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Sigrid Lenz
MAJA Geschichte einer Slasherin
Roman
© 2010
AAVAA e‐Book Verlag UG (haftungsbeschränkt)
Quickborner Str. 78 – 80,13439 Berlin
Telefon.: +49 (0)30 565 849 410
Email: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2010
Lektorat: Hans Lebek, Berlin
Covergestaltung
Tatjana Meletzky
Printed in Germany
ISBN 978‐3‐86254‐060‐0
4
Alle Personen und Namen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen
sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Gut, der Titel mag etwas irreführend erschei‐
nen, aber im Detail betrachtet trifft er die Situati‐
on explizit.
Die Erlebnisse der letzten Zeit waren tatsäch‐
lich nichts anderes als unglaublich. Und wenn
ich mich in der schäbigen Zuflucht umsehe, die
mir im Augenblick der Aufzeichnung dieser No‐
tizen einen erbärmlichen Schutz bietet, so lässt
sich nicht leugnen, dass das Schlimmste wohl
noch bevorsteht.
Vorausschicken sollte ich noch, dass die knap‐
pen Zeitreserven mich zu Zugeständnissen
zwingen, die meinem innersten Wesen durchaus
widerstreben. So dürfte Form und Fassung die‐
ser Sätze nicht jedem kritischen Auge standhal‐
ten, zumal gewisse seelische Einschränkungen
meinerseits den Wechsel zwischen erster und
dritter Person der Erzählenden verlangen. Denn
obwohl es mich drängt, die Geschehnisse zu
schildern, die mich in diese Lage gebracht haben,
so gebietet doch der Anstand, mich von der
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einen oder anderen Eigenschaft oder Hand‐
lungsweise der Protagonistin auch formal zu dis‐
tanzieren.
Sie kennen das sicher auch, als Leser wie als
Autor lebt und leidet man mit seinen Charakte‐
ren, ist sich allerdings geradezu schmerzlich des
Abgrundes bewusst, der die eigene Person von
der des Protagonisten oder in diesem Fall der
Protagonistin trennt. Doch sollte am Anfang be‐
gonnen werden, besser gesagt, am Anfang vom
Ende.
Sich versteckt zu halten war nicht ungewohnt
für mich. Im Gegenteil. Ich wirkte aus dem Ver‐
borgenen. Dieses Verhalten war mir so sehr in
Fleisch und Blut übergegangen, dass es mir nicht
einmal unangenehm auffiel. Selbstverständlich
handelte es sich zu diesem Zeitpunkt um eine
außergewöhnliche Situation. Und natürlich litt
ich unter dem Verlust der Bequemlichkeiten, der
Sicherheit, die, wenn auch Illusion, doch ein we‐
sentlicher Teil meiner Selbst geworden war.
7
Auch die Bezeichnung ‚mittelalterlich‘ traf auf
mich in doppelter Weise zu. War ich doch nicht
nur in der Mitte meines Lebens angelangt. Nein,
mein ganzes Wesen war dieser Zeit entrückt,
passte einfach nicht in die Moderne, in die Hek‐
tik des Alltags.
Ich wusste zwar, dass ich beim schwachen
Licht einer niederbrennenden Kerze in einem
Kellerloch saß, den Bleistift umklammert, die
Worte der letzte Ausdruck meiner Persönlich‐
keit. Dennoch spürte ich gleichzeitig, wie ich
mich bewegte, wie ich rannte und floh, wie ich
mir keinen Moment der Ruhe gönnen durfte.
Verrückt, absonderlich, und doch nichts Neues.
Jetzt kann ich alles aus dem Blickwinkel einer
fremden und doch so vertrauten Person sehen –
mit meinen Augen – mit Majas Augen:
8
Es begann mit diesem Blick aus dem Fenster.
Und Maja sah niemals aus dem Fenster. Es inte‐
ressierte sie nicht, was draußen vorging. Die
Menschen auf der Straße behielten keine Bedeu‐
tung für sie. Und doch zog sie ausgerechnet an
diesem Tag etwas zu der Scheibe, die hinter den
dicken Gardinen verborgen war. Mag sein, dass
die Unruhe sie gepackt hatte. Sie wartete bereits
zu lange auf Xaver; jede Entschuldigung, die
seine Verzögerung erklären konnte, war längst
aufgebraucht. Sie gab der Sorge also nach und
sah auf die Straße, sah ihn. Nein, nicht Xaver
stand dort unten. Stattdessen empfing sie ein
ungewohnter Anblick an diesem ansonsten so
normalen Wochentag.
Lange, schwarz glänzende Haare flossen das
stolze Haupt hinab. Gekleidet war der Mann in
dunklen, erdigen Tönen. Er sah Maja direkt an,
direkt zu ihr hinauf in den ersten Stock des Hau‐
ses. Maja sog die Luft erschrocken ein und ließ
den Vorhang zurückfallen. Hasste sie es doch,
9
sich beobachtet zu fühlen.
Paranoia gehörte nicht zu der Sammlung von
Neurosen, die sie für gewöhnlich quälten.
Sie fühlte, wie das Blut in ihren Schläfen poch‐
te. Sie zögerte. Unwohlsein breitete sich aus.
Doch schließlich konnte sie nicht anders, als den
Vorhang noch einmal zurückzuziehen. Ein klei‐
nes Stückchen nur. Sie beugte sich vor, doch die
Gestalt war verschwunden, vom Erdboden ver‐
schluckt.
