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er etwas auf sich hält, fährt nach wie vor an die Côte d’Azur. Oder an die Amalfiküste. Oder nach Kalifornien. Aber sicher nicht ins Tessin. Dabei hätte das Tessin alles: viel Sonne. Palmen. Wunder- schöne Seen. Die Landschaft ist einmalig, und wer will, kann sich im Tessin sogar ein bisschen wie ein Italiener fühlen, ohne einer sein zu müssen. Der Kanton ist mit Zug oder Auto gut erreichbar. Auch der Flughafen Milano-Malpensa ist nicht weit weg. Und das Tessin liegt in der Schweiz, profitiert also von der Marke «gut und teu- er». Trotzdem ist aus dem Kanton keine weltbekannte Tourismusdestination gewor- den. Im Gegenteil, es sieht so aus, als ob der südliche Kanton sein touristisches Po- tenzial vollends verspielen würde. Exemp- larisch für die Misere ist die Geschichte rund um das Grand Hotel Locarno. Das Hotel wurde vor 125 Jahren er- baut, zur Eröffnung des Gotthardtunnels. Seine historische Bedeutung versteht man immer noch, wenn man mit dem Zug in den Bahnhof Locarno einfährt. Die Reise endet am Fuss des Grand Hotels. Es liegt noch auf dem Gemeindegebiet von Mu- ralto, erst dahinter beginnt die Stadt Lo- carno, auf deren Piazza vom 1. bis 11. August 2007 das 60. Internationale Film- festival stattfindet. Es ist Locarnos Aushän- geschild, gilt als eines der zwölf wichtigs- ten der Welt. 2006 schlug das Festival alle seine bisherigen Rekorde, über 190 000 Besucher kamen nach Locarno. Die Qua- lität der Filme, die Leidenschaft für den Autorenfilm überzeugen offenbar ein brei- tes Publikum. Gegründet und bis 1970 ausgetragen wurde das Festival im Hotelpark des Gran- de Albergo. Es war das Symbol einer Epo- che, als die Schweizer Grand Hotels in der ganzen Welt bekannt waren. 1925 fand im Grand Hotel die Friedenskonferenz von Locarno statt. In den Verträgen von Lo- carno besiegelten Diplomaten den völ- kerrechtlichen Status von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. 1946, also noch ein Jahr vor Cannes, tanzte erstmals das Projektionslicht des Filmfestivals Lo- carno durch die Nacht. In Abendgardero- be sass man im Park, um Roberto Rosse- linis «Roma Città Aperta» zu sehen. In den folgenden Jahren gingen Stars wie Marlene Dietrich, Claude Chabrol oder Andrei Tarkowski und viele mehr durch die Hotelhallen. Doch vom damaligen Glamour ist nichts mehr übrig geblieben. Wer heute den Hotelpark betreten will, muss erst über die Aussenbestuhlung einer McDo- nald’s-Filiale klettern. Das Hotel selbst ist mit einem Gitterzaun abgeriegelt. Auf den Treppen spriesst Unkraut. Der Tennis- court ist mit Laub bedeckt. Die Fassade hat Risse. Die dahinter liegende Grandezza kann man nur noch erahnen: Der mit Design-Klassikern möblierte Grand Salon mit den Deckenmalereien und Stuckatu- ren. Der Salon bleu, der Salon de fête. Die vom Entrée sich beidseits in die Höhe schwingenden Treppen, der riesige Kron- leuchter aus Murano-Glas. Jeder gegen jede «E una vergogna!», sagt eine Passan- tin, die Schliessung des Grand Hotels sei eine Schande. «In Locarno wird alles Schö- ne zerstört.» Das Kulturzentrum im ehe- maligen Maggiatal-Bahnhof habe die Stadt abgerissen. «Und was machten sie? Park- plätze!» Dafür habe Locarno den grössten Verkehrskreisel der Schweiz und ein Poli- zeihauptquartier so gross wie das Weisse Haus. «Ein Kulturzentrum, zum Beispiel, als fester Bestandteil der Stadtkultur ist im Tessin nicht realisierbar», sagt der Tessi- ner Fotograf Marco Beltrametti. «Es ist eine Schande, dass das Grand Hotel nicht unter Denkmalschutz steht», sagt auch der Architekt und Locarneser SP-Gemeinderat Michele Bardelli. «Es ist das letzte Grand Hotel aus der Gründer- zeit des Tourismus im Sopraceneri.» Das Grand Hotel Brissago zum Beispiel war jahrelang geschlossen und wurde wegen nicht finanzierbarer Sanierungskosten ab- gerissen. Dort stehen heute Privatapparte- ments. Vom Grand Hotel Lugano wurde nur die Fassade unter Schutz gestellt. Das Hotel dahinter liessen die Tessiner verrot- ten – und nach einem kleinen Brand end- gültig abreissen. Hinter der Fassade klafft heute ein gigantisches Bauloch. Wieso tut man auch in Locarno nichts? «Es liegt an der finanziellen Situa- tion der Stadt Locarno», sagt Bardelli. Vie- le Projekte seien seit Jahren, Jahrzehnten blockiert. Weder für Luigi Snozzis Projekt der autofreien Piazza noch für die Renova- tion des Schwimmbads von Locarno, das seit langem Löcher im Beton habe, gebe es eine politische Mehrheit. «Obwohl das ja nicht nur den Touristen, sondern allen zu- gute käme.» Dasselbe lässt sich wohl auch vom Filmfestival sagen – jedes Jahr bringt es rund 15 Millionen Franken Wertschöp- fung in die Region. Weshalb kaufen Lo- carno und die umliegenden Gemeinden, die alle vom Festival profitieren, das Hotel nicht gemeinsam? Carla Speziali, Stadt- präsidentin von Locarno und Vizepräsi- dentin des Festivals, sagt dazu: «Das Grand Hotel liegt auf dem Boden der Gemein- de Muralto. Der Handlungsspielraum der Stadt Locarno ist beschränkt.» Es habe Treffen mit den Vertretern der Besitzer ge- geben, ergebnislos. «Ein gemeinsamer Kauf wäre nur bei einer vorgängigen Gemeindefusion mög- lich», sagt Bardelli; daran aber sei der rei- che Nachbar Muralto nicht interessiert. «Jedes Dorf ist gegen das andere», sagt ein anderer Tessiner erst offen – will dann aber doch nicht genannt werden. «Neid und Missgunst sind der Schlüssel zur Tessiner Mentalität.» Die Rivalitäten 28 das magazin 23 – 2007 das magazin 23 – 2007 29 CITTÀ BRUTTA Das Tessin ist für die Einheimischen mehr Geldwechselstube als Sonnenstube. Und so sieht es da auch aus. Exemplarisch ist die Stadt Locarno, die eine Kultur der Hässlichkeit zelebriert. Text Corinne Buchser und Anita Hugi Bilder Oliver Lang W Dies ist das Erste, was Bahnreisende nach ihrer Ankunft von Locarno sehen… …und dies das Letzte, was man sehen will.

