28
LÉOPOLD-JOSEPH BONNY DUALA-M'BEDY DIE PROBLEMATIK AFRIKANISCHER STAATENBILDUNG I n den Sozialwissenschaften beobachten wir in den letzten Jahren eine besondere Tendenz, die Gültigkeit der aus dem westlichen Geschichtszusammenhang hervor- gegangenen Erfahrungskategorien in der Entstehungsgeschichte der sogenannten jungen Staaten Afrikas und Asiens zu beweisen. Damit werden die außereuropäi- schen Völker, die soeben ihre Unabhängigkeit erlangt haben, als potentielle Träger westlicher Geschichtserfahrung angesehen, einer Erfahrung, die offensichtlich für universal gehalten wird. Deshalb geht man in der durch die neuen Phänomene aufgeworfenen Diskussion davon aus, daß diese Staaten Afrikas dieselben Erfah- rungen der Staatswerdung gemacht haben wie die europäischen und amerikani- schen. Soweit man ihnen diese abspricht, stellt man auch ihre Existenzfähigkeit in Frage. Dem Beweis, daß so grundlegende Begriffe der europäischen Geschichte wie „Nation" oder „Staat" auf die politischen Verhältnisse Afrikas anwendbar sind, liegt der Gedanke zugrunde, die bei der Verselbständigung afrikanischer und asiati- scher Staaten entstandenen Gesellschaftstrukturen als fait accompli zu betrachten, das weder rückgängig zu machen, noch revisions- bzw. reformbedürftig sei. Dieser kritiklosen Übertragung westeuropäischer Kategorien, die einer Manipulation gleichkommt, entspricht auf der anderen Seite die Skepsis derjenigen, die den nichteuropäischen Völkern eine angeborene Unfähigkeit, sich selbst zu regieren, zuschreiben wollen. Die Tendenz, das Kriterium für die Beurteilung der Menschen, die noch vor einem Jahrzehnt unter kolonialer Herrschaft standen, nach wie vor im Erfahrungs- bereich der westeuropäischen Kolonialmächte zu suchen, wirft die Frage nach dem Sinn der Unabhängigkeit überhaupt auf. Es fragt sich, ob die Freigabe der ehe- maligen Kolonialgebiete zu rechtfertigen ist und ob nicht mit der Übernahme der westlichen Staatsauffassung und ihrer Einrichtungen, denen universaler Wert bei- gemessen wird, im Grund der koloniale Status quo verewigt wird. Damit ist der Ausgangspunkt für die grundlegenden Probleme der Entstehung dieser neuen „Staaten" angedeutet. Ist die juristische Auflösung des kolonialen Imperiums Symptom für eine geistige Wandlung in der Einstellung des westlichen Menschen zu seiner Außenwelt oder handelt es sich dabei lediglich um eine Akzentverschie- bung innerhalb der traditionellen politischen Haltung des Westens? Weder die biologischen Thesen der Kulturpessimisten, noch die weltpolitische Konstellation der postkolonialen Ära geben Anlaß zu der Hoffnung, daß das Ende des Kolonialis- mus für die westliche Welt auch den Verzicht auf Hegemonie einschließt. Die Hal- tung gegenüber den nichteuropäischen Menschen ist nur etwas differenzierter ge- worden. Gewiß, man ist von dem mittelalterlichen Bild des „Heiden" ebenso ab- gekommen wie von dem in der Renaissance antithetisch gesetzten Begriff des

LÉOPOLD-JOSEPH BONNY DUALA-M'BEDYbedy.pdf · Die enttäuschte Stimmung der Neger in Amerika und die Hoffnungen, die man in die Zukunft gesetzt hatte, gipfelten in der Idee von Afrika

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • LÉOPOLD-JOSEPH BONNY DUALA-M'BEDY

    DIE PROBLEMATIK AFRIKANISCHER STAATENBILDUNG

    I n den Sozialwissenschaften beobachten wir in den letzten Jahren eine besondere Tendenz, die Gültigkeit der aus dem westlichen Geschichtszusammenhang hervor-gegangenen Erfahrungskategorien in der Entstehungsgeschichte der sogenannten jungen Staaten Afrikas und Asiens zu beweisen. Damit werden die außereuropäi-schen Völker, die soeben ihre Unabhängigkeit erlangt haben, als potentielle Träger westlicher Geschichtserfahrung angesehen, einer Erfahrung, die offensichtlich für universal gehalten wird. Deshalb geht man in der durch die neuen Phänomene aufgeworfenen Diskussion davon aus, daß diese Staaten Afrikas dieselben Erfah-rungen der Staatswerdung gemacht haben wie die europäischen und amerikani-schen. Soweit man ihnen diese abspricht, stellt man auch ihre Existenzfähigkeit in Frage.

    Dem Beweis, daß so grundlegende Begriffe der europäischen Geschichte wie „Nation" oder „Staat" auf die politischen Verhältnisse Afrikas anwendbar sind, liegt der Gedanke zugrunde, die bei der Verselbständigung afrikanischer und asiati-scher Staaten entstandenen Gesellschaftstrukturen als fait accompli zu betrachten, das weder rückgängig zu machen, noch revisions- bzw. reformbedürftig sei. Dieser kritiklosen Übertragung westeuropäischer Kategorien, die einer Manipulation gleichkommt, entspricht auf der anderen Seite die Skepsis derjenigen, die den nichteuropäischen Völkern eine angeborene Unfähigkeit, sich selbst zu regieren, zuschreiben wollen.

    Die Tendenz, das Kriterium für die Beurteilung der Menschen, die noch vor einem Jahrzehnt unter kolonialer Herrschaft standen, nach wie vor im Erfahrungs-bereich der westeuropäischen Kolonialmächte zu suchen, wirft die Frage nach dem Sinn der Unabhängigkeit überhaupt auf. Es fragt sich, ob die Freigabe der ehe-maligen Kolonialgebiete zu rechtfertigen ist und ob nicht mit der Übernahme der westlichen Staatsauffassung und ihrer Einrichtungen, denen universaler Wert bei-gemessen wird, im Grund der koloniale Status quo verewigt wird. Damit ist der Ausgangspunkt für die grundlegenden Probleme der Entstehung dieser neuen „Staaten" angedeutet. Ist die juristische Auflösung des kolonialen Imperiums Symptom für eine geistige Wandlung in der Einstellung des westlichen Menschen zu seiner Außenwelt oder handelt es sich dabei lediglich um eine Akzentverschie-bung innerhalb der traditionellen politischen Haltung des Westens? Weder die biologischen Thesen der Kulturpessimisten, noch die weltpolitische Konstellation der postkolonialen Ära geben Anlaß zu der Hoffnung, daß das Ende des Kolonialis-mus für die westliche Welt auch den Verzicht auf Hegemonie einschließt. Die Hal-tung gegenüber den nichteuropäischen Menschen ist nur etwas differenzierter ge-worden. Gewiß, man ist von dem mittelalterlichen Bild des „Heiden" ebenso ab-gekommen wie von dem in der Renaissance antithetisch gesetzten Begriff des

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 293

    „Wilden" oder dessen Glorifizierung im Zeitalter der Aufklärung. Die evolutioni-stischen Thesen des 19. Jahrhunderts, die den Begriff der „Primitivität" im Sinne des Embryonalen erfanden, haben der Vorstellung Platz gemacht, daß diese viel-mehr Ausgangspunkt eines progressiv sich entwickelnden Geschichtsablaufs ist. Heute spricht man vom „Entwicklungsmenschen", dem seit dem Mittelalter - so-zusagen als apostolisches Paradigma - der westliche Mensch gegenübersteht. Von diesem behaupteten Apostolat wird die politische Haltung gegenüber den nicht-abendländischen Menschen bestimmt.

    Das Phänomen der Entstehung dieser sogenannten jungen Staaten Afrikas, die durch ihre Herkunft aus dem kolonialen Status inmitten einer fremden Tradition und vor dem Dilemma stehen, daß sie einerseits einen eigenständigen Staatsaufbau wünschen, der ihr Selbstverständnis widerspiegelt, auf der anderen Seite aber die wesensfremden Ordnungskategorien der Kolonialzeit beibehalten, muß in diesem Zusammenhang gesehen werden. In seinem Buch „Afrika — Geschichte und Gegen-wart"1, das 1961 erschien - also ein Jahr nach dem sogenannten Afrikajahr, in dem achtzehn afrikanische Kolonialgebiete ihre Unabhängigkeit erlangten — ver-wendet Hans Mukarowsky für die jungen Staaten Afrikas eine Klassifikation, die das Scheitern eigenständiger national-afrikanischer Zielsetzungen schon einschließt. Seiner These zufolge werden die afrikanischen „Staaten" auch weiterhin maßgeb-lich von britischen, französischen oder anderen nichtafrikanischen Einflüssen ge-prägt. Setzt man aber voraus, daß der Statuswechsel von der Kolonie zum souverä-nen Staat ein rein formaler Prozeß war, der keine neue Ausgangssituation für Selbstverständnis und Selbstbewertung der Afrikaner schuf, dann erübrigt sich jede Diskussion über die Problematik der Entstehung afrikanischer „Staaten". Es sollen hier einige Vorgänge beleuchtet werden, die zur Entstehung der modernen afri-kanischen Staatsgebilde und zur gegenwärtigen Krisensituation geführt haben. Dabei ist zunächst das Problem des afrikanischen Nationalismus zu untersuchen.

    Ursprung und Wesen des afrikanischen Nationalismus

    Der afrikanische Nationalismus ist im Grunde nicht-afrikanischen Ursprungs. Es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis gebürtige Afrikaner in die Diskussion eingriffen und damit auch den afrikanischen Kontinent zum Ausgangsfeld natio-naler Gefühle machten. Ursprünglich war dieser Nationalismus eine Angelegen-heit der Nordamerikaner und Kariben, die zum erstenmal den Begriff des „Pan-afrikanismus"2 verwendeten, der dann allgemein die ideologische Alternative zur Unterdrückung der Neger in der ganzen Welt bezeichnen sollte. Die Abschaffung

    1 Verlag Herder, Wien 1961. 2 In Anknüpfung an andere Pan-Bewegungen im 19. Jahrhundert. Von deutscher Seite

    wurde die Bewegung neuerdings ausführlich behandelt be i : Imanuel Geiss, Panafrikanismus, Zur Geschichte der Dekolanisation, Frankfurt/M. 1968.

  • 294 L.-J. Bonny Duala-M'bedy

    der Sklaverei brachte dem amerikanischen Neger nicht die erhoffte Verbesserung seiner gesellschaftlichen Lage. Die offizielle Aufwertung des äußeren Status zog den Terror extremer Gruppen und schließlich die Segregation der Schwarzen nach sich. Dennoch wurde gerade das beginnende 20. Jahrhundert als Anfang eines Milleniums wirklicher Freiheit und eines neuen Humanismus angesehen3.

    Die enttäuschte Stimmung der Neger in Amerika und die Hoffnungen, die man in die Zukunft gesetzt hatte, gipfelten in der Idee von Afrika als dem gelobten Land. Parolen wie „Zurück nach Afrika" und „Afrika den Afrikanern" sollten sie lebendig machen. Sie wurden von Weißen nicht unerheblich unterstützt, die damit an die philantropische Bewegung zur Heimführung der Negerbevölkerung im 19. Jahrhundert (Sierra Leone, Liberia) anknüpften4.

    Ursprünglich wurden diese Kampfrufe Marcus Aurelius Garvey in den Mund gelegt. In Jamaika geboren, hatte er sehr früh erkannt, daß seine Heimat nicht für umstürzlerische Bewegungen geeignet war. Er verlegte deshalb 1916 sein Tätig-keitsfeld nach Harlem, wo die aus dem Krieg zurückgekehrten Negersoldaten immer noch auf die politische Freiheit und die soziale Gerechtigkeit warteten, in deren Namen sie gekämpft hatten. Die später als Garveyismus bekanntgewordene Bewegung schildert Padmore, ein früher Anhänger Garveys, in seinem Buch „Panafrikanismus "5. Er bezeichnet Garvey darin als faschistisch. Tatsächlich waren Garveys politische Gedanken eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Jamaikas. Dort war die Gesellschaft streng nach der Hautfarbe in Klassen gegliedert, und Garvey selbst gehörte zu der untersten. Sein Plan ging dahin, die reine schwarze Rasse zu erhalten, um mit ihr ein Negerimperium zu gründen, in dem die Neger ihre eigene Regierung besitzen sollten und Politik nach rassischen Gesichtspunkten betreiben konnten. Zu diesem Zweck schuf er u.a. eine „Neger-Kapitalgesellschaft", die, wie der Name „Universal Negro Improvement Association" besagt, die Ver-besserung der wirtschaftlichen und sozialen Stellung der schwarzen Bevölkerung zum Ziel hatte und Grundlage des neuen Staates sein sollte. Diese „Utopia negra" war ab 1920 in New York lebendig, bis die UNIA 1923 in Konkurs ging.

