es vollkommen verrückt war, etwas mit ihm anzufangen. Sie hatte zu viele Geheimnisse vor ihm. Und er hatte Ellen. Doch nun, da sie ihn ansah, spielte das alles keine Rolle mehr.

Plötzlich wurde ihm klar, daß er noch nicht viel Zeit mit ihr im Freien verbracht hatte. Das war wohl der Grund dafür, daß ihm bisher nicht aufgefallen war, daß sie ihr Haar gefärbt hatte. Nun bemerkte er zum erstenmal den kupferrot leuchtenden Haaransatz, der ihn an das Feuer erinnerte, das er mit seinem Kuß in ihr entfacht hatte. Sein Magen krampfte sich zusammen.

„Was ... was machst du denn da?“ fragte sie. „Es ist ja gar nicht wirklich schwarz.“ Wieder suchte sie als erstes nach einer Ausflucht, und wieder

erkannte sie, daß ihr das nichts nützen würde. „Nein.“ Er hatte gar nicht die Absicht gehabt, sie zu küssen. Sie blickte auf den

Revolver, in ihrer Hand und rief sich zur Ordnung. Sie war hier, um schießen zu lernen.

Als sie das Magazin herunterdrückte, sprangen die Kugeln heraus und landeten im Sand. Jericho gab ein ungeduldiges Schnauben von sich, doch in Wahrheit war er froh über die Ablenkung. Er bückte sich, um die Munition aufzuheben. Im selben Moment ging auch sie in die. Hocke, und ihre Hände trafen sich auf dem Sandboden.

Sie hielt absolut still, als seine Hand statt der Kugeln ihre fest umschloß. Er glaubte, ihr Herz klopfen zu hören. Aber vielleicht war es auch sein eigenes.

Verdammt, dachte er und verfluchte sie im stillen für das, was sie in ihm anrichtete.

Ganz langsam hob sie schließlich den Kopf und sah ihn an. In ihren

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großen, grünen Augen tanzten winzige goldene Pünktchen. „Frag diesmal nicht“, stieß sie hervor. „Tu’s einfach. Ich hab Angst, ja

zu sagen.“ Eine unsichtbare Faust rammte sich in seine Magengrube. Er ermahnte sich, standhaft zu bleiben und ihr den Revolver zu laden.

Stattdessen fand er seine Hand in ihrem Nacken wieder. Er zog sie näher zu sich heran. Zu seiner Rechtfertigung sagte er sich, daß er ihr hätte widerstehen können - wenn sie nicht ihre atemlose Zustimmung gegeben hätte. In Wahrheit allerdings wußte er, daß sie ihn anzog wie das Licht die Motte.

Daß sie gnadenlos versengte. Er küßte sie - zu hart, zu strafend. Catherine keuchte, aber es war

kein Protest. Sein Kuß war wie alles an ihm, hart und selbstbewußt, wild und gefährlich. Er erzeugte in ihr eine Begierde und Leidenschaft, wie sie sie noch niemals in ihrem Leben kennengelernt hatte.

Als sie sich an ihn preßte, glitt ihr der Revolver aus der Hand und fiel zu Boden. Blind tastete sie im Sand danach, um sich daran festzuklammern, während seine Zunge versuchte, sich einen Weg zwischen ihren Zähnen hindurch zu bahnen. Sie öffnete sie und begegnete mit ihrer Zunge der seinen, wobei sie sich noch enger an ihn preßte, bis er schließlich seine Arme hob und sie fest an sich zog.

Samt und Stahl, dachte sie und erschauerte. Mit einem rauhen Aufstöhnen drückte er sie nach hinten. Einen

Moment später lag sie auf dem Rücken im Sand. Als sie die süße Last seines Körpers auf sich spürte, wußte sie, daß es das war, wonach sie sich die ganze Zeit so schmerzhaft gesehnt hatte. Er ließ von ihrem Mund ab und zog mit seinen Lippen eine feurige Spur heißer Küsse an ihrem Kinn entlang hin zu ihrem Ohrläppchen, das er zwischen die Zähne nahm. Mit einem leisen Aufschrei wühlte sie die Hände tief in sein Haar, als er zärtlich hineinbiß.

Es war so schwarz wie ein See in der Finsternis und so weich wie sein Atem, den sie heiß an ihrem Hals spürte. Sie kämmte mit ihren Fingern die seidigen Strähnen, und der Beweis seines Begehrens, der hart gegen ihren Bauch drängte, entfachte in ihr ein wildes Feuer, das sie zu verzehren drohte. Sie wollte ihn, wollte ihn ganz, wollte alles von ihm, alles, was er bereit war, ihr zu geben, egal, ob es vernünftig war

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oder nicht. Sie keuchte, als seine Hand über ihre Hüfte wanderte, die Rippen

hinauf zu ihrer Brust, um sie gleich darauf besitzergreifend zu umschließen. Sie hob sich ihm entgegen, preßte die Brust in seine Handfläche. Er gab ein Geräusch von sich, das zur Hälfte ein Stöhnen war und zur anderen der hilflose Fluch eines Mannes, der weiß, daß er verloren ist. Dann zerrte er ihr die Bluse aus der Jeans.

„Okay, Katzenauge, bringen wir’s hinter uns. Anscheinend sind wir beide völlig von Sinnen.“

Sie stöhnte unartikuliert, dann plötzlich erstarrte sie. Ihre Verletzung. Wenn er sie auszog, hier im hellen Tageslicht, würde er sie

unweigerlich entdecken. Erschrocken stieß sie seine Hände beiseite. „Bitte. Nein. Ich ... kann nicht.“

Verdutzt richtete er sich auf, und einen Moment später verdunkelten sich seine Augen vor Ärger. „Könnte schwören, daß du mich gebeten hast, dich nicht zu fragen.“

„Ja ... nein.“ Ihre Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, und in ihren Augen brannten Tränen.

Eines Tages, wenn es vorüber war, könnte sie ihm vielleicht alles erzählen. Aber nicht jetzt. Es war nicht allein ihre Angst, die es ihr unmöglich machte, die Wahrheit zu enthüllen. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie ihn auch deshalb nicht einweihen durfte, weil sie ihn dadurch unter Umständen in Gefahr brachte. Victor würde nicht zögern, einen weiteren Mitwisser auszuschalten.

„Tut mir leid“, sagte sie schwach und griff zu ihrer Verteidigung nach dem letzten Strohhalm. „Ich dachte nur an einen Kuß. Weiterzugehen hatte ich niemals vor.“

Seine Augen verengten sich. „Aber sicher hattest du das. Du bist doch schon ein großes Mädchen.“

Catherine zuckte zusammen. Natürlich hatte er recht. Sie hatte von Anfang an gewußt, worauf die

Sache diesmal hinauslaufen würde. Und sie hatte es gewollt. Hatte sich danach gesehnt. Bereits während der Zeremonie war etwas in ihr aufgebrochen, das sie nicht länger unter Kontrolle halten konnte.

Dabei hatte sie vergessen, daß Victor sie für immer gebrandmarkt hatte.

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Blind tastete sie nach der Waffe und rappelte sich auf. Es war ebenso verrückt gewesen, mit ihm hierherzukommen, wie es auch verrückt gewesen war, zu dieser Zeremonie zu gehen und sich anschließend im Mondschein von ihm küssen zu lassen. Sie würde tun, was sie sich vorgenommen hatten, und dann würde sie nach Hause gehen.

Er war offensichtlich schon vorher hier gewesen und hatte in der Mitte des Canyons auf einem Felsblock zehn Flaschen als Zielscheiben, aufgestellt. Wild entschlossen lud sie den Revolver und zielte. Mit angehaltenem Atem, ein Auge zugekniffen, zog sie den Abzugshahn durch. So pustete sie eine Flasche nach der anderen von dem Felsblock hinunter. Als sie fertig war, lud sie die Waffe erneut und drehte sich nach ihm um. Jericho stand mit verblüfftem Gesichtsausdruck hinter ihr und starrte auf die zerschossenen Flaschen.

Plötzlich konnte sie nicht mehr an sich halten und brach in ein Lachen aus; sie lachte und lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen rollten und der Bauch weh tat. Ihre Nerven lagen bloß.

Verwundert riß Jericho seinen Blick von den Flaschen los und richtete ihn auf sie. Was war bloß los mit ihr? So hatte er sie noch niemals vorher gesehen. Gern hätte er seinen Zorn auf sie weiterhin kultiviert, doch er fand keinen Grund.

„Nicht schlecht“, mußte er zugeben. „Aber auch nicht gut.“ Sie holte tief Luft. „Normalerweise schieße

ich schneller, aber ich bin schon ziemlich lange aus der Übung.“ „Wer hat dir das Schießen beigebracht?“ Seine Stimme war rauh, er

mußte sich räuspern. Er sah ihr Zögern, ihr Lächeln verblaßte. Sein Zorn flackerte wieder

auf. „Noch mehr Geheimnisse, Katzenauge?“ „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“ Hier stand sie auf sicherem Grund. Ihre Kindheit hatte nichts mit

Victor zu tun. Darüber konnte sie ruhigen Gewissens reden. „Mein Vater war früher bei der Polizei“, sagte sie mit Wärme in der

Stimme. „Er war immer der Ansicht, daß Paddys Mädchen lernen müssen, allein auf sich aufzupassen.“

Fragend hob er die Augenbrauen. „Paddys Mädchen“ wiederholte er. „Paddy ist mein Vater. Ich habe fünf Schwestern.“

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Er versuchte den Anschein zu erwecken, nur mäßig an dem, was sie sagte, interessiert zu sein. In Wahrheit jedoch hörte er widerwillig fasziniert zu. Was sie ihm im Moment erzählte, war das Privateste, was sie bisher von sich preisgegeben hatte. Aber natürlich hatte er ihr bisher auch noch nicht viel Gelegenheit gegeben, von sich zu erzählen.

„Deine Leute scheinen ja ziemlich fortpflanzungsfreudig zu sein“, brummte er.

„Wir sind irische Katholiken“, sagte sie, als wäre das einer Erklärung genug.

„Die Iren halten anscheinend nicht viel von Geburtenkontrolle, wie?“ brummte er.

„Ich würde eher sagen der Papst. Wie ist das bei den Navajos?“ „Nur wolfmen häufen alles Mögliche an - auch Kinder.“ „Aber du

hast doch auch eine Schwester.“ „Zwei Kinder sind bei uns so etwa die Norm. Und du? Hältst du dich an

alles, was der Papst sagt?“ „Nein. Aber eine große Familie habe ich mir eigentlich immer

gewünscht. Eine ganze Bande Kinder um den Eßtisch - das stelle ich, mir schön vor.“

Er schüttelte den Kopf. „Kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Catherine schlug den Rückweg zum Wagen ein. „Und deine Mutter?“ fragte er hinter ihr. „Sie ist tot. Paddy hat sein ganzes Leben lang viel gearbeitet und

viel getrunken, aber Mom ist es immer gelungen, ihn unter Kontrolle zu halten. Bei der Geburt von Erin - meiner jüngsten Schwester - ist sie gestorben. Kelly und Elaine - sie sind die beiden ältesten - hatten gerade das Haus verlassen, weil sie geheiratet hatten. Also mußte ich schnell erwachsen werden. Ich...“

„Elaine?“ fragte er. Catherine zögerte. „Ja. Sie ist vier Jahre älter als ich.“ „Elaine und Lanie. Zwei Schwestern mit dem gleichen Namen. Bei

euch Iren scheinen ja seltsame Sitten und Gebräuche zu herrschen.“ „Lanie ist die Abkürzung für Delana.“ Das war die Wahrheit. Ihre

Großmutter hatte Delana geheißen. Dennoch fühlte sie, wie Verlegenheit ihr das Blut in die Wangen trieb, und sie ging rasch weiter.

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„Du mußtest also rasch erwachsen werden“, knüpfte er einen Moment später da wieder an, wo sie stehengeblieben waren.

Catherine zuckte die Schultern. „Ich mußte mich ja um meine drei jüngeren Schwestern kümmern. Also blieb mir nichts anderes, als die Schule an den Nagel zu hängen.“

„Ich denke, du hast Medizin studiert?“ „Als Daddy draufkam, ging er an die Decke und hörte auf der Stelle

mit seiner Trinkerei auf, die nach dem Tod meiner Mutter schlimme Formen angenommen hatte. Er fing an, sein Geld zusammenzuhalten und stellte eine Haushälterin ein, so daß ich wieder zur Schule gehen konnte. Kurz darauf bekam ich die ersten Stipendien.“

Er war fast bereit, ihr zu glauben. Aber nur fast. Mittlerweile waren sie bei seinem Landrover angekommen.

„Und? Ist er noch immer trocken?“ fragte er. Überrascht sah sie ihn an. „Wer? Was?“ „Dein Vater. Trinkt er nicht mehr?“ „Oh. Ich weiß nicht.“ Catherine kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Wie sollte

sie ihm erklären, daß sie seit einigen Jahren, nachdem sie in Studium geschmissen und Victor geheiratet hatte, keinen Kontakt mehr zu Paddy hatte?

Sie straffte die Schultern. „Kann ich den Revolver behalten?“ lenkte sie ab.

Er musterte sie eindringlich, dann lehnte er sich durch das offene Fenster des Wagens und förderte eine Schachtel Munition zutage. „Du lügst, Katzenauge“, sagte er mild.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein.“ Vielleicht log sie ja doch nicht, vielleicht erzählte sie ihm einfach nur die

halbe Wahrheit. Wie auch immer, er würde versuchen, es herauszufinden.

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9. KAPITEL Catherine konnte sich nicht konzentrieren. Geistesabwesend starrte sie auf die Fallnotizen, die sie auf der

Treppe vor der Klinik vorgefunden hatte, als sie am Morgen kam. Richard Moss schien hiergewesen zu sein. Zumindest vermutete sie das, weil auch Lisa Littlehorns Patientenkartei den Unterlagen, die eine Menge Informationen über die Mystery Disease enthielten, beigefügt war.

Sie war spät dran gewesen heute morgen. Die Nacht hatte sie fast schlaflos verbracht, und wenn sie kurz eingeschlummert war, hatten wirre Träume sie gequält, in denen sie Jerichos Mund vor sich sah, dazwischen blitzten Bilder von der toten Eule auf, die verwoben waren mit Gesprächsfetzen aus ihrem gestrigen Telefonat mit Schilling.

Mittlerweile begann sie sich zu fragen, warum sie eigentlich davongelaufen war. Wo ihr doch Schilling ausdrücklichen Schutz zugesichert hatte. Das Problem war gewesen, daß sie nach Victors Mordanschlag das Vertrauen in die FBI-Agenten verloren hatte. Sie war plötzlich ins Zweifeln geraten, daß sie sie im Fall eines Falles vor dem Zugriff Victors würden bewahren können. Deshalb war sie geflohen, ohne Schilling zu sagen, wohin.

Jericho. Sie schloß die Augen und spürte wieder seine Hände auf ihrer

Brust, seine Zähne an ihrem Ohrläppchen, seinen Atem an ihrem Hals. Dann hörte sie das unverkennbare Klacken seiner Stiefelabsätze draußen auf der Treppe.

Ihr Puls begann sich zu beschleunigen, und sie beugte sich rasch wieder über ihre Unterlagen.

„Du siehst ja schlimm aus“, sagte er zur Begrüßung. Das brachte sie wieder in die Realität zurück. „Du würdest nicht anders

aussehen, wenn dir jemand eine tote Eule ins Bett gelegt hätte.“ Er hob seine Schulter. „Zweifellos. Hör zu, ich brauche dich.“ Ihr Herz begann zu hämmern. „Warum? Wofür“ „Ellen ist bei ihrem Freund in Albuquerque“, sagte er und fügte

unnötigerweise hinzu: „Es ist Samstag.“ Catherines Gedanken wirbelten wild durcheinander. Worauf wollte:

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er hinaus? Fühlte er sich ohne Ellen womöglich allein? Diese Idee verwarf sie jedoch sofort wieder. Jericho war ein Mann, der sich nicht so schnell einsam fühlte.

Sie schluckte vorsichtig. „Ich ... ich glaube nicht ... ich ...“ Seine Augen verengten sich, und sie brach ab. „Na los, raus damit. Was glaubst du nicht?“ Entschlossen hob sie das Kinn, ihre Augen blitzten. „Okay. Ich

habe einfach keine Lust, den Lückenbüßer zu spielen, wenn deine Freundin nicht da ist, verstehst du?“

„Meine was?“ „Deine Freundin, Geliebte oder wie auch immer ihr hier in der

Gegend dazu sagt.“ Verdutzt sah er sie an, dann verfinsterte sich sein Gesicht. „Und wenn

sie es wäre - damit sage ich nicht, daß sie es ist -, wie erklärst du es dir dann, daß ich dich geküßt habe?“

Catherine wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Gott, wie hatte sie ihn nur so falsch einschätzen können? Als sie ihn nun ansah, wurde ihr klar, daß er mit Sicherheit nicht zu den Männern gehörte, die mit einer Beziehung leichtfertig umgingen. Dazu war er viel zu loyal.

Warum also hatte er sie dann geküßt? Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.

„Ich weiß nicht“, brachte sie schließlich heraus. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Wie, zum Teufel, kommst du

eigentlich auf die Idee, daß Ellen meine Geliebte ist?“ fragte er schließlich. „Wir stammen beide aus demselben Clan. Wenn wir etwas miteinander hätten, wäre es sozusagen Inzest.“

„Woher soll ich das denn wissen?“ antwortete sie entrüstet und fügte hinzu: „Wobei sie das, nebenbei gesagt, nicht davon abhält, dich zu begehren.“

Er überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. „Du bist verrückt.“

„Nein“, widersprach Catherine. „Ich bin eine Frau. Und eine Frau merkt so etwas.“

„Wie kommst du denn darauf?“ „Es ist ganz offensichtlich“, erwiderte sie mit Bestimmtheit. „Wenn sie

ein Tier wäre, würde sie dich vermutlich anspringen und in den Nacken

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beißen.“ Um ihre Nervosität zu vertreiben, stand sie auf und holte die

Kaffeekanne. Jericho war mit drei langen Schritten bei ihr und nahm sie ihr aus

der Hand. „Dafür ist jetzt keine Zeit. In der Nähe von Standing Rock braucht ein kleiner Junge unsere Hilfe. Er ist krank. Ich wollte dich fragen, ob du mitkommst.“

Verblüfft starrte sie ihn an. „Ich?“ „Ja, du. Oder siehst du sonst noch jemanden hier?“ „Du willst, daß ich dieses Kind behandle?“ „Der Junge ist krank, und Ellen ist in Albuquerque. Was bleibt mir

anderes übrig? Also, was ist, kommst du mit?“ „Selbstverständlich.“ „Das wußte ich.“ Er wartete, bis sie sich die Sachen zusammengepackt hatte, die sie

brauchte. Als sie im Rover saßen und die Straße entlang holperten, sah sie ihn an.

„Wahrscheinlich hat es dich fast umgebracht, mich zu fragen, stimmt’s?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Fast. Aber dann habe ich mir gedacht, daß all die Stipendien, die du bekommen hast, ja auch zu etwas nütze sein müssen.“

„Aha“, antwortete sie. „Was fehlt ihm?“ „Schüttelfrost. Wahrscheinlich ein Infekt.“ „Was für ein Infekt?“ „Sein Hals ist steif. Er hat Magenkrämpfe und kann nichts bei sich

behalten. Ich habe seine Mom zufälligerweise bei Crownpoint getroffen und habe ihr versprochen, Hilfe zu holen.“

Er sprach außergewöhnlich leise, so daß Catherine ihn kaum verstand. Bei seinen Worten hatte sie einen Riesenschreck bekommen. Ihr schwante Schlimmes.

„Fahr schneller“, trieb sie ihn an. Er schnitt eine Grimasse. „Ich fahr doch schon fast hundert.“ „Die Symptome klingen verdammt nach der Tah honeesgai.“ Ohne eine Erwiderung drückte er das Gaspedal noch weiter durch. Die

Tachonadel kletterte höher.

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„Nein sagte er schließlich. „Es ist der Kopf, Katzenauge. Ich habe auch schon daran gedacht, aber seine Mutter hat zum Beispiel nichts davon erwähnt, daß er Schwierigkeiten beim Atmen hätte.“

„Patienten drücken sich oft sehr ungenau aus.“ „Aber er übergibt sich. Das ist bei der Tah honeesgai bisher noch nicht

vorgekommen.“ „Muskelkrämpfe können Erbrechen verursachen. Besonders bei

Kindern.“ Er fluchte. Die Tachonadel kletterte auf hundertzehn, der Motor

vibrierte. „Wie alt ist er?“ „Ich weiß nicht. Zehn oder so, vermute ich. Sie gehören zwar zu

unserem Clan, aber sie leben so weit draußen, daß ich sie nicht besonders gut kenne.“

„Dann wäre er der jüngste bisher.“ „Wenn es die Tah honeesgai ist.“ Sie war es. Catherine war sich sicher. Fieberhaft versuchte sie, sich die

Einzelheiten, die sie Richard Moss’ Unterlagen entnommen hatte, wieder ins Gedächtnis zu rufen.

Sie mußte den Jungen retten. Plötzlich fiel ihr siedend heiß ein, daß sie die Sauerstoffmaske nicht dabei hatte. Wenn es hart auf hart ging, würde sie Mund-zu-Mund-Beatmung machen müssen - ungeachtet aller Ansteckungsgefahr.

„Wo ist Standing Rock?“ erkundigte sie sich. „Wir sind gleich da.“ „Wie weit ist es bis Albuquerque?“ „Zweihundert Meilen.“ Großer Gott, zweihundert Meilen. Sie fühlte sich so hilflos, daß sie

am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Denk nach, befahl sie sich selbst. „Gibt es dort irgendwo ein

Telefon?“ Dann könnte sie wenigstens einen Rettungshubschrauber rufen, wenn

sie es für angebracht hielt. Doch Jericho schüttelte den Kopf. „Verdammt“, sagte sie. „In Gallup gibt’s ein Krankenhaus. Dreißig Meilen quer durch die

Wüste. Wir können ihn dort hinbringen.

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Plötzlich riß er hart das Steuer herum, bog von der Straße ab und brachte den Wagen schließlich mit kreischenden Bremsen vor einem Hogan zum Stehen. Eine junge Frau in Jeans und einem Kattunhemd kam herausgerannt.

Sie sah durch Catherine hindurch und suchte Jerichos Blick. „Es geht ihm immer schlechter“, schluchzte sie. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. „Was hat er bloß?“

Jericho nahm ihren Arm und redete beruhigend auf sie ein, während sie zum Hogan gingen. Catherine zögerte einen Moment, dann rannte sie den beiden hinterher.

„Nein!“ schrie die Frau wild, als sie sah, wie Catherine an ihnen vorbei auf den Hogan zustürmte. „Wer ist sie? Halt sie auf!“

„Sie ist Ärztin, Bessie. Sie wird ihm helfen.“ „Sie ist eine Anglo. Ich will, daß du ihm hilfst.“ „Ich bin nicht allmächtig, Bessie. In diesem Fall kann ich nicht

helfen. Deshalb habe ich sie mitgebracht.“ Catherine hatte inzwischen den Hogan erreicht. Die Türöffnung war

so niedrig, daß sie sich ducken mußte. Der Junge lag auf einer schmalen, niedrigen Bettstatt, die an der Wand

stand. Ein Mann - vermutlich sein Vater - stand neben ihm. Er hatte zu große Angst, um sich gegen ihre Anwesenheit zu wehren, und trat beiseite, um ihr Platz zu machen.

Als Catherine sich neben das Lager gekniet und dem Jungen ins Gesicht gesehen hatte, stockte ihr der Atem. Sie hatte recht gehabt. Die Mystery Disease hatte erneut zugeschlagen.

Während sie in ihrer Tasche nach Aspirin wühlte, spürte sie, wie sie von einer Welle von Hilflosigkeit fast hinweggeschwemmt wurde. Sie war nur eine Praktikantin, es war so wenig, was sie tun konnte.

Wild starrte sie auf das Medikamentenfläschchen in ihrer Hand. Nein, nein und abermals nein! Das Aspirin würde dem Jungen nicht helfen, und sie konnte den Gedanken, womöglich noch einen weiteren Patienten zu verlieren, nicht ertragen. Sie warf die Flasche zurück in die Tasche und kramte in fliegender Hast nach einem stärkeren Medikament.

„Lanie.“ Sie hörte ihn nicht. Sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt,

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um auf einen Namen, der nicht ihrer war, zu hören. „Lanie“, sagte Jericho wieder. Seine Augen verengten sich zu

schmalen Schlitzen, als sie nicht reagierte, allerdings verwunderte es ihn nicht allzusehr. „Lanie!“

Sie fuhr auf. „Was ist?“ „Ist das, was du da tust, legal?“ Sie sah ihm gerade in die Augen. „Nein.“ Er musterte sie eindringlich, dann zuckte er die Schultern. Sie

mußte selbst entscheiden, was ihr wichtiger war: ihre zukünftige Karriere als Ärztin oder das Leben eines Kindes. Wenn sie dem Jungen ein Medikament gab, dessen Verordnung über ihre Befugnisse hinausging, lief sie Gefahr, größte Schwierigkeiten zu bekommen.

„Fahr den Wagen direkt vor die Tür“, sagte sie. „Okay.“ Er war weg, noch bevor er das Wort zu Ende gesprochen

hatte. Nachdem Catherine den Jungen an den Tropf gehängt hatte, beugte sie sich über ihn, um ihn zu beatmen.

Jericho, der wieder hereingekommen war, packte sie an der Bluse und zerrte sie zurück. „Tu das nicht.“

Sie schoß ihm einen ungestümen Blick zu und versuchte, sich aus seinem Griff herauszuwinden. „Man muß ihm helfen. Er braucht Luft.“

„Noch kann er allein atmen. Gallup ist nicht weit. Bis dahin wird er durchhalten.“

In ihrem Kopf wirbelte alles wild durcheinander. Und plötzlich verstand sie. Er hielt es offensichtlich doch nicht für ganz ausgeschlossen, daß die Tah honeesgai ansteckend sein könnte.

Sie blickte auf den Jungen. Jericho hatte recht. Zwar atmete er mühsam, aber noch schaffte er es allein. Noch war sie nicht gezwungen, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie würde ihn im Auto nicht aus den Augen lassen.

Jericho hob ihn mitsamt der Decke und dem Laken hoch, wobei Catherine darauf achtete, daß dem Kleinen nicht die Kanülen aus den Venen rutschten. Als plötzlich ein kleiner Schatten blitzschnell über den Boden huschte, unterdrückte sie einen Aufschrei.

„Nur eine Feldmaus beruhigte Jericho sie. Das winzige Tier hatte es sich offensichtlich auf dem Lager unter der warmen Bettdecke

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gemütlich gemacht und war nun aufgeschreckt worden. Bessie war beschämt. „Ich kann nichts dagegen machen“, murmelte

sie. „Ich putze und putze, aber nachts, wenn es kalt wird, kommen sie immer wieder rein.“

Catherine drückte ihr den Arm. „Es gibt Schlimmeres“, tröstete sie sie warm.

Nachdem sie den Jungen in den Rover gelegt hatten, nahm seine Mutter auf dem Beifahrersitz Platz, während Catherine sich, halb auf dem Boden kauernd, auf den Rücksitz neben das kranke Kind quetschte.

Die Fahrt verlief schweigend. Die Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen, doch der Junge hielt durch. Catherine ließ ihn keine Sekunde aus den Augen und sandte ein Dankesgebet gen Himmel, als sie endlich vor dem Krankenhaus in Gallup vorfuhren.

Jericho nahm sich nicht einmal Zeit, die Zündung auszuschalten und stürmte hinein. „Eine Trage!“ schrie er. „Schnell!“

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10. KAPITEL Eine Stunde später kehrte Catherine in die Lobby der Notaufnahme

zurück und ließ sich erschöpft neben Jericho in einen Sessel fallen. Mit einer Hand massierte sie sich ihren schmerzenden Nacken.

„Können wir jetzt fahren?“ Überrascht sah sie ihn an. Seine Stimme hatte einen seltsam

abweisenden Beiklang. „Ich will noch ein bißchen warten wie es weitergeht“, murmelte sie. „Du kannst von der Klinik aus anrufen.“ „Ich will aber hier warten. Wenn du es eilig hast, kannst du ja schon

vorfahren. Die Ärzte vom CDC sind eben gekommen, einer der Jungs wird mich später bestimmt mitnehmen.“

„Ich habe es aber nicht eilig“, gab er brüsk zurück. Als Catherine ihm einen finsteren Blick zuwarf, schien ihm

aufzugehen, daß sein Ton unangebracht schroff war. „Du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenklappen“,

fuhr er einen Moment später etwas umgänglicher fort. „So fühl ich mich auch. Aber wahrscheinlich brauche ich nur einen

Kaffee, dann geht’s mir wieder besser.“ Sie stemmte sich aus dem Sessel hoch und sah sich suchend um.

„Mit French-Vanilla würde ich hier allerdings an deiner Stelle nicht rechnen.“

Sie schnitt ein Gesicht und ging, Jericho im Schlepptau, den langen Flur entlang.

