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Rezension von Wolf Lustig
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Les discours de l'Internet: nouveaux corpus, nouveaux modèles? Ouvrage publié par le Centre de recherche sur les discours ordinaires et spécialisés.
Coordination éditoriale par Florence Mourlhon-Dallies, Florimond Rakoto-noelina et Sandrine Reboul-Touré (Les Carnets du Cediscor, 8). - Paris:
Presses Sorbonne Nouvelle, 2004, 203 S.
Der hier vorgestellte Band ist 2004 in der Schriftenreihe des Centre de recherche sur les
discours ordinaires et spécialisés der Université Paris 3 erschienen. Die Forschergruppe des
CEDISCOR hat sich zur Aufgabe gemacht, spezifische Formen „vermittelnder“ Diskurse
(discours médiateurs) zu untersuchen und zu beschreiben, insbesondere solche der
Wissensvermittlung, sowie weiterhin didaktische, berufs- und medienspezifische
Redeformen. Dabei steht der Gedanke im Vordergrund, dass die Neuen Medien und
Kommunikationsformen, wie sie insbesondere über das Internet transportiert werden,
gegenwärtig eine Vielzahl neuer Diskurstypen hervorbringen. In vielerlei Hinsicht haben
diese sich als methodologische Herausforderung erwiesen, nicht zuletzt weil sie häufig in
einer schwer fassbaren Übergangszone zwischen geschriebener und gesprochener Sprache
angesiedelt sind. Auf den Plan gerufen sind dadurch nicht nur die Sprach- und
Kommunikationswissenschaften, sondern auch Pädagogik, Informatik und Semiotik. Da
kaum sprachspezifische Phänomene angesprochen werden, gehört die romanische Philologie
zumindest nicht zu den expliziten Adressaten des Sammelbandes, doch ist es zweifellos von
Vorteil, sich einmal einen Überblick über Phänomene der digital-elektronisch vermittelten
Kommunikation zu verschaffen, die nicht nur sprachwissenschaftlich relevant sind, sondern
zunehmend auch in der Literatur ihren Niederschlag finden.
Den Grundstock der in dem Buch vereinten acht Artikel (+ Avant-propos) bilden die Beiträge
zu einem 2002 durchgeführten Kolloquium mit dem Thema Internet comme terrain de re-
connaissance pour les sciences du langage, bei welchem eben die Frage nach der
Angemessenheit der traditionellen Beschreibungsmodelle in den Vordergrund geriet. So
bildet auch nicht die Beschreibung und Klassifikation von einzelnen Formen der elek-
tronischen Kommunikation das Organisationsprinzip der Publikation (obwohl man auch
darüber einiges erfährt), sondern die sich aus dem Bemühen darum ergebenden
Grundsatzfragen. Diese methodenkritische Perspektive spiegelt sich wider in der Einordnung
der Beiträge in drei Sektionen. Im ersten Teil finden sich Beiträge, die sich den neuen
Kommunikationsformen unter Rückgriff auf die Terminologie und Methodik der
Gesprächsanalyse nähern. Ausgangspunkte der Reflexion sind hier Diskussionsforen, E-Mail-
Listen und Chats. Im zweiten Teil werden spezielle Phänomene des Austausches in
Diskussionsforen aus der Warte der Diskurslinguistik beleuchtet und bei den „speziellen
Ansätzen“ des dritten Teils geht es um private Homepages als „Experimentierraum“ und um
E-Mail-Nachrichten im Firmen-Intranet.
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Eine informative und anregende Zusammenfassung und Interpretation der teilweise sehr
spezialisierten Einzeluntersuchungen mit ihren nicht immer auf andere Kontexte
übertragbaren Ergebnissen stellt das Vorwort der Herausgeber dar. Den ersten
methodologischen Block (Entrées en linguistique de discours) eröffnet sodann Michel
Marcoccia mit seinen „Retours sur l'analyse conversationnelle: L'analyse conversationnelle
des forums de discussion: questionnements méthodologiques“. Der Titel macht deutlich, dass
sich dem Autor die ursprünglich auf den Untersuchungsgegenstand der Kommunikation in
Usenet-Foren gerichtete Fragestellung in eine Reflexion über die Prämissen des eigenen
Ansatzes verkehrt: Grundlegende Probleme, die sich bei der Beschäftigung sowohl mit
Diskussionsforen als auch mit E-Mail-Diskussionslisten stellen, liegen in der Definition des
Corpus (die Fixierung von Anfang und Ende einer Diskussion scheint hier immer willkürlich)
oder des Kreises der Teilnehmer an einem offenen Online-„Gespräch“. Jacques Anis richtet in
“La dynamique discursive d'une liste de diffusion: analyse d'une interaction sur
«[email protected]»” sein Augenmerk auf die sehr komplexen Dialog- bzw.