    Der Begriff ,Panafrikanismus' wird auf den Westinder Sylvester Williams zurück-geführt, der im Rahmen seiner Londoner Anwaltstätigkeit zum Verfechter der causa africana wurde. Vom 23.-25. Juli 1900 hielt er in London eine panafrika-nische Konferenz ab, um für seine Idee zu werben6. Er beabsichtigte „eine Bewe-gung ins Leben zu rufen, deren Ziel es war, allen afrikanischen Rassen, die in ,zivilisierteren' Ländern leben, ihre vollen Rechte und ihre Geschäftsinteressen zu sichern"7. Williams spannte wie Garvey die ökonomischen Möglichkeiten für seine

    3 Siehe hierzu: Booker T. Washington, N. B. Wood und Fanni Bassier Williams, A New Negro for a New Century, Chikago 1903.

    4 Vgl. hierzu Hanspeter Strauch, Panafrika, Zürich 1964, S. 19 u. 22. 5 George Padmore, Panafricanism or Communism? The Coming struggle for Africa,

    New York 1956, Kap. 10. Vgl. auch Geiss, a .a .O. , S. 205 ff. 6 Vgl. Strauch, a .a .O. , S. 2 7 ; Geiss, a .a .O. , S. 143 ff. 7 Bishop Alexander Walters, My Life and Work, New York, Revell 1917, S. 251 .

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 295

    politischen Pläne ein und sah als Folge seiner Tätigkeit bereits eine Blütezeit der aus sozialer Misere herausgeführten schwarzen Rasse anbrechen.

    Diese Zukunftsvision, die auf dem Vorrang einer Rasse beruhte, ist Bestandteil der panafrikanischen Bewegung bis zu ihrer „Afrikanisierung" geblieben. In dieser frühen Phase drückt sie sich in der Betonung der „african personality" aus, die auch in den folgenden Programmen und Beschlüssen politischer Organisationen eine Rolle spielt. Solche fremden Einflüsse muß man bei der Betrachtung von Ursprung und Entstehung des späteren Panafrikanismus beachten, denn sie - nicht die realen Verhältnisse Afrikas - bilden die ideellen Grundlagen der sogenannten afrikanischen Staaten. Die realen Verhältnisse hielt man für anachronistisch und leugnete sie deshalb bei der Ausarbeitung der neuen Verfassungen.

    Der von Sylvester Williams ins Leben gerufene panafrikanische Gedanke verlor an Beachtung, als Williams kurz nach seinem Londoner Auftreten in seiner Heimat starb, bis ein Teilnehmer seiner Konferenz, William Eduard Burkhardt DuBois8, ihn 1919 durch die Organisation eines panafrikanischen Kongresses wieder aufnahm und mit der Forderung nach Emanzipation der Menschen dunkler Hautfarbe ver-band. Dadurch wurde DuBois zum eigentlichen Begründer der Bewegung. Er sicherte sich zunächst einen festen Rückhalt in der amerikanischen Negerbevölke-rung - sogar gegen deren allgemein anerkannten ersten Führer Booker T. Washing-ton. Seiner Aktivität ist die Gründung der heute noch bestehenden National Asso-ciation for Advancement of Coloured People (NAACP) im Jahr 1909 zu verdanken. Das Signal zur Internationalisierung seiner Bewegung gab er am Ende des Ersten Weltkriegs, der für ihn wie für viele sozial Unterdrückte die Befreiung vom Mythos der privilegierten weißen Rasse und ihrer ethischen Grundsätze brachte. Im Schatten der Versailler Friedenskonferenz hielt DuBois vom 19.-21. Febr. 1919 in Paris einen panafrikanischen Kongreß ab. Dort versuchte er zum erstenmal, den Panafrikanismus zu „afrikanisieren". Indem er sich an den französischen Abgeord-neten aus Senegal, Blaise Diagne, um Unterstützung wandte, öffnete er die Tür für potentielle Teilnehmer aus Afrika - zwölf sind aber nur erschienen — und lenkte die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Probleme Afrikas. Mit seinen revolutionären Forderungen trug DuBois dazu bei, daß die ehemaligen deutschen Kolonien nach dem Krieg den Status von Mandatsgebieten erhielten9. Nur seitens der Afrikaner, um die er geworben hatte, erfuhr er keine begeisterte Zustimmung. Das blieb so bis zum panafrikanischen Kongreß des Jahres 1927 in New York. Auch dort fanden sich noch keine afrikanischen Nationalisten ein, denen daran gelegen war, das ganze Kolonialsystem in Frage zu stellen. Erst die Verlegung des Sitzes der panafrikanischen Bewegung von New York nach London, die nach dem Über-fall Mussolinis auf Äthiopien und der anschließenden Gründung eines Solidaritäts-komitees in London erfolgte, veranlaßte einige Afrikaner, unter ihnen Yomo Kenyatta, der einer der Organisatoren des Komitees war, sich der DuBoisschen

    8 Vgl. Geiss, a .a .O., S. 157 ff. 9 Vgl. Strauch, a .a .O. , S. 33 f.

  • 296 L.-J. Bonny Duala-M'bedy

    Bewegung anzuschließen. Auch die Londoner Gruppe gehörte ihr an. Aber erst die weltpolitische Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs förderte die Entwicklung eines afrikanischen Selbstbewußtseins stärker10. Die Afrikaner hatten im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg an der Seite ihrer Kolonialherren gekämpft. Auf der Konferenz von Brazzaville zu Beginn des Jahres 1944 war deshalb Charles de Gaulle den politischen Forderungen der afrikanischen Völker im französischen Bereich ent-gegengekommen. Ihr Beitrag zum Sieg und ihre Treue zu Frankreich sollten durch eine stärkere Berücksichtigung ihrer Interessen und Institutionen vergolten wer-den11.

    Dieser emanzipatorischen Entwicklung verdankt der Panafrikanismus und damit auch der afrikanische Nationalismus seinen Erfolg. Sie bestimmten den Ton auf dem 5. panafrikanischen Kongreß, der vom 15.-21. Oktober 1945 in Manchester abgehalten wurde12. Dort trat Kwame N'krumah als radikalster Verfechter des Antikolonialismus auf13. Seine These, daß die bei den früheren Kongressen aufge-stellten Forderungen, die sich im wesentlichen mit einer Verbesserung der Lage der schwarzen Bevölkerung in den Kolonien befaßten, nur in einem unabhängigen Afrika verwirklicht werden könnten, sicherte ihm den Erfolg. In seinen Aus-führungen wurde zum erstenmal der Gedanke ausgesprochen, daß die Unab-hängigkeit Afrikas die Voraussetzung aller Veränderungen sei. Da die Afrikaner zu diesem Zeitpunkt noch kein eigenes politisches Programm besaßen, ist dieser Kongreß als Geburtsstunde des afrikanischen Nationalismus anzusehen. Er wurde nun anstelle des Panafrikanismus Ausgangspunkt aller Zielsetzungen. Der Pan-afrikanismus sollte eine Umdeutung erfahren, die N'krumah in Manchester mit folgenden Worten zur Diskussion stellte: „Die künstliche Grenzziehung und Auf-teilung westafrikanischer Gebiete durch die imperialistischen Mächte waren be-wußte Versuche, die politische Einigung westafrikanischer Völker zu hintertrei-ben."14 Dem wurde die Idee der afrikanischen Einheit, die sich gegen eine „Bal-kanisierung" Afrikas richtete, als konstruktives Ziel entgegengestellt. Der Pan-afrikanismus wurde damit von seiner biologischen Motivierung gelöst und zum ideologischen Kern der politischen Idee eines vom Wendekreis des Krebses bis zum Kap geeinten Afrika15. N'krumah ergänzte seine Forderung nach Unabhängigkeit, die sich anfangs nur auf Westafrika16 bezog, durch den Entwurf einer gesamtafri-

    1 0 Vgl. hierzu Meyer Fortes, The Impact of the War on British West Africa, in : Interna-tional Affairs 21 (1945), S. 206; und James S. Coleman, Nigeria, Background to Nationalism, Berkeley 1960, S. 251.

    1 1 Vgl. hierzu Rudolf von Albertini, Dekolonisation, Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919-1960, Köln 1966, S. 419ff.

    1 2 Vgl. Geiss, a .a .O. , S. 299ff. 1 3 Über ihn ausführlich Geiss, a .a .O. , S. 265 ff. 14 Nach Strauch, a. a. O., S. 40. 15 Cheich Anta Diop, Les Fondements Culturels, Techniqnes et Industrielles d'un Futur

    Etat Fédéral d'Afrique Noire, Paris 1960, S. 36; dazu auch Kwame N'krumah, Africa Must Unite, London 1963.

    16 N 'krumah machte seine Ausführungen in Manchester im Ausschuß für Westafrika. Die

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 297

    kanischen Einigung und bezeugte damit seinen Sinn für die Erfordernisse des afri-

    kanischen Nationalismus. Als es jedoch u m die praktische Verwirklichung des Ge-

    dankens ging, zeigte sich, wie global und vage die Vorstellungen N'krumahs waren.

    E r vermochte die Gegensätze innerhalb der von den Kolonisationsmächten gesetz-

    ten Staatsgrenzen nicht zu überbrücken, weil er diese als gegebene Gliederungen

    hinnahm. Der Wunsch nach Unabhängigkeit allein reichte dazu nicht aus17. Wich-

    tiger war für N'krumah, in welchem Rahmen die Einigung verwirklicht werden

    konnte. Der Panafrikanismus, der sich n u n auf Afrika beschränkte, barg, besonders

    nach dem Unabhängigkeitsboom der 60iger Jahre, auch das kritische Moment des

    afrikanischen Nationalismus in sich. Die bürokratische Klasse der assimilierten

    französischsprechenden Afrikaner sah in ihren revolutionären Bestrebungen zu-

    nächst keinen Bruch mi t dem Mutterland. Erst die Berührung mi t dem panafri-

    kanischen Nationalismus ließ den Wunsch nach Unabhängigkeit in ihr wach wer-

    den, u n d nu r mi t ihrer Unterstützung erlangte die Unabhängigkeitsbewegung all-

    gemeine Bedeutung, konnte der Panafrikanismus zum Programm werden für den

    Versuch, eine eigene politische Identität zu finden. Dieses Programm war kein

    konstruiertes Dogma, sondern Formulierung der Rechte, die die schwarze Rasse in

    einer veränderten Weltkonstellation für sich beanspruchte. Das Bewußtsein ihrer

    Rechtlosigkeit war in der Kolonialzeit schon latent vorhanden, doch haben die

    Afrikaner sie erst nach dem Anstoß durch ihre amerikanischen Rassegenossen

    artikuliert. Die Bewegung des Panafrikanismus wurde so von einer amerikanischen

    zu einer afrikanischen Erscheinung. Damit erhielt sie eine nationalistische Aus-

    prägung.

    Unabhängigkeitsbewegung u n d Panafrikanismus sind keine parallel verlaufen-

    den Erscheinungen gewesen, sondern die erstere entwickelte sich aus der anderen

    u n d übernahm von ihr die veränderte Sinngebung. Eine pluralistische Deutung des

    afrikanischen Nationalismus ist insofern nicht haltbar. Diese klassisch gewordene

    Interpretation vertri t t jedoch beispielsweise Hanspeter Strauch i m Anschluß an

    frühere Arbeiten18, wenn er zwischen dem afrikanischen Nationalismus im weiteren

    und engeren Sinn, dem „Stammesnationalismus" und dem „Panafrikanismus"

    unterscheidet. Als unter die letzte Kategorie fallend bezeichnet er diejenigen „Be-

    mühungen . . ., die aufbauend auf der bestehenden afrikanischen Staatsgemein-

    schaft die Bildung größerer politischer Einheiten auf der Basis eines Einheitsstaates,

    einer Föderation, Konförderation oder sonst einer Staatsverbindung erstreben".

    Unter dem Nationalismus i m weiteren Sinn versteht Strauch etwas vage Bestre-

    bungen, „die die Machtübernahme und die Selbstbestimmung durch die Afrikaner

    i m Rahmen irgendwelcher politischer Einheiten zum Ziel haben." Der nationa-

    Beschränkung seiner Beispiele auf dieses Gebiet läßt sich dadurch erklären, daß er darin den ersten Schritt zu einer weiteren Einigung Afrikas sah.