In der Kantine bestand er darauf, ihren Kaffee zu bezahlen. Nachdem sie sich an einen Tisch gesetzt hatten, sah sie ihn

neugierig an. „Womit verdienst du eigentlich dein Geld?“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Du weißt doch, was ich

mache.“ „Ich meine außer den Gesängen.“ „Die Leute bezahlen mich.“ „Ja, ich weiß. Aber sehr viele Zeremonien scheinst du ja nicht

gerade abzuhalten. Zwei, seit ich hier bin, um genau zu sein.“ „Heutzutage hält ein Schamane nicht nur Zeremonien ab.“ Er

zögerte und hatte offensichtlich Schwierigkeiten, ihr, die sie keine

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Navajo war, zu erklären, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. „Ich muß auch ... ich muß für die Leute da sein. Was zum Beispiel heißt, daß ich für die Alten, die allein leben und nicht mehr rauskommen, Wasser holen muß, oder ich muß Kinder, die ihren Eltern das Herz gebrochen haben, weil sie aus der Reservation weg und in die Stadt gegangen sind, dazu bewegen, wieder hierher zurückzukommen. Und es heißt auch, daß ich Lance, wenn er wieder mal volltrunken bei der Windmühle zusammengeklappt ist, einsammeln und nach Hause bringen muß. Die Leute bezahlen mich dafür mit Schafen oder Decken oder Türkisen. Manchmal haben sie sogar etwas Geld übrig. Man braucht hier nicht viel zum Leben.“

„Das ist mir schon aufgefallen.“ „Hast du dem Arzt gegenüber das Medikament erwähnt, das du

dem Jungen gegeben hast?“ wechselte Jericho nun das Thema. Catherine nickte langsam. „Und? Was passiert jetzt?“ Sie versuchte, möglichst gleichgültig die Schultern zu zucken, aber

es mißlang. „Wenn ich Glück habe, komme ich mit einer Rüge davon. Er wird es der American Medical Association mitteilen und dem Health Service auch. Ich bekomme einen Akteneintrag und muß mich zu den Umständen, die dazu geführt haben, äußern.“ Sie biß sich auf die Unterlippe. „Möglicherweise wird es Auswirkungen haben. Aber vielleicht auch nicht. Ich werde es herausfinden, wenn ich mich um eine Stelle bewerbe.“

Er kniff die Augen zusammen. „Wo willst du dich bewerben?“ Catherine seufzte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte sie sich

darüber noch keine Gedanken gemacht. Schon allein diese Praktikantenstelle bekommen zu haben, war ihr wie ein Wunder erschienen.

„Ich weiß es nicht“, gab sie zu. Er sah sie finster an. „Wann wirst du dich bewerben?“ „Wenn ich hier fertig bin und meine letzten Prüfungen abgelegt habe.“ „Und wann ist das?“ Er bombardierte sie mit seinen Fragen wie ein Inquisitor. Was war

nur los mit ihm heute nachmittag? „In vier Wochen“, gab sie zurück und wunderte sich, wie schnell die

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Zeit verflogen war. „Nein, warte stimmt gar nicht. Es sind nur noch wenig mehr als zwei“, berichtigte sie sich, nachdem sie nachgerechnet hatte. Sie würde zum selben Zeitpunkt, an dem die Gerichtsverhandlung gegen Victor begann, zurückkehren. Nun, über diese Brücke würde sie erst gehen, wenn es an der Zeit war.

Während Jericho sich erhob, trank er den letzten Schluck von seinem Kaffee und warf den leeren Becher in einen Papierkorb. „Komm, laß uns gehen. Mal sehen, wies um Louie steht.“

Catherine stand ebenfalls auf. „Heißt er so?“ „Ich glaube. Er hat noch einen Bruder, und ich weiß immer nicht, wer

wer ist.“ Als sie nebeneinander den langen Korridor in die Halle zurückgingen,

streiften sich ihre Arme, und ihre Hüften stießen gelegentlich aneinander. Er trug eins seiner blauen Hemden, die Ärmel hochgekrempelt. Seine unvermeidliche Lederjacke schien er im Wagen gelassen zu haben. Als er ihr die Tür aufhielt, beobachtete Catherine das Spiel seiner Armmuskeln und hatte Mühe, den Erregungsschauer, der sie dabei überlief, zu ignorieren.

An der Rezeption brachten sie in Erfahrung, daß der Junge mittlerweile in die Quarantänestation gebracht worden war. Catherine mußte all ihre Überredungskunst aufwenden, um vorgelassen zu werden.

Als sie, nachdem sie sich einen keimfreien Kittel angezogen und einen Mundschutz umgebunden hatte, in den Raum schlüpfte, sah sie drei Ärzte vor Louies Bett stehen. Auch Bessie war hier, sie machte trotz der Umstände einen ruhigen Eindruck.

„Wie geht es ihm?“ erkundigte sich Catherine, woraufhin sich einer der Ärzte umdrehte. „Richard!“

Er lächelte freundlich. „Ich habe gehofft, daß Sie noch auftauchen würden. Ich habe Ihren Namen auf den Einlieferungsformularen entdeckt.“ Er kam zu ihr herüber. „Sein Zustand hat sich stabilisiert, seine Reflexe sind gut. Er ist zwar noch nicht außer Lebensgefahr, aber ich denke, er wird’s packen.“

Sie konnte es kaum fassen. „Sie haben bemerkenswert schnell reagiert. Damit haben Sie ihm

wahrscheinlich das Leben gerettet.“

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Catherine rang sich ein Lächeln ab. „Meine Behandlungsmethoden dürften wohl kaum preiswürdig sein.“

„In anderen Fällen hat man auch schon über fragwürdige Methoden hinweggesehen, ich denke doch, man wird in Ihrem Fall ebenso ein Auge zudrücken.“

„Ich hoffe es. Ich hatte keine andere Wahl.“ Richard zögerte. „Ich würde Ihre Medikation ja in der Patientenakte gar

nicht erwähnen, aber das ist leider nicht möglich. Dieser Fall ist von so großer Bedeutung, daß alles akribisch aufgelistet werden muß, vor allem, wenn der Junge am Leben bleibt. Der CDC will dann natürlich herausfinden, warum.“

„Ich verstehe.“ Sie sah auf die Uhr. Sie war bereits eine halbe Stunde hier.

„Soll ich Sie nach Hause fahren? Ich bin gerade fertig.“ Catherine schüttelte den Kopf. „Nein danke.“ Richard grinste gutmütig. „Habe ich einen Konkurrenten?“ Verdutzt

starrte sie ihn an. Einen Konkurrenten? Jetzt lachte Richard. „Ah, ich sehe schon. Ich habe tatsächlich

einen.“ „Nein.“ Catherine schüttelte den Kopf, und zwar aus dem einzigen

Grund, weil eine Rivalität zwischen diesen beiden Männern nicht möglich war. Sie waren einfach zu verschieden, um sich von derselben Frau angezogen zu fühlen. Richard war weltmännisch und aalglatt, Jericho rauh und von brutaler Ehrlichkeit, unverfroren männlich.

Sie bemühte sich um ein höfliches, Lächeln. „Ich, glaube, ich gehe jetzt besser. Jericho wartet.“

„Ich lasse mich demnächst mal draußen. bei Ihnen sehen. Dann werde ich Ihnen berichten.“

„Würde mich freuen.“ Sie war bereits im Nebenzimmer, streifte Kittel und Mundschutz ab und warf die Sachen in einen Wäschekorb neben der Tür.

Dann machte sie, daß sie hinauskam. Als sie am Schwesternzimmer vorbei eilte, bemerkte sie einen Mann in Jeans und den unvermeidlichen Cowboystiefeln. Die Jeans waren ordentlich gebügelt, und die Stiefel blank poliert. Er studierte eine Karteikarte, und irgend etwas an ihm ließ sie zögern. Stirnrunzelnd betrachtete sie

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ihn näher. „Ist das alles, was Sie haben?“ fragte er die Stationsschwester. Die Frau bemühte sich sichtlich um Geduld. „Das sind die

Einlieferungsunterlagen, Dr. Kolkline.“ Catherine spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Plötzlich

wurde ihr kalt. Im nächsten Moment überkam sie eine rasende Wut. Ihr Puls

begann sich zu beschleunigen und ihre Hände wurden feucht. Sie trat einen Schritt näher zu dem Mann heran.

„Dr. Kolkline.“ Der Mann sah sie an. „Ja?“ „Abe Kolkline? Sie leiten die Klinik draußen in der Reservation?“ Er nickte, und plötzlich kam ein wachsamer Ausdruck in seine

Augen: „Wer sind Sie?“ „Ich bin Ihre neue Praktikantin.“ Seine Miene veränderte sich und wurde jovial. Ein Gesichtsausdruck,

den sie nur allzu gut kannte. Paddy hatte ihn immer aufgesetzt, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er wieder einmal getrunken hatte.

„Haben Sie mich gesucht? Ich wollte gerade gehen...“ „Und warum tun Sie’s nicht?“ fragte sie spitz. Sein alterndes Gesicht zeigte Überraschung. „Immer mit der Ruhe,

junge Frau.“ Genau, dachte Catherine und schloß die Augen, um ihre gefährliche

Wut unter Kontrolle zu bringen. Immer mit der Ruhe. Ihre Chancen, mit dem Akteneintrag, den sie sich heute eingehandelt hatte, eine Assistenzarztstelle zu finden, waren sowieso schon verschwindend gering. Und soweit sie wußte, verfügte Kolkline beim Health Service über einigen Einfluß, was es geraten erscheinen ließ, die Zähne zusammenzubeißen und allen Ärger hinunterzuschlucken.

Doch dann dachte sie an Louie und an Lisa und daran, daß er innerhalb eines Monats nicht ein einziges Mal die Güte gehabt hatte, sich in der Klinik wenigstens nur blicken zu lassen, und wieder kochte die Wut in ihr hoch.

Immer mit der Ruhe? Zum Teufel mit seiner Ruhe! „Ist Ihnen eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, daß Sie

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sich mir gegenüber verdammt unfair verhalten?“ schnappte sie mit zornblitzenden Augen. „Ich bin hierhergekommen, um zu lernen, aber wie soll ich das, wenn Sie mir nichts beibringen? Ich bin hierhergekommen, um Menschenleben zu retten, statt dessen habe ich schon eine Patientin verloren. Und dafür gebe ich Ihnen die Schuld. Ich durfte ihr doch nichts anderes geben als Aspirin! Sie haben Ihre Pflichten aufs Gröbste vernachlässigt, Dr. Kolkline.“

Peinlich berührt bemerkte sie, daß ihr heiße Zornestränen in den Augen standen. Wütend blinzelte sie sie weg. Gott sei Dank hatte sie sich bei Louie nicht an die Regeln gehalten und hatte ihm ein stärkeres Medikament gegeben. Vielleicht hatte sie ihm damit das Leben gerettet.

„Auch wenn den Menschen da draußen in der Reservation nicht klar sein mag, daß sie Sie brauchen“, fuhr sie fort, „ist es doch so. Sie sind der einzige qualifizierte Arzt weit und breit. Wenn Sie kein Interesse an dieser Stelle haben, warum kündigen Sie dann nicht einfach? Vielleicht würde sich ja ein anderer finden, der seine Sache besser macht als Sie.“

Natürlich war ihr längst klargeworden, warum er nicht kündigte. Sie hatte nur einen Blick auf ihn zu werfen brauchen, um im Bilde zu sein. Seine Augen waren gerötet, und über seine Wangen und seine Nase zog sich ein dichtes Geflecht blauer Äderchen. Als sie nun näher an ihn herantrat, roch sie seine Whiskyfahne.

Genau wie sie versteckte er sich an einem Ort, wo selbst der Wind Chancen hatte, verlorenzugehen. Doch im Gegensatz zu ihr versteckte er sich nicht vor einer bestimmten Person, sondern vor dem Leben selbst.

Nachdem er sie einen Moment lang verunsichert angesehen hatte, setzte er wieder seine steinerne Maske auf.

„Sie haben zu viele Ideale“, sagte er dann heiser, „vielleicht sollten Sie lieber den Beruf wechseln.“

„Vielen Dank für den freundlichen Ratschlag. Möglicherweise wird mir gar nichts anderes übrigbleiben. Doch wie auch immer, zwei Wochen bin ich noch hier, und es wäre nett, wenn Sie mir wenigstens eine Telefonnummer geben könnten, unter der ich Sie im Notfall erreichen kann.“

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„Selbstverständlich“, gab er mit verkniffenem Mund zurück und riß von Louies Einlieferungsformularen eine Ecke ab, um mit zitternden Händen eine Nummer darauf. zu notieren.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Sie hatten sich auf dem

Parkplatz verabredet, doch als Catherine nach draußen kam, konnte sie den Rover nicht entdecken.

Ein paar Minuten später hielt er vor ihr, und Jericho öffnete die Beifahrertür. Nachdem sie eingestiegen war, entdeckte sie in dem Zwischenraum zwischen den beiden Sitzen eine braune Papiertüte.

„Was ist denn das?“ fragte sie. „Warts ab,“, gab er zurück. Diesmal fuhr er nicht quer durch die

Wildnis, sondern nahm die Straße. Trotz der Dunkelheit erkannte sie die U.S. Route 666. Doch plötzlich gab er Vollgas, bog ab und brauste holpernd nach Osten, hinein in die Wüste. Ihm einen finsteren Blick zuwerfend, klammerte sie sich an dem Haltegriff fest, um sich nicht wieder den Kopf am Wagendach zu stoßen.

„Wohin fährst du denn? Die Klinik liegt doch auf der genau entgegengesetzten Seite.

Er hüllte sich in Schweigen. Sie ratterten durch eine felsige Schlucht. Als Catherine durch die Windschutzscheibe hinauf zum Himmel spähte, stockte ihr fast der Atem. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Sterne gesehen. Sie glitzerten und schienen zu tanzen und erweckten die Illusion, zum Greifen nah zu sein.

„Endstation“, erklärte er, nachdem sie einen offenen Platz am Ende der Schlucht erreicht hatten. Er drosselte den Motor, griff nach der Tüte und machte Anstalten, auszusteigen.

Catherine zögerte einen Moment, dann folgte sie ihm. „Falls du vorhast, mich hier auszusetzen, gibt es vermutlich schlimmere Orte, um zu sterben“, murmelte sie.

Sein tiefes Lachen klang amüsiert. Dann nahm er ihre Hand. Ihr Herz machte einen Satz. Die Geste war so einfach und hatte

gleichwohl eine so verheerende Wirkung auf sie. Aber was bedeutete das schon? Sagte es doch mehr aus über ihre eigenen Gefühle als über die, die er ihr entgegenbrachte.

Hand in Hand schlenderten sie zum Rand des Canyons. Und wieder

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stockte Catherine der Atem. Die Wüste unter ihnen lebte. Ein helles Augenpaar funkelte in der Dunkelheit. Den Mond konnte

Catherine zwar nirgends entdecken, aber die Sterne spendeten mehr Licht, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Früher war es ihr immer so erschienen, als würde die Natur sich nachts zur Ruhe begeben und eine dunkle Decke über sich breiten, aber sie hatte sich geirrt.

„Die Wüste ist nicht immer hart und erbarmungslos“, überlegte Jericho laut. „Zu Zeiten, in denen sie im Einklang steht mit der übrigen Natur, kann sie viel Trost spenden.“

Er sprach von dem Land wie von einer Frau, die er sehr genau kannte und die er liebte. Was in gewisser Weise wohl zutraf.

Er drückte ihr die Tüte in die Hand. „Schätze, du kannst jetzt auch ein bißchen Trost brauchen.“

„Aber Louie wird nicht sterben.“ „Ich weiß. Ich habe mich erkundigt, während du bei ihm warst.

Alles spricht dafür, daß er durchkommt.“ Sie spähte in die Tüte hinein und entdeckte eine Flasche Wein, einen Korkenzieher und eine Packung Doritos.

„Obwohl es sehr außergewöhnlich ist. Scheint so, als hätten wir einen Sieg errungen. Herzlichen Glückwunsch, Katzenauge.“

„Eine Feier also.“ Ihre Stimme klang seltsam in ihren Ohren - irgendwie höher als sonst. Sie fragte sich, ob er es bemerkt hatte.

Vor Rührung brachte sie fast kein Wort heraus. „Danke“, war alles, was ihr über die Lippen kam.

Er machte sich daran, die Weinflasche zu öffnen. Nun sah er sie an und hob eine Augenbraue. „Du bist zu leichtgläubig, Katzenauge.“

„Wie bitte?“ „Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, daß ein Mann vielleicht auch

niedrigere Motive haben könnte?“ Ihr Herz begann, schneller und härter zu klopfen. Gewiß, der Wein

deutete darauf hin, daß Jericho unter Umständen noch etwas anderes im Schilde führte, als ihr einfach nur eine Freude zu bereiten. Sie schluckte. „Und? Hast du?“ fragte sie vorsichtig.

„Ja. Ich dachte, der Wein löst dir vielleicht die Zunge.“ Sie versteifte sich, was ihm nicht entging.

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„Ich betrinke mich nicht.“ „Nie?“ „Ein- oder zweimal im College.“ „Und was ist passiert? Auf einmal mußte sie lächeln. „Ich bin eingeschlafen. Wenn ich

etwas gesagt habe, dann war es im Schlaf.“ „Hast du damals auch schon Geheimnisse gehabt?“ Ihr Lächeln erstarb. „Nein.“ Er reichte ihr die Flasche. Sie trank, plötzlich begierig auf den Wein,

einen großen Schluck. Er schmeckte köstlich, vollmundig und trocken. Obwohl Jericho in einer dunklen Welt voller Mythen, Geisterbeschwörungen und Zauberformeln lebte, war er kultiviert und sensibel genug, um genau den richtigen Wein auszuwählen für eine Nacht wie diese, in der sogar die Sterne lebendige Wesen zu sein schienen.

Sie gab Jericho die Flasche zurück und nahm sich ein paar Doritos. Er trat näher an den Rand der Schlucht heran und ließ sich dort nieder. Sie setzte sich neben ihn.

„Du heißt gar nicht Lanie.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Ihr Herz hämmerte. „Nein.“ „Wie dann?“ Sie leckte sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Und schwieg. „Was, zum Teufel, hast du angestellt? Warum mußt du dich

verstecken?“ Sie schloß kurz die Augen. Plötzlich wollte sie ihm alles erzählen,

und dieses Verlangen war so stark, daß es fast schmerzte. Es gab für sie keinen Zweifel mehr daran, daß sie ihm vertrauen konnte. Sie wußte, daß er zu ihr halten würde, was auch immer geschah. Er würde um jeden Preis versuchen, sie zu beschützen, selbst wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzen müßte.

Diese Erkenntnis jagte ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Das war genau der Grund, weshalb sie ihn nicht einweihen konnte.

„Ich war einfach nur zur falschen. Zeit am falschen Ort“, flüsterte sie schließlich, und ihre Kehle fühlte sich plötzlich an wie zugeschnürt.

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„Und vorher habe ich aus Naivität eine schrecklich falsche Wahl getroffen.“

Sie meinte zu sehen, wie er zusammenzuckte. „Was geschehen ist, ist geschehen“, brummte er schroff.

Schweigen breitete sich aus zwischen ihnen, und sie starrten eine lange Zeit hinaus in die Wüste. Irgendwann griff er nach der Weinflasche und stellte sie vorsichtig außer Reichweite. In seinen Bewegungen lag etwas, das ihren Pulsschlag beschleunigte.

„Was hast du vor?“ „Ich bin dabei, aus Naivität eine Wahl zu treffen, und bete, daß sie

sich nicht als schrecklich falsch herausstellen wird. Diesmal bringe ich dich dazu, daß du alles andere vergißt, Katzenauge.“

Sie mußte ihm Einhalt gebieten und wußte doch, daß sie es nicht einmal versuchen würde. Sie hatten die Grenze bereits überschritten, und ein Zurück gab es nicht mehr.

„Nein“, wehrte sie sich schwach. „Doch.“ Seine Stimme klang sanft. „Weil erst dann alles andere

unwichtig wird, wenn du heiß und nackt in meinen Armen liegst.“

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11. KAPITEL Wie kalt es mittlerweile geworden war, merkte Catherine erst, als

Jericho ganz nah an sie heranrückte und sie die Hitze spürte, die von ihm ausging. Der Kontrast entzündete in ihr ein Feuer, dessen Flammen heiß genug schienen, um sie zu verzehren.

Seine Bewegungen waren langsam diesmal, so als wollte er ihr Gelegenheit geben, in letzter Sekunde doch noch aufspringen und davonlaufen zu können. Doch sie dachte gar nicht daran. Es gab nichts, wonach sie sich mehr sehnte, als nackt in seinen Armen zu liegen und seinen heißen Atem auf ihrer Haut zu spüren.

Als er sie küßte, tastete sie mit geschlossenen Augen nach seinen breiten Schultern und versuchte ihn noch enger an sich zu ziehen, aber er vertiefte den Kuß nicht. Seine Hände um ihre Taille gelegt, hielt er sie ein Stück von sich ab, so daß sie sich nicht bewegen konnte. Sie spürte die Spannung, die von ihm auf sie überging, die Begierde. Nach ihr.

Dann verstand sie. „Letzte Gelegenheit, Katzenauge.“ Seine Lippen wanderten zu

ihrem Hals, und seine Stimme war belegt und schwer. „Nein“, stieß sie hervor.

„Was nein? Heißt das, daß ich aufhören soll oder daß du das Schlupfloch, das ich dir gelassen habe, nicht in Anspruch nehmen willst? Entscheide dich - ein zweites Mal läßt du mich nicht im Regen stehen.“

„Ich will nicht, daß du aufhörst.“ Er griff nach ihrer Hand, hob sie an die Lippen und fuhr mit der

Zungenspitze über ihre Knöchel, was sie so sehr erregte, daß sie unwillkürlich eine Faust machte. Jericho drehte sie um und preßte mit sanfter Gewalt mit zwei Fingern ihr Handgelenk so lange, bis sie aufsprang. Nun beugte er sich über die Stelle, wo eben noch seine Finger gelegen hatten, und biß leicht hinein.

Begierde flammte in ihr auf - eine verrückte Begierde, die stärker war als alles, was sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte. Sie schrie leise auf, zog die Hand weg und wühlte in seinem Haar.

Er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, wie sich ihre

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Augen vor Erregung verdunkelten. Durch sie hatte er wieder zu seinen Gefühlen gefunden, sie verstand es, sein Verlangen, von dem er geglaubt hatte, es sei ihm unwiderruflich abhanden gekommen, zu wecken, sie brachte seine Überzeugung, daß es sicherer sei, eine Frau nicht zu sehr zu begehren, ins Wanken. Sie war in sein Leben geglitten wie eine der Wassernixen, die die Navajos unter der Strömung der Flüsse wähnten. Sie waren zartgliedrig und empfindsam ebenso wie sie von der er angenommen hatte, daß sie viel zu zerbrechlich wäre, um in dem rauhen Land, in dem er lebte, überleben zu können. Doch sie war hier, und sie war nicht nur hier, sondern sie hatte sich auch behauptet gegen alle Widerstände, die man vor ihr aufzutürmen versucht hatte. Und nun lag sie in seinen Armen und verzehrte sich vor Verlangen nach ihm. Deshalb würde er sie nehmen zumindest dieses eine Mal.

Er hatte vorgehabt, sie mit einfühlsamer Raffinesse zu verführen. Doch nachdem es ihm nicht mehr länger gelang, sie auf Abstand zu halten, zerstoben all seine guten Vorsätze im Nu. Ihm wurde klar, daß er es nicht schaffen würde, sich zu verstellen. Er konnte nicht heraus aus seiner Haut, er war der, der er war, und kein anderer. Während sich ihre Zungen in wilder Leidenschaft begegneten, zerrte er an ihrem T-Shirt.

Sie trug keinen BH, eine Tatsache, die er bereits vorher schon registriert hatte. Nun riß er sich sein eigenes Hemd vom Leib, so heftig, daß zwei Knöpfe absprangen, und nahm sie in seine Arme.

Haut an Haut. Wie lange hatte sie sich schon insgeheim danach gesehnt. Sie war ja nicht einmal bereit gewesen, es sich vor sich selbst einzugestehen. Sie preßte sich an ihn. Wie herrlich geschmeidig er war. Sie kostete das Gefühl, ihn zu spüren, in vollen Zügen aus, so lange, bis ihr sein nächster ungestümer Kuß den Atem raubte.

Wie eine Ertrinkende hing sie an seinen Lippen und grub vor Lust und Verlangen ihre Fingernägel in das muskulöse Fleisch seiner Schultern. Er drückte sie nach hinten in den Sand, und dann spürte sie sein volles Gewicht auf ihrem Körper. Seine Lippen wanderten zu ihrem Hals, ihren Ohrläppchen und dahinter an eine Stelle, von der sie überhaupt nicht gewußt hatte, wie empfindsam sie war. Dort barg er dann auch sein Gesicht, während er in ungezähmter

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Wildheit an ihrer Jeans zerrte. Um es ihm zu erleichtern, hob sie den Unterkörper an, während

ihre Finger mit der Schnalle seines Gürtels kämpften. Dann endlich rollten sie beide nackt, eng ineinander verschlungen, über den Sandboden, und seine rechte Hand umschloß ihre Brust. Als er mit dem Daumen zart über ihre Knospe strich, richtete sie sich begehrlich auf und wurde hart. Er beugte den Kopf und liebkoste sie mit seiner Zunge, dann nahm er sie zwischen die Zähne und saugte daran. Catherine lachte kehlig auf vor Lust und wölbte sich ihm entgegen.

„Ja“, stöhnte sie. „Ja.“ Es erschütterte ihn, wie offen und vertrauensvoll sie ihr Verlangen

zeigte. Es war nicht zu übersehen, daß sie sich in diesem Moment, wenn auch vielleicht nie wieder, nach ihm mehr sehnte als nach der Luft, die sie zum Atmen brauchte. In diesem Moment gab es keine Spielchen, keine Vortäuschungen falscher Tatsachen, keine Lügen. Es war ein Moment purer Lust. Ihrer beider Lust. Sie war das, was er sich so, lange gewünscht hatte, die Frau, auf die er sein ganzes Leben gewartet und die er doch niemals zu finden gehofft hatte.

Hart preßte er die Kiefer aufeinander, als er versuchte, sich von ihr frei zu machen. Nicht hier und auch nicht jetzt. Natürlich würde keine Klage über ihre Lippen kommen, aber sie hatte Besseres verdient. Und zwar, aus dem einen Grund, weil sie alles verdiente, was er zu geben hatte.

Doch als sie die Beine um ihn schlang, sich weigerte, ihn loszulassen, wußte er, daß er verloren war.

Catherine grub ihre Fingernägel, in seine schlanken Hüften. „Nein“, keuchte sie heiser. „Oh, mein Gott, bitte jetzt. Jetzt.“

Er warf sich über sie, und der Ausdruck wilder Leidenschaft, der auf seinem markanten Gesicht lag, berührte sie auf dem tiefsten Grund ihrer Seele. Dann drang er mit einem einzigen harten Stoß tief in sie ein, wobei er einen gutturalen Laut von sich gab, der wie das Eingeständnis seiner Niederlage klang. In seinem letzten lichten Moment traf ihn wie ein Blitzschlag die jähe Erkenntnis, daß er seinen Bestimmungshafen eingelaufen war.

Sie hätte es sich niemals träumen lassen, daß es so sein könnte.

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Reines, unverstelltes Begehren und nie gekannte Sehnsüchte tauchten auf und wurden im selben Atemzug befriedigt und erzeugten so wieder neue, die nach Erfüllung schrien. Sie spürte ihn tief in sich und wölbte sich ihm entgegen in dem Wunsch, ganz und gar mit ihm zu verschmelzen. Fast besinnungslos vor Lust zerkratzte sie ihm mit ihren Fingernägeln den Rücken.

Schneller .... tiefer ... wollte sie schreien, doch sie brachte keinen Ton heraus, während er keuchend im rasenden Rhythmus der Liebe in sie eindrang und sich wieder zurückzog. Sie paßte sich seinen Bewegungen an, kam ihm gierig entgegen, nahm ihn in sich auf, tief, ganz tief, um gleich darauf wieder, ebenso wie er, von neuem Anlauf zu nehmen. Ihre Körper waren schweißbedeckt, und ihre Herzen hämmerten, als bräuchte es nur noch ganz wenig, und sie würden zerspringen wie Glas. Das letzte, was sie sah, waren die tanzenden, funkelnden Sterne, dann schloß sie die Augen. Nur einen Sekundenbruchteil später stürzte sie taumelnd und laut aufschreiend vor Lust in ein Flammenmeer und riß ihn mit sich.

„Wir sehen uns dann morgen“, sagte er ruhig, als er vor ihrem

Wohnwagen stoppte. „Schlaf gut.“ Catherine seufzte. „Na, ich weiß nicht, ob das klappt.“ Das

unsägliche Glücksgefühl, das sie danach, ermattet in seinen Armen liegend, verspürt hatte, war noch immer nicht ganz abgeflaut. „Dazu bin ich viel zu aufgekratzt.“

Die Heimfahrt war im großen und ganzen schweigend verlaufen, sie waren beide zu aufgewühlt gewesen, um die richtigen Worte zu finden.