ma07 23 507 v2 - corinnebuchser.ch · CITTÀ BRUTTA Das Tessin ist für die Einheimischen mehr Geldwechselstube als Sonnenstube. Und so sieht es da auch aus. Exemplarisch ist die

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er etwas auf sich hält, fährt nach wievor an die Côte d’Azur. Oder an die

Amalfiküste. Oder nach Kalifornien. Abersicher nicht ins Tessin. Dabei hätte dasTessin alles: viel Sonne. Palmen. Wunder-schöne Seen. Die Landschaft ist einmalig,und wer will, kann sich im Tessin sogarein bisschen wie ein Italiener fühlen, ohneeiner sein zu müssen. Der Kanton ist mitZug oder Auto gut erreichbar. Auch derFlughafen Milano-Malpensa ist nicht weitweg. Und das Tessin liegt in der Schweiz,profitiert also von der Marke «gut und teu-er». Trotzdem ist aus dem Kanton keineweltbekannte Tourismusdestination gewor-den. Im Gegenteil, es sieht so aus, als obder südliche Kanton sein touristisches Po-tenzial vollends verspielen würde. Exemp-larisch für die Misere ist die Geschichterund um das Grand Hotel Locarno.

Das Hotel wurde vor 125 Jahren er-baut, zur Eröffnung des Gotthardtunnels.Seine historische Bedeutung versteht manimmer noch, wenn man mit dem Zug inden Bahnhof Locarno einfährt. Die Reiseendet am Fuss des Grand Hotels. Es liegtnoch auf dem Gemeindegebiet von Mu-ralto, erst dahinter beginnt die Stadt Lo-carno, auf deren Piazza vom 1. bis 11. August 2007 das 60. Internationale Film-festival stattfindet. Es ist Locarnos Aushän-geschild, gilt als eines der zwölf wichtigs-ten der Welt. 2006 schlug das Festival alleseine bisherigen Rekorde, über 190 000Besucher kamen nach Locarno. Die Qua-lität der Filme, die Leidenschaft für denAutorenfilm überzeugen offenbar ein brei-tes Publikum.

Gegründet und bis 1970 ausgetragenwurde das Festival im Hotelpark des Gran-de Albergo. Es war das Symbol einer Epo-che, als die Schweizer Grand Hotels in der ganzen Welt bekannt waren. 1925 fandim Grand Hotel die Friedenskonferenzvon Locarno statt. In den Verträgen von Lo-carno besiegelten Diplomaten den völ-

kerrechtlichen Status von Deutschlandnach dem Ersten Weltkrieg. 1946, alsonoch ein Jahr vor Cannes, tanzte erstmalsdas Projektionslicht des Filmfestivals Lo-carno durch die Nacht. In Abendgardero-be sass man im Park, um Roberto Rosse-linis «Roma Città Aperta» zu sehen. In den folgenden Jahren gingen Stars wieMarlene Dietrich, Claude Chabrol oderAndrei Tarkowski und viele mehr durchdie Hotelhallen.

Doch vom damaligen Glamour istnichts mehr übrig geblieben. Wer heuteden Hotelpark betreten will, muss erstüber die Aussenbestuhlung einer McDo-nald’s-Filiale klettern. Das Hotel selbst istmit einem Gitterzaun abgeriegelt. Auf denTreppen spriesst Unkraut. Der Tennis-court ist mit Laub bedeckt. Die Fassade hatRisse. Die dahinter liegende Grandezzakann man nur noch erahnen: Der mitDesign-Klassikern möblierte Grand Salonmit den Deckenmalereien und Stuckatu-ren. Der Salon bleu, der Salon de fête. Dievom Entrée sich beidseits in die Höheschwingenden Treppen, der riesige Kron-leuchter aus Murano-Glas.