    17 Hierzu Tom M'boya, Freedom and After, London 1963. 18 Thomas Hodgkin, Nationalism in Colonial Africa, London 1956; J. Coleman, Nigeria,

    Background to Nationalism, Univ. of California Press 1958; James Cameron, The African Revolution, London 1960.

  • 298 L.-J. Bonny Duala-M'bedy

    lismus im engeren Sinn wird „sodann . . . den Aufbau von Nationalstaaten inner-halb der bestehenden Grenzen zum Ziele haben". Schließlich: „Als Stammesnatio-nalismus müssen sodann diejenigen Bestrebungen gekennzeichnet werden, die ungeachtet der bestehenden Grenzverhältnisse den Aufbau eines Nationalstaates auf der Grundlage einer gegebenen ethnischen Gemeinschaft zum Ziele haben."19

    Zu diesen Definitionen von Strauch ist zu bemerken, daß sie den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht werden. Strauch geht bei seiner Klassifikation nicht von historischen Fakten aus, sondern von abstrakten politischen Begriffen, die aus europäischen Verhältnissen gewonnen wurden. Die historischen Belege für Afrika fehlen, und auf eine konkrete Anwendung hat er offensichtlich bewußt verzichtet. So sollen sich seiner Auffassung nach die Bestrebungen des Nationalismus im wei-teren Sinn „im Rahmen irgendwelcher politischer Einheiten" vollziehen, orien-tiert an Schlagworten wie „Machtübernahme" und „Selbstbestimmung durch die Afrikaner". Wenn Strauch dabei den Panafrikanismus - in Parallele zur europäi-schen Einigungsbewegung — als eine Tendenz zur supranationalen Organisation des afrikanischen Kontinents verstand, in der die bestehenden „Nationalstaaten" auf-gehen sollten, so geht er dabei von einem europäischen Begriff der Nation aus, der sich auf afrikanische Verhältnisse eben nicht anwenden läßt. Das gleiche gilt für seine Annahme, revolutionäre Bewegungen innerhalb der bestehenden Kolonial-grenzen müßten „nationalstaatliche" Motive haben. So ziemlich alle derzeit be-stehenden afrikanischen Staaten zwischen Sahara und Sambesi umfassen in ihren aus der Kolonialzeit übernommenen Grenzen sehr heterogene Volksgruppen, die nicht nur verschiedene Sprachen sprechen, sondern vielfach auch ganz unterschied-lichen Kulturkreisen und Traditionsbezügen entstammen. Sie können nicht als Nationalstaaten betrachtet werden.

    Bei der Diskussion über die afrikanischen Befreiungsbewegungen sollte man sich darüber im klaren sein, daß diese grundverschieden sind von den europäischen, die den klassischen Nations-Begriff geprägt haben. Die beiden Bewegungen entstanden nicht nur aus verschiedenen historischen Zusammenhängen, sondern sind auch in ihren Zielsetzungen sehr divergent20. Während die meisten europäischen national-staatlichen Bewegungen aus der Desintegration einer imperialen Idee nach dem Sinnbild des corpus mysticum christianum hervorgingen, lassen sich die modernen afrikanischen Bewegungen weder auf den Zerfall einer Reichsidee zurückführen, noch waren sie primär von dem Gedanken getragen, daß „die politischen Grenzen

    1 9 Strauch, a .a .O. , S. 45 . 20 Der Umstand, daß beide Bewegungen mi t dem gleichen Begriff umschrieben werden,

    ist wohl einerseits aus der Tendenz zu erklären, gleiche Massenmanifestationen auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen, andererseits aber entspringt er einer geringschätzigen Beurteilung der politischen Traditionen und gegenwärtigen Verhältnisse der Kolonialvölker durch die Kolonisatoren und deren Ideologen. Im Anschluß an sie spricht auch Patrice Man-deng, Die unvollendete Entkolonialisierung West- und Zentralafrikas, in : Aus Politik und Zeitgeschehen, Beilage B 18 zum „Parlament" vom 2. Mai 1970, nur unpräzise von „anti-kolonialem Nationalismus".

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 299

    mit den ethnographischen und Sprachgrenzen übereinstimmen sollen"21. Bei ihnen ging es vielmehr darum, die Zwangsjacke der kolonialen Herrschaft abzuschütteln. Deshalb ist es sicherlich richtiger, mit Mühlmann22 von Nativismus zu sprechen, den dieser als „einen kollektiven Aktionsablauf . . . " definiert. Noch prägnanter kann man das Phänomen in Anlehnung an das Französische als „Dekolonialismus" bezeichnen. Als Beispiel kann die im Jahre 1948 von Rüben Um Nyobe gegründete „Union des Populations Camerounaises" (UPC) gelten. Diese Bewegung ging von der Volksgruppe der Bassa aus, erhielt aber eine die ethnographischen Grenzen übergreifende Gestalt, als weitere Gruppen vom gleichen „Drang getragen" sich anschlossen. Aus dem Beispiel der UPC23 könnte man eine recht dehnbare Defini-tion des „Nationalismus" ableiten, die vom Nativismus bis zum Panafrikanismus reicht, dem sie wegen seiner Hilfeleistungen verpflichtet ist. Diese Bewegung kam trotz ihrer außerordentlichen Popularität nicht zur Macht in Kamerun24, wo ihr verschiedene Möglichkeiten politischer Organisation offengestanden wären, nicht allein der Aufbau eines Nationalstaates in den „ethnographischen und Sprachgren-zen" . Der sogenannte Stammesnationalismus entspricht mit seiner infrastrukturel-len Motivation eher dem nationalistischen Konzept europäischer Prägung. Dennoch haben die bekanntesten Fälle derartiger Bewegungen, wie etwa die All-Ewe-Konferenz, mit dem Panafrikanismus gemeinsam, daß sie genuin vorgehen gegen die kolonialen Strukturen und derzeit bestehenden „Nationalstaaten", also für den Zusammenschluß zerstreuter jedoch verwandter Bevölkerungsgruppen eintreten. Somit kann generell ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen afrikanischen Bewegungen festgestellt werden, deren Ziel die Abschaffung des kolonialen Status und die Einführung neuer Lebensformen ist: Verliert man diese Tatsache aus den Augen, so bleiben für die permanenten Umwälzungen auf dem afrikanischen Kon-tinent nur willkürlich erfundene Erklärungen übrig; denn das Resultat, an dem die Gemeinsamkeit offen abzulesen wäre, steht noch aus.

    2 1 Hans Koka, Die Idee des Nationalismus, Hamburg 1962, S. 23. 2 2 W . E . Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus, Berlin 1964, S. 1 1 ; u. ders., Bewegung,

    Kulturwandel, Geschichte, i n : Zs. f. Ethnologie 87 (1962), S. 165f. 23 Zehn Jahre nach ihrer Entstehung wurde die UPC 1958 als die einzige in Französisch-

    Afrika entstandene politische Bewegung verboten. 2 4 Daß sich eine solche Bewegung überhaupt entwickeln konnte, ist dem Umstand zuzu-

    schreiben, daß Kamerun Mandatsgebiet war und nicht französische Kolonie, somit eine Aus-nahmestellung hat te . Die Erinnerung an die deutsche Kolonialvergangenheit diente der UPC als dekolonialistisches Motiv. Sie distanzierte sich auch durch formale Prinzipien von der französischen Bevormundung und knüpfte darin an die Vergangenheit an, etwa durch die Schreibweise „Kamerun", auch in französischen Texten. Die jetzige Kameruner Regierung mußte nach der Unabhängigkeitserklärung die deutsche Schreibweise, als den „nationalen" Zielen entgegengesetzt, offiziell verbieten.

  • 300 L.-J. Bonny Duala-M'bedy

    Die „négritude" ab dekolonialistisches Surrogat

    Die psychologischen Auswirkungen der beiden Weltkriege auf den afrikanischen

    Menschen, die daraus resultierende Aufhebung des kolonialen Mythos und der Ruf

    nach der Gewährung von Rechten wurden als die treibenden Kräfte bei der Bildung

    des afrikanischen Nationalismus und des Selbstbewußtseins des Afrikaners ange-

    sehen. Während jedoch die anglophonen Afrikaner, an das Vorbild der amerikani-

    schen Neger anknüpfend, zur Tat schritten, drückte sich der Nationalismus bei den

    frankophonen Afrikanern lyrisch-literarisch aus — als Resultat der französischen

    Assimilationspolitik, die sich als Träger einer kulturellen Mission verstand. D e m

    Panafrikanismus und der damit verbundenen radikalen politischen Hal tung der bis

    dahin hinter der „colour bar" gehaltenen englischsprechenden afrikanischen Natio-

    nalisten wurde die Bewegung der „négritude" parallel gesetzt. Diese narzistisch-

    literarische Ausdrucksform - deren innerem Widerspruch der nigerianische Dichter

    und Dramaturg Wole Soyinka mit der Frage Ausdruck verlieh: „How can a tiger

    proclaim his tigritude?" — wurde, gleichfalls nach dem Zweiten Weltkrieg, von dem

    westindischen Dichter Aimé Césaire und seinem senegalesischen Pariser Kollegen

    und Staatsmann Leopold Sédar Senghor ins Leben gerufen. Die gleichgerichtete

    amerikanisch-afrikanische Bewußtseinslage tr i t t hier als Paradigma einer neuen

    negro-afrikanischen Kultur und als Gegenpol zum Assimilationsgedanken wieder

    auf25. Trotz des Anspruchs der „négritude" auf Eigenständigkeit sollten sich hier

    ein anempfundenes afrikanisches Kulturerbe und ein europäisches Kulturgut be-

    gegnen. Senghor ha t dies in die kulturpolitische Formel gebracht: „Für uns handelt

    es sich nun endgültig darum, die Symbiose zwischen unseren negro-afrikanischen,

    genauer negro-berberischen, und den europäischen Werten zu verwirklichen."26

    Das Selbstverständnis der négritude wurde als produktives Erneuerungsprogramm

    verstanden, während man in bezug auf die afrikanische Unabhängigkeit der Resig-

    nation anheimfiel, denn: „der Mythos des eurafrikanischen Frankreich vertrug sich

    schlecht mi t dem Mythos des afrikanischen Nationalismus"27. Ebenso wie viele

    Akzente im Panafrikanismus auf die britische Kolonialpolitik zurückzuführen sind,

    ist die négritude ein Produkt der französischen Assimilationspolitik; diese kam den

    afrikanischen Menschen zur Aneignung des abendländischen Geistes zwar zugute,

    „versperrte ihnen [den afrikanischen Völkern] aber den Weg zu einer Eigenexi-

    stenz"28. Dies wirkte sich besonders stark im politischen Leben aus, wo sogar der

    Weg zur Eigenständigkeit über Frankreich führte. Senghor begründete diese Hal-

    tung wie folgt: „Wie man weiß, hat ten die politischen Parteien der ehemaligen

    25 Der Begriff „négritude" wurde von Aimé Césaire geprägt und zum erstenmal in seinem „Cahier d'un retour au pays natal", 1939, verwendet. Er wurde von L. S. Senghor in seiner Anthologie 1948 bekräftigt und eingebürgert. Zur Entwicklung der Bewegung vgl. auch Geiss, a.a.O., S. 243 ff.