„Ich warte, bis du drin, bist.“ „Wegen der chindis?“ spöttelte sie. Noch immer wie im Traum verabschiedete sich und ging zu ihrem

Wohnwagen. Er ließ erst den Motor an, nachdem sie die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. Catherine ging im Dunkeln zum Seitenfenster über der Spüle, um den Rücklichtern seines Wagens hinterherzusehen.

Er fuhr nach Norden auf die Hauptstraße. Erst als die Scheinwerfer auf Stecknadelkopfgröße zusammengeschrumpft waren und sich

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wenig später in der Dunkelheit verloren, atmete sie zitternd aus. Sie wußte nicht einmal, wo er wohnte. Wohin fuhr er jetzt? Zu einem Hogan, irgendwo in der Wüste? Oder zu einer der Wohnwagensiedlungen?

Über Victor hatte sie eine Menge gewußt - zumindest war sie dieser Meinung gewesen. Wie nur konnte sie sich jetzt in einen Mann verlieben, von dem sie noch nicht mal wußte, wo er wohnte?

Seufzend schüttelte sie den Kopf. Sie wurde aus sich selbst nicht mehr schlau. Doch dann zuckte sie die Schultern und schaltete das Licht über dem Ausguß an. Mit einem entsetzten Aufschrei prallte sie zurück.

Das Becken war voll Wasser, in dem auf dem Rücken liegend, die Arme ausgebreitet, eine Puppe mit langem, schwarzen Haar schwamm.

„Nein“, flüsterte sie. „Nein.“ Das konnte doch gar nicht sein. Die Tür war verschlossen gewesen. Sie hatte erst nach ihrem Schlüssel suchen müssen, um hereinzukommen. Ihr Nacken prickelte. Sie wirbelte herum, doch sie konnte niemanden entdecken. Sie war allein.

Allein mitten im Chaos. In der Dunkelheit war es ihr nicht aufgefallen, aber nun sah sie es. In dem Wohnwagen herrschte ein heilloses Durcheinander. Plötzlich schossen ihr heiße Tränen der Angst in die Augen. Sie wandte sich zum Waschbecken, tauchte ihre Hand in das kalte Wasser und fischte die Puppe heraus. Sie wagte kaum, sie anzufassen, und vermied es, so gut es ging, sie genauer in Augenschein zu nehmen.

Dennoch registrierte sie, daß man ihr den Kopf auf den Rücken gedreht hatte, was ihr ein Aussehen verlieh, als hätte man ihr das Genick gebrochen. Großer Gott. Catherine erschauerte.

Dann bemerkte sie, daß die Puppe eine krude Imitation der Kleidung trug, die sie an dem Tag anhatte, an dem Victor versucht hatte, sie umzubringen. An einer Seite hatte man ihr einen roten Blutfleck aufgemalt.

Catherine hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Wie vor den Kopf geschlagen ging sie langsam hinüber zu ihrem Bett und ließ sich darauf nieder. Sie lehnte sich vornüber und legte ihren Kopf auf die Knie, um die Blutzirkulation im Gehirn anzukurbeln.

Die Botschaft, die die Puppe überbracht hatte, war klar.

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Nachdem sie sich wieder etwas besser fühlte, blickte sie sich um. Der wacklige Tisch war zusammengekracht, aber das war kein Wunder. Sie hatte sich sowieso meist gescheut, ihn zu benutzen, so, baufällig war er ihr erschienen. Ihre Kaffeebox lag, die Tüte herausgezerrt und zerrissen, am Boden, und der Kaffee war überall verstreut. Die Tür des Kühlschranks stand offen, davor lagen in buntem Durcheinander die Lebensmittel, die Shadow ihr vor ein paar Tagen vorbeigebracht hatte. Was, zum Teufel, hatte der Einbrecher in ihrem Kühlschrank gesucht? Als ihr Blick aufs Bett fiel, entdeckte sie auf der Tagesdecke eine kleine Kuhle. Seltsam.

Plötzlich erstarrte sie. Was war das? Aus dem Badezimmer drang ein scharrendes Geräusch zu ihr herüber. Einen Moment saß sie wie gelähmt, dann riß sie sich zusammen.

Todesmutig erhob sie sich und schlich zum Küchenschrank hinüber. Sie öffnete eine Schublade und holte den Revolver heraus. „Wer ist da?“ rief sie, die Waffe im Anschlag, wobei sie sich bemühte, das Zittern ihrer Hände so gut es ging zu unterdrücken.

Mit dem Lauf der Pistole stieß sie die Tür zum Badezimmer, die nur angelehnt war, auf. Der Raum war so winzig, daß man sich kaum darin bewegen konnte. Es war zwar dunkel, aber mit Sicherheit hätte sie gesehen, wenn jemand drin gewesen wäre.

Plötzlich bewegte sich der Duschvorhang. Die Plastikringe, an denen er befestigt war, klapperten gegen die Metallstange.

„Kommen Sie heraus“, befahl sie und wunderte sich über die Festigkeit in ihrer Stimme. „Aber langsam - die Hände über den Kopf.“ Einen Augenblick lang fragte sie sich, woher sie den Mut nahm. All ihre Angst war mit einemmal wie weggeblasen.

Der Eindringling schien beschlossen haben, sich zu ergeben. Wieder klapperten die Plastikringe, der Vorhang bauschte sich, raschelte und schließlich teilte er sich.

Zum Vorschein kam ein Tier. Es starrte sie mit seinen schwarzen Knopfaugen an.

War das eine Beutelratte? Plötzlich durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Mit der Waffe im Anschlag

wich Catherine zurück. Eine Beutelratte. Das Tier war seltsam zutraulich und machte keine Anstalten wegzulaufen. Was war, wenn

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es Tollwut hatte? „Hau ab“, stieß sie hervor. „Verschwinde. Los.“ Dabei wich sie,

immer mit Blick auf das Tier, Schritt für Schritt rückwärts, bis sie an der Tür angelangt war. Rasch drehte sie sich um und riß sie auf. Die Beutelratte lugte nach wie vor fast vertrauensvoll aus dem Duschvorhang hervor und rührte sich nicht vom Fleck. Catherine fand das ganz und gar nicht normal. Ein wildes Tier gerät normalerweise in Panik, wenn es sich in der Falle sieht, und versucht davonzulaufen, sagte sie sich. Dieses hier aber starrte sie nur an mit seinen kleinen, glänzenden Augen.

„Verschwinde!“ schrie sie und stampfte mit dem Fuß auf, um es zu erschrecken.

Die Oberlippe der Beutelratte zitterte, einen Augenblick später bleckte sie die Zähne und setzte sich in Bewegung. Sie kam direkt auf Catherine zu.

Da verlor Catherine die Nerven, stieß einen hohen Schrei aus und betätigte den Abzugshahn des Revolvers. Blut spritzte auf. Sie hatte getroffen. Das Tier quiekte vor Schmerz. und Todesangst laut auf. Ein Ton, der Catherine schier das Blut in den Adern gefrieren ließ - raste kopflos von hier nach da, fand schließlich den rettenden Ausgang und verschwand in der Dunkelheit.

Catherine sah ihm hinterher und ging dann zur Tür, um nachzusehen, ob es draußen zusammengebrochen war, doch sie konnte es nirgends entdecken. Der Revolver war zwar nur ein 22er Kaliber, für eine kleine Beutelratte jedoch hätte das allemal ausreichen müssen. Seltsam. Getroffen hatte sie es, daran gab es keinen Zweifel.

Als ihr Blick erst auf das Blut fiel, dann auf die Puppe, fühlte sie sich plötzlich zu Tode erschöpft. Sie schloß die Tür ab und wandte sich dann, fast taumelnd vor Müdigkeit, zum Bett und ließ sich darauf fallen. Was für ein Tag!

Wider Erwarten schlief sie sofort ein.

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12. KAPITEL Als jemand gegen die Tür hämmerte, fuhr Catherine mit Herzklopfen

aus dem Schlaf hoch und starrte wild um sich. Es war schon Tag. „Mach auf!“ Das war Jerichos Stimme. Schlaftrunken rappelte sie

sich hoch und tappte barfuß zur Tür. „Was ist los mit dir?“ schnauzte er sie an, wobei ihm jedoch die

Erleichterung, sie heil vor sich zu sehen, ins Gesicht geschrieben stand. „Warum bist du nicht in der Klinik?“

Jetzt erst bemerkte er den Zustand, in dem sich der Wohnwagen befand. „Was ist denn hier passiert?“ fragte er ruhiger geworden, obwohl Catherine die Anspannung in seiner Stimme noch immer heraushören konnte. „Ist mit dir alles in Ordnung?“

Sie nickte. „Ja. Ich habe den Wohnwagen gestern abend so vorgefunden.“

„Warum, zum Teufel, hast du mich nicht zurückgerufen?“ „Weil du schon weg warst.“ Sie schüttelte den Kopf und

seufzte. „Ich habe das Licht erst angemacht, nachdem du davongefahren warst.“

Sie trat einen Schritt vor und spähte zur Tür hinaus. „Wo ist Ellen denn?“ erkundigte sie sich. „Seid ihr heute nicht zusammen hergekommen?“

„Nein“, erwiderte er knapp. „Wenn das stimmt, was du vermutest, ist es wohl besser, wenn ich sie nicht mehr mitnehme. Ich habe ihr gesagt, daß sie ihren Wagen in Ordnung bringen lassen soll, damit sie unabhängig ist von mir. Eddie Begay will sich um ihren Toyota kümmern und bringt sie nachher her.“

Eigentlich hätte sie sich über diese Neuigkeit freuen müssen, doch sie kaute nur nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Glaubst du, daß sie dieses Chaos hier veranstaltet hat?“

Verdutzt sah er sie an, „Ellen? Niemals.“ „Aber Shadow hat mir erzählt, daß sie keine Anglos hier haben will.“ Jericho dachte darüber nach. „Stimmt“, räumte er schließlich ein.

„Dafür hat sie allerdings ihre guten Gründe. Sie fühlt sich von ihnen nicht respektiert. Alle Anglo-Ärzte, die wir hier hatten, betrachteten sich als den Nabel der Welt und waren niemals bereit, auch nur in

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Erwägung zu ziehen, daß es neben ihren vielleicht auch noch andere Heilmethoden geben könnte.“ Er unterbrach sich und schüttelte dann den Kopf. „Aber das hier - nein, so etwas würde Ellen niemals tun. Und es ist ja nicht so, daß sie etwas gegen dich persönlich hätte, es ist einfach die ganze Situation.“

„Und du? Hast du auch etwas gegen ... gegen ... ich meine ...“ Sie wurde rot und wußte plötzlich nicht weiter.

Er sah ihr tief in die Augen. Natürlich wußte er, worauf sie hinauswollte. „Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, Katzenauge.“

Plötzlich lagen seine Lippen auf ihren, heiß und voller Begehren. Als seine Zunge zwischen ihre Zähne glitt, durchzuckte sie jähes Verlangen.

Er beendete den Kuß. „Ich weiß wirklich nicht, was du mit mir angestellt hast, Katzenauge“, stieß er heiser hervor. „Aber das nächstemal wird es anders werden, das ist versprochen.“

„Anders?“ fragte sie verwundert. „Nicht so schnell, meine ich. Ich werde dich lieben von

Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang.“ Ihr Herz hämmerte und transportierte ihr Blut doppelt so schnell

wie gewöhnlich durch ihre Adern. „Wird es denn ein nächstes Mal geben, flüsterte sie und drängte sich an ihn. Bitte sag, daß nächstesmal jetzt ist, flehte sie im stillen.

Er lachte rauh. „Zweifellos.“ Plötzlich spürte sie, wie sein Körper sich versteifte. Sie wandte den

Kopf, um ihre Blicke den seinen folgen zu lassen. Er starrte auf die Puppe.

„Was ist denn das?“ Catherine zuckte die Schultern. Mit einemmal fühlte sie sich

merkwürdig verletzlich. „Ich bin noch nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen. Offensichtlich hatte ich zwei Besucher - der eine hat das hier hinterlassen“, sie deutete auf die Puppe, „und der andere ist für das Chaos hier verantwortlich.“ Sie machte eine umfassende Geste. „Letzterer war eine Beutelratte - die Tollwut hatte, nehme ich an.“

Er ließ sie los und hob die Puppe auf, um sie näher zu betrachten. „Die Puppe hat Haare wie du“, stellte er tonlos fest. Im gleißenden Sonnenlicht, das durchs Fenster hereinschwappte, schimmerten die

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schwarzen Locken rötlich. „Ich ... das kann nicht sein.“ Er stieß einen wilden Fluch aus. „Natürlich nicht! Erzähl mir von der

Beutelratte.“ Erleichtert über den Themenwechsel berichtete Catherine ihm die

ganze Geschichte. Nachdem sie geendet hatte, betrachtete er nachdenklich die Blutspritzer und sah sich um. „Wo ist die Kugel?“

„Die Kugel?“ wiederholte sie verständnislos. „Nun, ich schätze, sie steckt noch in ihr drin. Wenn es ein glatter Durchschuß gewesen wäre, wäre sie wohl kaum noch imstande gewesen, wegzulaufen.“

Mit wütendem Ingrimm fing er an, das Bett auseinanderzunehmen. Erst schüttelte er die Decke aus, dann das Laken, doch ohne Erfolg. Anschließend warf er die Sachen auf den Boden und untersuchte eingehend die Matratze.

„Hast du was gefunden?“ fragte sie. Ihre Stimme klang seltsam gepreßt. Sein Zorn machte ihr angst, er entfachte eine Panik in ihr, die sie sich nicht erklären konnte.

Ohne zu antworten riß er die Matratze mit so wütendem Schwung aus der Bettstatt, daß sie schon befürchtete, der mühsam reparierte Rahmen würde wieder seinen Geist aufgeben und zusammenbrechen.

Doch nirgendwo fand sich eine Kugel. Er fluchte wieder. „Was ist los?“ fragte sie. „Du machst mir angst.“ „Es war er. Die Kugel steckt in ihm.“ „In ihm?“. Jetzt verstand sie gar nichts mehr. „Das war keine Beutelratte, sondern ein wolf man, Katzenauge, da

wette ich zehn zu eins. Als du ihn aufgestöbert hast, hat er sich schnell verwandelt.“

„Verwandelt?“ krächzte sie. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. „Nein.“

„Du bist jetzt also der Meinung, daß zusammen mit demjenigen, der die Puppe hier deponiert hat, eine tollwütige Beutelratte reingeschlüpft ist?“

„Ich ... Sie brach ab. Gab es denn eine andere Erklärung? Nein. Sie würde bestimmt nicht anfangen, an Geister zu glauben.

„Es war nur ... irgend etwas an der Art, wie das Tier weggerannt

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war, hatte sie von Anfang an irritiert. „O Gott“, stöhnte sie. Ihre Gedanken wirbelten bunt durcheinander. Verzweifelt versuchte sie, Ordnung zu schaffen, aber es gelang ihr nicht. Sie war verunsichert. „Die Leute sagen doch, daß sich wolfmen nur in Hunde oder Wölfe verwandeln wandte sie ein. „Dies hier war eindeutig eine Beutelratte.“

„Ein wolfman kann sich - je nach Situation - jede Gestalt geben, die er möchte“, gab Jericho grimmig zurück, während er sich wieder umschaute. „In der Dusche wäre es ein bißchen zu eng gewesen für einen Wolf.“

Catherine zog unter dem zusammengebrochenen Etwas, das einst ein Tisch gewesen war, einen Stuhl hervor und ließ sich darauf fallen.

„Erst Lisa, dann Louie. Und Louie hast du gerettet“, fuhr Jericho, mehr wie zu sich selbst, fort. Er bückte sich, um die Puppe aufzuheben, die er auf den Boden geworfen hatte, und drehte sie nachdenklich in den Händen. Ihr Kopf hing herab.

„Das wird er mit dir auch machen. Wenn du ihm noch mal in die Quere kommst, wird er dir das Genick brechen.

Catherine sah ihn wie betäubt an. „Nein.“ Er schien sie nicht zu hören. ;,Nie mehr, Katzenauge. Du wirst nie

wieder einen Patienten, der die Tah honeesgai hat, behandeln. Catherine erbleichte. „Nicht. Tu das nicht.“ Irritiert sah er sie an. „Nicht tun? Was?“ „Hör auf, mir ... Befehle zu erteilen und Ultimaten zu stellen.“ Jericho hatte bemerkt; daß sie weiß wie die Wand geworden war.

Ihre Hände zitterten. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Ich will nur, daß du dich sicher fühlen kannst in deinem Versteck.“

„Du bist auf dem Holzweg“, brach es plötzlich aus ihr heraus. „Es ist nicht das, was er mir antun würde, sondern es ist das, was er mir bereits angetan hat. Und es ist nicht dein wolfman.“

Er wartete darauf, daß sie weiterredete. Doch sie konnte es nicht. Mit Erschrecken. kam ihr zu Bewußtsein, daß sie bereits viel zuviel von sich preisgegeben hatte. Rasch erhob sie sich und drehte ihm den Rücken zu.

Mit einem einzigen großen Schritt war er bei ihr und drehte sie so zu sich herum, daß sie gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen. Noch nie hatte sie ihn so zornig gesehen. Seine schwarzen Augen

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schleuderten Blitze. Sie versuchte, sich aus seinem. Griff herauszuwinden. Plötzlich hatte sie Angst vor ihm.

Ihr Herz raste. Auf ihr Zappeln hin packte er so fest zu, daß es ihr weh tat. „Was soll das heißen?“

„Gestern abend haben wir miteinander geschlafen. Du hast dich mir mit Leib und Seele hingegeben jedenfalls kam mir das so vor. Warum kannst du dann jetzt nicht offen zu mir sein?“

Plötzlich ließ ein verzweifeltes Aufstöhnen sie auseinanderfahren. Sie drehten sich um. Ellen stand, beide Hände im Türrahmen abgestützt, in der Tür und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. Wieder gab sie einen erstickten Laut von sich, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte, wie von wilden Hunden gehetzt, davon.

Catherine spürte ihre Knie weich werden. „Nun, wenn sie für das hier verantwortlich ist, hat sie jetzt wohl genug.“ Doch insgeheim wußte sie natürlich, daß Ellen nichts damit zu tun hatte. Jericho ließ sich jedoch nicht aufs Glatteis führen.

„Antworte mir“, forderte er sie zornig auf. „Wie kommt es, daß du einerseits so verdammt viel gibst und andererseits überhaupt nichts?“

„Du hast mir bisher auch noch nicht gerade viel von dir erzählt“, konterte sie widerborstig. Sollte er ihr ruhig etwas abgeben von seiner Wut, sie konnte sie im Moment gut brauchen. Aber es klappte nicht. Der Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, rührte sie fast zu Tränen.

„Das hat dich bis jetzt nicht sonderlich gestört.“ „Nein“, räumte sie ein. „Ebensowenig wie dich meine

Vergangenheit interessiert hat.“ „Was sagst du da?“ Seine Stimme klang gefährlich ruhig. Ihr Herz

hämmerte. Trotzig hob sie das Kinn. „Vielleicht war es ja nur Sex. Da gibt’s nicht viel zu reden.“ Er hob die Puppe auf und umklammerte sie so fest, daß seine

Fingerknöchel weiß hervortraten. „Das muß ich wirklich nicht haben“, murmelte er einen Augenblick

später, feuerte die Puppe in eine Ecke und stürmte hinaus. Der Wohnwagen vibrierte als er die Stufen hinunterpolterte. Catherine

war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte das Gefühl, als wiche alles Leben aus ihrem Körper und sie bliebe lediglich als leere Hülle zurück.

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Den Vormittag brachte sie damit zu, ihren Wohnwagen in

Ordnung zu bringen. Jericho war drüben bei; Ellen in der Klinik, und sie schaffte es nicht, hinüberzugehen, solange er da war.

Nachdem sie geduscht hatte in der Hoffnung, daß das zur Klärung ihrer Gedanken beitragen würde, war Shadow bei ihr aufgetaucht. Sie hatten zusammen Kaffee getrunken, wobei Catherine ihr erzählte, was am Tag zuvor vorgefallen war. Shadow, die sensibel genug war, um zu merken, daß mit Catherine im Moment so gut wie nichts stimmte, fragte einfühlsam nach, aber auch jetzt sah Catherine sich außerstande, ihr die ganze Wahrheit zu erzählen.

Dennoch verlief das lange Gespräch, in dem auch immer wieder Jericho zur Sprache kam, in einer sehr vertrauensvollen Atmosphäre, und Catherine spürte, daß sie in Shadow eine Freundin gewonnen hatte, auf die sie sich bedingungslos verlassen konnte.

Da Shadow vorhatte, nach Shiprock zu fahren, bat Catherine sie, sie mitzunehmen. Sie wollte versuchen, Schilling zu erreichen, obwohl sie wenig Hoffnung hatte, daß ihr das weiterhelfen würde.

Shadow setzte sie, ohne ihr weitere Fragen zu stellen, vor dem Motor Inn ab.

„Ich brauche für meine Einkäufe etwa eine halbe Stunde“, sagte sie. „Reicht dir das?“

„Bei weitem“, gab Catherine zurück. „Ich bin spätestens in fünf Minuten fertig.“

„Na, das schließt auf jeden Fall ein ehebrecherisches Stelldichein aus“, witzelte Shadow.

Catherines Lachen klang gezwungen. Sie wartete, bis Shadows Truck um die Ecke gebogen war, und

betrat dann den Coffee-Shop. Während der Unterhaltung mit Shadow, die viel über ihren Bruder erzählt hatte, war ihr klargeworden, daß es höchste Zeit war, Jericho reinen Wein einzuschenken. Wie viel sie ihm jedoch anvertrauen konnte, blieb abzuwarten. Auf jeden Fall mußte sie vorher mit Schilling reden, um zu hören, wie weit die Dinge in Boston mittlerweile gediehen waren.

„Hier ist Catherine Landano“, sagte sie, nachdem sich Schilling endlich am anderen Ende der Leitung gemeldet hatte. „Nun - wie sieht’s

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aus?“ fragte sie. „Victor ist hier.“ „Haben Sie ihn mit eigenen Augen gesehen?“ „Kann man so sagen. Wir haben ihn verschiedentlich zum Verhör

einbestellt. Er streitet nicht ab, auf Sie geschossen zu haben. Wir haben das Gefühl, daß er diese Linie mit seinem Verteidiger abgesteckt hat, um zu vermeiden, daß noch andere Dinge ans Tageslicht kommen. Sie wollen die Sache anscheinend so geräuschlos wie möglich über die Bühne gehen lassen. Wenn er geständig ist, bekommt er für den Mordversuch an Ihnen nach unserer gegenwärtigen Rechtslage fünf bis zehn Jahre, was im Endeffekt heißt, daß er in zwei Jahren auf Bewährung wieder draußen ist.“

Catherine holte zitternd Luft. „Und Sie glauben nicht, daß er jemanden hinter mir hergeschickt hat?“

„Nein.“ Ihr wurde plötzlich kalt. „Warum nicht?“ „Es wäre unsinnig.“ „Aber hinter mir ist jemand her“, stieß sie hervor. „Ach, das bilden Sie sich nur ein. „Nein.“ Mit Sicherheit nicht. „Nun, Victor Landano ist es auf jeden Fall nicht. Ich glaube einfach

nicht, daß er so dumm ist, jetzt noch einen Kardinalfehler zu begehen, indem er Sie umbringen läßt. Er weiß doch, daß der Verdacht sofort auf ihn fallen würde. Nein, nein, er und. sein Anwalt halten sich für besonders schlau, indem sie glauben, sie könnten uns mit dem Mordversuch an Ihnen ablenken.“

„Und? Wie soll es jetzt weitergehen?“ Sie fühlte sich nicht sonderlich getröstet.

„Wir sind fieberhaft dabei, ausreichend Beweise zusammenzutragen, damit es für die Anklage reicht, die uns wirklich am Herzen liegt. Aber das dauert noch.“

Sie spürte, wie ihr Kopf plötzlich leer wurde. „Dann werden Sie also versuchen, ihn wegen der Sache mit dem Senator vor Gericht zu bringen?“

Schilling zögerte einen Moment. „Ja.“

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„Wann?“ „Wahrscheinlich in den nächsten Wochen.“ „Großer Gott. Wenn ihm das erst einmal klar ist, wird er alle Hebel in

Bewegung setzen, um mich zu beseitigen.“ „Catherine, wirklich, ich glaube, Sie machen sich unbegründete

Sorgen. Wenn gegen Victor wegen der Sache mit dem Senator Anklage erhoben wird, wird ihn die Mafia wie ein heißes Eisen fallenlassen. Schadensbegrenzung heißt dann die Devise - was bedeutet, daß er niemanden mehr finden wird, der sich die Finger für ihn schmutzig macht. Also regen Sie sich nicht auf, unsere Strategie ist, Victor fürs erste in Sicherheit zu wiegen, daß nichts anderes aufs Tapet kommt, als der Mordversuch an Ihnen. Und ist es uns erst einmal gelungen, ihn hinter Gitter zu bringen, schieben wir die nächste Anklage nach. Ich bitte Sie, machen Sie sich keine Gedanken.“

„Sie sagten es bereits.“ Ihre Stimme klang gepreßt. Nachdem Schilling ihr noch dringend ans Herz gelegt hatte, vorerst

zu bleiben, wo sie war, legte sie auf. Sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, daß Horace Schilling

keine Ahnung hatte von dem, was da eigentlich gespielt wurde.

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13. KAPITEL Auch drei Tage später wirkte Ellen noch immer tief verzweifelt. Doch

Catherine brachte es nicht über sich, sie zu trösten. Jericho ließ sich nicht blicken. Die Klinik kam ihr kalt vor ohne ihn. Wo steckte er? Die

Erkenntnis, wie sehr sie sich nach ihm sehnte, erschreckte sie. Sie brauchte seine Nähe, und das nicht nur deshalb, weil sie sich sicherer fühlte, wenn er da war. Seine Abwesenheit hinterließ eine klaffende Wunde in ihr, die durch das Wissen, daß sie ihn verletzt hatte, noch vertieft wurde.

Als sie gegen Mittag ein Auto vorfahren hörte, sprang sie wie elektrisiert vom Stuhl auf und raste zum Fenster. Vor Enttäuschung rutschte ihr das Herz fast bis in die Kniekehlen. Es war nicht Jericho.

„Sie wissen doch genau, daß er sich hier erst wieder blicken läßt, wenn Sie weg sind“, sagte Ellen. „Er wäre verrückt, wenn er es täte. Jemand wie Sie bringt nur Probleme, und das weiß er genau. Die Lektion hat er schon seit langem gelernt.“

„Sie sagen mir nichts Neues“, konterte Catherine aus dem schwachen Bedürfnis heraus zurückzuschlagen. Ihre Replik hatte den ersehnten Effekt: Ellen erblaßte, was bewirkte, daß sie, Catherine, sich um so schrecklicher fühlte.

„Er hat Ihnen davon erzählt?“ fragte Ellen ungläubig. Er hatte ihr nicht mehr erzählt als sie ihm. Großer Gott, was war

das für eine seltsame Anziehungskraft, die sie wie zwei widerstrebende Pole zueinander trieb? Alles lag im Schatten, einzig das Begehren war präsent. Und - sie mußte es zugeben - das instinktive Wissen um die Wahrheit. Sie wußte, was für ein Mann er war, er hatte es ihr durch seine Stärke und seine Loyalität bewiesen, Tag für Tag. Um ihr das zu vermitteln, waren keine Worte notwendig gewesen, allein die Art, wie er sich gab, hatte ausgereicht, genug Vertrauen in ihr zu wecken, um sich ihm hinzugeben.

Die Frau, die nun aus dem Wagen stieg, war Bessie. Catherine sah es mit Überraschung, und sie fühlte sich erleichtert, daß die Ankunft von Louies Mutter sie einer Antwort auf Ellens Frage enthob. „Es ist Bessie“, sagte sie.

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Ellen ging zum anderen Fenster und sah hinaus. „Louie kommt bald aus dem Krankenhaus. Wahrscheinlich will sie sich Pollen holen.“ Sie wandte sich zum Regal, um das Glas mit den Getreidepollen herauszunehmen, als Bessie auch schon hereinkam.

Sie hatte einen kleinen Jungen dabei vermutlich Louies Bruder. An der Tür blieben Mutter und Sohn einen Moment zögernd stehen, wobei der Kleine sich alle Mühe gab, sich hinter Bessies Rockzipfel zu verstecken.

„Hier“, sagte Ellen. „Ich habe die Pollen schon für dich fertig gemacht.“

Bessie wurde rot. „Ja, die brauche ich auch, aber eigentlich will ich zum Doktor.“

Ein Ausdruck des Erschreckens flog über Ellens Gesicht, doch das war gar nichts gegen die Gefühle, die schlagartig auf Catherine einstürmten. „Sie möchten zu mir?“ fragte sie wie vor den Kopf geschlagen.