Jeder gegen jede«E una vergogna!», sagt eine Passan-

tin, die Schliessung des Grand Hotels seieine Schande. «In Locarno wird alles Schö-ne zerstört.» Das Kulturzentrum im ehe-maligen Maggiatal-Bahnhof habe die Stadtabgerissen. «Und was machten sie? Park-plätze!» Dafür habe Locarno den grösstenVerkehrskreisel der Schweiz und ein Poli-zeihauptquartier so gross wie das WeisseHaus. «Ein Kulturzentrum, zum Beispiel,als fester Bestandteil der Stadtkultur ist imTessin nicht realisierbar», sagt der Tessi-ner Fotograf Marco Beltrametti.

«Es ist eine Schande, dass das GrandHotel nicht unter Denkmalschutz steht»,sagt auch der Architekt und LocarneserSP-Gemeinderat Michele Bardelli. «Es ist

das letzte Grand Hotel aus der Gründer-zeit des Tourismus im Sopraceneri.» DasGrand Hotel Brissago zum Beispiel warjahrelang geschlossen und wurde wegennicht finanzierbarer Sanierungskosten ab-gerissen. Dort stehen heute Privatapparte-ments. Vom Grand Hotel Lugano wurdenur die Fassade unter Schutz gestellt. DasHotel dahinter liessen die Tessiner verrot-ten – und nach einem kleinen Brand end-gültig abreissen. Hinter der Fassade klafftheute ein gigantisches Bauloch.

Wieso tut man auch in Locarnonichts? «Es liegt an der finanziellen Situa-tion der Stadt Locarno», sagt Bardelli. Vie-le Projekte seien seit Jahren, Jahrzehntenblockiert. Weder für Luigi Snozzis Projektder autofreien Piazza noch für die Renova-tion des Schwimmbads von Locarno, dasseit langem Löcher im Beton habe, gebe eseine politische Mehrheit. «Obwohl das janicht nur den Touristen, sondern allen zu-gute käme.»

Dasselbe lässt sich wohl auch vomFilmfestival sagen – jedes Jahr bringt esrund 15 Millionen Franken Wertschöp-fung in die Region. Weshalb kaufen Lo-carno und die umliegenden Gemeinden,die alle vom Festival profitieren, das Hotelnicht gemeinsam? Carla Speziali, Stadt-präsidentin von Locarno und Vizepräsi-dentin des Festivals, sagt dazu: «Das GrandHotel liegt auf dem Boden der Gemein-de Muralto. Der Handlungsspielraum derStadt Locarno ist beschränkt.» Es habeTreffen mit den Vertretern der Besitzer ge-geben, ergebnislos.

«Ein gemeinsamer Kauf wäre nur beieiner vorgängigen Gemeindefusion mög-lich», sagt Bardelli; daran aber sei der rei-che Nachbar Muralto nicht interessiert.

«Jedes Dorf ist gegen das andere»,sagt ein anderer Tessiner erst offen – willdann aber doch nicht genannt werden.«Neid und Missgunst sind der Schlüsselzur Tessiner Mentalität.» Die Rivalitäten

28 das magazin 23 – 2007 das magazin 23 – 2007 29

CITTÀ BRUTTADas Tessin ist für die Einheimischen mehr Geldwechselstubeals Sonnenstube. Und so sieht es da auch aus. Exemplarisch ist die Stadt Locarno, die eine Kultur der Hässlichkeit zelebriert. Text Corinne Buchser und Anita Hugi Bilder Oliver Lang

W

Dies ist das Erste, was Bahnreisende nach ihrer Ankunft von Locarno sehen…

…und dies das Letzte, was man sehen will.

hätten damit zu tun, dass das Tessin nochbis in die Fünfzigerjahre hinein mausarmwar. Erst danach kam es dank Vico-Torria-ni-Kitsch, Boccalino-Romantik und deut-schem Wirtschaftswunder zu Touristen-geld. Der Erfolg hat offenbar träge ge-macht. Heute foutiert sich die Region umden Erhalt des historischen Festivalorts.

«Da können wir nicht helfen» Um den Austragungsort des grössten

Filmfestivals der Schweiz macht sich auchder Direktor des Bundesamtes für Kultur,Jean-Frédéric Jauslin, «gewisse Sorgen».Er bedaure die Schliessung des Grand Ho-tels und die jetzige Hotelsituation in Lo-carno. «Es ist sehr frustrierend.» Man ver-steht seine Sorge – dem Festival fehlt zum60-Jahre-Jubiläum nicht nur das GrandHotel, es fehlen auch zentral gelegene Ho-telbetten. Der Charme des Filmfestivalshat wesentlich damit tun, dass die Spiel-orte, Restaurants und Hotels nur Schrittevon der Piazza entfernt liegen. Nun fehlennicht nur die 83 Zimmer des Grand Ho-tels. Viele Hotels im Zentrum werden zur-zeit durch den Bau von Zweitwohnungenverdrängt. Seit der Schliessung des GrandHotels werden die Festivalbesucher mitBussen nach Ascona transportiert. Asco-na, das im Gegensatz zu Locarno mit einerLuxushotellerie aufwartet, stört das nicht.Doch der Charme der Kleinräumigkeit desFestivals beginnt zu bröckeln.