    26 Leopold Sédar Senghor, Nation et Voie Africaine du Socialisme, Paris 1961, S. 9. 27 Strauch, a.a.O., S. 62. 28 Ebenda.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 301

    französischen Gebiete unmittelbar nach der Libération damit begonnen, sich den

    metropolitanischen [d. h. den in Paris wirkenden] Parteien anzuschließen und

    sogar mit ihnen zu verschmelzen. Dies war nur natürlich. Sie brauchten einen Halt

    im französischen Parlament, sie waren ohne politische Erfahrung, sie lebten in

    einem Klima der Assimilation."29 Das Wirken in den politischen Parteien der Metro-

    pole war für sie „nur natürlich", aber dieser freiwillig angenommene Protektio-

    nismus blieb, wie es sich für die „manichäistische" Kolonialwelt30 gehört, nicht

    ohne dramatische Auswirkungen: „Sie entdeckten jedoch allmählich, daß keine

    Stütze ganz ohne Nebenabsichten gewährt werde, daß sie als ,Protegierte' zugleich

    Figuren auf dem Schachbrett des französischen parlamentarischen Spieles seien. Sie

    entdeckten vor allem, daß die französischen Parteien, auch die, die links standen,

    nationale Parteien waren, von den nationalen Realitäten ausgehend und auf die

    nationalen Interessen ausgerichtet, und daß speziell das französische Proletariat

    indirekt von der Kolonialausbeutung profitierte."31

    Mit dieser Erkenntnis brach sich der Gedanke an afrikanische Sammelparteien

    Bahn. Unter ihnen war das „Rassemblement Démocratique Africain" (RDA) das

    stärkste Element im Französisch-Afrika-Lager. Es wurde 1946 von Houphouet-

    Boigny gegründet, aber infolge von de Gaulles Verfassungsentwurf 1958 zusammen

    mit den übrigen afrikanischen Blockparteien wieder begraben. Bedeutsam sind nur

    die Bestrebungen Sékou Tourés als Mitglied des RDA geblieben, die ehemaligen

    Verwaltungsgebiete Französisch-Westafrikas und Äquatorial-Afrikas in Födera-

    tionen umzubilden. Angesichts dieser Entwicklung in der letzten Phase der afri-

    kanischen Kolonialgeschichte vor der Liquidierung des französischen Kolonialim-

    periums erhebt sich die Frage nach dem Sinn der afrikanischen Revolution in

    dieser Region; hat es überhaupt einen afrikanischen „Nationalismus" in Franzö-

    sisch-Afrika gegeben? War das nicht vielmehr ein Bruderzwist unter Wahlverwand-

    ten verschiedener Rasse, ausgelöst von der weltumspannenden Bewegung zur Be-

    freiung der Kolonialvölker? Wenn es in Französisch-Afrika aber einen „Nationa-

    lismus" gegeben hat : Wie könnte er charakterisiert werden? Gewiß gab es Vor-

    gänge, die eine derartige Frage als überflüssig erscheinen lassen. Man denke nur

    an die UPC in Kamerun oder an den Radikalismus eines Ahmed Sékou Touré, der

    1958 bewußt zum Lager der anglophonen panafrikanischen Extremisten übertrat.

    Diese wenigen Aktionen fanden jedoch immer als Folge eines Bekenntnisses zum

    Panafrikanismus statt, der nun zum Schlagwort einer Bewegung wurde, die die

    Verifizierung des Prädikats „afrikanisch" in dem Begriff „Afrikanischer Nationalis-

    m u s " vor allem im bedingungslosen Sich-Hinwegsetzen über die Kolonialgrenzen

    sah. Doch dieses panafrikanische Postulat drückt sich heute auch in den permanen-

    ten Umwälzungen in den verschiedenen afrikanischen Ländern aus, wo die Revolu-

    tion sozialen Charakter annimmt. Von der sozialen Revolution wurde das Postulat

    29 Senghor, a.a.O., S. 8. 30 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, dt. Ausg. Einbek b. Hamburg (Rowohlt)

    1969, S. 31. 31 Senghor, a.a.O., S. 8.

  • 302 L.- J. Bonny Duala-M'bedy

    des Panafrikanismus übernommen und erweitert zu der Forderung nach einer

    neuen, genuin afrikanischen Lebensform und Abschüttelung der von den europä-

    ischen Kolonialvölkern oktroyierten Gesellschaftsformen. „ Wir sind noch nicht frei,

    . . . da wir keine Gesellschaftsordnung wählen können, die sich von der des west-

    lichen Lagers unterschiede, ohne einen Kampf mit Waffen oder Intrigen von seiten

    der lokalen Parteien, die dem Westen hörig sind, zu riskieren".32 In der Verwirk-

    lichung einer „Gesellschaftsordnung, die sich von der des westlichen Lagers unter-

    schiede", besteht der Sinn der afrikanischen Revolution, auch wenn die westlichen

    Autoren den Topos so manipulieren, daß sie zu einer europazentrischen Interpreta-

    tion gelangen.

    So will Ansprenger die „eigentliche afrikanische Revolution" in dem „Prozeß"

    erkennen, der dahin zielt, „die stammesgebundene oder amorphe Bevölkerung in

    Nationen zu organisieren, Nationen zu bauen"33. Danach soll die afrikanische Revo-

    lution also hauptsächlich eine formale Angelegenheit der Staatssorganisation sein,

    die sich mit dem kolonialen Programm bzw. mit der Fortsetzung des kolonialen

    Status vereinbaren ließe, der die Zerstörung und die Okzidentalisierung der afrika-

    nischen Ordnungsvorstellungen und Geschichtskomplexe unternommen hatte. Da-

    gegen schreibt Fanon: „Für die Dritte Welt ist es nicht damit getan, daß sie sich

    den Werten gegenüber definiert, die sie vorgefunden hat. Die unterentwickelten

    Länder müssen vielmehr alles daran setzen, Werte zu schaffen, die ihnen eigentüm-

    lich, Methoden und Lebensformen, die für sie spezifisch sind."34 Während Fanon

    für die Selbstinterpretation auch der afrikanischen Welt plädiert, wird Ansprenger

    zum unfreiwilligen Fürsprecher einer Fortsetzung der Kolonisation mit anderen

    Mitteln.

    Das Scheitern des politischen Programms der Nationalisten

    „Die Nationalisten Ägyptens waren, abgesehen von den südafrikanischen Buren,

    die ersten auf dem afrikanischen Kontinent, die den Kampf u m die Unabhängigkeit

    ihres Landes erfolgreich beenden konnten."35 Dieser Satz würde an Bedeutung ge-

    winnen, spräche man von den afrikanischen Nationalisten im allgemeinen, die den

    ersten Anstoß zur Unabhängigkeit gaben, und sähe man einmal vom Entstehungs-

    vorgang der Südafrikanischen Union ab, die unter die Kategorie der Siedler-

    kolonien fällt. In den Gestalten Nassers, N'krumahs und Tourés, die repräsentativ

    für drei politische Hauptrichtungen des modernen Afrikas waren, hat auch der

    Nationalismus in Afrika seine erste Ausformung gefunden. Urheber des afrikani-

    schen Nationalismus bleibt jedoch letztlich Kwame N'krumah. Während Nasser

    32 Cheikh Anta Diop, a.a.O., S. 44. 33 Franz Ansprenger, Nationsbildung im Schwarzen Afrika französischer Prägung, in dieser

    Zeitschrift 11 (1963), S. 181. 34 Fanon, a.a.O., S. 77. 35 Strauch, a.a.O., S. 78.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 303

    seine Hauptaufgaben im arabischen Lager sah und Touré in die Fußstapfen

    N'krumahs trat, hatte dieser von Anfang an ein eigenes, auf Einigung zielendes

    Afrikaprogramm. Er führte sein Land unter der Benennung „Ghana" am 5. April

    1957 in die Unabhängigkeit. Dieser Name war zugleich ein Programm, denn das

    mittelalterliche Ghana galt vielen Afrikanern als Symbol eigenständiger afrikani-

    scher Macht und Größe. Es lag sehr viel weiter im Norden - N'krumah bekundete

    mit der Namensgebung also auch den Willen zu einem größeren Staatsgebilde, das

    nicht auf die Goldküste beschränkt bleiben sollte. Getreu seiner Grundhaltung

    setzte er seine Außenpolitik auf die Verbindung der beiden nationalistischen Prin-

    zipien der Unabhängigkeit und Einheit Afrikas. Unter diesen Gesichtspunkten be-

    rief er die erste Konferenz der unabhängigen afrikanischen Staaten am 5. April

    1958 in die Hauptstadt seines Landes, Accra, ein. Als erste ihrer Art hatte diese

    Versammlung an Vorbildern nur die vorangegangenen afrikanisch-asiatischen Soli-

    daritätskonferenzen. Die letzte dieser Art hatte im Dezember 1957 in Kairo statt-

    gefunden. Nasser hoffte, deren propagandistische Gestaltung zu einer Art Volks-

    kongreß zur Huldigung der afrikanischen nationalistischen Führer in Accra wieder-

    holen zu können. N'krumah lehnte es jedoch ab, eine unübersichtliche Massen-

    veranstaltung der verschiedensten Strömungen zähmen zu müssen, die nur dazu

    hätte dienen können, seine panafrikanischen Pläne frühzeitig zu vereiteln. Er be-

    grenzte die Teilnahme auf die staatsführende Repräsentanz, doch gerade daran

    sollte die Konferenz scheitern. Von den insgesamt acht geladenen Staatsoberhäup-

    tern erschien lediglich Präsident Tubman aus Liberia, der aber auch nicht an den

    weiteren Sitzungen teilnahm, sondern wieder nach Monrovia zurückkehrte. Alle

    anderen ließen sich vertreten. Die Südafrikanische Union blieb mit dem Hinweis,

    die europäischen Kolonialmächte seien nicht eingeladen worden, dem Kongreß

    überhaupt fern36. Mit dem Erscheinen der arabischen Staatsoberhäupter war von

    Anfang an nicht zu rechnen gewesen, da die Palästinafrage nicht, wie auf der

    afrikanisch-asiatischen Solidaritätskonferenz in Kairo, in die Tagesordnung auf-

    genommen worden war. Während die Konferenz von Accra die praktische Ver-

    wirklichung und Bekräftigung der panafrikanischen Ziele anstrebte - und durch

    ihre Resolutionen auch zum Grundstein der späteren Organisation für afrikanische

    Einheit wurde - , brachte sie andererseits die latenten Gegensätze, die in einer

    solch globalen Zusammensetzung unvermeidlich waren, kraß an den Tag.

    Vor allem stellten sich bei der Vorbereitung der Konferenz die Interessen des

    arabischen Lagers als erheblich divergierend von den afrikanischen heraus. Schon

    die afro-asiatische Solidaritätskonferenz Ende März 1957 in Kairo hatte den Afri-

    kanern das Gefühl der Entfremdung gegeben. Abgesehen von den konkreten Pro-

    blemen, mit denen sich die Araber unmittelbar konfrontiert sahen, stand der Pan-

    36 Hierzu: Chronique de Politique Etrangère, Band XI, Nr. 4-6, Juli-Nov. 1958, S. 448; ebenso Strauch, a .a .O. , S. 372, Anmerkung 14. Es war N'krumahs Verdienst - trotz des Anspruchs der Buren —, indirekt den Beweis der Nichtzugehörigkeit der Südafrikanischen Union zu dem gesamtafrikanischen Komplex erbracht zu haben. Indem diese sich zu einem Vorposten Westeuropas machte, geriet sie in ein Dilemma, in dem sie bis heute verharrt.

    Vierteljahrshefte 5/3

  • 304 L.—J. Bonny Duala M'bedy

    afrikanismus im politischen Programm eines Nasser hinter dem Panarabismus und

    Panislamismus an dritter Stelle. Angesichts der Aktualität mancher Fragen, die jede

    einzelne der durch gemeinsame Vergangenheit und gemeinsame Interessen zusam-

    mengewachsenen Gruppen unmittelbar zu lösen hat, könnte man noch für eine

    derartige Rangordnung Verständnis aufbringen. Aber Nassers Haltung konfron-

    tierte die afrikanischen Partner mit einer messianischen Haltung, die seinerzeit

    auch als Rechtfertigung des Kolonialismus gedient hatte und nun unglaubwürdig

    geworden war. So äußerste sich Nasser in seiner „Philosophie der Revolution" be-

    wußt humanitär und, im westlichen Sinne, geradezu apostolisch: „Niemals können

    wir die Verantwortung von uns weisen, nach unserem besten Vermögen dazu beizu-

    tragen, daß das Licht der Zivilisation bis in die entferntesten Tiefen des Urwaldes

    vordringt. "37 Die Tatsache, daß die Afrikaner südlich der Sahara gerne als lenkbare

    Instrumente der arabischen Politik angesehen werden, zeigt sich immer wieder in

    den gesamtafrikanischen Konferenzdebatten.