„Sie ist kein Doktor“, schnappte Ellen. „Sie ist eine Praktikantin. Wenn du diese Art von Hilfe brauchst, werde ich versuchen, Dr. Kolkline aufzutreiben.“

Sie war schon fast beim Telefon, als Bessies nächste Worte sie innehalten ließen. „Sie hat Louie gerettet, nicht dieser andere Mann. Sie zog den kleinen Jungen hinter sich hervor und gab ihm einen sanften Schubs. „Das ist Leo“, sagte sie zu Catherine. „Sein Lehrer hat ihn letzte Woche von der Schule nach Hause geschickt und hat ihm gesagt, daß er sich nicht mehr blicken lassen darf, bis er eine Tetanus-Impfung bekommen hat.“

„Eine ... Oh.“ Catherine lächelte. „Sie möchten, daß ich ihm eine Spritze gebe.“

„Ja. Und sie haben gesagt, ich soll mir eine Bestätigung geben lassen.“

„Okay. Aber erst muß ich mir dafür von Dr. Kolkline die Genehmigung holen.“

„Von mir aus. Solange nicht er es ist, der meinem Leo die Spritze verpaßt, können Sie machen, was Sie wollen.“

Sie ging zum Telefon und wählte die Nummer, die Kolkline ihr gegeben hatte. Niemand meldete sich. Sie versuchte es in der

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Universitätsklinik, aber an seinem Platz schien er auch nicht zu sein. Catherine war zu glücklich, einen Patienten zu haben und so von den quälenden Gedanken an Jericho entronnen zu sein, daß es sie nicht weiter kümmerte. Sie holte sich, ohne lange zu überlegen, von einem Arzt in der Notaufnahme die Zustimmung - was sicher nicht ganz legal war.

Nachdem sie eine Spritze aufgezogen hatte, forderte sie Bessie und Leo auf, mit ihr nach nebenan ins Untersuchungszimmer zu kommen. „Okay, Hosen runter, junger Mann.“

Der Kleine reckte trotzig das Kinn. „Ich will Jericho.“ Catherine zog ein Gesicht. Oh, ich auch, dachte sie. „Das geht nicht“, erklärte Bessie ihrem Sohn. „Er ist auf dem Berg.“ Auf dem Berg? „Wo?“ fragte Catherine. Bessie warf ihr einen seltsamen Blick zu und sagte erst einmal

nichts. „Auf dem Beautiful Mountain“, rückte sie schließlich heraus. „Onkel Ernie hat eine Hütte da oben. Ich habe Jericho vor zwei Tagen getroffen, und er hat versprochen, daß er Leo die Spritze gibt, aber er kann mir keine Bestätigung ausschreiben. Die Schule weigert sich, sie anzunehmen, wenn sie von Jericho ausgestellt ist.“

„Nein ... ich meine, das stimmt.“ Mittlerweile hatte sich Leo bequemt, seine Jeans so weit herunterzulassen, daß Catherine ihm den Impfstoff injizieren konnte. Als sie sich wieder aufrichtete, wurde ihr für einen Moment schwarz vor Augen.

Kreislaufschwäche, diagnostizierte sie. Es kam wahrscheinlich daher, weil sie in den letzten Tagen, kaum geschlafen hatte. Oh, Jericho, komm zurück.

„Was macht er denn da oben?“ fragte sie mit erzwungener Beiläufigkeit, wobei sie aus einer Schublade ein Formular herausholte und es ausfüllte.

„Er geht dorthin, wenn sein Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist.“

„Aus dem Gleichgewicht geraten?“ wiederholte Catherine, während sie Bessie das Formular reichte. Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Oh, Gott, was hatte sie ihm angetan mit diesen wenigen häßlichen Worten, die sie ihm entgegengeschleudert hatte. Sie hatte es doch nicht so gemeint, es war ihr aus Wut nur so

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herausgerutscht. Und aus Angst. Hatten ihn ihre Worte wirklich so tief getroffen? „Unsere Leute glauben, daß man mit der Natur im Einklang stehen

muß. Wenn das nicht der Fall ist, bekommt man Probleme“, erklärte Bessie.

Probleme, dachte Catherine. Vielleicht würde Jericho, wenn er wieder zurückkam, ja nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.

Sie ging mit Leo und Bessie wieder nach vorn, und Catherine sah, daß sie noch etwas auf dem Herzen hatte. „Wir haben kein Geld, aber mein Mann bringt Ihnen ein Schaf, wenn er das nächstemal vorbeikommt.“

Catherine schüttelte verdutzt den Kopf. Was, um alles in der Welt, sollte sie mit einem Schaf? War sie etwa verpflichtet, es dem Indian Health Service zu melden? Vielleicht brauchten sie es ja, um auf diese Weise die Kosten für den Impfstoff wieder hereinzuholen.

„Das wäre nett.“ Sie würde sich später Gedanken darüber machen. „Wie geht’s Louie?“

Ein Strahlen ging über Bessies Gesicht. „Großartig. Aber langsam wird er wirklich zapplig. Er will endlich nach Hause.“

Catherine lachte. Plötzlich fühlte sie sich ihrer selbst sicher. „Danke, daß Sie gekommen sind“, sagte sie warm. „Bisher scheint mich hier niemand gebraucht zu haben.“

Bessie zuckte die Schultern. „Unsere Leute haben gelernt, der Regierung nicht zu sehr zu vertrauen, weil wir bisher doch meistens die Angeschmierten waren. Vertrauen braucht Zeit.“

„Ja“, erwiderte Catherine ruhig. „Das braucht es wirklich. Und manchmal ... manchmal entsteht tatsächlich welches.“

Am späten Nachmittag begann es zu regnen. Als die ersten Tropfen

gegen das Fenster klatschten, sah Catherine überrascht auf. Sie hatte die Heftigkeit des Regenschauers, von dem sie bei ihrer Ankunft hier begrüßt worden war, schon fast vergessen.

Die Klinik wirkte verlassen. Sie saß am Schreibtisch, das Kinn in die Hände gestützt, und schaute hinaus in den Regen.

Die Engel weinen. Das hatte ihre Mutter immer gesagt. Plötzlich hörte Catherine ihre Stimme so klar und deutlich, als stünde sie neben ihr.

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Wenn es doch nur wirklich so etwas wie chindis gäbe! Was hätte sie nicht alles dafür gegeben, wenn ihr ihre Mutter jetzt, in dieser Situation, aus der sie keinen Ausweg wußte, mit Rat und Tat zur Seite stehen könnte! Mary Callahan hatte es niemals zugelassen, sich ihr Leben von einem Mann - oder von sonst etwas - durcheinanderbringen zu lassen. Sie war immer der ruhende Pol der Familie gewesen, vor allem dann, wenn Paddy mal wieder verrückt gespielt hatte. Sie hatte in jeder Situation gewußt, was zu tun war.

Catherine schlug die Hände vors Gesicht. „Oh, Mama“, stöhnte sie, „in was bin ich da bloß reingeraten?“

Sie war davongelaufen - direkt in die Arme eines harten, kompromißlosen Mannes mit einem Herz aus Gold. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie beabsichtigt, sich mit ihm einzulassen, weil ihr klar war, daß es das Schlimmste wäre, was ihr unter diesen Umständen passieren könnte. Und doch war es geschehen.

Manche Dinge sind eben stärker als wir, Catie. Das Schicksal hat seine eigenen Pläne mit uns. Es hat keinen Sinn, dagegen anzukämpfen.

„Ich weiß, Mama, ich weiß.“ Mary hatte ihr beigebracht, daß man aufhören mußte, gegen die Strömung zu schwimmen, bevor man anfing unterzugehen.

Und sie war dabei unterzugehen. Sie sank. Rasend schnell. Plötzlich fühlte sie sich todmüde, ihr erschien es, als hingen Bleigewichte an ihren Augenlidern. Sie konnte nur noch beten, daß Jericho früher oder später zurückkommen und ihr eine Chance geben würde, ihm alles zu erklären.

Schlaf, Catie. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Erschöpft legte Catherine schließlich den Kopf auf die

Schreibtischplatte und befolgte den Rat ihrer Mutter. „Lanie“, flüsterte er heiser. „Katzenauge.“ Jericho stand an der Tür

und blickte, erstarrt vor Schreck, auf die zusammengesunkene Gestalt am Schreibtisch. Sie rührte sich nicht. Er belegte sich im stillen mit den wildesten Flüchen, die ihm in den Sinn kamen. Warum, zum Teufel, hatte er sie nur allein gelassen? Wenn ihr jetzt etwas zugestoßen war? Was war los mit ihr, warum schlief sie hier an ihrem

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Schreibtisch? Mit drei weit ausholenden Schritten war er bei ihr und legte ihr die

Hand auf die Schulter. Catherine fuhr zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus. Erschrocken wich er einen Schritt zurück. Sie sprang verstört auf, doch

ihre Beine versagten ihr den Dienst und sackten unter ihr weg. Mit einem leisen, hilflosen Keuchen sank sie zu Boden, noch bevor Jericho Gelegenheit hatte, ihr zu Hilfe zu eilen.

„Jericho.“ Schlaftrunken schüttelte sie den Kopf und starrte ihn an wie ein kleines verängstigtes Tier. „Jericho?“

Als sie mühsam versuchte, sich aufzurappeln, begann sich das Zimmer vor ihren Augen zu drehen. Sie klammerte sich am Schreibtisch fest und zog sich mit aller Kraft hoch. Dann spürte sie, wie seine starken Hände sich auf sie legten. Es fühlte sich so richtig an, so gut.

Sie krallte sich in die Ärmel seiner Lederjacke. „Du bist ja ganz naß“, sagte sie, und es klang töricht in ihren Ohren, weil es im Moment vollkommen nebensächlich war. Hatte sie ihm nicht viel, viel Wichtigeres zu sagen?

„Und du bist krank“, gab er, eine Spur zu barsch, zurück. Sie blickte ihn finster an. Einen Moment später flammte der alte

Zorn wieder in ihr auf. „Ich bin einfach nur fix und fertig. Seit Tagen mache ich kein Auge zu, weil irgend jemand versucht, mir Angst einzujagen, und dann warst auf einmal auch du noch verschwunden, und jetzt kommst du plötzlich so mir nichts dir nichts wieder hier rein und reißt mich aus dem Schlaf, daß ich einen Heidenschreck kriege und denke, es wäre dieser verdammte wolfman, und alles, was dir dazu einfällt, ist, daß ich krank bin?“

Er quittierte ihren Gefühlsausbruch nur mit einem leichten Heben seiner rechten Augenbraue. „Ich dachte, du glaubst nicht an wolfmen?“ bemerkte er schließlich gelassen.

Sie nahm die Hände von ihm und ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken. Ihre Knie waren weich wie Pudding. „Im Moment weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll und was nicht.“

Seine andere Braue schnellte nach oben. Sie sah ihn an, die Augen schmal und wachsam. Ihr Herz klopfte

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schneller. Ja, er war zurückgekommen, was auch immer das bedeuten mochte.

„Wie war’s auf dem Berg?“ tastete sie, sich vorsichtig vor. Sein Blick verriet gelinde Überraschung. „Wer hat dir gesagt, wo

ich bin?“ „Bessie.“ „Hast du sie nach mir ausgefragt?“ Sie zögerte. „Mehr oder weniger.“ Er nickte knapp, offensichtlich zufrieden mit ihrer Antwort. Dann

trat er einen Schritt zurück und fuhr sich durchs Haar. „Wir müssen miteinander reden.“

„Ich weiß.“ Wieder schien er überrascht. Aber nicht jetzt“, machte er gleich

darauf einen Rückzieher. „Warum nicht?“ Er trat noch einen Schritt zurück. Nun, wo es möglich war,

miteinander zu reden, nun, wo sie anscheinend beschlossen hatte, den Kampf aufzugeben, fühlte er sich plötzlich überfordert. Warum?

Weil er Angst hatte. Als ihn diese Erkenntnis durchzuckte, war er erschüttert. Zum erstenmal seit langer Zeit ging ihm etwas unter die Haut, er hatte etwas gefunden, das zu finden er nicht mehr zu hoffen gewagt hatte, und nun fürchtete er sich davor, es wieder zu verlieren. Was, wenn er reinen Tisch machte und ihr von Anelle erzählte? Vielleicht würde sie ja auf dem Absatz kehrtmachen und ihn unwiderruflich verlassen.

„Weil du nicht in der richtigen Verfassung bist, um zu reden“, gab er endlich zurück. Was tatsächlich nicht von der Hand zu weisen war. „Geh in deinen Wohnwagen und schlaf dich erst mal richtig aus.“

Catherine schnaubte empört. „Immer mit einem Auge offen, um zu sehen, wer sich diesmal reinschleicht und mir ein Geschenk hinterläßt?“

Er stieß einen Fluch aus. „Wenn du willst, kann ich mich ja draußen herumdrücken, solange du schläfst.“

„Draußen? Die ganze Nacht?“ Ungläubig starrte sie ihn an. „Das ist ja vollkommen lächerlich.“

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Das war es in der Tat. „Also gut“, lenkte er ein in dem Bemühen, die Kluft, die sich plötzlich zwischen ihnen aufgetan hatte, zu überbrücken. „Ich komme mit rein. Während du schläfst, bewache ich die Tür. Eigentlich hatte ich vor, zu Shadow zu fahren, weil ich erst nach Hause kann, wenn das Unwetter vorbei ist.“

Er zog sie zur Tür. Sie ließ es geschehen, doch nachdem er sie geöffnet hatte, murmelte sie: „Das Unwetter ist vorbei.“

Betreten und enttäuscht registrierte er, daß der Regen tatsächlich nachgelassen hatte. „Aber die Straßen sind überschwemmt.“

„Dann fahr doch durch die Wüste.“ „Geht nicht.“ „Warum nicht?“ Schließlich ging ihm ein Licht auf. Sie quälte ihn absichtlich. Oh, ja,

sie paßten wirklich hervorragend zusammen. „Willst du, daß ich gehe, Katzenauge?“ fragte er ruhig. Sie schauerte leicht zusammen. „Nein.“ Vor allem will ich wissen,

wohin du gehst, wenn du von hier weggehst, dachte sie. Ihr Erschauern, das ihm nicht entgangen war, machte all seine

festen Vorsätze zunichte, setzte seinen gesunden Menschenverstand außer Kraft. Seine Angst schrumpfte zusammen.

Er zog sie in seine Arme, schloß die Augen und legte sein Kinn auf ihren Scheitel.

„Gut“, murmelte er. „Das Vertrackte an der Sache ist, daß ich einfach zu lange gebraucht habe, um hier anzukommen - so lange, daß ich jetzt beim besten Willen nicht mehr zurück kann.“

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14. KAPITEL In ihrem Wohnwagen angekommen, streckte sich Catherine und

gähnte ausgiebig. Wie eine Katze, dachte er, während er sie beobachtete. Ihr Pullover spannte sich über ihren Brüsten. Und wieder kein BH. Plötzlich überkam ihn das ungute Gefühl, daß sich die Nacht zu einer Ewigkeit dehnen würde.

Mit äußerster Anstrengung riß er seine Blicke von ihr los. Er mußte sie dazu bringen, daß sie schlief. Es war besser für sie. Und für ihn auch. Später, wenn sie ein paar Sachen geklärt hatten, würde noch immer Zeit genug sein, sich wieder in ihr zu verlieren. So hoffte er zumindest.

„Na los, mach schon“, sagte er schroff. „Geh ins Bad. Tu, was du sonst auch tust, bevor du ins Bett gehst. Ich bleibe hier bei der Tür.“

Sie musterte ihn eindringlich. Beim Anblick seiner markanten Züge überlief es sie erst heiß, dann kalt ... sie sah die Wachsamkeit in seinen Augen ... Und plötzlich wußte sie, daß er bestimmt keine Eile hatte, schwankenden Boden zu betreten.

Sie konnte ihm daraus keinen Vorwurf machen. „Okay“, erwiderte sie vorsichtig und zog sich ins Bad zurück.

Wieder wurde ihr schwindlig. Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte, entkleidete sie sich und duschte. Dann wickelte sie sich in ihren Bademantel und ging wieder hinaus zu ihm. Er stand noch immer an derselben Stelle wie vorher und blickte ihr mit undurchdringlicher Miene entgegen.

Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Ich habe gelogen“, flüsterte sie. „Zumindest das möchte ich dir sagen.“

Es erschien ihr zwar unmöglich, aber sie hatte doch den Eindruck, daß sich sein Gesichtsausdruck noch mehr verhärtete.“

„Gelogen? Wobei?“ „Es war nicht nur Sex ... es hat sich jedenfalls nicht so angefühlt.“ Ihre Worte trafen ihn wie eine eiserne Faust in den Magen. „Und

du weißt, wie sich nur Sex anfühlt?“ fragte er knapp. Wenn er es recht bedachte, wollte er eigentlich auf seine Frage keine Antwort. Eifersucht hatte für ihn bisher nie eine Rolle gespielt, wahrscheinlich deshalb, weil er sich seiner Männlichkeit immer relativ sicher gewesen war. Eifersucht war ein Gefühl, das er nicht kannte. Nicht einmal bei

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Anelle war er eifersüchtig gewesen. Doch nun hatte es ihn plötzlich kalt erwischt. Wie ein heimtückisch aus dem Hinterhalt abgeschossener Pfeil bohrte sich die Eifersucht tief in sein Herz.

Catherine konnte es an seinem Gesicht ablesen. Erst wurde sie blaß, dann hob sie trotzig das Kinn. „Ich weiß, was es heißt, die Zähne zusammenzubeißen und zu beten, daß es bald vorbei sein möge. Aber mit dir habe ich mir gewünscht, daß es nie mehr aufhört.“

Er war sich sehr sicher, daß er allem anderen hätte widerstehen können, aber das war zu viel ... ein schlichtes Eingeständnis, und doch so stark und voller Herausforderung. Er schloß die Augen. „Lanie...“

„Catherine“, korrigierte sie ihn leise. „Cat ...“ Cat, Katze, Katzenauge. Er hatte plötzlich fast das Gefühl,

ersticken zu müssen. Hatte er das gewußt, als er sie zum erstenmal so genannt hatte? Hatten es ihm die Heiligen Wesen zugeflüstert? Wenn hier das Schicksal seine Hände im Spiel hatte, war es zwangsläufig. An seinem Schicksal kam niemand vorbei.

„Mein Vater hat mich Cat genannt. Meine Mutter sagte immer Catie.“ Sie ging langsam zu ihm hinüber. „Später, auf dem College habe ich mich an Catherine gewöhnt.“ Sie fummelte nervös am Gürtel ihres Bademantels herum. „Also. Möchtest du noch immer mit dem Reden bis morgen warten?“

Plötzlich war ihm nach allem anderen zumute als nach reden. Natürlich mußten sie ein klärendes Gespräch miteinander

führen. Bevor sie sich noch tiefer ineinander verstrickten. Ihr Duft benebelte sein Hirn. Die Wärme, die sie ausstrahlte, hüllte ihn ein und machte ihn wehrlos. Und plötzlich erschien ihm alles, was er tat, richtig - so richtig, daß er, sich nicht einmal mehr entsinnen konnte, warum er überhaupt auf den Beautiful Mountain gestiegen war.

„Ja“, gab er heiser zurück. „Das kann warten.“ Sie seufzte und schloß die Augen. Von grenzenloser Erleichterung

erfüllt, taumelte sie in seine Arme. Er fing sie auf, und sie preßte sich eng an ihn, während sie seine Lippen suchte wie zur Versicherung, daß er auch wirklich wieder bei ihr war und daß jetzt alles gut werden würde.

Er hielt sie an den Hüften, und gleich darauf zerrten seine Finger an

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ihrem Gürtel, der Sekunden später zu Boden fiel. Als sich ihr Bademantel öffnete, stöhnte Jericho lustvoll auf. Er tastete nach ihren Brüsten, deren Knospen sich unter seinen rauhen Handflächen verhärteten.

„Komm, Jericho, bitte komm“, flüsterte sie und wand sich lustvoll in seinen Armen.

Gleich darauf fühlte sie sich hochgehoben, und der Raum begann sich wieder vor ihren Augen zu drehen, doch es kümmerte sie nicht. Als er sie aufs Bett legte und sich vor sie hinkniete, bekam alles um sie herum wieder die richtige Dimension, weil es jetzt nur noch seine Augen gab, schwarz und unergründlich und so intensiv, daß sie erschauerte. Dann fiel ihr die Narbe ein, die noch von ihrem Bademantel verdeckt wurde.

Diesmal gab es, keine Dunkelheit, die Catherine vor der Entdeckung schützte. Das Licht im Wohnwagen war hell.

„Darf ich dir das ausziehen?“ fragte er ruhig. Catherine nickte langsam und hielt den Atem an. Nachdem er ihr den Bademantel ausgezogen hatte, streichelte er mit

beiden Händen ihre Brüste und umschloß sie fest. Dann beugte er sich zu ihr hinunter, fuhr er mit seiner Zunge den Weg, den eben seine Hände genommen hatten, nach und zog kleine Kreise um ihre Brustspitzen. Schließlich hob er den Kopf, um sie in sich aufzunehmen in ihrer Nacktheit. Sein Blick verweilte keinen Augenblick zu lange auf der kleinen, noch immer frischen, roten Narbe, sondern kam sofort zu ihren Augen zurück, während er sich erst seiner Jacke entledigte und dann sein Hemd auszog.

Auf der Bettkante sitzend, mit dem Rücken zu ihr, schlüpfte er aus seinen Stiefeln und seiner Jeans. Dann stand er auf und sah lange schweigend auf sie hinunter, und auf einmal wußte sie, was sie draußen im Canyon in der Dunkelheit vermißt hatte. Ihre Augen nahmen seinen gestählten, schlanken Körper in sich auf, bis ihr die Kehle vor Verlangen brannte und ihr Mund trocken wurde. Seine Oberschenkel waren lang und muskulös, und als sie genauer hinsah, entdeckte sie auch eine Narbe, aber sie war alt. Um den Hals trug er an einem geflochtenen Band einen kleinen Lederbeutel.

Sie hatte es gewußt, irgendwie hatte sie es gewußt, daß er so aussehen

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würde. Sie streckte die Hand nach ihm aus und rutschte beiseite, um ihm Platz

zu machen, doch er kniete sich statt dessen vor sie hin. Seine Hände fuhren über ihren Körper und zeichneten, jede Kurve

nach, als wollte er ihn sich auf diese Weise ganz und gar aneignen. Er spürte ihre festen und doch entspannten Muskeln, die unter seiner Berührung erzitterten. Oh, wie ihn ihr Zittern erregte! Nachdem er ihr den Slip über die Hüften gestreift hatte, setzte er sich auf sie und rollte sich mit ihr zusammen herum, bis sie über ihm lag.

Fiebrig knetete er ihren Po, ihre Oberschenkel und schob dann ihre Beine auseinander. Jetzt gehörte sie ihm ... ganz und gar ... mit Haut und Haaren ... für diese eine Nacht wenigstens ... und das Morgen sollte der Teufel holen. Als er die Stelle ihrer geheimsten Begierden zwischen ihren Schenkeln berührte und die heiße Feuchtigkeit spürte, fühlte er Stolz in sich aufsteigen, daß er es war und kein anderer Mann, dem es gelang, dieses Feuer in ihr zu entfachen.

Catherine vermeinte, unter seinem heißen Atem dahinzuschmelzen. Seine Lippen liebkosten voll ehrfürchtiger Scheu ihre Haut, als sei sie ein kostbarer, unersetzlicher Gegenstand. Seine Hingabe erschütterte sie. In seiner Welt gab es so viel Schönheit, so vieles, was heilig war, und dennoch vermittelte er ihr das Gefühl absoluter Einzigartigkeit.

Seine Zunge streichelte ihr Schlüsselbein und zog dann eine brennende Spur hinauf zu ihrem Hals, wo er zu saugen begann, fester und fester, als wollte er dort ein Zeichen seiner Liebe hinterlassen, das ihr auch morgen noch als Beweis dafür dienen könnte, daß er bei ihr gewesen war. Sie fand es himmlisch, dieses saugende Gefühl, das sich bis in ihren Unterleib und in die Zehenspitzen hinunterzog, doch sie wollte ihn jetzt berühren und hob darum die Arme, aber er fing ihre Hände blitzschnell mit seiner Rechten ab.

„Oh, nein, Catherine“, sagte er heiser. „Bleib ganz still liegen. Diesmal entkommst du mir nicht. Diesmal will ich all deine Geheimnisse kennenlernen.“

Ihr Herz machte einen Satz vor Erregung sie war zu allem bereit. Er fand wieder ihre Lippen, und sie rollten, die Beine ineinander verschlungen, herum, bis Catherine die Wand des Wohnwagens an

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ihrem Rücken spürte. Dann lag er plötzlich über ihr, nahm ihre harte Knospe zwischen die Zähne und biß sanft hinein. Während er daran saugte, hob sie sich ihm stöhnend entgegen. Seine Lippen wanderten in erregender Langsamkeit über ihren Bauch, die Hüften, beißend, leckend, neckend, während er mit der Linken die Innenseite ihrer Schenkel streichelte.

Sie mußte ihn anfassen, auf der Stelle, sonst würde sie sterben. Nachdem sie es geschafft hatte, sich aus dem eisernen Griff seiner

Rechten zu befreien, fanden ihre Hände seine Schultern, die breit waren und stark, und fuhren über seine samtige Haut. Währenddessen starteten seine sehnigen Finger einen heimtückischen Angriff auf das Zentrum ihres Begehrens, der alles in einem war sanft und drängend, süß und erbarmungslos.

Sie hörte, wie sich ihrer Kehle ein rauher, wilder, leidenschaftlicher Schrei entrang und wollte Jericho an den Schultern zurückzerren. Das war zu viel - zuviel Gefühl, zuviel Erregung - mehr als sie meinte, ertragen zu können. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, und er kam ihr so gefährlich nahe. Wie sollte es ihr hier noch gelingen Abstand zu halten, es war unmöglich, sie war ihm ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Doch als er ihre Beine noch weiter auseinanderschob, vergaß sie auch ihre letzten Ängste.

Sein Mund wanderte tiefer, und als er schließlich mit seiner Zunge nach ihrer empfindsamsten Stelle, dem geheimsten Winkel ihres Begehrens tastete und begann, ihn zu liebkosen, entfuhr ihr ein erstickter Schrei, und ihr blieb nichts, als sich fallenzulassen und sich ihm zu ergeben.

Er war es zufrieden - jetzt gehörte sie ihm. Als er sich wieder über sie warf, zuckte ein diabolisches Grinsen um

seine Mundwinkel, und er lachte leise in sich hinein über ihren schwachen Versuch, ihn wegzuschieben. Er meinte, gleich zerbersten zu müssen vor brennendem Verlangen nach ihr, einem Verlangen, das keinen Aufschub mehr duldete. Doch erst würde er sie ein weiteres Mal befriedigen, er hatte es ihr versprochen, und dann würde er zulassen, daß sie ihre Zauberkünste an ihm unter Beweis stellte, und anschließend würde er sie beide in einem rasenden Ritt zum Gipfel hinaufjagen, höher und höher, bis sie am Ziel angelangt waren.

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Es dauerte lange, ehe sie ihre Sprache wiederfand: „Bereust du es?“ fragte Catherine und stellte ihm damit absichtlich die gleiche Frage, die er ihr nach dem ersten Mal gestellt hatte.

Ineinander verknäult lagen sie auf dem Bett, ihr Kopf ruhte auf seiner Brust. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihn ihre Frage leicht zusammenzucken lassen, aber sie war sich nicht sicher.

„Sollte es das?“ fragte er schließlich zurück. Catherine dachte nach. „Nein.“ Es klang fast wie ein langer

Seufzer, der aus tiefstem Herzen kam. „Aber vielleicht solltest du Angst haben.“

„Habe ich auch.“ Er schien sich dessen nicht zu schämen. „Du weißt noch nicht mal die Hälfte über mich.“ „Erzähl s mir später.“ Unmöglich fast, und doch rollte er sich schon wieder über sie, und

auch sie war schon wieder bereit für ihn. Er legte den Kopf zur Seite, um sie zu küssen, tief, wild und mit so großer Leidenschaft, als gäbe es kein Morgen und alles müßte in dieser einen Nacht ausgekostet werden bis zur Neige.

Erst als die Morgendämmerung den Himmel violett zu färben

begann, nahm er seine Lippen zum letztenmal von den ihren. Als Jericho einen Blick zum Fenster hinauswarf, zuckte um seine Mundwinkel ein leichtes, zufriedenes Lächeln. Dann legte er sein Gesicht an die Stelle an ihrem Hals, wo ihre Schlagader noch immer wie verrückt pochte.

„Catherine“, sagte er leise. Der Name paßt viel besser zu ihr als Lanie, stellte er insgeheim fest. Catherine klang würdevoll, klassisch und stark...

„Mmmh?“ „Nur interessehalber - hast du eigentlich vor, deine richtige

Haarfarbe wieder rauswachsen zu lassen?“ Er stützte sich auf einen Ellenbogen, nahm eine lange Korkenzieherlocke zwischen die Finger und studierte ihre Farbe im Licht des neuen Tages. Feuerrot, dachte er. Die Glut ist noch nicht ganz erloschen.