«Es ist uns ein Anliegen, was vor Ortpassiert», sagt Jauslin. Er habe sich «reininformell» mit der Stadtpräsidentin CarlaSpeziali und mit Vertretern der Gemein-den über die Kulturpolitik der Stadt unter-halten, sich insbesondere für das GrandHotel eingesetzt, für ihn ein Markenzei-chen des Festivals. Weshalb tut er nichtmehr? «Stadt und Kanton müssen dezi-diert sagen, wir wollen etwas tun für die Infrastruktur, für den Film. Der Bundkann da nicht eingreifen.»

Pius Knüsel, Direktor der Kulturstif-tung Pro Helvetia, ist ähnlicher Ansicht.«Wenn das Engagement nicht von denMenschen vor Ort kommt, wenn das Festi-val oder die Stadtregierung Locarnos nichtfähig sind, die eigenen Leute für die Be-dürfnisse eines internationalen Festivals

zu mobilisieren, können wir nicht helfen.Eingriffe von oben bringen nichts.»

Ausserdem sei es nicht Aufgabe derPro Helvetia, ein Hotel zu betreiben. Knü-sel kann dennoch nicht begreifen, wiesosich der Kanton Tessin, der das Festivaljährlich mit mehr als 10 Prozent des Festi-val-Budgets unterstützt, sich nicht für denErhalt der Festival-Infrastruktur engagiert.Das Desinteresse der Tessiner steht fürihn im Gegensatz zur Wertschöpfung.«Wenn sie lieber Zweitwohnungen vollerreicher Deutschschweizer haben, wäre esbesser, sie würden das Grand Hotel abreis-sen.» Langfristig schnitten sie sich damitaber ins eigene Fleisch.

Festival-Präsident Marco Solari unddie Stadtpräsidentin Carla Speziali wei-chen Fragen nach der verschwindendenFestival-Infrastruktur aus. Lieber reden sie in typischen Politikerfloskeln über diekünftige Zusammenarbeit der beiden ehe-maligen Rivalen Locarno und Ascona. Aufdem alten Militärflughafen von Asconasolle ein Kongresszentrum à la KKL ent-stehen, schwärmt Solari. Zur Festivalzeitmache man daraus ein Multiplexkino.

Tolle Idee, nur trägt sie kein bisschenzur Aufwertung von Locarno bei.

An der Seepromenade von Locarno,die auch in Muralto liegt, wo im SommerTouristen unter Palmen promenieren,hantieren Bauarbeiter mit Betonmischernund Bohrern. Die Hotels Zurigo und Mu-ralto wurden bereits abgerissen, es sollenweitere Luxuswohnungen gebaut werden.Appartements weichen musste zum Teilauch das Hotel Verbania. Beim ehemali-gen Beau Rivage, das 2005 geschlossenwurde, ist für 14 Millionen Franken eben-falls ein Umbau in Luxuswohnungen ge-plant. Im Hotel Reber, ein paar Schritteweiter, das vor Verkauf und Abriss in vier-ter Generation geführt worden war, logier-te jeweils die Festival-Jury. Jetzt verkündetein Schild den Bau «exklusiver Residen-zen»; die Attikawohnung kostet hier bis zu 5 Millionen Franken.

Gegen die Architekturverbrechen amLungolago hat sich in den letzten Tagen inLocarno erstmals öffentlich Widerstandgeregt, nachdem der «Corriere del Ticino»einen offenen Abschiedsbrief eines deut-

schen Touristenpaars an Carla Speziali publiziert hatte. Wegen der «baulichenVerschandelung Locarnos der letzten Jah-re» hätten sie sich entschieden, Locarnonach dreissig Jahren für immer den Rü-cken zu kehren. «Um Spekulationsbautenzu bestaunen, können wir auch zu Hausebleiben», schrieben die Eheleute. Locarnosei zur «Città brutta» geworden, zur häss-lichen Stadt. «Die Kultur der Hässlichkeitgreift um sich», schrieb daraufhin auch eine Leserin aus Ascona. Die Zukunft Lo-carnos, «eine betonierte Leere».

Veni, vidi, vendesi Die Entwicklung beschränkt sich

nicht auf die Seepromenade. Spaziert man in Muralto durch die Gassen, blickeneinem von Fassaden prächtiger Palazzi im-mer wieder Verkaufsschilder entgegen:vendesi, zu verkaufen. Die Pension in derJugendstilvilla ist geschlossen. Vendesi.Der Palazzo hinter dem Bahnhof. Vende-si. Angeboten werden die Objekte sogarauf der offiziellen Website der Gemeinde.Eine Dienstleistung «ohne jeglichen kom-merziellen oder wirtschaftlichen Nutzen»,wie Stefano Gilardi betont, der Bürgermei-ster von Muralto. «Der Immobilienmarktspielt im Moment verrückt», sagt RolandoVonlanthen, Präsident des HoteliervereinsLocarno. Am Lungolago würden mittler-weile bis zu 15 000 Franken pro Quadrat-meter bezahlt. Bodenpreise wie an derZürcher Bahnhofstrasse.