    Der Gedanke an einen Zusammenschluß der afrikanischen Staaten, für den sich

    N'krumah immer eingesetzt hatte, rückte mit der Unabhängigkeit Guineas Ende

    1958 seiner Verwirklichung näher. N'krumah fand in Sékou Touré einen in gleicher

    Weise entschiedenen frankophonen Fürsprecher der föderativen Idee. Die Achse

    Ghana-Guinea (-Mali 1961) war bald geschaffen, und die übrigen Staaten, die ge-

    rade unabhängig wurden, sollten der Union angeschlossen werden. Als souveränes

    westafrikanisches Land war Liberia einem Versuch nicht abgeneigt. Für Präsident

    Tubman3 8 , der die politische Integrität seines patriarchalisch regierten Landes zu

    bewahren gedachte, kam nach dem damaligen Stand der Dinge jedoch nur eine lose

    Organisation in Frage. Seine beiden Mitkämpfer unterrichtete er auf einer von

    ihm einberufenen Konferenz im Juli 1959 in Saniquellie (Liberia) von seinen Vor-

    stellungen. Aus diesem Treffen ging die Deklaration der „Community of Indepen-

    dent African States" hervor, deren Struktur bei der zweiten Konferenz der unab-

    hängigen Staaten in Addis Abeba im Juni 1960 als Modell vorlag, jedoch nicht über-

    nommen wurde39. Vielmehr wurde Kaiser Halle Selassie nur beauftragt, die Mög-

    lichkeit der Errichtung einer derartigen Organisation in Afrika zu eruieren. Den-

    noch konnten in Addis Abeba Fortschritte in der Verwirklichung der afrikanischen

    Einheitsidee gemacht werden - trotz der Divergenzen zwischen den verschiedenen

    „Interessengruppen", die auf die zunehmende politische und kulturelle Heteroge-

    nität der Teilnehmer zurückzuführen war. Auch nach außen hin konnte eine ge-

    wisse Geschlossenheit in den Grundfragen erzielt werden. Neben den Resolutionen,

    die die Einstellung zur internationalen Politik betrafen, wurde der algerischen

    Exilregierung, die bei der Konferenz bezeichnenderweise den Status einer vollen

    37 Gamal Abdul Nasser, Egypt's Liberation, The philosophy of revolution, Washington 1955, S. 409 ff.

    38 Vgl. Ronald Segal, Afrikanische Profile, München 1963, S. 24 ff. 39 Nach Strauch, a.a.O., S. 92, scheiterte der Vorschlag Ghanas, nach der Deklaration von

    Saniquellie eine gesamtafrikanische Organisation der unabhängigen afrikanischen Staaten ins Leben zu rufen, vor allem an der Zurückhaltung der Nordafrikaner.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 305

    Mitgliedschaft erhalten hatte, moralische, politische und finanzielle Unterstützung zugesichert. Die Mehrzahl der Teilnehmer, die noch - im Gegensatz zu später -aus Anhängern eines neutralen Kurses in der Weltpolitik (Neutralisten) bestand, sprach sich einstimmig für die vollständige Dekolonisation aus.

    Noch waren also die Stimmen der Gemäßigten aus den französischen Gebieten, die alle erst von der zweiten Hälfte des Jahres 1960 an ihre Unabhängigkeit erlan-gen sollten, nicht zu hören. Ihr Auftreten in den afrikanischen politischen Gremien führte nicht nur zur Blockbildung innerhalb des Kontinents, sondern zerstörte auch die frühere einheitliche Front gegen die Kolonialmächte. Auf Veranlassung Hou-phouet-Boignys wurde die erste Konferenz der inzwischen unabhängig gewordenen Staaten französischer Provenienz - Guinea, Tunesien und Marokko ausgenommen -im Oktober 1960 in Abidjan abgehalten. Eine weitere Konferenz dieser Art und in diesem Sinne fand im November desselben Jahres in Brazzaville statt, deren zwölf Teilnehmerstaaten aus dem ehemaligen französischen Kolonialreich zunächst unter der Bezeichnung Brazzaville-Gruppe bekanntwurden, die sich aber bei ihrem dritten Auftritt im März 1961 in Jaunde selbst zur „Union Africaine et Malgache (UAM)" zusammenschlossen. Zu dieser verfassungsrechtlich losen Organisation, die ihre Existenz lediglich auf ihre gemeinsame Kolonialherkunft gründete, gesellten sich weitere Institutionen, die die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft (OAMCE) und der Verteidigung (UAMD), unter anderem als Pendants zu EWG und NATO, sicherten. Daß sich die UAM als Alternative zu den revolutionären panafrikanischen politischen Bestrebungen verstand und nicht nur einen pragma-tischen Zusammenschluß darstellen sollte, ging aus der geschlossenen politischen Haltung ihrer Mitglieder hervor. In der UNO stellten sie sich, entgegen den Grund-sätzen der Neutralität der Dritten Welt, auch in den Algerien- und Kongofragen10

    hinter Frankreich. Mit der Aufnahme des Kongo in die UAM im Jahre 1965 unter der Regierung Moise Tschombés erhielt diese Organisation ihr endgültiges Stigma in den Augen der panafrikanischen Progressisten. Die Wende in der afrikanischen Politik zeigte sich noch stärker, als 1966 N'krumah gestürzt wurde. Von da ab gab es keine ausgesprochen extremen Exponenten des Panafrikanismus mehr. Der somit eingetretene Sieg der Gemäßigten bedeutete die Institutionalisierung jener Rich-tung; die sich unmittelbar aus der französischen Kolonialepoche herleitete.

    Die Entstehung der westlich orientierten Brazzaville-Gruppe forderte dann die Bildung der Casablanca-Gruppe heraus, die sich vornehmlich aus den früheren revolutionären Panafrikanisten und Neutralisten zusammensetzte. Die Spaltung der afrikanischen Staaten in zwei Lager brachte alle Bemühungen, eine Organisation für afrikanische Einheit ins Leben zu rufen, zum Erliegen. Vermittlungsversuche in Monrovia und Lagos schlugen infolgedessen fehl. Erst nach drei Jahren, 1963, konnte eine Konferenz in Addis Abeba einberufen werden, bei der die gravierend-sten Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden Lagern beigelegt wurden, so daß man an die Schaffung einer allgemein-afrikanischen Staatenorganisation gehen

    40 Vgl. hierzu Strauch, a .a .O. , S. 216, Tabelle.

  • 306 L.—J. Bonny Duala-M'bedy

    konnte. Diese wurde am 25. Mai 1963 gegründet, aber sie konnte das weitere Bestehen bzw. die Neugründung von Regionalgruppen nicht verhindern. So ent-stand nun die „Organisation für afrikanische Einheit", eine internationale Körper-schaft, die keinen großen Einfluß auf die Struktur der Mitgliedstaaten hat. Sie stellt einen Kompromiß der „Nationalstaaten " mit dem panafrikanischen Gedanken dar, der in der Vorstellung von N'krumah die Gestalt eines zentralregierten, poli-tisch autarken afrikanischen Bundesstaates annehmen sollte.

    Mit der Entstehung der Organisation für afrikanische Einheit wäre das Hauptziel des afrikanischen „Nationalismus" erreicht, wenn sich in der Verfassung dieser Organisation nicht verriete, daß sein zweites Ziel nicht verwirklicht wurde, näm-lich die Aufhebung der kolonialistischen Strukturen, insbesondere der politischen Grenzen, in denen diese sich noch manifestierten41. Die Gründe für das Scheitern des Programms der Nationalisten lagen in erster Linie in der Liberalisierungspolitik der Einzelstaaten, die eingeführt wurde, um den revolutionären Bestrebungen zuvorzukommen: „Die neue liberale Politik hatte überall die Unterdrückung der echten revolutionären Bewegungen und den Triumph der von der Tradition her konformistischen Gruppen zur Folge. Sie neigt überall dazu, die sogenannten Kon-formisten in den Augen des Volkes fälschlicherweise als Revolutionäre erscheinen zu lassen, um sie in ihrem Ansehen zu heben."42

    Als einzige übergreifende nationale Bewegung blieb in Französisch-Afrika der literarische Club der négritude erhalten. Die tiefverwurzelten Bindungen der Konformisten an die französische Metropole wurden dem afrikanischen Nationa-lismus, der sich nun nur noch als panafrikanischer Staatenbund verstand, zum Verhängnis. Sie wirkten hemmend auf eine globale Bewegung, die ihre erste Aufgabe darin sah, die Brücken zu den kolonialen Mutterländern abzubrechen. Dieser Prozeß des Niedergangs des Nationalismus kennzeichnet die Phase nach den Unabhängigkeitserklärungen, die in kühler politischer Berechnung herbeigeführt worden waren. Vor und nach seiner Goodwill-Reise durch die in revolutionärer Stimmung gärenden Kolonien im Jahre 1958 konnte de Gaulle, der das fatale Ende der Kolonialzeit voraussah, folgende rhetorischen Fragen aufwerfen: „Gebiete, die seit zehn Jahren nicht aufhören, an die Unabhängigkeit zu denken, fordern sie heute mit allem Nachdruck. Soll man abwarten, bis sich die Bewegung gegen uns richtet, oder sollen wir im Gegenteil versuchen, sie anzupassen, sie zu kanalisieren?" Auf seinen Erfolg hinweisend, hatte de Gaulle, als Vermächtnis seiner Afrikapolitik, die unzweideutige Antwort gegeben: „Ich habe die Bande gelockert, bevor sie reißen."43

    4 1 Zusammenfassend, stellt auch Patrice Mandeng, a .a .O. , S. 47, fest, daß die Entkolo-nialisierung West- und Zentralafrikas nur „eine politische und verwaltungstechnische ge-wesen i s t . , . Es muß festgestellt werden, daß er [der antikoloniale Nationalismus] damit nur den ersten Schritt zur echten Entkolonialisierung getan ha t . "

    42 Diop, a .a .O. , S. 45. 4 3 Zitate nach Cheikh Anta Diop, a .a .O. , S. 42.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 307

    Die kolonialen Zivilisationsgemeinschaften in der postkolonialen Zeit

    Die weiterbestehenden Bindungen zu den ehemaligen Kolonialbesitzern sind jedoch nicht allein das Werk de Gaulles, sondern das Resultat der langfristigen Ent-wicklung der französischen Kolonialpolitik. Die Anregungen, die die Konferenz von Brazzaville von 1944 ausgearbeitet hatte, konnten in die Verfassung der Vierten Republik, die eine entscheidende Phase in der Integration der überseeischen Gebiete darstellte, übernommen werden: Die Errichtung von „Assemblées territoriales" mit beschränkten Verwaltungsbefugnissen und die Abordnung von Vertretern in die „Assemblée Nationale " in Paris wurden - wenn auch nicht nach demokratischen Proportionen - in der Konstitution von 1946, mit den dazu gehörenden Komponen-ten des demokratischen Prozesses, zugelassen. Daraufhin wurden, wie schon er-wähnt, nach dem Vorbild der Verhältnisse in der Metropole politische Parteien ge-gründet und Gewerkschaften ins Leben gerufen, deren Tätigkeit allerdings erst mit dem „Code du Travail d'Outre-Mer" im Dezember 1952 geregelt wurde. Mit der neuen Verfassung konnte sich der Afrikaner des nominellen Status eines Voll-franzosen erfreuen. Mit seinen Regionalparlamenten und territorialen Regierungs-kollegien sollte das Rahmengesetz (Loi Cadre 1956), von Gaston Deferre in Anpas-sung an die neue Entwicklung eingeführt, den Status der Autonomie in den Kolo-nien vortäuschen und somit auch der Möglichkeit einer vollständigen Unabhängig-keit vorläufig vorbeugen: „Der nächste Schritt, die völlige Automie und die darauf-folgende Unabhängigkeit der afrikanischen Gebiete, war nun nur mehr eine Frage der Zeit. Niemand in Frankreichs Regierungskreisen wagte dies jedoch offen aus-zusprechen."44

    Daß sich der Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung näherte, war kein vages Gefühl, sondern eine gewisse Zwangsläufigkeit; das Verlangen nach Unabhängigkeit und die damit zusammenhängende Bewegung bildeten eine Kettenreaktion. In Afrika ging diese Bewegung in Nord-Süd-Richtung vor sich: „Libyen wurde 1951 unabhängig; der Sudan, Marokko und Tunesien folgten 1956; dazwischen liegen Nassers Revolution und der Ausbruch des Algerienkrieges. Diese Ereignisse wirk-ten über die Sahara nach Süden, wenn auch Nasser zunächst nur ein väterlich her-ablassendes Randinteresse für Afrika bekundete. Als Kwame N'krumah 1958 die zweite Phase des Panafrikanismus einleitete, stand den französischen Kolonien der Weg zur Autonomie offen, in Belgisch-Kongo regte sich Protest, selbst in Kenya und Rhodesien war die weiße Herrschaft im Rückzug."45

    Frankreich stand mitten in diesem Prozeß, dem die Gesetzgebung Deferres Ein-halt gebieten sollte. Sie konnte aber nichts mehr erreichen. Das Gesetz wurde zu einem Zeitpunkt erlassen, als die Frage der europäischen Integration zur Debatte

    44 Strauch, a .a .O. , S. 64. Zur allgemeinen Entwicklung der französischen Kolonialpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg, vgl. R. v. Albertini, a .a .O. , S. 437 ff.

    45 Franz Ansprenger, Afroasiatische und panafrikanische Solidarität, in : Nationale Sou-veränität oder übernationale Integration, Vorträge, hrsg. von Gilbert Ziebura, Berlin 1966, S. 138.