Er fragte sich, ob er sie wohl jemals mit ihrer natürlichen Haarfarbe sehen würde.

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Catherine antwortete nicht. Er sah auf sie hinab. Sie war eingeschlafen und atmete in tiefen, regelmäßigen Atemzügen.

Behutsam rutschte er beiseite und erhob sich. Das Bett war nicht breit genug für zwei. „Das war’s, Katzenauge“, flüsterte er. „Nun werde ich über deinen Schlaf wachen.“

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15. KAPITEL Jericho ließ seinen Blick über Catherine schweifen, die mit

hochroten Wangen an der Schreibmaschine saß und angestrengt nach den passenden Worten suchte, um dem Indian Health Service die Sache mit dem Schaf zu erklären, das Bessies Mann gestern vorbeigebracht hatte. Vor Konzentration zog sie die Brauen zusammen und raufte sich das Haar. Jericho sah sie schon in Gedanken den Kopf schütteln und hörte sie in lautes Lachen ausbrechen, fast überfordert von dieser Aufgabe und doch entschlossen, sie zu bewältigen.

Großer Gott, wie sehr er sie liebte! Und was nun? „Laß das doch mit dem Brief, es macht alles viel zuviel Umstände.

Ich bezahle den Impfstoff“, sagte er nach einer Weile. „Nicht nötig.“ Sie hielt, ohne den Blick von ihrem Blatt zu nehmen,

einen Zwanzig-Dollar-Schein hoch, der neben ihr auf dem Schreibtisch gelegen hatte. „Das haben sie mir auch noch gegeben. Aber ich weiß nicht, was ich mit dem Schaf soll. Ich muß es einfach irgendwie loswerden.“

„Wenn du willst, kann ich es ein paar Leuten bringen, die weiter unten, ein Stück südlich von hier, leben. Und bis dahin muß es eben hierbleiben, Shadow kümmert sich um das Futter.“

„Was ist mit Angie Two Sons?“ Erstaunt hob er eine Augenbraue. Anscheinend hatte sie von

Anfang an sehr aufmerksam zugehört. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. „Angie ist im Moment ganz gut versorgt“, erwiderte er und trat

hinter ihren Stuhl, um ihr mit den Fingerspitzen zärtlich über ihre Wange zu streichen. Er zuckte wie vom Donner gerührt zurück. „Du bist ja ganz heiß.“

Es war keine Frage. Er sah sie prüfend an. Ihre Haut war durchsichtig wie Pergament, und ihre Wangen waren nicht vom Eifer gerötet, wie er jetzt sah, sondern vom Fieber, das erkannte er an ihren Augen. Sie glänzten ungesund. „Du fühlst dich schlecht, stimmt’s?“

Sie seufzte. „Um die Wahrheit zu sagen, ja.“ „Warum hast du denn nichts gesagt?“ Es ärgerte ihn nicht, er hatte

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vielmehr plötzlich Angst - nackte Angst. „Ach, ich weiß nicht. Ich merke es eigentlich nur, wenn ich

aufstehe. Außerdem mußte ich mich auf meinen. Brief konzentrieren“, erklärte sie, wobei sie schon einen leicht benebelten Eindruck machte.

Jericho erschrak. „Los, komm“, sagte er und zog sie an den Handgelenken aus ihrem Stuhl hoch. Catherine stand auf. Sie schwankte. „Wir fahren auf den Beautiful Mountain zu Onkel Ernie.“

„Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist“, gab sie mit schwacher Stimme zurück und setzte sich wieder.

„Warum nicht?“ „Weil ... weil ich glaube ... vielleicht ist es besser, wenn ich hier in

der Klinik bleibe.“ Sie machte eine matte Handbewegung. „Hier ... ist alles, was ich brauche.“

„Nicht alles“, widersprach er schroff. Er ging um sie herum und kniete sich vor sie hin, um sie genau ansehen zu können. Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihm auf.

„Hattest du in letzter Zeit irgendwelche Träume?“ „Jericho“, gab sie mit erzwungener Ruhe zurück, „ich habe kaum

geschlafen. Ich bin wahrscheinlich einfach nur erschöpft.“ Doch er war nicht bereit, lockerzulassen. Wer von ihren nächsten

Angehörigen war bereits verstorben? Er fahndete in seinem Gedächtnis nach etwas, das sie ihm erzählt hatte. Gleich darauf hatte er es. „Deine Mutter.“

„Was ist mit ihr?“ fragte Catherine undeutlich. „Hast du sie in letzter Zeit gesehen?“ Verständnislos sah sie ihn an.

„Sie ist doch schon tot.“ „Ich weiß.“ Plötzlich zog sich ihr Herz zusammen. Sie schüttelte den Kopf. Das war

unglaublich. Verrückt. Sie wußte sehr genau, was mit ihr los war, und sie hatte so panische Angst, daß sie kaum noch Luft bekam, aber das alles hatte nichts zu tun mit Zauberei und chindis und all diesem Kram.

Und doch erinnerte sie sich auf einmal daran, was er ihr über die chindis erzählt hatte. Daß sie manchmal versuchten, ihre Angehörigen zu warnen vor Krankheiten oder ihrem bevorstehenden Tod.

„Sie hat mich nicht gewarnt!“ rief sie verzweifelt aus.

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Entschlossen erhob er sich und versuchte wieder, sie von ihrem Stuhl hochzuziehen. „Los, steh auf. Wir gehen.“

„Jericho! Um Himmels willen! Es ist die Tah honeesgai!“ Er erstarrte. „Bist du sicher?“ „Hör zu.“ Ihr Atem kam jetzt in kurzen, harten Stößen. „Dann fahren wir nach Gallup. Oder Albuquerque.“ „Nein“, flüsterte sie schwach. „Ruf einen Rettungshubschrauber. Ich

muß mich hinlegen.“ Mit zitternden Knien stand sie auf und ging, unsicher schwankend,

nach nebenan ins Untersuchungszimmer. Nachdem er den Rettungshubschrauber alarmiert hatte, kam er hinter ihr her. Das erstemal, seit sie ihn kannte, erschien er ihr hilflos und verloren. Instinktiv fühlte sie, daß er mit allem anderen besser zurechtkommen würde als mit dieser entsetzlichen Tatsache, mit der er sich nun konfrontiert sah.

„Draußen auf dem Regal ist ein starkes fiebersenkendes Mittel“, brachte sie mühsam heraus und nannte den Namen des Medikaments.

Nachdem sie die Tabletten mit einem Schluck Wasser hinuntergespült hatte, fragte er heiser: „Und jetzt?“

„Wir sollten besser ... mach das Sauerstoffgerät einsatzbereit ... ich sage dir, was du ... tun mußt.“ Sie hatte mittlerweile große Mühe beim Sprechen.

Sie betrachtete seine Hände, während sie ihn anwies. Seine Bewegungen waren trotz der Anspannung ruhig und sicher. Er hätte Arzt werden sollen, ging es ihr durch den Kopf, und im nächsten Moment erinnerte sie sich daran, wie sich diese Hände auf ihrem Körper anfühlten. Bitte, lieber Gott, flehte sie, laß es mich wenigstens noch einmal spüren. Laß mich nicht sterben. Und dann: fiel ihr plötzlich ein, daß sie noch immer nicht miteinander geredet hatten.

„Okay“, sagte sie, und es war mehr ein Keuchen, „laß es hier. So ist es nah genug, wenn ich es brauche.“

„Was ist mit dem Tropf?“ „Wir werden ihn ... auch brauchen.“ Sie rang nach Atem. Plötzlich spürte sie, wie sich ihr Magen

zusammenkrampfte. Dadurch bekam sie noch weniger Luft. Langsam wußte sie nicht mehr, ob es die Angst war, die sie in ihrem eisernen Würgegriff hielt und ihr dadurch die Kehle zuschnürte, oder die Tah

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honeesgai. Wie weit war die Krankheit schon fortgeschritten? Hatte sie überhaupt noch eine Chance?

Sie gab Jericho Anweisung, sie an das Infusionsgerät anzuschließen und wappnete sich geistig bereits im voraus gegen die Schmerzen, die ihr sein Versuch, die Injektionsnadel in die Vene zu stechen, verursachen würde. Da er vollkommen ungeübt war, würde er mehrere Anläufe brauchen, um die richtige Stelle zu treffen, das wußte sie aus Erfahrung. Doch die Nadel glitt sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings in ihre Ader hinein. Plötzlich hätte sie am liebsten geweint.

„Danke“, flüsterte sie. „Setz die obere Klemme ...“ pfeifend rang sie nach Atem, „auf die erste schwarze Linie.“

Eines gab es noch, das erledigt werden mußte. Obwohl der Gedanke ihr panische Angst einjagte, mußte sie der Realität ins Auge sehen. Ihre Überlebenschancen waren minimal. Zwar hatte sie für sich alles das getan, was sie damals auch für Louie getan hatte, und dennoch...

„Gib ... gib mir was zu schreiben keuchte sie. Er sah sie verwundert an, fragte jedoch nicht nach, sondern holte

ihr, wonach sie verlangt hatte. Ihre Finger waren jedoch zu schwach, um den Kugelschreiber halten zu können.

„Schreib ... folgende ... Nummer auf.“ Sie hatte große Mühe, die Nummer aus ihrem Gedächtnis zu kramen, ihr Gehirn fühlte sich an wie in Watte verpackt.

„Wessen Nummer ist das?“ fragte er. „Paddys. Es ... ist nur für den Fall, daß ... ich nicht durchkomme.

Jemand ... muß die Einwilligung ... zu meiner Autopsie geben. Der CDC braucht unbedingt...“

Sie brach ab, weil ein krampfhafter Hustenanfall sie zu schütteln begann.

„Nein“, schrie Jericho verzweifelt. „Hör auf! Hör auf, so zu sprechen! So etwas darfst du nicht mal denken!“ Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er dabei war, die Nerven zu verlieren, und stöhnte laut auf.

„Nur ... nur um auf alles vorbereitet ... zu sein“, beharrte sie. Er beugte sich über sie.

Diese Augen. Wenn sie sie auf ihrem letzten schweren Gang begleiten

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würden, könnte sie vielleicht beruhigt sterben. Er durchbohrte sie mit seinem Blick, als wollte er ihr auf diese Weise

neue Lebensgeister einhauchen. „Hör zu“, beschwor er sie, „die Navajos glauben - ich glaube, daß alles Leben in der Seele ist. Wenn der Geist stark genug ist, kann der Körper dem Tod widerstehen. Du bist jung, Katzenauge, für dich ist es noch nicht an der Zeit zu sterben, hörst du?“ Flehend schaute er sie an. „Versprich es mir. Versprich mir, zu kämpfen. Du darfst nicht aufgeben. Plötzlich schossen seine Hände vor. Er nahm die Sauerstoffmaske und warf sie zu Boden. „Du wirst sie nicht brauchen“, stieß er hervor. „Sag dir das immer wieder, hämmer es dir in den Kopf. Du wirst sie nicht brauchen, du mußt nur ganz fest daran glauben!“

„Ich ... werd’s ... versuchen“, flüsterte sie schwach. Es gelang ihr nicht länger, die Augen offen zu halten. Ihr war, als hingen Bleigewichte an ihren Lidern.

„Glaub doch ein Mal, ein einziges Mal nur, an etwas anderes als an das, was man dir als Kind eingetrichtert hat. Ich bitte dich, ich flehe dich an.“ Seine Stimme klang mittlerweile so heiser, daß er kaum noch sprechen konnte. „Verdammt. Verdammt. Verdammt. Ich wußte ja von Anfang an, daß du abhauen würdest, aber das ist eine ziemlich feige Art, sich vom Acker zu machen.“ Nicht schon wieder, flehte er innerlich, wobei die quälende Erinnerung an Anelle ihn fast zu Boden drückte.

Das was er sagte, machte sie wütend, fuchsteufelswild, aber sie fand nicht mehr die Kraft, ihm Kontra zu geben.

„Verlaß mich nicht, Katzenauge. Noch nicht. Ich bin noch nicht fertig mit dir.“

Diese Sätze waren das letzte, was sie bewußt aufnahm. Plötzlich spürte sie, wie eine unerklärliche Ruhe über sie kam.

Sie wollten ihn daran hindern, mitzufliegen. Als sich der CDC-Arzt

gleichgültig von ihm abwandte, packte Jericho ihn am Ärmel. Seine Augen loderten.

„Hören Sie zu, Freundchen“, stieß er gefährlich ruhig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Sie haben die Wahl. Entweder Sie nehmen mich mit, oder Sie können Ihre Knochen hier einzeln

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aufsammeln. Alles klar?“ Der Arzt musterte ihn, als wolle er sich darüber klarwerden, ob er

es hier womöglich mit einem Irren zu tun hätte. „Steigen Sie ein“, erwiderte er schließlich knapp.

Jericho setzte sich neben die Bahre, auf der Catherine lag. Sie war nicht mehr bei Bewußtsein. Aber vielleicht hatte sie ja seine letzten Worte noch gehört, bevor sie ins Koma gefallen war. Sie würden sie retten. Sie mußten sie retten. Der Gedanke, Catherine zu verlieren, verursachte in ihm eine Leere, von der er wußte, daß sie durch nichts gefüllt werden könnte.

Nun hatte sie der wolfman doch noch erwischt. Sie glaubte nicht daran, aber er, Jericho, war fest davon überzeugt. Er mußte alles daran setzen, sie seinen Klauen wieder zu entreißen.

„Oh, Katzenauge! Warum bist du hierhergekommen? Und warum bist du nicht nach Hause gegangen, bevor es zu spät war?“

Aber vielleicht, vielleicht würde sie ja auch ihr sturer irischer Kopf retten.

Er nahm ihre Hand fest in die seine und begann im stillen mit einem Gesang. Ihre Seele würde ihn hören. Die ganze Nacht würde er singen, alle Gesänge, die er kannte, und wenn er fertig war, würde er wieder von vorn beginnen.

Als sie sich schließlich herumzuwerfen begann und anfing zu stöhnen, nahm er es als ein gutes Zeichen.

„Hey“, knurrte er einen Sanitäter an, der sich auf der anderen Seite der Bahre an ihr zu schaffen machte. „Lassen Sie sie in Ruhe.“

„Das Fieber sinkt“, sagte der junge Mann. „Hat sie irgendwelche Medikamente eingenommen?“

Jericho nannte ihm den Namen des Arzneimittels, seine Gedanken rasten. Er mußte es schaffen, daß dieser Anglo seine Finger von ihr ließ, damit sie ihren Traum zu Ende träumen konnte. Er hatte damit gerechnet, hatte es mit jeder Faser seines Herzens gehofft, daß sie aus dem Koma erwachen und anfangen würde zu träumen. Nun war es soweit. Der Traum würde den Heilungsprozeß einleiten, der unter keinen Umständen gefährdet werden durfte.

Als Catherine sich immer wilder hin und her zu werfen begann, machte der Sanitäter Anstalten, sie an der Bahre festzubinden. Jericho fiel ihm in

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den Arm. „Pfoten weg.“ „Sie ist im Delirium“, protestierte der Mann. „Sie ist kein Tier. Der Sanitäter, der zu Beginn des Fluges Jerichos

Auseinandersetzung mit dem CDC-Arzt mitbekommen hatte, wich zurück. „Okay, okay. Aber halten Sie sie fest, damit sie sich nicht verletzt.“

„Das wird sie nicht.“ Einen Augenblick später war er sich da allerdings nicht mehr so sicher. Sie begann laut zu phantasieren. Was sagte sie da? Wer, zum Teufel, war Victor? Angestrengt versuchte er, ihre im Fieberwahn hastig dahingeflüsterten Worte zu verstehen.

Victor. Jericho mußte all seine Kräfte aufbieten, um sie festzuhalten. Sie bäumte sich auf und begann plötzlich, wie eine Wahnsinnige um sich zu schlagen. Dabei schrie sie immer wieder den Namen dieses Mannes, von dem er, Jericho, nicht wußte, wer er war. Aber es war offensichtlich, daß sie Angst vor ihm hatte.

Und plötzlich ging ihm ein Licht auf. Mit einemmal machten die abgehackten Wortfetzen, die sie heiser hervorstieß, Sinn. Die Narbe an ihrer Hüfte, der er gestern nacht fast keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, kam ihm in den Sinn, und ein schrecklicher Verdacht keimte in ihm auf.

Er wollte Gewißheit. Jetzt. Nachdem es ihm gelungen war, sie etwas zu beruhigen, drückte er sie mit der Rechten auf der Bahre nieder und öffnete mit der Linken den Reißverschluß ihrer Hose. Er schob sie ein Stück nach unten und streifte das T-Shirt hoch.

Unverkennbar ein Streifschuß. Er hatte schon früher Verletzungen, die von Streifschüssen herrührten, gesehen. Deshalb war er sich ganz sicher.

Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander. Großer Gott, worin war sie verwickelt gewesen?

Der Helikopter setzte zum Landeanflug an. Sie waren in Albuquerque, und sie war noch am Leben.

Jericho folgte den Sanitätern, die die Bahre trugen, in die Notaufnahme. Als er Anstalten machte, ihnen auch in den Untersuchungsraum hinterherzugehen, baute sich eine korpulente

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Krankenschwester drohend vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. „Ich gehöre zu ihr“, sagte er schroff und deutete dabei auf die

Bahre. „Nein, gehören Sie nicht.“ Ihre Stimme klang wie das Grollen einer Löwenmutter, die ihre Jungen beschützt. „Dr. Weatherly hat mich bereits vorgewarnt.“

Jericho sah sie finster an. „Wer ist Weatherly?“ „Der CDC-Arzt, der sie hergebracht hat. Sie bleiben draußen. Und

wenn Sie es wagen, Hand an mich zu legen, rufe ich die Polizei.“ Jericho fuhr sich durchs Haar. Was hatte der CDC-Arzt ihr erzählt? O Himmel, er hatte ihm ja Prügel angedroht oder womöglich

sogar Schlimmeres. Er hob in einer verzeihungheischenden Geste beide Hände.

Dabei bemühte er sich um sein charmantestes Lächeln, doch er sah bereits, daß es zwecklos war. Dieser Drachen hier würde sich nicht erweichen lassen. Aber es war auch schon egal. Catherine war in Sicherheit.

Er, Jericho, konnte nichts mehr für sie tun. Nun befand sie sich in den Händen der Ärzte, die sie umschwärmen würden wie ein Schwarm Bienen den Honigtopf, sie würden ihren Körper behandeln und dabei ihre Seele vergessen. Aber sie würde durchhalten. Sie mußte durchhalten. Sie hatte ihn gehört.

Als er bemerkte, wie die Krankenschwester kritisch sein langes, blauschwarz schimmerndes Haar unter die Lupe nahm, unterdrückte er eine heiße Zornesaufwallung und trat einen Schritt zurück. Einen Moment später wanderte ihr Blick tiefer und blieb an einem bestimmten Punkt hängen. Seine Hand zuckte zu der Stelle und fand seinen Medizinbeutel, den er normalerweise unter dem Hemd trug. Er mußte ihm herausgerutscht sein, als er Catherine zu beruhigen versucht hatte. Der Gesichtsausdruck der Krankenschwester verriet tiefste Mißbilligung.

„Da drin geht es nämlich absolut steril zu.“ Oh, Lady, dachte er, dich knöpf ich mir später vor. „Steril oder

nicht, vielleicht sollten Sie dennoch besser reingehen und sehen, ob Sie nicht vielleicht gebraucht werden.“

Vor Entrüstung klappte ihr fast der Kiefer herunter, und ihr fleischiges Gesicht nahm die Farbe einer reifen Tomate an. Jericho ließ sie

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stehen und ging in die Empfangshalle zurück. Der Morgen dämmerte herauf, als Weatherly ihn in der Halle

aufstöberte. Er näherte sich ihm mit offensichtlichem Widerwillen, und Jericho stemmte sich aus einem Besuchersessel hoch, um ihm entgegenzugehen.

„Sie sind kein Angehöriger, stimmt’s?“ Jerichos Blut gefror. „Warum? Ist sie...“ Er konnte den Satz nicht

beenden. „Ich denke, sie wird durchkommen“, sagte der Arzt. „Aber da Sie

kein Angehöriger sind, können Sie erst zu ihr, wenn sie wach ist.“ Eine ungeheure Erleichterung durchflutete ihn, Erleichterung und ein

grimmiger Stolz. Sie hatte ihn gehört. Der Arzt redete noch immer. Jericho wandte ihm wieder seine

Aufmerksamkeit zu. Er beschrieb Catherines Gesundheitszustand und versuchte dabei, sich selbst über einiges, das ihm unerklärlich war, klar zu werden. Ihr Fieber war gesunken. Die Nacht hatte sie unter einem Sauerstoffzelt verbracht, doch nun war sie wieder imstande, selbständig zu atmen. „Ich wünschte bei Gott, ich wüßte, warum die Krankheit bei Mrs. MacDaniel und Louie Coldwater anders verlaufen ist als sonst.“ Der Mann schüttelte nachdenklich den Kopf.

Weil sie geglaubt haben. „Sie hat beide Male die Symptome sehr früh erkannt.“

„Das, ist aber auch die einzige Ähnlichkeit.“ Jericho ließ ihn stehen und ging zu der Telefonbox an der

gegenüberliegenden Wand. Unterwegs kramte er in seiner Hosentasche nach dem Zettel, auf dem er sich die Nummer von Catherines Vater notiert hatte. Er hatte ihn ganz vergessen, bis Weatherly auf Familienangehörige zu sprechen gekommen war. Jericho starrte auf die Nummer und rieb sich seine übermüdeten Augen.

Es gab. keinen Grund mehr für diesen Anruf. Und doch gab es den besten Grund der Welt. Er nahm den Hörer in die Hand. Nachdem er die Zahlen

eingetippt hatte, schaute er auf seine Uhr. Zwanzig nach sechs. Da er nicht wußte, wohin der Anruf ging - es war für ihn aus der

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Vorwahl nicht ersichtlich - wußte er auch nicht, wie spät es dort war. Das Telefon läutete eine Weile, dann hob jemand ab. Nun war es

für Bedenken sowieso zu spät. „Mr. McDaniel“, verlangte er. „Moment mal, Junge. Dürfte ich freundlicherweise zuerst wissen,

mit wem ich es zu tun habe?“ Junge? Wie lange war es her, daß jemand die Unverschämtheit

besessen hatte, ihn „Junge“ zu nennen? Jericho wartete, bis sich seine Wut gelegt hatte - und hörte sich plötzlich lachen.

Catherine hatte überlebt. Es erschien ihm mit einemmal als ein solches Wunder, daß ihm die Brust zu eng zum Atmen wurde. Eine Welle von Gefühlen, süß und verwirrend, warm und unvorstellbar wundervoll, schwappte über ihn hinweg.

Es dauerte einen Augenblick, bis er seine Stimme wiedergefunden hatte. „Ich rufe wegen Ihrer Tochter an. Dann erinnerte er sich daran, daß der Mann einen ganzen Stall voller Töchter hatte. „Catherine.“

In der Leitung knisterte es. Schweigen. „Cat“, sagte Paddy schließlich weich. „Wo ist sie?“

„Im Krankenhaus, aber sie kommt wieder in Ordnung.“ Diese Nachricht mußte sich bei Catherines Vater offensichtlich erst

einmal setzen. „Im Saint Marys?“ Saint was? „Nein, in der Universitätsklinik.“ „Hier in Boston?“ Boston. Also kam sie aus Boston. Aber warum wußte Paddy

denn nicht, daß sie sich in New Mexico aufhielt? Jericho spürte, daß er begann, den Gesprächsfaden zu verlieren. „Albuquerque“, erwiderte er schnell.

„Was macht sie denn da?“ erkundigte sich Paddy tastend. Jetzt ging Jericho ein Licht auf. Ihr Vater hatte keine Ahnung

davon, daß sie ein Praktikum in einer Reservation in New Mexico machte. Warum nicht?

Er klärte Paddy auf. „Und warum ist sie jetzt im Krankenhaus?“ wollte Paddy wissen. Jericho wog seine nächsten Worte sorgfältig ab. Vorsichtig erzählte er

von der Tah honeesgai und daß der Indian Health Service aus diesen, aber auch noch aus vielen anderen Gründen Schwierigkeiten

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hatte, seine Praktikantenstellen zu besetzen. Dann lenkte er das Thema geschickt wieder auf das, was er herausbekommen wollte. „Für mich sieht es so aus, als sei sie vor irgendwas davongerannt. Dafür war sie bereit, ein hohes Risiko einzugehen. Und tatsächlich hat sie sich die Krankheit eingefangen, aber Gott sei Dank ist sie über den Berg.“

Paddy mußte die Neuigkeiten erst einmal verdauen. „Und warum ruft sie nicht selbst an?“ fragte Paddy mißtrauisch.

„Weil sie schläft.“ „Hat sie ihren Groll auf mich begraben?“ Groll? „Wann haben Sie denn das letztemal mit ihr gesprochen?“ Paddy ließ einige der farbenprächtigsten Flüche los, die Jericho

jemals in seinem Leben gehört hatte. Und er war bestimmt kein Waisenkind in dieser Hinsicht. „Vier Jahre dürften es jetzt sein - seit sie mit diesem Dreckskerl verheiratet ist erwiderte er rauh.

Verheiratet. Das Wort traf ihn wie eine stählerne Faust. Direkt an seine empfindlichste Stelle. Ihm blieb für einen Moment die Luft weg. Er hatte alles mögliche erwogen und vieles befürchtet, was sie anbelangte, doch darauf war er nicht gekommen. Verheiratet?

„Mit Victor?“ fragte er kurzangebunden. „Ja. Mit Victor Landano.“ „Aha.“ Die Puzzleteile fügten sich langsam zusammen. „Er hat

versucht, sie umzubringen. Deshalb hat sie sich wohl hier versteckt. Sie hat jedem erzählt, daß sie Lanie McDaniel heißt.“

„Guter Name das“, gab Paddy mit einem trockenen Auflachen zurück, wobei Jericho den Eindruck hatte, daß er fieberhaft zu überlegen schien.

„Ich muß alles über Victor wissen“, sagte Jericho. „Ich muß wissen, warum er hinter ihr her war.“

Paddy räusperte sich. „Keine Ahnung, wirklich. Warum fragen Sie sie nicht selbst?“

Weil ich ein Feigling bin, dachte er. Vor zwei Tagen hat sie mir Gelegenheit gegeben zu fragen, aber ich habe sie nicht genutzt. Weil ich Angst hatte, sie zu verlieren.

„Ich weiß nicht genau“, gab er schließlich vorsichtig zurück. „Hmpf“, machte Paddy. „Und was, wissen Sie von ihr?“

Jericho dachte darüber nach. „Sie hat eine Menge Temperament – und

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bisweilen geht es mit ihr durch. Sie lacht immer dann, wenn man es nicht erwartet, und sie ist dickköpfiger und hartnäckiger, als ihr manchmal gut tut.“

„Gut getroffen, wirklich.“ Paddy schien zufrieden. „Ich konnte Landano noch nie leiden“, fügte er dann, plötzlich redselig geworden, hinzu. „Sie hat ihn während ihres letzten Studienjahres kennengelernt, und irgendwie hat er sie dazu gebracht, daß sie ihr Studium an den Nagel hängt. Dabei war sie immer so ehrgeizig. Ist mir völlig schleierhaft, was er mit ihr angestellt hat, daß sie den ganzen Kram einfach so mir nichts dir nichts hinschmeißt.“

Jericho wußte, warum. Auf einmal erinnerte er sich an den Tag, an dem sie sich gestritten hatten. Wie sie plötzlich schneeweiß geworden war. Victor hatte ihr Befehle erteilt und Ultimaten gestellt.

Paddy seufzte. „Der Bursche sieht gut aus und hat eine Menge Heu. Aber ich mochte seine, Hände nicht - viel zu weich. So als hätte er nicht einen einzigen Tag in seinem Leben gearbeitet. Männern mit weichen Händen kann man nicht trauen. Ich persönlich war immer davon überzeugt, daß, er ein Ma-fi-o-si ist.“ Er dehnte das Wort verächtlich und betonte dabei jede Silbe.

Jericho erstarrte. Er dachte an ihre Angst und wie ängstlich sie versucht hatte, ihr Geheimnis zu wahren. Plötzlich machte das Ganze für ihn einen Sinn.

Er tauschte mit Paddy noch ein paar höfliche Worte aus und verabschiedete sich dann. Er hatte keine Zeit zu verlieren.

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16. KAPITEL Zuerst bekam Catherine einen Riesenschreck, dann wurde sie

fuchsteufelswild. Sie griff nach dem vollen Wasserglas, das neben ihr auf dem

Nachttisch stand, und schleuderte es, ohne lange darüber nachzudenken, was sie tat, in Jerichos Richtung. Der duckte sich geistesgegenwärtig, so daß es gegen die Heizung donnerte und in tausend Scherben zersplitterte.

„Geht’s dir wieder besser?“ erkundigte er sich, ohne mit der Wimper zu zucken, trocken.