Angesichts dieser Entwicklung ist esfür die von der Krise der Tourismusbran-che gebeutelten Hoteliers verlockend, ih-ren Betrieb zu verkaufen. Gemäss FabioBonetti, dem Direktor des Verkehrsver-eins Lago Maggiore, haben hier in den letz-ten drei Jahren acht Hotels geschlossen.Würde Hotelierpräsident Vonlanthen seinHotel Camelia, das er mit seiner Frau An-fang der Neunzigerjahre von seinen Elternübernommen hat, verkaufen bei einementsprechenden Angebot?

«Das wäre sicher eine Überlegungwert», antwortet er. Bei einem älteren Ho-tel können Renovationen und Investitio-nen zu einer unheimlichen finanziellenBelastung werden», erzählt er. «Die inter-nationale Kundschaft will Komfort. Mit fa-

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«Um Spekulationsbauten zu bestaunen, können wir auch zu Hause bleiben», schreibt ein deutsches Touristenpaar, das seit 30 Jahren nach Locarno kam.

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Abspann zu einer glamourösen Geschichte: das leer stehende Grand Hotel von Locarno

miliärem Charme allein kann man keineGäste mehr gewinnen.» Verkehrsvereins-direktor Bonetti setzt deshalb auf eine an-dere Karte: die Hotelketten.

Es hätten mehrere interessierte Ho-telketten Kontakt mit dem Verkehrsvereinaufgenommen, insbesondere der Hotel-riese Accor, der mit 4000 Hotels – unteranderem Ibis – auf allen Kontinenten prä-sent ist. Sollte Locarno nicht wie beispiels-weise die Côte d’Azur auch auf Premiumsetzen statt nur auf Massentourismus?Vonlanthen hat keine Angst vor Accor, imGegenteil, durch die Billig-Konkurrenzwürden die Familienbetriebe gezwungen,ihre Hotels zu renovieren.

Der wahre Feind ist für Vonlanthender Bettenverlust. In Muralto ging die An-zahl Hotelbetten von 1450 auf 650 zurück.«Die Hotellerie ist das Herz des Touris-mus. Durch den Bettenverlust verliert dieganze Region an Wichtigkeit.» Verkehrs-vereindirektor Bonetti sieht die Ankunftvon Hotelketten deshalb als Chance für die Tourismusregion. Könnten finanzstar-ke Hotelketten auch eine Chance für dasGrand Hotel sein? «Für das Grand Hotelbraucht es einen Liebhaber», sagt er.

Dass sich für das Grand Hotel ein sol-cher findet, das wünscht sich Urs Zim-mermann, der letzte Direktor und Pächterdes Grand Hotels. «Es ist für mich wiemeine zweite Frau», sagt der Glarner. Sei-ne siebenjährige «Liebschaft» ging im De-zember 2005 mit der von den Eigentü-mern mit einer Reflexionspause begrün-deten Schliessung zu Ende. Zimmermanngründete danach mit anderen eine Interes-sengruppe. Sie lancierten eine Spenden-und Unterschriftenaktion zur Rettung desHotels. Auch Kulturminister Pascal Cou-chepin unterschrieb. Die für das Vorkaufs-recht nötigen 500 000 bis 800 000 Fran-ken vermochten sie nicht aufzubringen.

Verlockendes AbreissenHeute steht das Grand Hotel für 22

Millionen Franken zum Verkauf, noch-mals 15 bis 30 Millionen müssten in dieRenovation investiert werden. «Es ist klar,dass die Investitionen in so ein Haus keineRendite bringen. Es sind Investitionen àfonds perdu», sagt Zimmermann. Es gibt

sie aber, die Retter von geschichtsträchti-gen Hotels: Beim Grand Hotel Giessbachin Brienz etwa, erbaut 1875, war Franz We-ber die treibende Kraft. Nachdem dem Ge-bäude 1978 der Abbruch drohte, gründeteer die Stiftung «Giessbach dem Schwei-zervolk» und erwarb die Domäne für 3Millionen Franken. Die Stiftung brachtedurch die Sammelaktion 2 Millionen Fran-ken auf. Der Kanton Bern und die Ge-meinde Brienz steuerten je eine halbe Mil-lion bei. In das Hotel «Drei Könige» in Ba-sel investierte der Medizintechnikunter-nehmer Thomas Straumann.

«Das Grand Hotel Locarno hat ebenauch einen Wert, der sich nicht bloss inZahlen beziffern lässt», sagt Ex-DirektorZimmermann. «Es hat eine Geschichte.»Er fürchtet, dass der Prachtbau eines Tagesabgerissen wird. «Bleibt das Grand Hotelüber mehrere Jahre geschlossen, wird esnicht mehr möglich sein, die Bausubstanzzu erhalten.» Es steht bis heute nicht unterDenkmalschutz. Das rund 10 000 Quad-ratmeter grosse Grundstück am Bahnhofbietet Boden für Spekulation. In den letz-ten Jahren zirkulierten immer wieder Mel-dungen über einen unmittelbar bevorste-henden Handwechsel. Oder es gab mehroder weniger konkrete Pläne für neue Nut-zungen. Von einem Spielkasino war dieRede, von der New Yorker Film Academy,der kantonalen Hotelfachschule und, erstkürzlich, der Hotelkette Accor. Auch Ab-bruchpläne wurden wiederholt publik. An-gesichts des Immobilienbooms wäre es inder Tat lukrativ, das Grand Hotel abzureis-sen und Appartements zu bauen. Und solange das Grand Hotel nicht als schützens-wert klassifiziert ist, können die Eigentü-mer jederzeit einen Abbruch beantragen.