  • 308 L.—J. Bonny Duala-M'bedy

    stand. Aus Sorge u m die eigene Zukunft in Europa wurde in Frankreich der Begriff

    „Eurafrika" geprägt. Das Rahmengesetz sollte einen ergänzenden Faktor zum euro-

    päischen Integrationsgedanken bilden. Während Prognosen aufgestellt wurden,

    nach denen Afrika in einer irreversiblen Entwicklung auf die Unabhängigkeit hin

    stünde, versuchte Frankreich, diese Strömung zurückzuleiten und überdies Afrika

    in einen globalen Prozeß zu integrieren. Weit davon entfernt, das Ende der Kolonial-

    zeit anzuzeigen, war die eurafrikanische Spekulation der Versuch einer scheinbaren

    Regenerierung, an der sie auch zugrunde gehen sollte. Tatsächlich wurden die

    alten Modelle der westlichen Hegemonie unter dem Mäntelchen der vielen Vor-

    teile, die das unterentwickelte Afrika aus einer solchen Verbindung ziehen könnte,

    wieder aufgenommen.

    Aus den verschiedenen desperaten Versuchen, die die Politiker der Vierten Repu-

    blik unternahmen, u m die Krisensituation in den Kolonien zu beheben, kann man

    den Schluß ziehen, daß nicht mehr diese Politiker über das Geschick der Kolonien

    entschieden, sondern vielmehr die Unruhe in den Kolonien deren Politik bestimmte.

    Das Scheitern der Vierten Republik dokumentierte sich auch in der Kolonialpolitik

    ihrer Politiker. Nassers Kühnheit, gegen die westlichen Mächte aufzubegehren,

    verschaffte ihm einen fast legendären Ruf und versah ihn mit charismatischen

    Zügen, die auch auf die übrigen revolutionären afrikanischen Führer übertragen

    wurden und ihnen Gefolgschaft verschafften. Zudem zeigte N 'krumah Bereitschaft,

    diese revolutionären Bewegungen in Französisch-Afrika zu unterstützen. I n Algerien

    und Kamerun gab es anhaltende Kämpfe. Angesichts dieser gärenden Unruhe konn-

    ten von den wechselnden Regierungen der Vierten Republik keine dauerhaften

    Lösungen erwartet werden. Den Ereignissen in Afrika gingen die Erfahrungen in

    Indochina voraus, und mit dem Ruf an de Gaulle nach dem Putsch in Algerien a m

    13. Mai 1958, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen, sollte dem politischen Diktat

    von seiten der Kolonien ein Ende bereitet, die Lage wieder normalisiert werden,

    indem man dort die Opposition einfach kaltstellte. So konnte Diop im Hinblick auf

    die ersten politisch-taktischen Handlungen de Gaulles in Afrika nach seiner Investi-

    tur feststellen: „General de Gaulle hat den Kolonien gegenüber als wahrer Stratege

    gehandelt, in der Hoffnung, dort den Geist des Kampfes und der Opposition gegen

    die Metropole abzutöten, ihn nach außen hin seines Gegenstandes zu berauben."4 6

    Diese Strategie sollte einerseits der Weltmeinung gerecht werden, andererseits

    aber Probleme lösen, die überall die Ausmaße eines Dien-Bien-Phu oder eines

    Algerienkrieges hätten annehmen können. Um „den Geist des Kampfes nach außen

    hin seines Gegenstandes zu berauben", umging de Gaulle zunächst eine direkte

    Konfrontation mi t seinen afrikanischen Gegenspielern und stellte sie mi t der Vier-

    Punkte-Klausel aus dem Verfassungsentwurf vom Juli 1958 vor die Wahl, in einer

    mehr oder weniger lockeren Form in der französischen Gemeinschaft zu verbleiben.

    Sékou Touré erläuterte dem Guineavolk die schwerwiegende Entscheidung: „Man

    stellt uns vor die Alternative: entweder seid ihr für den Text der Verfassung und

    46 Diop, a.a.O., S. 42.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 309

    ihr seid mit Frankreich, oder ihr seid gegen den Text und ihr gehört nicht mehr zu Frankreich. Dies ist eine falsche Alternative, ein falsch gestelltes Problem, denn für eine tatsächliche Assoziierung unabhängiger Staaten zu sein, bedeutet nicht für die Sezession sein."47

    Von dieser Erkenntnis ausgehend, bewegte Sékou Touré sein ihm ergebenes Volk dazu, beim Referendum vom 28. September 1958 Frankreich mit Nein zu antwor-ten. Guinea schied dadurch auf dramatische Weise aus der Gemeinschaft aus. Nicht nur seine Wirtschaft litt unter dieser Entscheidung, sondern auch die politische Linie Frankreichs war gestört. Ihm ging es nun darum, trotz des von Guinea her-beigeführten Präzedenzfalls die neugegründete französische Gemeinschaft aufrecht-zuerhalten. Eine relative Liberalisierung schien daher angezeigt, die zur Korrektur einiger Grundkomponenten der Gemeinschaftsstatuten führte. Die Möglichkeit der Unabhängigkeit innerhalb der Gemeinschaft oder auf völkerrechtlicher Basis war vorgesehen; davon machten allein im Jahre 1960 vierzehn Länder des Französischen Lagers Gebrauch48. Zunächst forderten die in die Mali-Förderation umgewandelten Kolonien Senegal und Französischer Sudan ihre Unabhängigkeit. Um ein zweites Guinea zu vermeiden, wurde sie am 20. Juni 1960 gewährt. Die Föderation über-lebte zwar nicht einmal ihren zweiten Monatstag - sie zerfiel am 20. August -, aber wichtig ist die Tatsache, daß ihre Anführer auf dem freigewordenen Stuhl Sékou Tourés im politischen Gremium Französisch-Afrikas für den föderalistischen Zu-sammenschluß eintraten, der bis dahin immer als das Zeichen eines gewissen pan-afrikanischen Extremismus gegolten hatte. Als nächster führte nun auch Philibert Tsiranana, ein Mitbegründer der „Communauté" und überzeugter Integrationist, Madagaskar fünf Tage nach Mali in die Unabhängigkeit. Der Souveränitätsstatus wurde bald mit einer neuen politischen Linie identisch, an deren Institutionalisie-rung auch Frankreich zwei Jahre nach dem Experiment mit Guinea keinen Anstoß mehr nahm. Selbst der vorher dem so abgeneigte Konformist und ehemalige Mini-ster in verschiedenen Pariser Kabinetten, Félix Houphouet-Boigny, Heß sich zur Krönung seines Opportunismus auf das Vokabular der Revolutionäre ein und for-derte die „bedingungslose" Gewährung der Unabhängigkeit, wozu sich auch die übrigen Mitgliedstaaten des „Conseil de l'Entente", nämlich Obervolta, Niger und Dahomey bereit erklärten. Mit der Unabhängigkeitserklärung dieser Gemäßigten, deren Zögern Frankreich im Zuge seiner neuen „politique liberale" schließlich so-gar mißbilligte49, war das französische Kolonialreich offiziell aufgelöst worden.

    Die im Jahre 1960 en masse in die Unabhängigkeit geführten französischen

    47 Sékou Tourée, L'expérience Guinéenne et l'unité africaine, Paris 1959, S. 106, deutsche Übertragung von Strauch, a .a.O., S. 70.

    48 Die Tatsache, daß im Ganzen achtzehn afrikanische Staaten im Jahre 1960 ihre Un-abhängigkeit erreicht haben, hat diesem Jahr den Namen „Afrika-Jahr" eingetragen. Die Konzentrierung der Unabhängigkeitserklärungen auf einen Zeitpunkt zeigt die überhastete Willkürlichkeit, mi t der sie erfolgten, ohne Rücksicht auf die sehr unterschiedliche innere Lage der Staaten.

    49 Mukarowsky, a .a .O. , S. 247.

  • 310 L.—J. Bonny Duala-M'bedy

    Kolonien brachten eine Veränderung des politischen Programms der Nationalisten

    mit sich, die von Strauch positiv gedeutet wird: „Das hervorstechendste Merkmal

    dieser veränderten Situation war zweifellos die erstmalige Existenz einer größeren

    Zahl afrikanischer Staaten mi t einer gewissen analogen inneren Struktur. Für einen

    späteren Zusammenschluß zu einem umfassenderen politischen Gebilde konnte dies

    ein noch einschätzbarer Vorteil sein. Dieser Vorzug war die Folge der gemeinsamen

    kolonialen Vergangenheit, die diesen jungen Staaten eine praktisch identische Ver-

    fassungs-, eine gleiche Rechts- und Verwaltungsstruktur, die gleiche Sprache, eine

    gemeinsame Währung und eine analoge Wirtschaftsgesetzgebung als Erbteil hinter-

    lassen hatte. Die Sorge und Aufgabe ihrer Führer bestand weniger darin, neue Ge-

    meinsamkeiten zu schaffen, als das Auseinanderleben der geerbten Staatswesen zu

    verhindern, u m gemeinsam Ererbtes in identischer Weise weiter zu entwickeln.

    Ein enger Zusammenschluß zwischen diesen Gebieten bestand bereits während der

    Kolonialperiode, als sie gesamthaft in den beiden Verwaltungseinheiten von West-

    und Äquatorialafrika zusammengesetzt waren."6 0 Mehr noch als auf das Wirken

    der politischen Führer ist die Zusammenarbeit der früheren französischen Kolonien

    auf eine minutiöse Vorbereitung des Dekolonisationprozesses zurückzuführen. Nach

    Strauchs Darstellung brachte die postkoloniale Situation die praktische Fortsetzung

    des kolonialen Zeitalters, wobei die Gemeinsamkeit der Verwaltungsstruktur von

    West- und Äquatorialafrika dem Stadium der „Communauté" entsprach, die als

    letzte Phase der französischen Kolonisation galt. Die Entkolonialisierung ging als

    prozessuale Auflockerung der kolonialen Struktur vor sich, deren Umwandlung in

    eine Gemeinschaft nach britischem Vorbild die Gestaltung der afrikanischen franko-

    phonen Staatsorganisationen stark beeinflußt hat. Durch eine Kolonialpolitik, die

    ihr Ziel darin sah, den kolonisierten Menschen nach französischem Bild zu modeln,

    konnte sich Frankreich in seinen Gebieten Proselyten schaffen, die an die Stelle der

    im Durchbruch befindlichen revolutionären Kräfte traten und entsprechend vorbe-

    reitet waren, das Zivilisationserbe Frankreichs weiterzutragen. Diese frankophile

    bürokratische Klasse ermöglichte eine parallel laufende Reformbewegung. So machte

    die französische Kolonialpolitik vom Bestand des Empire colonial bis zu der politi-

    schen „Union Francaise", die die Vierte Republik prägte, eine zunehmende Desarti-

    kulation durch, die in die „Communauté" als entscheidende Übergangsphase zur

    Gründung eines Staatentyps kolonialer Prägung einmündete. Betrachtet man die

    fortschreitende Befreiung unter dem Kriterium der Entkolonialisierung, so scheint

    sie eher eine neue Kategorie der Kolonisation darzustellen. Denn sind nicht sowohl

    die Communauté wie die Organisationen der frankophonen Staaten in ihrer politi-

    schen Lebensform wie in der Abhängigkeit ihrer Wirtschaft eine Fortführung der

    Kolonisation auf indirekte Weise? Bis kurz vor der Unabhängigkeit des Kongos

    fungierte Belgien als eine erfolgreiche Kolonialmacht. Als es soweit war, daß die

    Unabhängigkeit verliehen werden sollte, fehlten die entsprechenden Organe zur

    Weiterführung der Tradition. Daraus entstand dann, was man gewöhnlich als

    Chaos bezeichnete, also eine in Unordnung geratene Kolonialwelt. 50 Strauch, a.a.O., S. 109.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 311

    Die englischen Erfahrungen in der konstitutionellen Weiterentwicklung der

    Kolonien gehen auf die amerikanische Revolution zurück, deren Ausgang wie im

    Falle Guineas die Kolonialmacht veranlaßten, ihre koloniale Politik zu revidieren.

    Die Kolonien wurden nicht mehr allein als wirtschaftlich ertragreiche „dépendan-

    ces" betrachtet, sondern auch als organisationsbedürftige Gebilde mi t Rechtsan-

    sprüchen auf eine selbständige Wirtschaftsstruktur. Die vom Mutterland aus regier-

    ten Siedler Amerikas hatten sich vor allem gegen dessen merkantilistische Politik

    gewehrt, deren Grundsätze in der „Molasses Act" (1733) ausgedrückt waren, und

    sich für den freien Handel eingesetzt, der ihnen die Bearbeitung des Rohmaterials

    an Ort und Stelle und den direkten Verkauf der Produkte an den Meistbietenden

    sicherte. Die an Wirtschaftsfragen sich entzündenden Spannungen sind symptoma-

    tisch für jede koloniale Situation, nicht nur für die Siedlerkolonien, die erstmalig

    in der Geschichte Nutznießer der Automonie wurden.