„Zuerst einmal habe ich dir gesagt, du sollst ihn anrufen, wenn ich gestorben bin.“

„Du bist doch gestorben.“ Sie ignorierte seinen Einwurf, obwohl sie genau verstand, worauf er

hinauswollte. Lanie McDaniel war tatsächlich tot. „Und zweitens kann ich es nicht leiden, wenn über meinen Kopf hinweg entschieden wird, und drittens finde ich diesen Ausdruck auf deinem Gesicht, der mir suggeriert, daß ich alles mögliche angestellt habe, um mir deinen Zorn zuzuziehen, entsetzlich.“

Seine Miene blieb undurchdringlich. „Ich bin nicht verheiratet, du sturer...“ Plötzlich wurde sein Gesicht so hart, daß sie vor Schreck das letzte Wort

verschluckte. „Red ruhig weiter.“ „Vergiß es.“ Sie preßte die Kiefer aufeinander. Er drehte sich

um und starrte zum Fenster hinaus. Die Sonne lachte von einem strahlend blauen Himmel, doch er wußte, daß sie ihre wärmende Kraft bereits verloren hatte. Der Winter hielt langsam Einzug, die Jahreszeit, in der in der Natur alles zum Erliegen kam, näherte sich mit Riesenschritten.

„Ich bin jetzt bereit, dir zuzuhören“, sagte er schließlich viel zu ruhig. Catherine atmete hörbar aus. Die Dinge waren zwar reichlich

verworren, aber das spielte mittlerweile keine Rolle mehr. Selbst wenn es jetzt noch einen Unterschied gemacht hätte, ob sie ihn einweihte oder nicht, hätte sie sich auf jeden Fall für ersteres

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entschieden. Weil es ihr nicht länger möglich war, etwas vor ihm geheimzuhalten.

Sie wußte nur nicht, wo sie anfangen sollte. „Ich war verheiratet“, begann sie. „Aha.“ „Es war ein Fehler ... ich wußte es ziemlich von Anfang an, aber

meine Familie hätte nie zugelassen, daß ich mich scheiden lasse.“ „Wieder der Papst.“ Noch immer kehrte er ihr den Rücken zu. „Richtig. Also versuchte ich, mich damit abzufinden. Eines Tages im

August sollte mein Auto zur Überholung in die Werkstatt. Victor saß in seinem, Arbeitszimmer. Er sah meinen Wagen wegfahren, aber offensichtlich war er sich nicht klar darüber, daß nicht ich es war, die ihn fuhr, sondern der Mechaniker. Er nahm an, ich sei weg. Als ich ihn zum Essen rufen wollte, hörte ich, daß er telefonierte. Gerade als ich ... als ich mich bemerkbar machen wollte, sagte er etwas, das ... das...“

Rasch drehte er sich um und musterte sie scharf. Er wußte, daß sie jetzt in ihrer Erzählung an dem entscheidenden Punkt angelangt war. An dem Punkt, den sie die ganze Zeit über sorgsam versucht hatte, vor ihm geheimzuhalten.

Catherine schluckte vorsichtig. Nein, keine Geheimnisse mehr. Sie holte tief Luft.

„Weil sich Senator Davies Victor bei einem Geschäft quergelegt hat, hat Victor ihn kurzerhand aus dem Weg räumen. lassen. Darüber hat er am Telefon mit jemandem geredet. Es hörte sich so an, als sei einer der Täter durchgedreht, woraufhin alles schiefgelaufen war. Nun hatten sie eine Leiche und wußten nicht, wohin damit.

Ich hatte Glück, daß er nicht auf mich aufmerksam geworden war, und ging zurück in die Küche. Ich war völlig verstört und wußte nicht, was ich tun sollte. Vor lauter Aufregung ließ ich einen Topf mit Suppe fallen und war gerade dabei, die Bescherung aufzuwischen, als Victor hereinkam. Natürlich sagte ich nichts, aber ich bin sicher, er ahnte etwas... er ahnte es.

Am nächsten Tag ging ich zur Polizei, die sofort das FBI einschaltete. Die FBI-Leute drangen in mich, daß ich wieder nach Hause gehen und so tun sollte, als sei nichts geschehen. Weil sie Beweise brauchten, schlugen sie mir vor, daß ich vorsichtig versuchen sollte, Victor auszuhorchen.

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Sie boten mir Schutz an, und auf ihr Drängen hin gab ich ihnen die Erlaubnis, unser Haus zu überwachen sowie unser Telefon abzuhören.“

Sie hielt einen Moment inne und schauerte angesichts der Erinnerungen, die plötzlich wieder auf sie einstürmten, zusammen. „Da das FBI wollte, daß ich weiterhin mit Victor zusammenlebte, ich aber wild entschlossen war, mich scheiden zu lassen, bot man mir als Ausgleich die Annullierung meiner Ehe, die vollkommen geräuschlos über die Bühne gehen sollte, an. Dieser Vorschlag kam mir natürlich sehr entgegen, weil ich auf diese Weise all den häßlichen Dingen, die mit einer Scheidung verbunden sind, entgehen konnte.“

Sie war gar nicht mehr verheiratet. Jericho fühlte sich plötzlich so leicht wie eine Feder. Scheidung, Annullierung - was machte das schon für einen Unterschied? Das einzige, was zählte, war, daß sie nicht mehr län-ger Victors Frau war. Jerichos Augen verengten sich, während er darauf wartete, daß sie ihm auch noch den letzten Rest der Geschichte erzählte.

Catherine seufzte. „Sie überredeten mich also, zumindest noch ein paar Wochen mit ihm zu leben, bis sie die notwendigen Beweise gegen ihn zusammen hätten. Dann aber kam alles anders. Unsere Ehe wurde zwar ohne Victors Wissen annulliert, aber irgendwie begann er zu ahnen, daß etwas nicht stimmte. Schauspielerei war noch nie meine Stärke.“

„Sieht so aus“, stimmte er zu und handelte sich damit von ihr einen finsteren Blick ein. Dann lächelte sie zaghaft.

„In Punkto Sex war bei uns niemals besonders viel los. Es war eher ... sporadisch. Mir war ziemlich bald nach unserer Hochzeit klargeworden, daß ich Victor nicht wirklich liebte. Von diesem Zeitpunkt an versuchte ich so gut wie möglich, darum herumzukommen. Was mir natürlich nicht immer gelang. Doch nachdem ich erfahren hatte, was er getan hatte wie er wirklich war - ging bei mir nichts mehr. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, daß er mich auch nur anfaßte. Deshalb merkte er ziemlich schnell, daß sich etwas zwischen uns verändert hatte. Und er wußte auch, was. Aus diesem Grund beschloß er, mich zu töten.“

„Er hat auf dich geschossen. „Mein Glück war, daß Victor so sehr von sich selbst überzeugt ist. Wenn

er einfach nur den Abzugshebel betätigt hätte, wäre ich jetzt nicht

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mehr hier und könnte dir nichts mehr erzählen. Aber Victor wollte unbedingt einen letzten Triumph, er wollte seine ganze Macht ausspielen. Er wollte mich quälen. Ich sollte wissen, warum ich sterben mußte. Also stellte er sich mit der Pistole im Anschlag vor mich hin und hielt mir in aller Seelenruhe, als würde er über das Wetter reden, einen Vortrag. Ich war natürlich wie von Sinnen vor Angst und wußte nicht mehr, was ich tat.

Deshalb rannte ich einfach weg, die Treppe hinauf, in mein Schlaf-zimmer und sperrte die Tür hinter mir ab. Victor war so verblüfft, daß er zuerst gar nicht reagieren konnte. Einen Moment später kam er jedoch hinter mir her und zerschoß das Schloß. Voller Entsetzen wurde mir klar, daß ich in der Falle saß. Ich rannte zum Fenster. Direkt unter mir lag der Swimingpool, also machte ich kurzen Prozeß und sprang hinein.“

Schon allein die Vorstellung, ließ Jericho das Blut in den Adern gefrieren. „Aus dem ersten Stock?“

„Ich bin eine gute Schwimmerin. „Du hättest dir das Genick brechen können.“ Plötzlich erinnerte er sich

an die Puppe. Catherine nickte. „Sicher. Aber was hatte ich denn für eine

andere Wahl? Ich wollte wenigstens, wenn ich schon dazu verdammt war, sterben zu müssen, die Umstände meines Todes selbst bestimmen. Ich war nicht bereit, mich einfach wie einen tollwütigen Hund abknallen zu lassen.“

Ihm entfuhr ein harsches Lachen, das in der Luft hängenblieb, als sie weiterredete.

„Soviel zu dem Schutz, den mir das FBI garantiert hatte“, fuhr sie bitter fort. „Ich wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. Zu Paddy konnte ich nicht, ja, ich konnte es nicht einmal wagen, ihn zu warnen. Und bei einem anderen Familienmitglied Unterschlupf zu suchen, kam ebenso-wenig in Frage, weil mir klar war, daß Victor dort als erstes nach mir suchen würde. Die einzige Chance, die ich hatte, war unterzutauchen.“

„Aber er hat auf dich geschossen. Wann?“ „Er fing mich ab, als ich aus dem Pool kletterte, und schoß auf

mich, aber er hatte wohl keine ruhige Hand, weil er schnell die Treppe hinuntergelaufen war, und verfehlte sein Ziel. Es gelang mir, sein Auto zu erreichen, bei dem Gott sei Dank die Schlüssel steckten. Er

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hatte die Angewohnheit, sie niemals abzuziehen - geradeso, als sei er davon überzeugt, daß niemand es wagen würde, sein Auto zu stehlen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich raste also davon, als ob der Teufel hinter mir her wäre. Erst nach einiger Zeit hielt ich kurz an, um meine Verletzung, die stark blutete, notdürftig zu verarzten. Dann fuhr ich ohne Unterbrechung bis Connecticut. Dort suchte ich einen Arzt auf und kaufte mir ein paar Sachen zum Anziehen. Noch immer war mir nicht klar, was ich eigentlich tun sollte.“

Der Blick, den er ihr zuwarf, war seltsam. „Woher hattest du das Geld?“ „Es war in meiner Handtasche. Natürlich habe ich sie mir

geschnappt, bevor ich in den Pool sprang.“ Sie sah ihn an, als wäre eine andere Handlungsweise undenkbar.

„Victor war mit einer Pistole hinter dir her, und du hast noch an Geld gedacht?“ fragte er entgeistert.

„Ohne Geld wäre ich ganz schön in die Bredouille gekommen.“ Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Diese Frau schien

Nerven wie Drahtseile zu haben. Er sah sie wieder an, und sein Herz schmerzte. „Und was geschah dann in Connecticut?“

„Ich nahm mir in einem schäbigen Motel ein Zimmer - die Leute, die da ein und aus gingen, hättest du mal sehen sollen.

Er nickte. Er konnte sie sich gut vorstellen. „Dann kaufte ich mir die Zeitung, um zu sehen, ob etwas über

Victor drinstand. Natürlich fand ich nichts. Dafür fesselte ein Artikel über die Mystery Disease meine Aufmerksamkeit. Bei dem, was nun folgte, war es

. als hätte ich mehr Glück als Verstand.“ Sie zögerte. „Den Rest kennst du.“

„Nicht ganz. Wen hast du von Shiprock aus angerufen?“ „Das FBI. Nachdem ich die Zusage vom Indian Health Service er-

halten hatte, habe ich Victors Auto einfach stehen gelassen, weil ich es für das beste hielt, mich vorerst in Luft aufzulösen. Aber nach-dem die Sache mit der Eule passiert war, bekam ich Angst und war fest überzeugt davon, daß Victor hinter mir her sei. Plötzlich mußte ich einfach wissen, wie die Dinge in Boston standen. Deshalb habe ich angerufen.“

„Und?“ wollte Jericho wissen.

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Sie erzählte ihm, was sie von Schilling in Erfahrung gebracht hatte. „Sie sind der Meinung, daß ich nicht mehr in Gefahr bin“, schloß sie. „Aber sie haben sich schon einmal geirrt.“

Ein harter Zug legte sich um seinen Mund. „Es ist also noch nicht vorbei.“

„Nein“, seufzte sie. „Die Eule, die Puppe - irgend jemand treibt sich hier draußen rum. Irgend jemand, der etwas weiß. Eine andere Erklärung gibt es für die Vorfälle meiner Meinung nach nicht.“

„Jetzt mußt du erst einmal wieder richtig gesund werden.“ „Aber vielleicht ist es ja auch nur dein ... der wolfman.“ „Könnte sein.“ Ein zuckender Muskel an seinem Hals verriet seine

An spannurig. „Wir werden es herausfinden. „Wie?“ fragte sie, wobei sie sich nicht ganz sicher war, ob sie es

tatsächlich wissen wollte. Er zögerte den Bruchteil einer Sekunde zu lang. „Falls es wirklich der

wolfman war, wird jetzt Schluß sein damit.“ „Warum?“ Stirnrunzelnd sah er sie an. Offensichtlich hatte er Schwierigkeiten, die

richtigen Worte zu finden. „Kannst du dich in die Psyche von Halbstarken reinversetzen?“

„Ich denke schon.“ „Mit den wolfmen verhält es sich ähnlich wie mit Halbstarken. Sobald

man ihnen die Stirn bietet und nicht ängstlich zurückweicht, ziehen sie den Schwanz ein. Du hast den wolfman besiegt, Katzenauge.“

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie denn?“ „Du hast dich als stärker erwiesen als er. Du hast überlebt.“ „Aber es war die Tah honeesgai ...“ Sie brach hilflos ab. Ja, es war

die Tah honeesgai gewesen, aber vielleicht ... vielleicht waren ihre Wurzeln ja doch nicht organischer Natur.

Sie schauerte zusammen und schloß die Augen, während sie sich daran zu erinnern versuchte, von woher die Stimme ihrer Mutter gekommen war.

„Du brauchst Ruhe“, sagte Jericho. „Diesmal werde ich mich nicht mit dir anlegen.“ Sie fühlte sich wie

ausgewrungen, aber als sie hörte, wie er näher an ihr Bett kam,

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machte sie die Augen doch noch einmal auf. Er beugte sich zu ihr hinunter und sah sie eindringlich an.

„Paddy will, daß ich ihn noch einmal anrufe.“ Sie preßte die Kiefer aufeinander. In ihrem Blick lag sowohl

Wachsamkeit als auch Schmerz. „Hat er das gesagt?“ fragte sie mißtrauisch.

„Was denkst du denn?“ Ganz kurz hatte es den Anschein, als wollte sie lächeln, aber sie

war dickköpfig, bei Gott. „Ich dachte, er hätte gesagt, daß ich ihn anrufen soll.“

Jericho schien nachzudenken. „Nein, er hat gesagt, ich soll ihn anrufen.“

„Ich weiß nicht.“ Sie machte wieder die Augen zu und lehnte sich in die Kissen. „Er hat Victor gehaßt.“

„Du bist nicht mehr mit ihm verheiratet. Man soll die Vergangenheit ruhen lassen.“

Sie zuckte die Schultern. „Egal. Und Paddy hatte ja recht, in bezug auf Victor. Er wird seinen Triumph jetzt voll auskosten, in solchen Dingen war er noch niemals bescheiden. Ich werde eine Menge Kreide fressen müssen.“

„Wir werden das Kind schon schaukeln, Katzenauge.“ Ihr Herz machte einen Riesensatz. Wir? Sie blickte ihn an, aber er schien nicht mehr ganz bei der Sache.

Sein Blick schweifte in die Ferne, und sie erkannte, daß es noch etwas anderes gab, das ihm beschäftigte. Vielleicht war ihm gar nicht bewußt gewesen, was er da eben gesagt hatte. Er streifte mit seinen Lippen ihre Stirn und war bereits an der Tür, noch bevor ihr Herz wieder begonnen hatte, regelmäßig zu schlagen.

„Wohin gehst du?“ brachte sie mit Mühe heraus. „Ich versuche ein paar Leute, denen ich vertrauen kann“

zusammenzutrommeln, damit sie in den nächsten Tagen vor deiner Tür Wache stehen. Was meinst, du wie lange sie dich hierbehalten?“

„Ich ...“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Louie war vier Tage drin.“ „Also bis Freitag?“ „Vermutlich. Und was machst du?“ Warum konnte er nicht

hierbleiben?

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„Willst du mich kontrollieren, Katzenauge?“ Als sie rot wurde, grinste er, und das war etwas, das so selten vorkam,

daß ihr der Anblick den Atem verschlug. „Ich habe ein paar Dinge zu erledigen“, sagte er rauh. „Bis dann.“ Als er die Tür öffnete, drang ein Schwall frischer Luft herein, und

dann war Catherine allein. Wir? In den folgenden Tagen wechselten sich Bessies Mann mit Eddie

Begay und Grandmother Yellowhorse Sohn Tommy, der mittlerweile wieder frei war von bösen Geistern, dabei ab, vor ihrer Tür Wache zu halten. Alle waren so freundlich zu ihr, daß Catherine ganz gerührt war. Eddie kam nicht umhin, ihr die traurige Botschaft zu überbringen, daß ihr Ford hinüber war - eine Tatsache, mit der sie sowieso schon gerechnet hatte - und bot ihr an, daß sie sich seinen Jeep ausleihen könnte, wann immer sie ihn benötigte.

Als sie am Freitag morgen die Augen aufschlug, saß ein sehr alter weißhaariger Mann an ihrem Bett. Sie wußte sofort, daß es sich nur um Onkel Ernie handeln konnte. Nach und nach lernte sie all die Menschen kennen, die Jericho nahestanden. Seine Leute.

„Hallo“, begrüßte sie ihn zurückhaltend. „Yutaheh „, erwiderte er. Seine Stimme klang rauh. „Sprechen Sie Englisch?“ Sie hielt es durchaus für möglich, daß

das nicht der Fall war. Er war so alt, daß es ihr sogar denkbar erschien, daß er noch die Zeiten erlebt hatte, in denen die Indianer noch nicht gezwungen waren, in Reservaten zu leben.

Onkel Ernie lächelte. „So gut wie Sie. Aber ich vermeide es, wenn möglich, Englisch zu sprechen.“

„Ich kann leider nicht Navajo.“ „Sie werden es lernen.“ Catherines Herz machte einen Satz. Er schien felsenfest überzeugt

von dem, was er eben gesagt hatte. Sie entschloß sich, das Thema zu wechseln. „Hat Sie auch Jericho

geschickt?“ „Nein. „Er hat Sie nicht geschickt?“ wiederholte sie zweifelnd.

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„Das war nicht notwendig. Ich habe davon gehört, daß Sie hier sind, und deshalb bin ich gekommen.“

Er öffnete einen Lederbeutel, den er um den Hals trug und nahm eine Handvoll Pollen heraus - zumindest vermutete sie, daß es Pollen waren. Sie hatte bereits früher eine Menge über das Zeug gelesen - die Navajos benutzten es als eine Art Allheilmittel.

Onkel Ernie streute die Pollen über ihre Bettdecke. „Er wird nicht mehr zu Ihnen kommen“, sagte er dabei mit zufriedenem Gesichtsausdruck.

„Jericho?“ entfuhr es ihr, und ihr Herz krampfte sich zusammen. „Nein. Der wolfman.“ „Oh.“ Sie holte tief Luft. „Dasselbe hat Jericho auch schon gesagt.“ „Womit er recht hatte. Aber ganz sicher können wir erst jetzt sein.“

Er verschloß den Lederbeutel wieder und steckte ihn unter sein Hemd. „Jericho wird in Kürze hier sein. Er ist bereits unterwegs.“

Nach diesen Worten stand er auf und wandte sich zur Tür, unterwegs hielt er noch einmal inne und drehte sich zu ihr um. Dabei sah er sie auf die gleiche durchdringende Art und Weise an wie Jericho. Dann hob er plötzlich den Kopf und schien Stimmen zu lauschen, die in seinem Inneren auf ihn einredeten.

„Du mußt es lernen, Catherine Mary, ab jetzt immer auf die Stimme deines Herzens zu hören. Wer sie einmal entdeckt hat, darf sie nie mehr verleugnen.“

Einen Moment später ging die Tür, und dann war er weg. Catherine Mary? Woher hatte er ihren vollständigen Namen gewußt?

Natürlich - Paddy hatte es Jericho erzählt, und Jericho hatte es an ihn weitergegeben. Das wäre eine Erklärung gewesen, doch so recht daran glauben konnte Catherine nicht.

In Gedanken versunken zog sie sich an und setzte sich aufs Bett, um auf Jericho zu warten. Onkel Ernie hatte recht gehabt. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sich die Tür öffnete und er eintrat. Catherine, glücklich, ihn zu sehen, sprang auf und lief ihm entgegen. Auf halbem Weg blieb sie angesichts seines seltsamen Gesichtsausdrucks - eine Mischung aus Bedauern, grimmiger Zufriedenheit und Betroffenheit - verwirrt stehen. „Was ist los?“

„Victor ist tot.“

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17. KAPITEL Die Einrichtungsgegenstände des Zimmers verschwammen vor ihren

Augen. Wie betäubt taumelte sie die paar Schritte, die sie gegangen war, wieder zurück und ließ sich aufs Bett sinken.

„Tot?“ wiederholte Catherine fassungslos. Jericho kam zu ihr, ging in die Hocke und legte seine Hände auf

ihre Knie. „Ja. Tot.“ „Hast du ...?“ Sie konnte den Satz nicht beenden. Er sah sie scharf an, dann ging ihm ein Licht auf. Erst wollte er ihre

Verdächtigung entrüstet weit von sich weisen, doch dann mußte er sich eingestehen, daß er tatsächlich daran gedacht hatte.

„Du meinst, ob ich ihn getötet habe?“ Catherine nickte. „Nein, ich hatte leider nicht das Vergnügen. Langsam kehrten ihre Lebensgeister wieder zurück. „Wer war es

dann?“ „Willst du meine Theorie hören oder die FBI-Version?“ „Hast du denn mit dem FBI gesprochen?“ „Ja. Ich habe herausgefunden, daß sie in Albuquerque eine Art

Außenstelle haben. Hat mich einiges an Zeit gekostet. Ich hatte mir überlegt, daß es am besten für uns wäre, für eine Weile unterzutauchen, falls Victor noch immer eine Bedrohung darstellen sollte. Doch dazu brauchte ich erst ein paar aktuelle Fakten vom FBI.“

Wieder hatte er wir gesagt. Sie erbebte. „Dein Schilling ist, nebenbei gesagt, ein ganz schöner Armleuchter.“ „Die sind alle so“, gab sie gedankenverloren zurück. „Schilling ist

sogar noch eine Spur fähiger als die anderen.“ „Erschreckender Gedanke.“ Jericho zögerte. „Victor ist gegen ein

Brückengeländer gerast. Sein Reifen ist geplatzt, und er hat die Herrschaft über seinen Wagen verloren.“

Catherine musterte ihn eingehend. „Das ist die FBI-Version?“ „Richtig.“ „Meinst du, sie selbst haben ihn aus dem Weg geräumt?“ fragte sie

entsetzt. War so etwas denkbar? Doch Jericho schüttelte den Kopf. „Das bezweifle ich. An demselben Morgen wurde ein gewisser Johnny

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Maverick tot aus der Bay bei Boston gefischt. Und in der Gerichtsmedizin liegt noch eine dritte Leiche mit einer Kugel in der Schläfe. Ein Typ namens Sly Camaratti. Kennst du ihn?“

Catherine fröstelte. „Ich kenne einen Johnny, aber seinen Nachnamen habe ich nie gehört. Er... er trug immer einen Anzug.“ Seltsam, daß sie sich in diesem Moment ausgerechnet daran erinnerte.

„Nun, auf jeden Fall sieht es für mich so aus, als hätte die Organisation ein bißchen bei sich aufgeräumt. Kommen dir die Tränen oder so?“

„Oder so“, echote sie mechanisch, ohne zu wissen, wie sie sich eigentlich fühlte. Und sie wußte erst recht nicht, wie sie sich fühlen würde, wenn der Schock nachzulassen begann.

Jericho beobachtete sie genau. Es war anzunehmen, daß sie den Burschen einmal geliebt hatte, sonst hätte sie ihn wohl nicht geheiratet. Und nun war er tot. Ganz spurlos würde das sicher nicht an ihr vorübergehen.

Catherine stand langsam auf und ging ein paar Schritte, vorsichtig, als liefe sie auf Eiern. „Er ist tot“, flüsterte sie dabei vor sich hin, als müßte sie diese Tatsache erst aussprechen, um sie begreifen zu können.

Als Jericho sie vor dem Kliniktrailer absetzte, brauchte Catherine

volle dreißig Sekunden, ehe ihr klar wurde, daß er sie jetzt wieder allein lassen würde. Er hob die Augenbrauen, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

„Katzenauge, es gibt an die hundert Leute hier in der Reservation, die mich auch brauchen, und ich habe sie fast eine ganze Woche lang vernachlässigt.“

„Ich weiß.“ Und sie hatte wirklich nicht die Absicht, ihn von seinen Pflichten abzuhalten. Es war nur...

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte ihm alles erzählt, und vor Victor brauchte sie nun auch keine Angst mehr zu haben. Alle Probleme waren gelöst. Doch wahrscheinlich war es gerade dies, was sie plötzlich eine schreckliche innere Leere verspüren ließ. Sie würde nicht einmal wissen, wohin Jericho fuhr, wenn er von hier wegging. Er war in ihr Leben gekommen wie ein Wirbelwind und würde genauso

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überraschend und zufällig wieder daraus verschwinden, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

Sie hätte ihn gern gefragt, was er eigentlich mit wir gemeint hatte. Sie wollte ihn fragen, warum er all die Leute gebeten hatte, während der vergangenen Tage auf sie aufzupassen, warum es ihm so am Herzen lag, daß sie in Sicherheit war. Es gab so viele Fragen, die sie ihm gern gestellt hätte, doch sie wagte es nicht, weil sie wußte, daß man den Wind nicht an Ketten legen konnte. Zumindest das hatte sie inzwischen gelernt.

Schließlich zuckte sie die Schultern, wandte sich ab und ging langsam die Stufen zur Klinik hinauf. Und selbst wenn sie die Beweggründe für sein Tun in Erfahrung gebracht hätte, was für einen Unterschied hätte es schon gemacht? Plötzlich wurde ihr schmerzhaft bewußt, daß sie nicht umhin kam, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß sich ihr Aufenthalt dem Ende entgegen neigte. Gleichviel was Jericho sich vielleicht erhoffte und was sie sich ersehnte, sie würde wieder wegfahren müssen. Während er hier zurückblieb.

Dieser Gedanke erschien ihr unerträglich, so unerträglich, daß sie sich schon umdrehen wollte, um noch einmal zu ihm zurückzugehen, doch dann überlegte sie es sich rasch noch anders. Es ergab keinen Sinn.

„Wir sehen uns heute abend“, rief er ihr hinterher. Ihr Herz machte bei seinen unerwarteten Worten einen Riesensatz. Als sie sich überrascht umdrehte, sah sie, wie sich langsam ein Lächeln über seinem Gesicht ausbreitete. Bei diesem Anblick wurde ihr warm ums Herz, so warm, daß sie plötzlich das Gefühl hatte, dahinzuschmelzen. Oh, Jericho. „Ich komme zurück, Katzenauge.“

Weil sie kein Wort herausbrachte, nickte sie nur schwach und hob zum Abschied die Hand. Nachdem sie seinem Jeep hinterhergesehen hatte, bis er, in eine Staubwolke gehüllt, in der Ferne verschwunden war, ging sie in die Klinik. Verdutzt blieb sie auf der Schwelle stehen. Was war denn hier los? Im Vorraum drängten sich die Menschen.

Völlig verwirrt wandte sie den Kopf und warf einen Blick über ihre Schulter hinaus ins Freie. Da stand Ellens Toyota, eingeklemmt zwischen einem alten Truck und einem verrosteten Kombi. Weiter draußen in der Wüste graste neben Bessies Schaf friedlich ein gesatteltes Pferd. Merkwürdigerweise war ihr der ungewöhnliche

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Betrieb vorher nicht aufgefallen. Wahrscheinlich weil sie in Gedanken so stark mit Jericho beschäftigt gewesen war.

Was nicht gerade wenig aussagte über die Stärke der Gefühle, die sie ihm entgegenbrachte.

Als sie sich wieder umdrehte, schaute sie von einem schwarzen Augenpaar zum nächsten. Die meisten davon gehörten Kindern, aber es waren auch ein paar Frauen da und ein Mann, der seinen Arm in der Schlinge trug. Und Lance.

Lance? „Äh ... Jericho ist wieder weggefahren“, nuschelte sie verlegen. Ein paar der Leute nickten freundlich, eine Frau zuckte die Schultern.

Dann kam Ellen mit einer aufgezogenen Spritze in der Hand aus dem Behandlungszimmer.

„Lance kommt als erster dran“, sagte sie kurzangebunden. „Kolkline ist am Telefon. Zu den Impfungen hat er schon sein Okay gegeben, aber Sie müssen mit ihm sprechen wegen dem Antibiotikum.“

„Was für ein Antibiotikum?“ „Lance ist bei der Windmühle von einem Stinktier gebissen worden.“ „Oh.“ Das erklärte den strengen Geruch, der ihr schon beim

Hereinkommen in die Nase gestiegen war. Sie sah Lance an. Er zuckte mit einem leicht dümmlichen Grinsen die Schultern. Keiner der anderen Patienten schien es für ratsam gehalten zu haben, ihm allzu nahe zu kommen. Alle hatten sich ein Stückchen entfernt von ihm einen Platz gesucht.