Polylogstrukturen von spezialisierten Diskussionslisten, auf den Rhythmus der Interventionen
und andere eher statistische Gesichtspunkte, sowie auf Aspekte der Sprachverwendung und
quasi „gruppendynamische“ Phänomene der elektronischen Kommunikation. Während Anis
der Annahme, dass die neuen Formen und Kanäle auch neue diskursive Phänomene zeitigen,
mit Skepsis begegnet, stellt Patrick Chardenet gerade eine solche erstaunliche Erscheinung in
den Mittelpunkt seines Beitrags „Échanges plurilingues en ligne: à la recherche de l'objet du
discours“. Als dritte originäre Form der Online-Gruppen-Kommunikation kommt hier der
Chat in den Blick und zwar in einer mehrsprachigen Variante, bei welcher sich der konkrete
Anlass und Gegenstand des Austausches als Strukturprinzip der Kommunikation weitgehend
verflüchtigt. Einen von der Intention her ernsthafteren und ergebnisorientierten
kommunikativen Raum beleuchten Christelle Celik und François Mangenot in „La
communication pédagogique par forum: caractéristiques discursives“. Hier geht es um die
Kommunikation im Forum einer E-Learning-Plattform, in dem sich Teilnehmer an einer FLE-
Lerneinheit sowohl untereinander als auch mit dem Lehrkörper austauschen. Die strukturellen
und sprachlich-formalen Besonderheiten dieser Interaktionsform interessieren die Autoren
auch im Hinblick auf ihre didaktische Effizienz.
Den zweiten Teil (Entrées en linguistique de discours) eröffnet Patricia von Münchow mit
ihrem Beitrag „Le discours rapporté dans un forum de discussion sur l'internet“. Darin gilt ihr
Augenmerk Phänomenen der Redewiedergabe bzw. des Verweises auf andere Diskurse, wie
sie sich anscheinend in spezifischer Form in Usenet-Foren (hier fr.soc.environnement)
manifestieren. Am Schluss bleiben ein paar Fragen stehen, die man auch an andere Autoren
dieses Bandes richten kann: Sind die auf der Basis eines sehr speziellen Corpus gemachten
Beobachtungen repräsentativ und übertragbar auf andere Thematiken, andere Sprachen und
Kulturen, und inwiefern sind sie tatsächlich an die elektronischen Medien gebunden? Diesen
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manchmal übersehenen Bezug zu den traditionellen, nicht-elektronischen Textsorten und
Redeformen findet man im Artikel von Jean-Yves Colin und Florence Mourlhon-Dallies: „Du
courrier des lecteurs aux forums de discussion sur l'internet: retour sur la notion de genre“.
Die Autoren zeigen, dass die Kommunikation innerhalb einer Online-community, wie sie sich
in thematisch definierten Newsgroups konstituiert, ganz ähnliche Züge aufweist wie
Diskussionen, die herkömmlich in Form von Leserbriefen geführt werden – zumindest wenn
es um eine sehr spezialisierte Thematik geht (das Leserbrief-Corpus entstammt hier dem
englischen Militärspiele-Magazin Lone Warrior von 1982).
Die zwei Beiträge des dritten Teils schließlich führen über den relativ homogenen
thematischen und methodischen Rahmen der Gesamtkonzeption des Bandes hinaus. In „Les
pages personnelles comme terrain d'expérimentation“ fassen Valérie Beaudouin, Serge Fleury
und Marie Pasquier Ergebnisse einer groß angelegten Untersuchung von 101 426 privaten
Websites zusammen, die von einer Abteilung der französischen Telekommunikationsbehörde
(Réseau National de Recherche en télécommunications) im Rahmen des Projektes TypWeb /
SensWeb initiiert wurde.1 Was den Beitrag mit den übrigen verbindet – und außerdem einen
der wenigen offensichtlichen Anknüpfungspunkte für die Literaturwissenschaft darstellt – ist
die (hier bejahte) Frage nach dem Status der privaten Website als eigener „Gattung“.
Wesentlich enger gefasst scheint im Gegensatz dazu der Untersuchungsgegenstand des letzten
Artikels: In „Les messages électroniques des intranets d'entreprise: médiations techniques et
médiations socio-culturelles“ analysiert Bruno Hénocque den E-Mail-Verkehr in Firmen-
Intranets. Es mag in Anbetracht der scheinbar engeren Grenzen eines Firmennetzes erstaunen,
doch werden gerade in diesem Anwendungsbereich interkulturelle Missverständnisse als
Störfaktoren der elektronischen Kommunikation konstatiert.
Eine 10-seitige, gerade für den Einsteiger sehr hilfreiche Bibliographie sowie kurze Resümees
aller Beiträge und Autoreninformationen beschließen den Band, der bei aller Partikularität der
Corpora als ein Kompendium zu bewerten ist, das auch dem traditionell von dieser Thematik
nur marginal angesprochenen Romanisten einen ersten Zugang zu dem immer wichtiger
werdenden Bereich der internetspezifischen Textsorten eröffnet.
Mainz Wolf LUSTIG
1 Näheres hierzu auf RNRT 2001 - Projet SensNet, http://www.telecom.gouv.fr/rnrt/rnrt/projets/res_01_39.htm (04.12.2005). - Die im Buch selbst angegebene Adresse war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gültig.