Die Eigentümer, das sind GiancarloCotti, Treuhänder und Immobilienmak-ler; seine Mutter und seine Schwester; seinOnkel Gianfranco Cotti, Anwalt und ehe-maliger CVP-Nationalrat und Ex-Credit-Suisse-Verwaltungsrat; der Baufirmenin-haber und Immobilienhändler GiorgioLaudi; der frühere Vizepräsident der Tes-siner Kantonalbank, der Anwalt Franco Gianoni; fünfter Eigentümer ist RahimHoushmand, Ingenieur, Besitzer der Pri-vatklinik Santa Croce in Orselina.

«Was unter Denkmalschutz gestelltwird, liegt in der Verantwortung der Kan-tone», sagt die Sekretärin der Eidgenös-sischen Kommission für Denkmalpflege,Nina Mekacher. 2005 hat die Kommissionauf Anfrage des Kantons Tessin für dasGrand Hotel ein Gutachten erstellt. Dochdie Kommission habe nur beratende Funk-tion, sagt Mekacher. Sie könne im Fall desGrand Hotels Locarno nichts weiter tun.«Bei überregional bedeutenden Bautenkann unser System an seine Grenzen stos-sen.» Natürlich spiele der ökonomischeDruck eine Rolle, doch im Grunde gehe esum die Frage, wie viel die Gesellschaft inKulturdenkmäler investieren wolle.

«Das ist der Zeitgeist»Dabei wären die gesetzlichen Grund-

lagen vorhanden: Gemäss Bundesgesetzkann der Bund Kulturdenkmäler «von na-tionaler Bedeutung vertraglich oder, wenndies nicht möglich ist, auf dem Weg derEnteignung erwerben oder sichern». EineEnteignung sei seines Wissens noch nievorgekommen, sagt Ivo Zemp von derDenkmalpflege beim BAK. Das widerspre-che dem föderalistischen System, denn:«Die Kulturhoheit liegt bei den Kanto-nen.» Anders sehe es bei der Subventio-nierung, dem Sichern von Kulturdenkmä-lern aus. Diese Praxis existiert. Gekauft habe die Eidgenossenschaft verschiedeneDenkmäler wie die Gessler-Burg in Küss-nacht (1908) oder das Amphitheater vonVindonissa (1898). Der letzte Erwerb derEidgenossenschaft, der Dreikönigssaal imAlten Stockalperhaus in Brig, liegt jedochüber dreissig Jahre zurück.

Aufgrund von Budgetkürzungen sei-en in den letzten Jahren keine riesigenSummen für die Denkmalpflege aufge-wendet worden. Zwischen 2004 und2008 wird die Denkmalpflege-Kasse desBAK von rund 38 Millionen auf fast dieHälfte gekürzt. Dabei fliesst ein Teil desGeldes in die Filmförderung. Für IvoZemp alles andere als ein Drama: «Im Moment stehen eben andere kulturelleDisziplinen im Vordergrund. Das ist derZeitgeist.» Ein Filmfestival finde nun malmehr Beachtung als der Europäische Tagdes Denkmals. ➔

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Für das Grand Hotel braucht es einen reichen Liebhaber, der bereit ist, Millionen à fonds perdu in den historischen Bau zu investieren.

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Alle Zimmer frei: Vom Grand Hotel Lugano steht nur noch die Fassade.

Man will den Blick ja nicht nur aufs Trübe richten.

Zemp sieht es wie Jauslin und Knü-sel: «Es scheint kaum vorstellbar, dass derBund private Gebäude erwirbt, wenn in einer Gemeinde oder einem Kanton derpolitische und gesellschaftliche Wille nichtvorhanden sind, ein Denkmal in die Zu-kunft zu tragen.» Da würde auch ein Kaufdurch den Bund wenig nützen. Es schmer-ze ihn zwar einzugestehen, dass einem dieHände gebunden seien. Aber man könnekeinem Eigentümer verbieten, was er mitseinem Objekt mache. «Angesichts desSiedlungsdrucks im Tessin – nicht zuletztaufgrund von Zweitwohnungen – wirdDenkmalschutz zur Interessenfrage: Willman lieber neue Steuerzahler gewinnenoder alte Gebäude erhalten.»

Kulturhoheit der Kantone hin oderher, der Vorsteher der Tessiner Denkmal-pflege, Giuseppe Chiesi, gibt den Ball andie Gemeinde Muralto weiter. Was dasGrand Hotel betrifft, könne der Kantonnur hoffen, sagt er. «Der Kanton hat sei-nen Entscheid gefällt.» Genau hierin liegedas Problem, sagt Paolo Camillo Minottivon der örtlichen Heimatschutz-Sektion.Der Kanton sagt, welche Denkmale vonkantonalem Interesse sind und somit ge-

schützt werden müssen. Ob es aber tat-sächlich getan wird, darüber entscheidendie Gemeinden. «Die Idee der Aufgaben-teilung ist gut, doch sie funktioniert nicht.Die Gemeinden stellen praktisch nichtsunter Schutz», sagt Minotti. Im kürzlichveröffentlichten Gesamtzonenplan der Ge-meinde Muralto wurde das Grundstückdes Grand Hotels gar ausgeklammert. Vonden zahlreichen historischen Palazzi aufdem Gemeindegebiet, viele von Ende des19. Jahrhunderts, wurde im Zonenplankeines als schützenswürdig erklärt.