Sie bedeutete Lance, ins Untersuchungszimmer zu gehen, während sie zum Hörer griff, der neben dem Telefon lag. Kolkline, den Ellen offensichtlich bereits ins Bild gesetzt hatte, erteilte ihr seine Instruktionen, die sie, noch immer vollkommen entgeistert, entgegennahm. Dann legte sie auf und fixierte Ellen. Die Krankenschwester versuchte, ihrem Blick auszuweichen.

„Die Kinder an der Tür kommen als nächstes dran“, murmelte sie. „Bei ihnen handelt es sich um dieselbe Sache wie bei Leo Coldwater. Ihre Lehrer haben sie nach Hause geschickt, bis sie eine Impfbescheinigung vorweisen können.“

„Ich verstehe.“ „Ich bringe sie ins kleine Untersuchungszimmer und bereite schon mal

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alles vor.“ Nachdem Ellen ihr die aufgezogene Spritze überreicht hatte und sich zum Gehen wenden wollte, hielt Catherine sie am Arm fest.

Nicht alles hatte sich verändert. Ellen warf ihr einen finsteren Blick zu und schüttelte ihre Hand ab. „Fassen Sie mich nicht an.“

„Kein Problem. Aber wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, was hier vor sich geht?“

Die Schwester machte keine Anstalten zu antworten. „Geht das auf Jerichos Konto?“ Catherines Frage entlockte Ellen zumindest eine Reaktion. Sie

schnaubte verächtlich. „Soll das ein Witz sein? Er kann seine Zeit nicht mit solchen Unwichtigkeiten verschwenden.“

Die Gedanken begannen in Catherines Kopf wild durcheinander zu wirbeln. „Dann sind Sie also hierfür verantwortlich?“

Ellens Augen spiegelten heißen Trotz wider. Man konnte ihr ansehen, daß sie sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als Catherine zu antworten. Doch Catherine ließ sich nicht mehr bremsen.

„Warum haben Sie das getan?“ platzte sie heraus. „Ich will Sie nicht hier haben. Ich brauche Sie nicht. Dann zögerte

Ellen. „Aber es gibt ein paar Sachen, die man mich nicht machen läßt, und Sie sind zumindest noch ein bißchen besser als Kolkline. Wenn Sie sich entschließen könnten zu bleiben, würde der Health Service Kolkline vielleicht den Laufpaß geben und ihn wieder dorthin befördern, wo er hergekommen ist.“ Sie hielt einen Moment inne, doch nun war ihr Widerstand gebrochen und alles, was ihr auf dem Herzen lag, sprudelte aus ihr heraus. „Und dann ist da auch noch Jericho. Ich will ihn nicht noch mal am Boden zerstört sehen. Ich könnte es nicht ertragen. Ich weiß zwar nicht, was er an Ihnen findet, aber ich weiß, daß es so ist.“

Catherine wich einen Schritt zurück. Ellens Worte schossen durch sie hindurch wie spitze Pfeile und trafen auf den Grund ihrer Seele. Bleiben? Auch Shadow hatte bereits einmal ihr gegenüber vom Bleiben gesprochen, was ihr damals vollkommen irreal erschienen war. Erst im Krankenhaus hatte diese Überlegung fast unmerklich begonnen, in ihren Gedanken Fuß zu fassen, aber sie hatte sie sogleich wieder verworfen. Wie sollte sie hierbleiben, wenn sie sich doch ihren

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Lebensunterhalt verdienen mußte? Vor allem konnte und wollte sie nicht noch einmal einem Mann

ihre Karriere opfern. Sie hatte während der vergangenen Tage, in denen sie ans Bett

gefesselt war, eine Menge Zeit zum Nachdenken gehabt. Über Victor und über ihre Ehe und über alles das, was sie falsch gemacht hatte. Irren war menschlich, deshalb konnte sie es sich auch im Nachhinein nicht zum Vorwurf machen, daß sie sich in Victor getäuscht hatte. Was sie sich allerdings nicht verzeihen konnte, war, daß sie ihre persönlichen Ambitionen für ihn zurückgesteckt hatte und sich von ihm in seine Puppe hatte verwandeln lassen.

Diesen Fehler durfte sie keinesfalls noch einmal begehen. Doch was hatte Onkel Ernie gesagt? Wenn man die Stimme des

Herzens einmal erkannt hatte, dürfte man sie nie wieder verleugnen? Sie seufzte schwer. Leichter gesagt als getan. Wußte sie doch, daß

sie vor allem anderem erst einmal sich selbst wiederfinden mußte. Sie brauchte einen Beruf, der sie in die Lage versetzte, auf eigenen Beinen zu stehen, und dafür war es in allererster Linie vordringlich, daß sie nach Boston zurückging, um ihr Studium abzuschließen.

Und dennoch ahnte sie, daß sie mit ihrem Fortgang von hier etwas Unersetzliches verlieren würde. Was sollte sie bloß tun?

„Ich ... ich will mir jetzt Lance ansehen“, sagte sie schließlich, weil sie spürte, daß sie gleich anfangen würde zu weinen, wenn sie nicht sofort etwas unternahm.

„Wir müssen miteinander reden.“ Es war lange nach Mitternacht, als

Jericho klopfte. Catherine hatte bereits geschlafen und öffnete ihm nun, nur mit einem kurzen T-Shirt bekleidet, schlaftrunken die Tür.

„Reden? Jetzt? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“ Jericho fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Ich hab es nicht früher

geschafft. Hatte eine Menge zu tun. Komm, laß uns noch ein bißchen draußen sitzen.“

Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu einem kleinen Hügel jenseits des Parkplatzes. Groß und mächtig ragte der Beautiful Mountain auf. Catherine blieb stehen und schlang fröstelnd die Arme um ihre Schultern.

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„Es ist kalt. Warum gehen wir nicht rein?“ „Weil ich denke, daß wir hier draußen reden sollten.“ Er zog seine Jacke

aus und hielt sie ihr hin. „Hier, zieh sie an. Dann wird dir gleich wärmer werden.“

Catherine nahm sie entgegen und schlüpfte hinein. Dann setzte sie sich neben ihn auf den Boden. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und plötzlich wurde ihr die Kehle eng. Was hatte er ihr zu sagen?

Nun deutete er auf den Beautiful Mountain, dessen Kuppe schneebedeckt war. „Dort oben bin ich aufgewachsen. Schätze, das habe ich dir noch nicht erzählt, oder?“

Plötzlich spürte sie, wie ein Gefühl tiefen Friedens sie durchströmte. Jericho sah sie an. „Dieses rauhe, zerklüftete Land zwischen den

vier Navajo-Bergen ist uralt und heilig. Hier geschehen Dinge, die man nicht mit dem Verstand erfassen kann und die sonst nirgendwo geschehen. Wer hier überleben will, muß sein Herz ganz weit öffnen und wieder unschuldig werden wie ein Kind. Er muß versuchen, die Menschen, die geprägt sind von ihrer Geschichte und von ihrem Glauben, zu verstehen.

Ein Schauer, erst heiß, dann kalt, rieselte ihr den Rücken hinunter. „Wir waren nicht offen zueinander“, fuhr er fort. „Nein“, brachte sie mühsam heraus. „Und dennoch gibt es zwischen uns eine Anziehungskraft, die so

elementar ist wie die Luft, die wir atmen. Eine Anziehungskraft, die jenseits des Verstandes liegt...“

Sie hielt den Atem an. „Vielleicht könnte sie Bestand haben“, fuhr er fort, „wenn wir nicht

versuchten, sie mit hinauszunehmen in eine Welt, in der Nüchternheit, Gewinnstreben und Bürokratie tonangebend sind. Aber das ist für dich nicht vorstellbar, habe ich recht?“

Ihre Kehle war plötzlich, wie zugeschnürt. Sie konnte nicht antworten. „Das habe ich mir gedacht.“ Seine Stimme hatte plötzlich einen harten

metallischen Klang bekommen. Sie ahnte, weshalb. Er. wappnete sich gegen den Schmerz. Den gleichen Schmerz, der auch sie im selben Moment anfiel wie ein wildes Tier. „Wohin wirst du gehen?“ fragte er schließlich.

„Nach Boston“, flüsterte sie. „Ich muß noch ein paar Prüfungen

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ablegen. Und danach ... ich weiß einfach nicht“, schloß sie und zuckte hilflos die Schultern.

„Vielleicht kommst du ja wieder hierher zurück.“ Nun war es heraus. Deutlicher hätte er seine Sehnsucht nicht in Worte kleiden können.

Und was soll ich hier? schoß es ihr verzweifelt durch den Kopf. „Möchtest du das denn?“

Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Das weißt du doch ganz genau, Katzenauge.“

Ja, natürlich. Irgendwie hatte sie es schon seit einiger Zeit gewußt. Sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Vielleicht weil es ihr eine Entscheidung abforderte, der sie sich nicht gewachsen fühlte.

„Du hast gesagt...“ sie schluckte. „daß dieser Berg heilig ist.“ Schwermütig starrte er auf den Beautiful Mountain. „Ja. Er markiert

eine der Grenzen unseres Landes. Wir sind der einzige Stamm in ganz Amerika, der das Glück hat, auf seinem angestammten Grund und Boden leben zu können. Wir haben zwar in den Schlachten mit dem Weißen Mann in den letzten zweihundert Jahren viele Gebietsverluste hinnehmen müssen, aber das Kernstück unseres Landes konnten wir verteidigen.“

„Dann liebe mich hier, Jericho. Bitte. Liebe mich hier am Fuß des Beautiful Mountain.“

Er wandte ihr den Blick zu, und in seinen Augen loderte ein Feuer, das sie zu verzehren drohte. „Ich dachte, dir wäre kalt.“

„Wenn du mich liebst, wird mir gleich warm werden.“ Sie seufzte und blickte sehnsüchtig auf den Berg. „Vielleicht geschieht ja etwas ganz Besonders, etwas Magisches, ein Wunder, das nur hier geschehen kann“, flüsterte sie.

Plötzlich schlang sie die Arme um ihn und preßte sich leidenschaftlich an ihn. Als er in ihre Augen sah, die weich im Mondlicht schimmerten, machte er eine Entdeckung, die ihm einen schmerzhaften Stich versetzte. Sie glaubte nicht wirklich in diesem Moment. Sie wollte glauben, unbedingt und unter allen Umständen, sie sehnte sich mit jeder Faser ihres Herzens danach und mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn, fast den Atem raubte.

Ja, sie wartete auf ein Wunder, auf einen Fingerzeig Gottes, der ihr einen Weg weisen sollte, wie sie bei ihm bleiben könnte, ohne sich

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selbst aufzugeben. Er fuhr mit der Hand unter seine Jacke, die noch immer um ihre

Schultern lag, und lachte rauh. Kein Wunder, daß sie fror. Trug sie doch nur dieses T-Shirt, und ihre Beine waren nackt.

Sie war bereit, so viel von sich zu geben. Plötzlich erkannte Jericho, daß es ihre große Hingabefähigkeit gewesen war, die es Victor ermöglicht hatte, sie zu überreden, ihr Studium an den Nagel zu hängen.

Er drückte sie sacht zu Boden und wollte sich auf sie legen, um sie zu wärmen, aber sie stemmte ihn mit den Händen weg.

„Nein“, flüsterte sie. Worauf wollte sie hinaus? Doch einen Augenblick später verstand

er, und sein Mund wurde trocken. Mit bebenden Fingern streifte sie ihm sein Hemd über die Schultern, und nachdem sie ihm seine Hose geöffnet und nach unten geschoben hatte, bedeutete sie ihm, sich auf den Rücken zu legen.

Nun kniete sie sich zwischen seine gespreizten Beine und beugte sich über ihn. Dabei preßte sie sich so an ihn, daß er ihre vor Erregung hart gewordenen Knospen durch das T-Shirt hindurch spüren konnte. Zart streiften ihre Lippen über seine Brust, seinen Bauch, wobei sich ihre Finger fest um seinen samtigen, hoch aufgerichteten Schaft schlossen und begannen, ihn süßesten Folterqualen auszusetzen. Ihr heißer Atem drohte, seine Haut fast zu versengen. Das keuchende Stöhnen, das sich Jerichos Brust entrang, feuerte sie an und veranlaßte sie, ihre Bemühungen zu verstärken. Nun beugte sie sich über ihn, küßte und liebkoste ihn, bis sie schließlich die Lippen öffnete, um ihn in sich aufzunehmen.

Was nun folgte, raubte Jericho vollends den Verstand, er versuchte mit aller Kraft zu widerstehen, haßte es und genoß das Gefühl des Ausgeliefertseins in ein und demselben Moment gleichermaßen, haßte die Vorstellung, sich preisgeben zu müssen, hinweggespült zu werden. von einer Woge der Lust, über die er keine Kontrolle mehr hatte, und sehnte sich doch zugleich so sehr danach, daß es schmerzte.

Keuchend wühlte er sich mit den Händen in ihr Haar und hob sich diesen lustspendenden Lippen im Ausdruck wilden Verlangens entgegen. Er schwebte im luftleeren Raum, in dem nichts existierte außer seiner

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grenzenlosen Lust, die nach Erfüllung schrie. Als sie merkte, daß er dem Höhepunkt gefährlich nahe war, ließ sie mit

einem leisen, zufriedenen Lachen von ihm ab und setzte sich auf ihn. Ihre Absicht war klar. Beim letzten Mal war er es gewesen, der sie

schier um den Verstand gebracht hatte, und heute wollte sie es ihm heimzahlen. Sie war fest entschlossen, diesmal diejenige zu sein, die ihn zum Gipfel der Lust trieb und nicht umgekehrt. Jericho zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Die Situation war neu für ihn, ganz neu, aber er beschloß dennoch, all seine Ängste über Bord zu werfen, das Wagnis einzugehen und sich ihr zu ergeben.

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18. KAPITEL Nachdem es schließlich vorbei war, lagen sie noch eine lange Zeit in

seliger Ermattung eng umschlungen auf dem Sandboden. Der weite Himmel spannte sich über ihnen wie ein riesiges schwarzes Tuch, das bestickt war mit blinkenden Sternen. Erst als ein kalter Wind aufkam, kehrten sie in die Realität zurück. Catherine schauerte zusammen.

„Laß uns reingehen“, flüsterte er. „Noch eine Minute.“ Sie wollte diesen köstlichen Augenblick, in

dem sie sich so vollkommen im Einklang fühlte mit sich und der Welt, wenigstens noch für ganz kurze Zeit festhalten. Sie wußte, daß der Zauber verfliegen würde, sobald sie aufstehen und hineingehen würden.

Doch eine Minute war zu lang. Der Wind, naßkalt bereits um diese Jahreszeit, frischte noch mehr auf und machte ihnen ein weiteres Verweilen unmöglich. Widerwillig löste sich Catherine von Jericho und setzte sich auf, wobei sie die Arme schützend um sich legte.

„Meinst du, es kommt wieder ein Sturm auf?“ „Es ist die Jahreszeit dafür.“ Sie spürte, daß auch er sich in diesem

Moment sehnlichst wünschte, die Zeit anhalten zu können. Nie mehr würden sie an diesen Platz hier zurückkehren, und nie mehr würden sie miteinander so etwas erleben, wie sie es eben erlebt hatten.

Der Gedanke erfüllte sie plötzlich mit abgrundtiefer Verzweiflung. „Ich könnte uns drinnen noch einen Kaffee machen.“

„Nein.“ Ihr Herzschlag, setzte für einen Moment aus. Wollte er sie etwa heute

nacht allein lassen? Nach allem, was eben zwischen ihnen geschehen war? Doch dann sah sie das kleine Grinsen, das um seine Mundwinkel spielte, als er nach seiner Hose griff.

„Ich mache ihn“, erklärte er schließlich. „Das Zeug, das du zusammenbraust, schmeckt wie Spülwasser.“

„Das tut es nicht!“ „Mach dir nichts draus. Du kannst eben nicht kochen. Was macht

das schon?“ „Selbstverständlich kann ich kochen“, gab sie entrüstet zurück. „Nun, wie man unsere Brotfladen macht, weißt du bestimmt nicht.“

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Sie fühlte sich gekränkt. Dabei ging es nicht um die Tatsache an sich, die war unbestreitbar, sondern um das, was sie implizierte. Schließlich war das hier das Land der gebackenen Brotfladen.

„Es gibt nämlich einen Trick dabei“, knüpfte er, als sie beim Wohnwagen angelangt waren, wieder an, und als sie ihn fragend anschaute, begann er sie in blumigen Worten liebevoll detailliert in die Kunst des Fladenbrotbackens einzuweihen, während er Kaffeewasser aufsetzte und zwei Tassen aus dem Schrank nahm.

Catherine ließ sich auf einen Stuhl fallen und lauschte seinen Ausführungen. Dabei ließ sie ihn nicht aus den Augen. Obwohl er so groß und breitschultrig war, bewegte er sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Großer Gott, wie sollte sie es auch nur einen einzigen Tag ohne ihn aushalten?

Sie holte tief Luft. „Du könntest mit mir kommen“, platzte sie plötzlich heraus. Als ihr bewußt wurde, was sie ihm gerade vorgeschlagen hatte, wurde sie rot bis unter die Haarwurzeln. Was war ihr bloß eingefallen, solch ein Opfer von ihm zu verlangen? Sie wußte doch ganz genau, wie leidenschaftlich er sein Land und die Menschen, die hier lebten, liebte.

Ungeachtet dessen erweckte es dennoch den Anschein, als würde er darüber nachdenken. Zumindest antwortete er lange Zeit nichts. Dann aber schüttelte er entschieden den Kopf, und obwohl sie im voraus gewußt hatte, daß es so kommen würde, durchfuhr sie dennoch ein wilder Schmerz.

„Ausgeschlossen, Katzenauge“, sagte er schließlich. „Das habe ich bereits einmal versucht.“

„In Boston zu leben?“ fragte sie überrascht. Gleich darauf hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, so idiotisch erschien ihr ihre Frage.

„In Albuquerque.“ Er kam mit dem Kaffee an den Tisch zurück und setzte sich, ohne sie anzusehen. „Ich bin in Gallup zur Schule gegangen und hinterher in Albuquerque auf die Universität.“

Hinter seinen dürren Worten verbarg sich mehr, als er zugeben wollte. Sie spürte es, als sähe sie eine dunkle Wolke vom Horizont heraufziehen.

„Das College ist selten ein Honiglecken, wenn man sein Studium ernst nimmt.“

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„Das Studium war schon okay. Aber ich habe hinterher versucht, dort zu leben.“

„Warum?“ „Wegen der Frauen.“ Catherine durchzuckte es, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. „Und?“ tastete sie sich vorsichtig weiter vor. „Sie waren wie du, Katzenauge. Feingliedrig und graziös, mit einer

Haut wie Porzellan und kristallklaren Augen.“ „Hast du mich deshalb zu Anfang gehaßt?“ „Nein. Ich habe dich nicht gehaßt, sondern begehrt. Was dazu geführt

hat, daß ich angefangen habe, mich selbst zu hassen.“ Sie zuckte zusammen, dann zwang sie sich, mit betonter

Leichtigkeit die Schulter zu heben. „Dann war ich also... genau dein Typ.“

Er lehnte sich zurück und streckte seine langen Beine unter dem Tisch aus. Wie schwer es ihm doch fiel, Worte zu finden für das, was er empfand.

„Das waren Shadows Worte, nachdem sie dich zum erstenmal gesehen hatte, aber es traf den Nagel nicht ganz auf den Kopf. In Wirklichkeit warst du der Typ von Frau, dem ich nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen versuchte.“

„Das war nicht zu übersehen“, rutschte es ihr heraus. „Zweifellos.“ Er rührte mit seinem Zeigefinger in seinem Kaffee

herum. „Wer sich einmal die Finger verbrannt hat, nimmt sich in Zukunft vor Feuer in acht.“

„An mir hast du dich aber bisher nicht verbrannt.“ „Ah, das würde schon noch kommen, Katzenauge. Wenn ich es

zulasse. Und vielleicht würde ich es ja sogar zulassen.“ Plötzlich hob er seine Tasse und trank sie in einem Zug leer,

als hätte er dringend einer Stärkung bedurft. „Ach, zum Teufel“, fuhr er dann fort. „Es waren ja auch nicht nur die Frauen, die mich angezogen haben. Es war auch eure Welt. Eure Welt des Wohlstands und des Reichtums, der in Reichweite zu liegen scheint, mit all ihren Bequemlichkeiten. Das hat mich beeindruckt, Katzenauge. Und wenn du dich hier umschaust, weißt du auch, warum. Das einzige, was die Menschen hier besitzen, sind ihre Hogans und ihre Schafe. Unsere Frauen

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sind anders als ihr - sie regieren ihre Familien mit eiserner Hand.“ Er gab ein leises, selbstironisches Lachen von sich, das allerdings ganz und gar nicht unfreundlich klang. „Shadow zeigt mir immer wieder wo’s langgeht, und von meiner Mutter will ich lieber, gar nicht erst anfangen. Nun, nachdem ich einen ersten Blick auf diese zarten, abhängigen, hilfsbedürftigen Anglo-Mädchen geworfen hatte, war ich völlig hingerissen. Solche Frauen hatte ich noch nie im Leben gesehen. Bald mußte ich natürlich lernen, daß viele von ihnen anders sind, als sie aussehen, aber erst einmal hatte ich beschlossen, eine von ihnen zu heiraten.“

Heiraten? Auf die Idee, daß er verheiratet sein könnte, war sie bisher noch nie gekommen. Sie hatte sich zwar immer gefragt, wohin er abends wohl ging, niemals aber zu wem. Hilflos irrten ihre Blicke zu seiner linken Hand, zu seinem Ringfinger, und als er die Hand hochhielt, so als hätte er ihre Gedanken erraten, biß sie sich hart auf ihre Unterlippe.

Er trug keinen Ring. „Sie ist tot“, sagte er einsilbig. In Catherines Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Sie

wußte nicht, was sie sagen sollte. „Ich habe also dem Leben hier, meiner Vergangenheit und

meinen Wurzeln den Rücken gekehrt und bin mit ihr nach Albuquerque gezogen. Sie war ein reiches Stadtmädchen, und Mommy und Daddy legten ihr die Welt zu Füßen. Sie hieß Anelle. Eine Zeitlang ging alles gut. Sie war... glücklich. Dann wurde sie schwanger und beschloß, das Kind abzutreiben.

Catherine wurde blaß, als sie sah, wie sich sein Gesicht in schmerzhafter Erinnerung verzog.

„Ohne mir auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu sagen. Als sie es mir schließlich erzählte, behauptete sie, sie habe es aus Verantwortungsgefühl heraus getan. Weil sie sich für ein Kind noch nicht reif genug gefühlt habe. Aber sie konnte mir nichts vormachen. Ihren Worten mangelte es an Überzeugungskraft. Ich wußte sehr genau, warum sie das Kind abgetrieben hatte.“ Er lachte bitter. „Ihre Eltern hatten pausenlos auf sie eingeredet, das Kind nicht zu bekommen, und sie hatte ihrem Drängen schließlich nachgegeben.“

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Catherine war bestürzt. Plötzlich hatte sie ein Gefühl der Enge in der Brust und holte krampfhaft Atem.

„Doch damit war das Drama noch nicht zu Ende.“ Catherine ahnte, worauf die Sache hinausgelaufen war. „Anelle

begann, sich Vorwürfe zu machen.“ Jericho nickte düster. „Sie war hinterher nicht mehr dieselbe - von

Schuldgefühlen geplagt, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ich wußte nicht mehr ein noch aus und packte sie schließlich in meiner Verzweiflung in unseren Wagen und brachte sie hier hinaus in die Reservation in der Hoffnung, daß das Land dazu beitragen würde, ihre Wunden zu heilen.“

„Aber sie konnte sich selbst nicht verzeihen, was sie getan hatte.“ „So ist es.“ Als er sie anblickte, konnte sie die Qual, die ihm die

Erinnerung an die schlimme Zeit, die er durchgemacht hatte, deutlich an den Augen ablesen. „Ich frage mich immer wieder, ob sie es geschafft hätte, wenn sie in Albuquerque geblieben wäre. Wenn ich sie nicht mit hier rausgeschleppt hätte. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, sie einfach loszulassen.“

„Du..., hast sie geliebt“, flüsterte sie und fühlte eine seltsame Art von Schmerz - Eifersucht auf jene Frau, die wahrscheinlich gar nicht gewußt hatte, was sie an einem Mann wie Jericho gehabt hatte.

Jericho schien über ihre Worte nachzudenken. „Ich war besessen von ihr“, korrigierte er sie nach einer Weile. „Sie gehörte mir, sie erschien mir wie ein kostbarer Schatz, den ich geborgen hatte, wie ein Schmuckstück, das man an einem sicheren Ort aufbewahrt und Abend für Abend aus dem mit Samt ausgeschlagenen Schmuckkästchen nimmt, um es zu betrachten.“

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, eine Geste der Hilflosigkeit, die sie schon öfter an ihm beobachtet hatte, wenn er mit sich kämpfte. „Sie gehörte nicht hierher, und ich wußte es vom ersten Tag an, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Mein Gefühl sagte mir, daß das Land sie zerstören würde, ich wußte, daß sie nicht robust genug war, um hier überleben zu können, besonders nach allem, was vorher geschehen war. Sie war eben durch und durch ein Stadtmädchen.“ Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. „Aber statt sie wieder dorthin zurückzubringen, wohin sie gehörte, setzte ich alles daran, mein

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Land ihren Bedürfnissen anzupassen.“ Er machte eine kurze Pause. „Ich hatte einiges gespart während

der Zeit, in der ich in der Stadt gelebt und gearbeitet hatte, und baute ihr mit diesem Geld oben auf dem Berg ein Haus, weil ich nicht wollte, daß sie in einem Hogan leben mußte. Ich kaufte ihr ein Auto in der Absicht, daß sie sich frei fühlen und immer, wenn ihr danach war, der Isolation entfliehen könnte. Ich ließ Zeremonien für sie abhalten in der Hoffnung, daß sie ihre kranke Seele heilen würden, aber alles, was am Ende dabei herauskam, war, daß sie das Auto nahm und damit gegen den Berg raste.“

Catherine verschlug es den Atem, doch er sah sie ruhig an, nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und stellte sie dann mit einem harten Geräusch, das etwas Endgültiges an sich hatte, auf die Untertasse zurück.

„So, jetzt weißt du alles, Katzenauge.“ Er schob sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Das Teuflische daran ist, daß ich eine sehr, sehr lange Zeit gebraucht habe, um über das alles hinwegzukommen. Was mich über die Runden gebracht hat, war mein Land. Das Land und Onkel Ernie. Dadurch, daß er mich die Gesänge gelehrt hat, hat er mir auch klargemacht, wohin ich gehöre. Ich gehöre hierher, Katzenauge, hierher und nirgendwo sonst. Und du... nicht.“

Er holte tief Luft. „Und weil ich nicht noch einmal denselben verhängnisvollen Fehler begehen will, den ich schon einmal begangen habe, werde ich dich nicht bitten, hier mit mir zu leben. Aber ich kann auch nicht mit dir gehen, weil ich mein Land und die Menschen nicht verraten kann, die mich gerettet haben, indem sie mich brauchten. Und sie brauchen mich auch weiterhin. So ist das“, schloß er ruhig; „und es ist so, wie es ist.“

Bei seinen letzten Worten war er schön an der Tür. Sie mußte ihn aufhalten, mußte ihm zu verstehen geben, daß sie ihn verstanden hatte. Aber was hatte das für einen Sinn? Sie wußte, daß sie ihre Entscheidung ganz allein treffen mußte, und daß er sie in keiner Weise beeinflussen würde, ganz gleich, wie ihr Entschluß letztendlich ausfiele.

„Aber ich liebe dich“, flüsterte sie verzweifelt. Doch da war die Tür bereits mit einem leisen Klicken hinter ihm

ins Schloß gefallen. Er war gegangen.

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Als Jericho sich am nächsten Morgen auch ein paar Stunden nach

Praxisbeginn noch nicht hatte blicken lassen, wußte Catherine, daß er vor ihrer Rückkehr nach Boston nicht mehr auftauchen würde Diesmal würde sie vergebens auf das energische Klack-Klack warten, das seine Stiefelabsätze auf den Metallstufen verursachten, wenn er die Treppe heraufgestürmt kam.

Sie öffnete eine der Schranktüren, um ein neues Paket mit Tupfern und Desinfektionsmittel herauszuholen, Auf der Untersuchungsliege saß eine Frau und ließ die Beine baumeln, während sie darauf wartete, daß Catherine sie verarztete. An einem Fuß trug sie einen Tennisschuh, der andere war nackt. Ihre große Zehe war angeschwollen und stark gerötet.

Da Catherine die Tupfer nicht gleich finden konnte, ging sie in die Hocke, um einige Schachteln beiseite zu räumen. Ein Schatten huschte hin und her, dann sah sie, wie blitzschnell eine winzige Feldmaus hervorschoß. Vor Schreck zusammenzuckend, stieß Catherine einen spitzen Schrei aus, gleich darauf brach sie in ein nervöses Lachen aus.