    I m Rahmen des Liberalismus, der im Jahre 1815 erste Formen annahm, er-

    reichte Kanada als erste Kolonie seine Autonomie (Reunion Act 1841). Australien,

    Neu Seeland und Südafrika folgten dicht hintereinander dem Beispiel Kanadas, das,

    wie die Mali-Föderation im französischen Machtbereich, eine neue Phase in der

    britischen Kolonisation einleitete. Während das letztgenannte Land, Kanada, in den

    Status eines Dominion überging (1867), wurden andere Gebiete Gegenstand ei-

    ner intensiveren Kolonisierung, wie die britischen Niederlassungen in verschiedenen

    Teilen des afrikanischen Kontinents, die bis dahin nur als Etappen für den Schiffs-

    verkehr und den Sklaventransport gedient hatten. „So ging", wie Lavroff bemerkt,

    „mit den ersten Maßnahmen zur Emanzipation einer Kolonie die Ausdehnung der

    Kolonisation unter einem anderen Himmel Hand in Hand"5 1 . Das, was man hier

    ein „transfer des intentions", also eine Verlagerung des Schwergewichts nennen

    könnte, bildet ein Gesetz im Prozeß der Entkolonisation; es gibt niemals eine wirk-

    lich bedingungslose Loslösung innerhalb dieses Prozesses. Die britische Entkoloni-

    sation beginnt mit dem Ende des Ersten Weltkrieges, als die Dominions beim

    Versailler Vertrag voll unterschriftsberechtigt wurden und damit ein gewisses Sta-

    dium der Souveränität erreichten62. I n den Diskussionen, die der Ratifizierung des

    neuen Status vorausgingen, wünschte die britische Regierung einen „Spielraum

    für die Anpassung"53, der es allen Mitgliedern erlauben sollte, den Realitäten ge-

    recht zu werden, mit denen sie speziell konfrontiert waren. Wie in dem Statut der

    „Communauté Francaise" wurde „die Ausarbeitung eines präzisen Textes" zurück-

    gewiesen, „die die Rechte und Pflichten der Mitglieder definierte und unterstrich",

    da „das Reich sich jeder Klassifikation widersetze und keine Ähnlichkeit mit einer

    der heute existierenden politischen Organisationen aufweise". „Infolgedessen sind

    51 Lavroff, D. G. et Peise, G., Les Constitutions Africaines, II , Paris 1964, S. 12. 52 Vgl. dazu Oswald Hauser, Das britische Commonwealth zwischen nationaler Souveräni-

    tät und imperialer Integration 1917-1931, in dieser Zeitschrift 16 (1968), S. 237f. Zur Ent-wicklung des britischen Commonwealth und der englischen Kolonialpolitik vgl. auch Alber-tini, a .a .O. , S. 47ff.

    53 Lavroff, a .a .O. , S. 19.

  • 312 L.—J. Bonny Duala-M'bedy

    die verschiedenen Teile des Commonwealth" unter keinem Aspekt ihrer inneren

    oder äußeren Angelegenheit einander untergeordnet und nur „durch eine gemein-

    same Huldigung an die Krone gebunden"54. Solche kolonialen Zivilisationsgemein-

    schaften sind in der weltpolitischen Struktur ein Novum. Sie werden als Folge auf

    den Status quo ante geschaffen. Wie die französischen Kolonialstaaten in der Repu-

    blik, bzw. in de Gaulle, ihre Existenz begründet sahen, so übernahm in den briti-

    schen das Symbol der Krone diese Funktion.

    Indien erhielt seine Unabhängigkeit im Juli 1947. I m November desselben Jahres

    entschied sich die britische Regierung für die Aufnahme der übrigen Kolonialterri-

    torien - der Länder also, die nicht Siedlungsgebiete waren - in das Commonwealth.

    So übernahmen diese neuen Staaten eine neue aus dem Kolonialstatus stammende

    Struktur, die Frankreich in zwanzig Jahren Reformarbeit erst schaffen mußte .

    England kann sich heute rühmen, eine Zivilisationsgemeinschaft ins Leben gerufen

    zu haben, die, soweit man sie auf die Siedlungsgebiete beschränkt, keine struktu-

    rellen Probleme hervorruft. Bezieht man in sie jedoch Volksgruppen ein, die außer-

    halb des historischen britischen Zusammenhangs stehen, so bietet sie für diese keine

    existentielle Grundlage, da sie diesen Völkern a priori eine Form aufzwingt, die

    deren eigener Erfahrung widerspricht. In diesem Sinn ist die Stellung moderner

    afrikanischer Staaten in Gebilden wie dem des „Commonwealth" oder ähnlichen,

    auf einer westlichen Verfassung basierenden Organisationen mehr als fragwürdig.

    Die Verfälschung des Topos

    Es wurde bisher gezeigt, daß nicht die staatlichen Gebilde, die unmittelbar aus

    der Kolonialsituation hervorgegangen sind, Ausdruck des neuen politischen Bewußt-

    seins der Afrikaner sind, sondern die nationalen und panafrikanischen Entwürfe,

    die paradigmatisch als Reaktion auf den kolonialen Status konzipiert worden waren.

    Während diese den Versuch machen, das Selbstbewußtsein des Afrikaners wieder

    zu formulieren, zeigen jene im Grunde eine Fortdauer des Vakuums, denn sie

    sind der afrikanischen Gesellschaftsstruktur aufgepfropft und nicht aus ihr erwach-

    sen. Solange für die modernen politischen Gebilde in Afrika Verfassungsstrukturen

    angenommen werden, die nicht aus einer afrikanischen Selbstinterpretation ent-

    standen sind, ist für diese Gebilde keine fundierte existentielle Grundlage gegeben.

    Als Objekte fremdartiger Verfassungen lassen sich die sogenannten afrikanischen

    Staaten mit der historischen Realität des afrikanischen Menschen nicht vereinbaren.

    Diese zur Zeit bestehenden politischen Einheiten stellen einen gewaltsamen Zu-

    sammenschluß traditionsgemäß - und auch heute noch - heterogener Volksgrup-

    pen dar und entsprechen damit weder den realen noch den fiktiven Komponenten

    des nationalstaatlichen Gedankens westlicher Prägung55. Die mehr oder minder pro-

    noncierte Loyalität der herrschenden Schicht zum ehemaligen Kolonialherren ver-

    hindert den Durchbruch zur Selbsterkenntnis.

    54 Lavroff, a.a.O., S. 19. 55 Kohn, a.a.O., S. 17 ff.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 313

    Die Orientierung nach außen, auf der die Ideologie von den „unterentwickelten Ländern" basiert und die keine andere Klassifikation als die der kolonialen Zivilisa-tionstypen ermöglicht, wurde auch durch den ehemaligen Außenminister des Sene-gals, Doudou Thiam, in seinem Buch „La Politique Etrangère des Etats Africains"56

    zu rechtfertigen versucht, in dem er die Relation von Innen- und Außenpolitik soweit treibt, daß man keine Grenze mehr zwischen den beiden Bereichen feststel-len kann. Dies entspricht durchaus der aktuellen afrikanischen politischen Situation: Die vernachlässigte Innenpolitik soll durch eine stark akzentuierte Außenpolitik ersetzt werden.

    Inzwischen ist die Literatur, die vorgibt, objektiv Tatbestände zu beschreiben, im Grunde aber nichts weiter als eine Rechtfertigung der herrschenden afrikani-schen Schicht bietet, beträchtlich angeschwollen. Verständlicherweise sind es in der Hauptsache westliche Autoren, die mit den Kategorien ihrer eigenen Kultur ar-beiten und so die tendenziösen Aussagen dieser Schicht, denen sie leicht anheim-fallen, in der westlichen Leserschaft verbreiten. Als Beispiele seien die Thesen An-sprengers und René Dumonts genannt, die sich - repräsentiv für die verschiedenen Tendenzen - konträr gegenüberstehen. Bezeichnenderweise fordert das Buch Du-monts ,,L'Afrique Noir est mal partie"57 den Protest sowohl afrikanischer als auch europäischer Politiker heraus: Von nationalökonomischen Erkenntnismethoden ausgehend, beweist er, daß von alters her bestehende Ausbeutungsmethoden den Kolonien gegenüber auch nach der Unabhängigkeit angewandt werden58. An Hand zahlreicher Beispiele zeigt er, daß die Unabhängigkeit nicht unbedingt die „De-kolonisation" mit sich bringt und erinnert an die sozialen Integrationsprobleme der vorkolonialen Epoche59.

    Im Gegensatz dazu stehen die Bemühungen anderer Wissenschaftler, die Exi-stenzfähigkeit der nicht-okzidentalen Völker im Rahmen der westlichen Erfahrung zu bestätigen. So erscheint Ansprenger jegliche Skepsis gegenüber den neuen afri-kanischen Gebilden „gefährlich und falsch"60. Er antizipiert den revolutionären Prozeß, um zu einer Konstruktion zu gelangen, die ihm die Anwendung der west-lichen historischen Begriffe auf afrikanische Verhältnisse ermöglicht. So ist für ihn das „bewußte Nationmachen . . . in Afrika einerseits deshalb möglich, weil die afrikanische Revolution, in einer gewissen Perspektive betrachtet, den westeuro-päischen Nationsbegriff rezipiert - ähnlich wie Lenins Revolution (in einer gewissen Perspektive betrachtet) die Französische Revolution rezipierte. In beiden Fällen hängt bzw. hing der Erfolg andererseits davon ab, daß in der Bevölkerung, die Objekt der Umkrempelung sein soll, Bereitschaft dafür vorhanden ist: alte Ord-nungen müssen hinfällig geworden oder von außen zerschlagen worden sein. Das

    56 Paris 1963, S. 8 ff. 57 Paris 1962. 58 Ebenda, S. 37ff. Auch Patrice Mandeng, a .a .O. , betont die Notwendigkeit des zweiten

    Schritts: der „ökonomischen Entkolonialisierung". 59 Ebenda, S. 21 ff. 60 Ansprenger, Nationsbildung, a .a .O. , S. 181.

  • 314 L.—J. Bonny Duala-M'bedy

    russische Volk war nach der sozialen Entwicklung des 19. Jahrhunderts und nach drei Jahren Weltkrieg revolutionsreif. Afrika ist nach zwei Menschenaltern euro-päischer Kolonisation nationsreif."61 Die französische Revolution stehe zu der russi-schen wie die europäischen Nationen zu den afrikanischen „Nationen". Darauf gründe sich die Metastase im afrikanischen Zusammenhang. Ansprenger benutzt eine Literatur, die von der Intention her schon eine solche „Bereitschaft" der afri-kanischen Bevölkerung voraussetzt. Die von ihm zitierten Texte sind Rechtferti-gungen aus der Hand höchster politischer Würdenträger, die für die jetzige Situa-tion mitverantwortlich sind. Er fährt fort: „Wir haben kein Recht, den neuen Gemeinschaften, die in Afrika vor unseren Augen aufgebaut werden, den Namen zu versagen, den ihre Architekten ihnen geben: Nationen."62 Um auf den Begriff „Nation" zu kommen, genügt Ansprenger die alleinige Loyalität dieser Würden-träger zu den neuen afrikanischen Phänomenen63. Er macht sich die Sache einfach, wenn er sagt: „Wenn sie [die Gemeinschaften] nicht in unseren Nationsbegriff passen, der von europäischen Erfahrungen bestimmt ist, dann müssen wir diesen Begriff eben revidieren, erweitern. Das gleiche gilt natürlich von Begriffen wie Demokratie und Sozialismus. Wenn ernsthafte, gebildete und verantwortungsbe-wußte Afrikaner heute von einem afrikanischen Sozialismus reden, haben weder wir noch die Leninisten das Recht, ihnen zu verbieten, ihr Programm und ihre Ideen so zu nehmen. Wir müssen vielmehr diese neue Variante in den jetzt schon recht dicken Katalog verschiedener „Sozialismen" aufnehmen. Vielleicht hilft uns diese Erweiterung des Horizonts auch, unsere eigenen Probleme plötzlich aus einem neuen Blickwinkel, in einem neuen Licht zu sehen und besser zu begreifen."64

    Ein so formuliertes Programm kann nicht als eine harmlose humanitäre Erschei-nung mit der Nebenabsicht, den eigenen Horizont zu erweitern, angesehen werden. Durch solche intellektuellen Prozeduren werden die Topoi verfälscht, Probleme manipuliert und diesen Menschen oktroyiert, die - wie auch als „Unterentwik-kelte" - in einem Zustand permanenter Subordinierung verbleiben sollen. Nichts-destoweniger ist aber der Topos, auch wenn er verfälscht wird, Gegenstand der sozialen Revolution. So stellt Diop fest: „Wir nehmen schon überall und auf emp-findliche Weise die berechneten Nachteile der inneren Autonomie auf uns, die uns angeblich zur Unabhängigkeit vorbereiten soll: nämlich die Zersplitterung der revolutionären Kräfte [vor der absoluten und wirklichen Unabhängigkeit], die wir nur schwer mit gleicher Leichtigkeit wieder rückgängig machen werden, dann die fortschreitende Bildung von Klassen im modernen und ökonomischen Sinn des Wortes innerhalb der afrikanischen Gesellschaft und schließlich, infolgedessen, den fast mit Sicherheit anzunehmenden Ausbruch eines Klassenkampfes in Schwarz-afrika."85

    61 Ebenda, S. 182. 62 Ebenda, S. 182. 63 Vgl. Kohn, a.a.O., S. 18f. 64 Ansprenger, Nationsbildung, S. 182. 65 Diop, a.a.O., S. 46.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 315

    Nach Diop steht die „eigentliche afrikanische Revolution" noch bevor, die sich

    jeder Gesetzmäßigkeit der Entkolonisierung widersetzt. Die Frage ist, ob die er-

    wartete Revolution nach zehnjährigem Bestehen der modernen afrikanischen Ge-

    sellschaftskomplexe nicht schon im Gange ist, wenn man sie nicht als eine marxi-

    stische auffaßt, wie Diop es tut, sondern sich dabei auf die afrikanische soziale

    Realität bezieht. Um einer solchen Realität zu entsprechen, müßte die Revolution

    die kolonialen Strukturen aufheben, die sich in den noch bestehenden Kolonialgren-

    zen als „entscheidende Abgrenzung für die neuen Nationen"66 manifestieren.