Jetzt doch geschützt?«Denkmalschutz stösst bei den Politi-

kern auf kein grosses Interesse. Was zählt,sind wirtschaftliche Überlegungen.» So-bald ein Haus unter Denkmalschutz ge-stellt wird, bedeutet dies – wegen der Auf-lagen – für den Besitzer eine finanzielleWertminderung. Minotti glaubt, dass oh-ne inoffizielle Intervention des Kantonsoder vielleicht auch des Bundes die Ge-meinde Muralto die Ausnützungszifferdes Grand-Hotel-Grundstücks sicher schonerhöht hätte und man auf dem Grund-stück siebenstöckige Häuser hätte bauen

können. Das Grand Hotel wäre einfachverschwunden.

«Das Gebäude des Grand Hotels ist jajetzt geschützt», sagt der Bürgermeistervon Muralto, Stefano Gilardi, überra-schend. Und präzisiert sogleich: zumin-dest die Fassade, der Grand Salon, dieTreppe und der Park. Der Gemeinderatvon Muralto habe die Schutzbestimmun-gen kürzlich abgesegnet. Anbauten seienjedoch möglich, sogar unterirdische imPark. Interessant für die Investoren sei zu-dem, so der Sindaco, dass bei der gefunde-nen Lösung kein Verwendungszweck fürdas Grand Hotel vorgeschrieben sei. DieGemeinde selbst habe über den Kauf desHotels nachgedacht, sich aber aus Geld-mangel dagegen entschieden. Sobald derKanton die Rekurse gegen den neuen Zo-nenplan bearbeitet hat, treten die Schutz-bestimmungen in Kraft.

Bis jetzt gibt es jedoch keinen einzi-gen Rekurs. Kein Wunder, wurde doch derausgeklammerte Plan für das Grand Hotelnoch nirgends öffentlich gemacht. Derkantonale Denkmalpfleger Chiesi sagt aufRückfrage, er hätte von diesen Schutzent-scheiden noch nichts gehört. ➔

00 das magazin 00 – 2007

Nördlich der Alpen verklärt man dasTessin gern als eine Art permanente Son-nenstube, wo die Leute ein bisschen fröh-licher sind als im Rest der Schweiz. DieTessiner selbst sehen das anders. Sie se-hen sich nicht als Ferienregion, sondernals Finanzplatz. Rund fünfhundert Treu-handfirmen und Banken zählt allein Lu-gano. Die Hotellerie dagegen, nach demVerschwinden der Granit- und Tabakin-dustrie noch die einzige Industrie, hat beiden Tessinern ein schlechtes Image.

Auch was die Gastfreundschaft be-trifft, sind die Tessiner an vielen Orten soungefähr auf dem Niveau der alten DDR.Das liegt vermutlich daran, dass die Hotel-lerie von Deutschschweizern aufgebautwurde. Zudem nahmen die von Not undAuswanderung geprägten Tessiner die Er-wartungen der Touristen, die im Tessinitalienische Geselligkeit und Fröhlichkeitsuchten, als Provokation wahr. «Es kam zueiner Neapolitanisierung des Tessins. Die-se kulturelle Vergewaltigung ist bis heutespürbar», schrieb Marco Solari kürzlich inder SBB-Zeitung. Eine «kulturelle Verge-waltigung» allerdings, die den Kanton ausder Armut gehoben hat.

Für den klassischen Hotel-Touris-mus im Tessin ist es fünf vor zwölf. Schonheute hat Ascona auf 5000 Einwohner einen Anteil von 1850 Zweitwohnungen,dazu die Luxushotellerie. Im 2900-Seelen-Dorf Muralto sind es 487 Zweitwohnun-gen. Und wenn die Pläne des BundesratsRealität werden, mit der Lex Koller denKauf von Zweitwohnungen durch Auslän-der freizugeben, dürfte der Tessiner Bo-den noch begehrter werden. Die Folge: Esentstehen tote Orte, in denen man zwar anjeder Ecke Immobilien kaufen kann, aberkein Brot mehr. Im Speckgürtel um Locar-no sprechen bereits heute bis zu zwei Drit-tel der Menschen nicht mehr Italienisch,sondern Deutsch. Für die Region sindZweitwohnungen aber «kalte Betten». Siebringen dem Immobilienbau und -handelkurzfristige Renditen, der Region aber kei-ne nachhaltige Wertschöpfung.

Die Leute, die diese Wohnungen kau-fen, kommen nicht mehr nur wegen derSchönheit und dem milden Klima. Siekommen vor allem wegen der Sicherheitins Tessin, sagt einer, der es wissen muss:der Immobilienmakler Giancarlo Cotti im«Corriere del Ticino». Es seien vor allem

Käufer, die nicht zu viel Kontakt habenwollen, die vor allem Privatsphäre anstre-ben. «Käufer, die keine grosse Villa, son-dern rund um die Welt Luxusattikas alsZweitwohnungen suchen.»