„Stör’n Sie sich nicht dran“, sagte die Frau, die sie beobachtet hatte, seelenruhig. „Die sind überall. Wenn’s kalt wird, kommen sie rein.“

„Ich weiß“, erwiderte, Catherine, wobei sie sich vornahm, sobald sie Zeit dazu hätte, die Schränke auszuwischen.

Nachdem sie gefunden, hatte, wonach sie suchte, lagerte sie den Fuß der Frau so, daß sie bequem an den Zeh herankam. Gerade als sie sich über ihn beugen wollte, schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. Die Stirn in Falten gelegt, sah sie die Frau an.

„Was haben Sie da eben gesagt?“ „Je kälter es wird, desto mehr kommen rein. Im Sommer stibitzen

sie sich nur was zu Fressen und verschwinden dann wieder, aber im Winter nisten sie sich in den Hogans ein. Oben in Two Gray Hills haben sie dieses Jahr ne richtige Mäuseplage. Meine Nichte hat mir erzählt, daß sie letzte Woche siebzehn Dollar für Mausefallen ausgeben mußte.“

Catherine desinfizierte den Zeh, ohne zu wissen, was sie eigentlich tat.

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Oben in Two Gray Hills. Je kälter es wird, desto mehr kommen rein. Lisa war aus Two Gray Hills gekommen, und aus Louies

Matratzenlager war eine Feldmaus geschlüpft, als Jericho ihn hochgehoben hatte. Plötzlich erschien es ihr durchaus glaubhaft, daß die Mäuse die Krankheitsüberträger sein könnten. Doch wo hätte sie selbst sich anstecken sollen? Die einzige Maus, die ihr über den Weg gelaufen war, war die in Louies Bett gewesen. Und die hatte sie nicht berührt.

Vielleicht waren ja nicht die Mäuse selbst die Krankheitsüberträger, sondern das, was sie zurückließen und womit die Opfer in Kontakt gekommen waren.

Der Mäusedreck. Wie oft hatte sie blind in diesen Schränken hier herumgetastet? Sie und Ellen und manchmal auch Jericho? Ellen.

Hastig drückte sie der Frau eine Tube mit Salbe und Pflaster in die Hand. „Verbinden Sie den Zeh jeden Tag neu, und tun Sie das hier drauf, Mrs. Nakai. Nächste Woche müssen Sie wieder vorbeikommen, dann will ich mir den Zeh nochmal anschauen.“

Nur daß sie nächste Woche nicht mehr hier sein würde. Doch darüber hatte sie im Moment keine Zeit nachzudenken. Sie eilte nach vorn und starrte in die Gesichter der neu hinzugekommenen Patienten. Auch Lance war wieder da, um seinen Stinktierbiß begutachten zu lassen. Nur Ellen konnte sie nirgends entdecken.

„Wo ist Ellen?“ fragte sie und schaute in die Runde. „Sie hat sich nicht gut gefühlt und ist nach Hause gegangen.“ „Großer Gott.“ Von Panik erfüllt blickte sie auf Lance. „Sind Sie

nüchtern? Können Sie fahren?“ „Ich kann immer fahren“, erwiderte er entrüstet. Was sie bezweifelte. Doch im Moment blieb ihr keine andere Wahl, als

ihm zu glauben. Die Straße in die Berge würde sowieso heute nur wenig befahren sein.

„Sie müssen Jericho finden. Wissen Sie, wo er wohnt?“ „Sicher. Ich kann sein Haus von meiner Windmühle aus sehen.“ „Gut. Dann fahren Sie hin, so schnell Sie können.“ Lieber Gott, mach,

daß er zu Hause ist. „Sagen Sie ihm, daß er Ellen in. die Universitätsklinik bringen muß. Es ist dringend. Und sagen Sie ihm auch, daß ich vermute, daß es von den Mäusen kommt.“

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„Von den Mäusen?“ Sie ging nicht auf seine Frage ein. „Los! Beeilen Sie sich, es ist

lebenswichtig.“ Kopfschüttelnd zuckte Lance schließlich die Schultern und machte sich auf den Weg. Catherine sah sich um. Sie mußte auf der Stelle die Patienten loswerden. Jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun. „Kommen Sie morgen wieder“, bat sie, um Verbindlichkeit bemüht. „Für heute ist die Klinik geschlossen.“

Die Patienten verstanden zwar nicht, worum es ging, aber sie nickten dennoch verständnisvoll und standen auf. Nachdem endlich der letzte draußen war, verschloß Catherine eilig die Tür.

Ihre Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Als erstes mußte sie den CDC in Albuquerque von ihrem

Verdacht informieren. Doch als sie zum Telefon greifen wollte, zögerte sie. Der CDC war ein Langweilerverein. Hatten sie damals nicht mehr als eine Stunde gebraucht, einen Hubschrauber aufzutreiben, obwohl es um ein Menschenleben ging? Jetzt war es gleich Mittag. Catherine war felsenfest davon überzeugt, daß der CDC ihr nicht vor morgen jemanden schicken würde, der den Mäusedreck einsammeln und zur Laboruntersuchung nach Albuquerque bringen würde. Und ob sie ihren Hinweis überhaupt ernst nehmen würden, war noch eine zweite Frage. Schließlich war sie ja nur eine Praktikantin.

Aber sie war sich sicher. Als sie an die unzähligen Hausfrauen dachte, die den Mäusedreck unter ihren Betten hervorgekehrt hatten, fand sie es direkt verwunderlich, daß sich nicht noch viel mehr Menschen mit der Tah honeesgai infiziert hatten.

Eile war geboten. Kurz entschlossen wählte sie Eddie Begays Nummer. „Eddie, Sie haben

doch gesagt, daß ich mir Ihren Wagen ausleihen könnte. Ich bräuchte ihn dringend, es ist ein Notfall!“

„Ja, sicher“, erwiderte er entgegenkommend. „Ich mache um fünf hier Schluß.“

„Nein, ich brauche ihn jetzt sofort. Ich bin bereit, Ihnen Ihren Verdienstausfall zu bezahlen.“

Eddie war zwar leicht verwundert, doch er willigte ein, Catherine seinen Jeep zu bringen, so schnell er konnte.

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Nachdem sie aufgelegt hatte, fiel ihr ein, daß sie ja auch Eddie bitten könnte, den Mäusedreck nach Albuquerque in die Universitätsklinik zur bakteriologischen Untersuchung zu bringen.

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19. KAPITEL „Wie geht es ihr?“ fragte Catherine, nachdem sie Weatherly

endlich an die Strippe bekommen und ihm erklärt hatte, worum es ging. Plötzlich schnürte ihr die Angst vor einer schlechten Nachricht fast die Kehle zu. Obwohl sie und Ellen bestimmt nie Freundinnen werden würden, war sie nun doch in großer Sorge um sie.

Weatherly berichtete, daß es der Patientin den Umständen entsprechend gut gehe und daß sie außer Lebensgefahr sei. „Mit Ihrer schnellen Reaktion haben Sie mittlerweile - sich selbst eingeschlossen - drei Menschen das Leben gerettet. Alle Achtung“, sagte Weatherly anerkennend.

Alle Achtung. Wie lange war es her, daß sie diese Worte das letztemal gehört hatte?

Weatherly sprach noch immer. Sie merkte, daß sie einen Moment nicht zugehört hatte, und wandte ihm ihre Aufmerksamkeit wieder zu.

„Sie wird nicht so schnell wiederhergestellt sein wie Sie, aber sie wird durchkommen.“

„Haben Sie die Mäuseexkremente bekommen?“ „Sind schon im Labor. Obwohl mir Ihre Theorie doch recht waghalsig

erscheint. Ich glaube nicht, daß sie sich bewahrheiten wird, denn in diesem Fall hätten wir meiner Meinung nach etwas im Gewebe der Toten finden müssen.“

„Wie denn? Sie hatten doch, soviel ich weiß, überhaupt keine Möglichkeit für eine Obduktion.“

„Natürlich hatten wie das. Selbstverständlich haben wir allen Verstorbenen Gewebeproben entnommen.“

Catherine schüttelte völlig verdutzt den Kopf. „Aber Richard hat doch gesagt, daß die Navajos sich weigern, für eine Autopsie ihre Einwilligung zu geben.“

„Ich weiß zwar nicht, wer dieser Richard ist, aber ich weiß, daß man in einer Situation wie dieser, in der Gefahr im Verzuge ist, keinerlei Einverständniserklärung braucht. Die Familien der Opfer können sich gar nicht weigern, weil es sich bei der Mystery Disease um eine Seuche zu handeln scheint. Und alles, was unter das Seuchengesetz fällt, hat seine eigenen Regeln. Eine Autopsie ist in diesen Fällen

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obligatorisch.“ Catherine setzte sich. Vorsichtig. „Obligatorisch“, wiederholte sie

verständnislos. Vielleicht war Richard ja nur unzureichend informiert. Was kaum vorstellbar war. Als CDC-Arzt müßte er eigentlich mit der herrschenden Gesetzeslage hinreichend vertraut sein. Richard hätte es wissen müssen.

„Sie kennen Richard Moss nicht?“ „Sollte ich ihn kennen?“ fragte der Arzt zurück. Catherines Unsicherheit nahm zu. „Ich ...“ Ein schrecklicher

Verdacht keimte plötzlich in ihr auf. „Er behauptete, vom CDC zu sein. Richard Moss“, wiederholte sie hilflos noch einmal den Namen in der Hoffnung, daß dem Arzt nun endlich ein Licht aufgehen würde.

„Nun, ich vermute, da hat Sie jemand kräftig zum Narren gehalten. Es gab mal einen Richard Moss beim CDC, aber ich kann Ihnen versichern, daß er zumindest in letzter Zeit nicht im Albuquerque war. Er ist nämlich vor einem Jahr an Herzversagen gestorben. Er stand bereits kurz vor der Verrentung.“

Plötzlich klopfte ihr das Herz bis zum Hals. „Aber er hat Louie behandelt. Louie Coldwater. Ich habe ihn im Krankenhaus in Gallup mit eigenen Augen am Bett des Jungen gesehen.“ Ihre Stimme war vor Erregung eine Oktave höher geklettert.

„Nun, ich weiß nicht, wen Sie da gesehen haben. Ich war wegen dieses Falles nicht in Gallup. Ich kann Ihnen nur soviel sagen, daß es sich mit Sicherheit nicht um Richard Moss gehandelt hat.“

„Er hat mir Unterlagen vom CDC aus Albuquerque mitgebracht.“ „Das hoffe ich nicht.“ „Sie sind aber hier!“ Den Hörer zwischen Kinn und Schulter geklemmt,

begann sie, wild mit Ellens Schlüsselbund herumzufuhrwerken. Nachdem sie den Rollschrank endlich mit zitternden Fingern aufgeschlossen hatte, erstarrte sie.

Die Unterlagen waren verschwunden. Wie betäubt schloß sie den Schrank wieder. „Na, ist ja auch egal.“ Weatherly schien froh, das Thema beenden zu können. „Ich werde

Sie weiter auf dem laufenden halten“, sagte er und verabschiedete sich dann rasch.

Sofort nachdem er aufgelegt hatte, wählte Catherine erneut.

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„Mein Name ist Catherine Landano. Ich arbeite zusammen mit Horace Schilling an einem Fall, der meinen Ex-Mann betrifft“, erklärte sie.

„Wir haben die Akte geschlossen, Mrs. Landano, und Mr. Schilling ist im Moment nicht erreichbar.“

Catherine war entschlossen, sich nicht abschütteln lassen. „Ich brauche nur eine Auskunft“, sagte sie hartnäckig. „Waren Sie mit dem Fall befaßt?“

Ein kurzes Zögern am anderen Ende. „Hm ... ja, Mrs. Landano.“ „Dann sagen Sie mir nur eins: Haben Sie mich zu meinem Schutz

beschatten lassen?“ Wieder zögerte er. „Nein“, kam es schließlich. Catherines Frage schien

ihm offensichtlich unangenehm zu sein. „Wir waren einhellig der Meinung, daß es nicht erforderlich wäre.“ Er schien das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu müssen.

„Ihnen ist also niemand bekannt, der sich als Richard Moss vom CDC ausgegeben hat?“

„Wir haben es nicht nötig, irgendwelche Spielchen zu spielen, Mrs. Landano.“ In seinem Tonfall schwang Selbstzufriedenheit mit. „Wir sind einfach nur da.“

Oder auch nicht, dachte sie bitter. Vor allem, wenn man euch braucht. Aber egal, sie hatte in Erfahrung gebracht, was sie in Erfahrung bringen wollte, mehr brauchte sie nicht zu wissen. „Danke für die Auskunft“, sagte sie knapp und legte den Hörer vorsichtig, als handele es sich um ein rohes Ei, auf die Gabel.

Sie schloß die Augen und holte tief Luft. Plötzlich war ihr alles klar. Victor hatte ihr jemanden hinterhergeschickt - jemanden, der sie im Auge behalten und einschüchtern sollte. Daß es sich bei Richard Moss, um einen von Victors Komplizen handeln könnte, darauf wäre sie allerdings nie gekommen. Er hatte seine Rolle verdammt gut gespielt.

Erst jetzt war alles vorüber. Am nächsten Morgen rief Weatherly bereits in aller Herrgottsfrühe

an, um sie über Ellens Gesundheitszustand, der sich weiterhin verbessert hatte, zu informieren. Kurz bevor er sich verabschiedete, kam er, leicht widerstrebend, auf die Laborbefunde zusprechen. „Ich bin ehrlich erstaunt, aber Ihre These scheint sich zu bewahrheiten.“

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Sie war wie elektrisiert. „Ja?“ fragte sie gespannt. „Ja. Alles deutet darauf hin, daß der Erreger in dem Mäusedreck zu

finden ist, aber etwas Endgültiges sagen kann man erst, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind.“ Er machte eine kurze Pause, dann räusperte er sich leicht verlegen. „Hm ...“ fuhr er fort, „wie lange dauert Ihr Praktikum da draußen denn noch?“

„Vier Tage.“ Vier Tage. Vier Tage, in denen sie Jericho wahrscheinlich nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Und dann? O Gott, sie durfte gar nicht daran denken. Glücklicherweise war sie durch den überraschenden Gang der Ereignisse seit gestern so abgelenkt gewesen, daß sie gar nicht die Zeit gehabt hatte, sich den Kopf über etwas zu zerbrechen, für das sie sowieso keine Lösung wußte. Aber ich liebe ihn doch, dachte sie, und plötzlich brandete die alte Verzweiflung wieder in ihr hoch. „Ich hinterlasse Ihnen eine Nummer, unter der Sie mich jederzeit erreichen können, falls Sie noch weitere Fragen haben.“

„Das wäre sehr nett. Ach, dabei fällt mir noch etwas ein. Ich habe da eine Nummer für Sie, die Sie freundlicherweise bitte so bald wie möglich anrufen möchten.“ Er gab ihr die Nummer durch. „Craig Wilson ist unser Chefkoordinator“; erklärte Weatherly. „Er sitzt in Atlanta und würde sich sehr über einen Anruf von Ihnen freuen, Mrs. McDaniel.“

„Callahan“, korrigierte sie geistesabwesend. „Catherine Callahan.“ Sie hörte ein verblüfftes Luftholen am anderen Ende der Leitung.

„Mrs. Callahan“, wiederholte Weatherly verdattert. „Bitte entschuldigen Sie.“

„Keine Ursache“, gab Catherine großzügig zurück. „Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Craig Ihnen eine Stelle anbietet“,

sagte Weatherly, nachdem er sich wieder gefaßt hatte. „Eine Stelle?“ Ihr Puls beschleunigte sich. „Ja. Deshalb möchte er, daß Sie sich mit ihm in Verbindung setzen. Er

will Sie persönlich kennenlernen.“ „Kennenlernen? Wie? Wo?“ Jetzt war es an ihr, vollkommen verdattert

zu sein. „Nun, in Atlanta natürlich.“ „Den Flug kann ich mir nicht leisten“, sagte sie unangebrachterweise.

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Doch Weatherly ließ sich nicht beirren. „Darüber machen, Sie sich mal keine Gedanken, Mrs... Die Kosten trägt der CDC. Rufen Sie Mr. Wilson einfach an.“

„Selbstverständlich“, flüsterte sie benommen und legte auf.

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20. KAPITEL Das Flugzeug beschleunigte und raste über die Startbahn. Dann

hob es ab. Catherine verspürte sekundenlang in der Magengrube das vertraute Flattern, während sie ihre Nase gegen die Fensterscheibe preßte und gedankenverloren auf das Häusermeer von Atlanta, das kleiner und kleiner wurde, hinunterschaute.

Sie dachte an Paddy und lächelte leise vor sich hin. Guter alter Paddy. Bezüglich ihrer Reise nach Atlanta hatte er völlig mit ihr übereingestimmt. Sie konnte es sich nicht leisten, noch einmal eine Chance zu vertun. Vier Jahre ihres Lebens hatte sie bereits sinnlos verschwendet. Also hatte sie sich beim CDC in Atlanta umgeschaut und sich angehört, was Craig Wilson ihr anzubieten hatte. Doch wenig später hatte sie beschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen - und auf die Stimme ihres Herzens zu hören. Sie würde in die Reservation zurückkehren. Und diesmal für immer.

Für immer? Für immer. Mit oder ohne Jericho. Ihr war bewußt, daß er ihr

gegenüber niemals von immer gesprochen hatte, doch ihre Entscheidung war gefallen. So verlockend das Angebot, das ihr Craig Wilson unterbreitet hatte, auch gewesen, war, es war ihr nicht schwergefallen, es abzulehnen. Denn sie hatte eine bessere Alternative. Shadow war an ihrem letzten Tag in der Klinik aufgetaucht und hatte ihr erzählt, daß der Health Service fest entschlossen sei, Kolkline zu feuern - vorausgesetzt, es fände sich ein Ersatz für ihn. Und dann hatte Shadow sie bekniet, nach Abschluß ihrer Prüfungen die Stelle anzunehmen.

Nun hatte sie alles hinter sich gebracht - die Prüfungen, die Gespräche mit dem CDC, die Qualen der Entscheidungsfindung und als letztes heute die Ablehnung des CDC-Angebotes. Sie hatte sich die Zeit genommen, noch einmal nach Atlanta zu fliegen und ausführlich mit Wilson zu sprechen, einfach deshalb, weil sie sich diese Verbindung für ihre Arbeit in der Reservation warmhalten wollte. Gegen die Mystery Disease würde man wohl in kurzer Zeit ein Mittel gefunden haben, aber wer konnte schon wissen, ob ihr ihre Verbindungen zum CDC nicht irgendwann zu einem späteren Zeitpunkt noch von

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Nutzen sein könnten? Am Flughafen von Albuquerque nahm sie, sich einen Mietwagen und

fuhr geradewegs in die Reservation. Der Parkplatz vor der Klinik lag einsam und verlassen da bis auf Ellens Toyota. Es war bereits Abend. Catherine stieg aus ihrem Wagen und ging hinein. Das Geräusch, das ihre Stiefel auf der Metalltreppe verursachten, dröhnte unnatürlich laut durch die Stille.

Sie blieb einen Moment lang auf der Schwelle stehen und schaute sich um. Bei dem vertrauten Anblick wurde ihr plötzlich ganz warm ums Herz. Dann kam Ellen aus einem der hinteren Untersuchungszimmer.

„Na so eine Überraschung.“ Ellen klang nicht gerade erfreut, aber auch nicht unfreundlich.

„Tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß.“ Ellen zuckte die Schultern. „Ich bin nicht enttäuscht. Ich habe damit

gerechnet, daß Sie zurückkommen.“ Sie setzte sich an den Schreibtisch, auf dem ein kleiner künstlicher Christbaum stand.

„Ich ... äh ... ich war immer der Meinung, daß die Navajos Weihnachten nicht feiern“, sagte Catherine schließlich.

„Einen Santa Claus kann jeder brauchen“, gab Ellen kurzangebunden zurück.

Santa Claus, der Wundertäter. Catherine unterdrückte den Drang, über die Schulter hinaus auf zum Beautiful Mountain zu schauen. Wer wußte schon, wie alles gekommen wäre, wenn sie Louie nicht dieses Medikament gegeben hätte, und wenn Mrs. Nakai nicht die Feldmäuse erwähnt hätte?

Ellen öffnete eine Schreibtischschublade und nahm einen Umschlag heraus. „Jericho hat das hier für Sie hinterlegt für den Fall ... daß Sie ... zurückkommen.“

Catherine öffnete den Brief mit zitternden Händen. Seine Schriftzüge, leicht schräggestellt, wirkten kühn.

Ich liebe Dich. Ich glaube, das habe ich Dir noch gar nicht

gesagt. Heiße Tränen stürzten ihr plötzlich aus den Augen und rannen ihr

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die Wangen hinab. Blind fummelte sie mit dem Blatt herum, aber sie bekam es nicht wieder in den Umschlag.

„Ich komm nicht mal dazu, Staub zu wischen“, brummte Ellen unwirsch, knallte die Schreibtischschublade zu und stand auf. „Ich soll Ihnen erklären, wie Sie zu seinem Haus kommen. Ihr Trailer ist zur Zeit unbewohnbar.“

Catherine lächelte ein wenig zittrig und fuhr sich verstohlen mit der Handfläche über die Wangen, um sich die Tränen abzuwischen. „Sagen Sie bloß nicht, daß der Unterboden durchgekracht ist.“

„Wir hatten ein paar Nächte mit starkem Frost, da sind die Leitungen, die zum Wassertank führen, geplatzt. Jack hat zwar schon jemandem Bescheid gesagt, aber es wird wohl ein paar Tage dauern, bis sie repariert sind. Wir haben hier Navajo-Zeit, müssen Sie wissen.“

Wieder huschte ein zittriges Lächeln über Catherines Gesicht. „Ich weiß.“

Doch Ellen beachtete sie nicht weiter und begann, eine Karte aufzumalen. Nachdem sie fertig war, lieferte sie die notwendigen Erklärungen dazu.

Catherine nickte und trat einen Schritt zurück. Sie zögerte einen Moment, dann jedoch sagte sie leise: „Es tut mir leid, daß ich Ihnen weh tun muß.“

Ellen sah sie an: Für einen Moment flackerte Schmerz auf in ihren Augen, und sie wandte rasch ihren Blick ab. „Ich hätte ihn sowieso niemals haben können“, sagte sie so undeutlich, daß Catherine ihre Worte kaum verstehen konnte. „Weil er aus demselben Clan stammt wie ich“, fügte sie hinzu.

Einen Augenblick später, hatte sie ihre alte Forschheit wiedergefunden. „Wenn er nicht da sein sollte, hat er den Schlüssel unter einen Stein auf dem Parkplatz gelegt. Sie sollen dann schon mal reingehen und auf ihn warten.“

Er war zu Hause. Catherine brachte ihren Wagen neben dem Rover zum Stehen.

Ihre Hände waren feucht vor Aufregung. Mit bebenden Fingern schloß sie die Autotür zu und sah sich um.

Das Haus schmiegte sich eng an den Felsen, wodurch es so wirkte, als

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wäre es ein Teil davon. Es war groß und schien sehr geräumig. Er hat sich sehr viel Mühe gegeben, dachte sie. Doch es hatte nichts genützt, Anelle hatte er dadurch auch nicht retten können.

Als ein knackendes Türgeräusch an ihr Ohr drang, blieb ihr fast das Herz stehen. Sie drehte sich um. Er stand, in der hereinbrechenden Dunkelheit nur als Silhouette wahrnehmbar, auf der Schwelle. Hinter ihm war alles hell erleuchtet.

„Ich liebe dich auch“, rief sie ihm zu, während sie mit klopfendem Herzen auf ihn zustürzte. Sie war zurückgekommen, nicht wegen ihm, sondern zu ihm.

Ganz langsam breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus, so strahlend, wie sie es noch niemals bei ihm gesehen hatte.

„Zweifellos. Sonst wärst du jetzt nicht hier. Komm schnell rein, es ist kalt draußen.“

Noch während sie in seinen Armen lag, zog er sie sanft mit nach drinnen, wo alsbald wohltuende Wärme sie umfing. Vor lauter Aufregung hatte sie gar nicht gemerkt, wie kalt es draußen war.

Die eine Seite des weitläufigen Wohnraums bestand nur aus einer Fensterfront. Sofort zog es Catherine dorthin, und als sie hinausblickte, verschlug es ihr für einen Augenblick die Sprache. „Mein Gott, ist das schön“, sagte sie schließlich fast andächtig und starrte auf Jerichos Heimatland, das sich, wild zerklüftet und geheimnisvoll, vor ihr ausbreitete. „Hierher bist du also zum Schlafen immer gegangen.“

Er beobachtete sie genau. „Ich habe die Fensterfront bauen lassen, damit sie die Schönheit meines Landes immer vor Augen hat. Geendet hat es damit, daß sie sie nur von Mal zu Mal mehr erschreckt hat.“

„Sie ist erschreckend“, flüsterte Catherine und preßte ihre Handflächen gegen die Fensterscheibe. „Es ist... fast zuviel. Man fühlt sich hier wie Gott, der auf seine Welt hinabsieht.“

Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Vielleicht auf einen winzigen vergessenen Teil der Welt“, korrigierte er mit leiser Ironie.

„So klein nun auch wieder nicht“, widersprach sie. „Und vergessen konnte zumindest ich ihn nicht.“

Sie starrte noch immer aus dem Fenster, als er ihr die Hände um

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die Taille legte und sie zu sich herumdrehte. „Bist du deshalb zurückgekommen, Katzenauge?“

Zärtlich fuhr sie ihm mit den Fingerspitzen über die Wangenknochen und zeichnete den Schwung seiner Augenbrauen nach. Vom CDC konnte sie ihm später erzählen. Jetzt war nur eines wichtig.

„Ich bin zurückgekommen, weil mir dein Land ein großes Wunder beschert hat. Es hat mir mich selbst wieder zurückgegeben und eine Aufgabe, die ich gern übernehmen werde. Und es hat mir zugleich dich geschenkt.“

„Dieses Land besteht aber nicht nur aus blinkenden Sternen und samtigen Schatten“, warnte er sie, während er sie an sich zog.

„Ich weiß.“ „Wenn ich an manchen Tagen aus dem Fenster schaue, erscheint

mir der Horizont kalt und abweisend.“ „Und manchmal regnet es.“ „Nicht sehr oft.“ „Das kannst du dem alten braunen Ford erzählen.“ Sie war sich nicht sicher, ob sie sich sein Auflachen nur eingebildet

hatte oder nicht. Dafür war sie sich um so sicherer, daß sich sein Mund dem ihren näherte und sie ihn gleich darauf warm und verlangend auf ihren Lippen spürte.

Es wurde ein langer Kuß. „Ich glaube fest daran, daß dich dieses Land nicht zerstören wird, weil

ich dich liebe“, sagte er leise, nachdem er sich wieder von ihr gelöst hatte. „Und wo Liebe ist, ist auch Hoffnung.“

„Ich werde hier überleben, weil ich dich liebe und weil du ohne dein Land für mich gar nicht denkbar bist.“

„Das hast du schön gesagt.“ Er seufzte. „Es war die Hölle für mich, nachdem du weggegangen warst, Katzenauge. Und es war die Hölle, mich von dir fernzuhalten, solange du noch da warst. Ich habe mir Tag und Nacht den Kopf, darüber zerbrochen, was ich bloß anstellen könnte, um dich zu vergessen, aber ich war überzeugt davon, daß es mir nicht gelingen würde. Ich frage mich noch immer, wie ich es geschafft habe, dir nicht hinterherzufahren.“

Ihr Herz machte einen Satz. „Hast du mit dem Gedanken gespielt?“ fragte sie.

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„Um dich an den Haaren hierher zurückzuschleppen?“ Sein Blick wanderte aus den Fenster hinaus zum Himmel. „Gespielt schon, Katzenauge. Aber ob ich es letztlich gemacht hätte, weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe mir geschworen, so etwas nie mehr zu tun, aber du hättest mich möglicherweise dazu gebracht, meinen Schwur zu brechen. Wahrscheinlich hätte ich dann für den Rest meines Lebens in Angst und Schrecken gelebt davor, daß es wieder schiefgehen könnte wie beim ersten Mal.“

„Ich bin stark genug, um hier zu leben“, flüsterte sie. „Ich weiß“, erwiderte er schlicht. „Gott sei Dank hast du mich nicht

gezwungen, das für dich zu entscheiden.“ „Nein, ich habe für mich selbst entschieden. Und für dich. Ich habe

mich für dich entschieden.“ Er rollte sich eine Haarsträhne von ihr um den Finger. Nachdem er

sie wieder abgewickelt hatte, nahm er Catherine in die Arme und sah ihr tief in die Augen. „Ja, du hast dich für mich entschieden, und ich liebe dich, Katzenauge. Willst du mich heiraten?“

Als sie vor Freude und Glück erschauerte, legte er den Arm noch fester um sie und drückte sie an sich. „Weil du mich hast gehen lassen, bin ich zurückgekommen flüsterte sie. „Jetzt mußt du zusehen, wie du mich wieder loswirst.“

- ENDE -