    Nigeria als Paradigma für die afrikanische Revolution

    Unter den neuen Artikulationsversuchen im Entstehungsprozeß der afrikanischen

    Staaten ist Nigeria ein Paradebeispiel. Der nigerianische Konflikt wurde durch eine

    Verfassungsfrage ausgelöst, die auf den Verfassungsentwurf vom Mai 1967 zurück-

    zuführen ist, wonach der Bund anstelle der vier bisherigen Regionen in zwölf

    „States" aufgeteilt werden sollte. Die damals in der Ost-Region an der Macht be-

    findliche provisorische Militärregierung unter Odumegwu Ojukwu sah in dem Ver-

    fassungsentwurf den Versuch, eine administrative Desintegration des Ibo-Volkes zu

    erreichen; denn die zum größten Teil von Ibos bewohnte Region wurde in drei

    Teile aufgeteilt. Diese Aufteilung ihres Gebietes und die ihr vorangegangenen Po-

    grome gegen die Ibos am 29. Mai und 29. September 1966 sowie die Vorgänge

    während des anschließenden Bürgerkrieges ließen später das Schlagwort vom Ibo-

    Genocid aufkommen, der mi t rassischen, religiösen, politischen bzw. psychologischen

    Gründen erklärt wurde. Blickt man jedoch tiefer in die Vergangenheit Nigerias,

    dann stellt man fest, daß sich nicht allein der Krieg - der von einer „Polizeiaktion"

    des Generalmajors Yakubu Gowon am 6. Juli 1967 gegen die abtrünnige Region

    ausgegangen war - auf eine konstitutionelle Frage zurückführen Heß, sondern auch

    die Staatsstreiche vom 15. Januar und 29. Juli 1966. So ergaben sich für den ersten

    Putsch, der das Ende der Ersten Nigerianischen Republik bedeutete, drei auf eine

    Änderung der Verfassungsstruktur zielende Motivationen: „die Vorherrschaft des

    Nordens zu brechen", „jede Korruption innerhalb der Regierung auszumerzen"

    oder „ein ehrenhaftes und gerechtes Programm" aufzustellen, wodurch es möglich

    würde, „die Unausgewogenheit der Struktur der Föderation zu beseitigen"67.

    Alle drei Argumente stehen in enger Beziehung zueinander. Welchem man aber

    auch den Vorrang gab, der Putsch vom 15. Januar 1966 an sich wurde jedenfalls

    vom gesamten nigerianischen Volk mehr oder minder laut begrüßt, obwohl er

    allein von Ibo-Offizieren durchgeführt worden war68. Obafemi Awolowo, der jetzige

    66 Ansprenger, a .a .O. , S. 18S. 67 Notes de base sur la Crise Nigérienne, Supreme Headquarters, Lagos 1967, S. 3. 68 Man vergleiche die nigerianische Presse seit dem 15. 1. 1966. Die Tatsache, daß die

    Putschisten durchschnittlich 30 Jahre alt waren, läßt das Problem auch als eine Generations-frage erscheinen.

  • 316 L.—J. Bonny Duala-M'bedy

    Finanzminister der Zentralregierung, weiß diese Tat zu würdigen, indem er „the

    evils which afflicted Nigeria and brought about the ruin of the First Republic" auf

    zwei Grundnenner bringt: „the abnormal imbalance in the constituent units of the

    Federation" und „human propensities to evil-doing"69. Awolowo stellt fest, daß das

    eine das andere bewirkt, und meint, die Übelstände aufgrund der „antisocial ten-

    dencies and propensities in m a n " könnten „controlled and brought within mini-

    mally harmful limits by constitutional and legislative devices"70. Dazu war die

    frühere Verfassung nicht imstande gewesen. Die „abnormal imbalance" innerhalb

    derselben erklärt sich allein aus der Situation, aus der heraus sie geschaffen wurde,

    nämlich aus der der Unabhängigkeit vorausgegangenen Periode des „self govern-

    ment" , bzw. der Kolonialsituation.

    Die am 1. Oktober 1960 in Kraft getretene Verfassung des unabhängigen Nigeria

    enthielt zwar zwei „amendments" als Ergänzungen zu der vor der Unabhängigkeit

    konzipierten Verfassung: Die erste betraf den Gerichtshof. In Kapitel 8, § 2, wurde

    die Appellation an die Königin von England als letzter Instanz („Appeals to Her

    Majesty in Council") vorgesehen. Die zweite Ergänzung bezog sich auf die Grün-

    dung der „Mid-West-Region", wodurch sich die Zahl der Regionen in der Föde-

    ration von drei auf vier vermehrte. Da die Möglichkeit einer Veränderung der

    Regionen schon in der Verfassung vorgesehen war, brachte der Zusatz aber keine

    grundsätzliche Wandlung - ebensowenig wie der erste, der lediglich die Rolle des

    britischen Monarchen in der neuen Situation Nigerias präzisierte. In diesem Artikel

    drückte sich die Fortsetzung der Kolonisation als ein dynamischer Faktor der Inte-

    gration mit der britischen Krone aus, die für Nigeria weiterhin als Referenz für die

    politische Ordnung diente.

    So blieb die koloniale Artikulation auch in der nigerianischen Republik bestehen

    und t rug bei zu dem Sezessionskonflikt der letzten Jahre. Der englische Historiker

    Sir Alan Burns bemerkte mi t Recht noch im Jahre 1954: „There is no Nigerian

    nation, no Nigerian language . . . and no Nigerian tradition. The very name of

    Nigeria was invented by the British to describe a country inhabited by a medly of

    formerly warring tribes with no common culture, and united only in so far as they

    are governed by a single Power."7 1 Die Äußerung Burns' bedarf jedoch der Kor-

    rektur eines Stereotyps, u m die nigerianische Lage noch angemessener zu be-

    urteilen. Es handelt sich nämlich nicht nur u m „tribes", u m einzelne Stämme,

    in Nigeria, sondern u m Völker verschiedener Kulturkreise, die sich lange vor

    der Vereinigung aus verschiedenen Ursprüngen entwickelt hatten7 2 ; dadurch wird

    der Begriff Nigeria noch inkonsistenter. Die Bezeichnung „Nigeria" selbst ist

    erst 1879 entstanden, drei Jahre vor der Gründung der nördlichen und südlichen

    Protektorate von Nigeria u m die britische Kolonie von Lagos he rum (1882). I m

    6 9 Obafemi Awolowo, Thoughts on Nigerian Constitution, Ibadan 1966, S. 61 . 70 Ebenda, S, 62. 7 1 Zit. nach Taylor Cole, i n : Robert O. Tilman and Taylor Cole, The Nigerian Political

    Scene, London 1962, S.45. 72 Awolowo, a.a. O., S. 91 f.

  • Die Problematik afrikanischer Staatenbildung 317

    Jahre 1914 wurde die Föderation Nigeria unter dem Generalgouverneur Lord Lugard (1859-1945) geschaffen, ein Gebilde, das anstelle der von den Monopol-handelsgesellschaften verwalteten Protektorate trat und Nord- und Südgebiet ver-waltungsmäßig vereinigte. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat die nach dem da-maligen Generalgouverneur genannte „Richards Constitution" (1946) in Kraft, deren wiederholte Reformierung zu der föderativen Struktur überleitete (1954). Der föderative Gedanke dieser Verfassung, aus dem die Regierungen der „Western and Eastern Regions" (1957) und die der „Northern Region" (1959) entstanden, entsprach den sukzessiven britischen Kolonialerrungenschaften am Niger, die eine selbständige administrative Entwicklung nachweisen konnten. So verwandelte sich das Oil River-Protektorat in die Eastern Region, seit 1967 unter der Bezeichnung Biafra bekannt. Die Entwicklung des nigerianischen Föderationsgedankens basiert somit sehr früh auf alten kolonialen Strukturen, die neben den ethnischen Unter-schieden eine Kumulation von weiteren Gegensätzen brachten. Den Grundstein zum Regionalismus legten die Handelsgesellschaften durch die Wirtschaftseinhei-ten der frühen Protektorate. Mit der Einführung der parlamentarischen Regie-rungsform nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich eine Überbetonung des Regio-nalismus im politischen Bewußtsein, die zur Entstehung der mit den einzelnen Regionen bzw. deren Hauptvolksgruppen identischen politischen Parteien führte. Der Zerfall des nigerianischen Staatsgedankens erreichte seinen Höhepunkt, als am 1. Oktober 1960 das Land unabhängig wurde und die „single Power" der Kolonialmacht als Einheitssymbol verschwand, ohne daß es der zu diesem Zeitpunkt ernannte einheimische Gouverneur Nnamdi Azikiwe hätte restituieren können. Im Gegenteil, es zeichnete sich eine Rückkehr zu traditionellen volksmäßigen Zusam-menhängen ab, die eine ursprüngliche politische Identität aufzeigen konnten. Mit der Proklamation der Republik am 1. Oktober 1963 gelangte man zu einem Pro-porzstatus, wobei ein Ibo aus dem Osten (NCNC) als Staatspräsident, ein Haussa aus dem Norden (NPC) als Regierungschef und ein Yoruba aus dem Westen (Action Group) als Oppositionsführer eingesetzt wurden.

    Dieser Entwicklung, die auf die Desintegration der nigerianischen Föderation hinzielte, liegt der Umstand zugrunde, daß der „Northern People's Congress" (NPC) mit etwa der Hälfte der Bevölkerung und Zweidrittel der gesamten Boden-fläche der Föderation die absolute Mehrheit im Parlament des Bundes besaß und damit — durch das unangefochtene Machtmonopol der Parteien in ihren Regionen gestützt — berufen war, die Zentralregierungsgeschäfte auf unbegrenzte Zeit hinaus zu führen. Ohne diese „abnormal imbalance" wäre vielleicht die künstliche Er-haltung der Föderation möglich gewesen. Dieser Mangel an Gleichgewicht in der Verfassungsstruktur, der zudem von einer Entscheidung der kolonialen Verfas-sungsgeber herrührte, brachte eine permanente Spannung zwischen den progres-siven nationalistischen Kräften und der Bundesregierung. Jene saßen im Süden und hatten das dichteste Netz geschulter regionaler Kader. Im Norden dagegen, mit den wenigsten geschulten Kräften, hielt sich die koloniale Tradition am besten; denn die britische koloniale Bürokratie fungierte dort weiter als Berater bzw. führte von

  • 318 L.—J. Bonny Duala M'bedy

    dort aus indirekt das politische Diktat. Im islamischen Norden waren die einheimi-schen Emirate bei der Errichtung des Protektorats bestehen geblieben; man hatte ihnen nach dem britischen Prinzip der „indirect rule" Zugeständnisse gemacht, z. B. wurde kein Schulzwang eingeführt und die christliche Mission untersagt. Die nördliche Parteieno