Cottis Assofide liegt im modernenTeil Locarnos, jenseits der Piazza, in einemBetonbau. Das Interieur könnte das einerVersicherungsfiliale auf dem Land sein.Die Blumen auf dem Tisch sind aus Plas-tik – auch wenn Cotti Millionengeschäftemacht. Der Tessiner ist der Immobilien-löwe auf dem Platz – und Mitbesitzer desGrand Hotels. Auf der Website seiner Im-mobilienfirma Assofide SA finden sichdas Grand Hotel, viele der anstelle der Ho-tels Reber und Muralto erbauten Luxus-wohnungen. Allein in Muralto bietet Asso-fide 38 Wohnungen, Hotels, Restaurantszum Verkauf. Die Einheimischen nennenihn «Giandollaro». «Hansdollar» trägt einegrün-rot gesprenkelte Krawatte, ton surton mit dem Spannteppich. Er sitzt hinter einem riesigen schwarzen Marmortisch.

Was haben Sie mit dem Grand Ho-tel vor?

«Es gibt weder einen Traum nochIdeen für das Grand Hotel. Es besteht ein

Projekt. Ein Projekt, das uns nur gute Re-ferenzen bringen wird.» Es gibt das Ge-rücht, sie würden das Hotel am liebstenabreissen? «Es war nie die Rede davon, dasGebäude abzureissen. Wir wollen das Ge-bäude erhalten. Stellen Sie sich vor, die Fa-milie Cotti will doch nicht am Kreuz hän-gen wie Jesus Christus!» Er habe für denVerkauf das Grand Hotel letztes Jahr 2000Arbeitsstunden investiert und für das Ho-tel ein Apart-Hotel-Konzept ausarbeitenlassen. Der Salon und die ersten drei Eta-gen sollen als Hotel weitergeführt werden.Der richtige Käufer sei noch nicht gefun-den, sagt er, doch gerade in den letzten Tagen hätten sich verschiedene Interes-senten angemeldet.

Die Umwandlung in ein Apart-Hotelscheint jedoch nur eine Variante zu sein.Denn, so Cotti, «auch wenn das Hotel null Franken einbringt, haben wir eineWin-win-Situation. Es sind immer noch10 000 Quadratmeter Land. Wir sind instarker Position und nicht von einer Bankabhängig.» Land in unmittelbarer Nähedes Bahnhofs. «2015 kommt die Neat,dann sind Zürich und Basel noch eineStunde weniger weit von Locarno ent-

fernt.» Und was ist mit dem hohen Preisvon 22 Millionen Franken? «Zu teuer ist,wenn man nicht genug Geld hat.» Welchepersönlichen Erinnerungen hat er ansGrand Hotel? «Keine und viele.» Ist dasGrand Hotel zum 60. Filmfestival wiederoffen? «Nein. Aber wenn das Grand Hotelwieder öffnet, wird auch das Festival sehrzufrieden sein. Aber das Filmfestival stirbtund lebt nicht mit dem Grand Hotel.»

Für den Schweizer Filmchef NicolasBideau braucht ein Festival nicht nur pro-grammliche Qualität, sondern auch Gla-mour, Stars und Business. «Der Geist desGlamours war im Grand Hotel», sagt Bi-deau. Das Grand Hotel sei eine demokra-tische Form von Glamour gewesen. Dorthätten sich Publikum und Stars durch-mischt. «Ohne diese Begegnungen gehtdem Festival ein Stück Magie verloren.»Die zehn Sekunden, die die Stars in Lo-carno vor der Filmvorführung unten ander Leinwand auftauchen würden, reich-ten einfach nicht. Das Publikum kommeauch, um Stars zu sehen. Auch Marco So-lari bedauerte nach der Schliessung desGrand Hotels, dass «das Festival seine See-le verloren hat». Im Gegensatz zu Bideau

sieht er jedoch die Attraktivität des Festi-vals gerade darin, dass dieses «seit sech-zig Jahren konsequent Inhalt vor den Gla-mour stellt». Für ihn «sind in Locarno dieFilme die Stars».

«Business ist nicht nur Kommerz»,präzisiert Bideau. Er wolle «den Geist vonLocarno nicht verraten». Marktpotenzialsieht er in der Profilierung im Arthouse-Bereich. Venedig, Cannes und San Sebas-tian hätten sich vom Arthouse-Film verab-schiedet, setzten vermehrt auf das Holly-wood-Kino. «Das Sundance-Filmfestival inAmerika ist am Sterben. Locarno muss dasSundance Europas werden.» Der Bund seisehr interessiert, Festivaldirektor FrédéricMaires Bemühungen in diese Richtung zuunterstützen. Der Erfolg dieses Projektshänge jedoch von der Verpackung und derPromotion ab, so Bideau.

Doch was hat Locarno an Glamournoch zu bieten? Bideau: «Locarno mussden Glamour jetzt neu erfinden.»

Corinne Buchser und Anita Hugi sind freieJournalistinnen in Bern. [email protected] Lang ist Fotograf und lebt in Zü[email protected]