Maja versuchte aufzuatmen, war es doch nicht
das erste Mal, dass eine Halluzination sie genarrt
hatte.
Doch dann erstarrte sie. Nicht der Mann, der
ihr in die Augen gesehen hatte, sondern mehre‐
re, gleich gekleidete Männer von bedrohlichem
Äußeren schritten um die Ecke zur angrenzen‐
den Straße. Und nicht nur dort waren sie zu se‐
hen. Sie kamen aus Hauseingängen, lehnten aus
Fensterrahmen.
Maja presste ihre Augenlider zusammen. Sie
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atmete tief aus, bevor sie ihre Augen wieder öff‐
nete.
Aber immer noch waren die Männer da, immer
noch glänzten ihre Sonnenbrillen, obwohl das
Sonnenlicht nur dumpf unter der grauen Wol‐
kendecke hervor drang. Maja zuckte zurück. Das
war einfach nur noch dämlich. Verfolger, die
aussahen wie Bodyguards und die nichts Besse‐
res zu tun hatten, als ausgerechnet ihr hinterher
zu spionieren. Abrupt wandte sie sich vom Fens‐
ter ab. Und wieder war ihr, als müsste sie los‐
stürmen, als wäre es an der Zeit zu flüchten.
„Dabei hab ich doch gar nichts getan“, flüsterte
sie. „Nichts außer…“
Ihr Blick fiel auf den Computer und sie schüt‐
telte den Kopf. Es konnte einfach keinen Zu‐
sammenhang geben. Was sie tat war wichtig,
entscheidend, eine Befreiung für sich und für
andere.
Immerhin schrieb man das Jahr 2008. Die Jahr‐
tausendwende war längst Vergangenheit. Frei‐
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lich, nicht im Hinblick auf die Zeitrechnung in
Beziehung zum ewigen Fluss. Was waren Tau‐
send Jahre? Nichts, und acht Jahre bedeuteten
noch viel weniger. Ein drittes Jahrtausend sollte
der Menschheit, sollte ihr die notwendigen Rech‐
te garantieren.
Maja schluckte.
Ja, es war wichtig. Die Meinungsfreiheit gab ihr
das Recht zu sagen, zu schreiben, was sie ge‐
schrieben hatte, was sie schreiben wollte. Ihre
Leser vertrauten ihr, warteten auf die Geschen‐
ke, die sie ihnen darbot, so abartig und seltsam
diese einigen konservativen Mitbürgern viel‐
leicht auch erscheinen mochten. Und sie fütterte
diese Wünsche. Und was gab es daran auszuset‐
zen? Sie wollte doch niemanden beleidigen?
Nichts läge ihr jemals ferner.
Eine Haustür knallte.
Sie atmete auf und ihr Gesicht verzog sich zu
einem schiefen Lächeln, als Xaver die Treppe
herauf polterte.
12
„Mama, das war verrückt“, platzte er hinaus.
„Hier aber auch.“ Sie sah ihn verstört an.
Xaver legte den Kopf schief und kratzte sich am
Kinn, das jedoch trotz seiner Bemühungen frei
von jeglichem Bartwuchs war.
„Gekocht hast du wohl nicht.“
„Konnte nicht“, antwortete sie schlagfertig.
„War zu viel los.“
Das war noch nicht einmal vollständig gelogen.
Schließlich sah sie sonst nie aus dem Fenster
oder beobachtete geheimnisvolle Gestalten, die
sich in verdächtiger Nähe ihrer Person herum‐
trieben.
Xaver, Kummer gewohnt, schließlich hatte sie
ihm auch diesen Namen aufgezwungen, wandte
sich den Schränken zu, suchte mit geübter Hand
Brot und Aufstrich heraus und bereitete sich eine
Nuss‐Nougat Creme Schnitte. Als Maja sich
nicht rührte, sah er sie verdutzt an.
„Was ist? Du schreibst gar nicht dein Schund‐
zeugs?“
13
„Bin abgelenkt worden“, erwiderte sie und
seufzte. „Wo warst du so lang.“
Xaver rückte sich den Stuhl zurecht, ließ sich
darauf fallen und biss herzhaft in sein Brot. Er
blinzelte mich schelmisch an.
„Hab meine Verfolger abgehängt.“
Ein kalter Schauer rann Maja den Rücken hin‐
unter.
„Welche Verfolger?“, murmelte sie.
Xaver zuckte mit den Achseln.
„Das war komisch“, sagte er mit vollem Mund.
„Die hatten alle lange Haare und sahen aus
wie… wie amerikanische Ureinwohner?“
Maja schluckte wieder.
„Mehrere?“
Er nickte.
„Ja, ein paar. Sie warteten vor der Schule. Ehr‐
lich gesagt, warteten sie schon vor dem Fenster
des Chemiesaals. Haben die ganze Zeit hinein
gelinst und mich ganz kirre gemacht.“
„Aha.“
14
Maja wartete, doch das Unwohlsein kroch ihr
den Rücken hinauf.
„Naja“, fuhr er fort. „Ich bin dann hinten raus.“
Er zuckte wieder. „Konnte mich des Gefühls
nicht erwehren, dass sie es auf mich abgesehen
hatten.“
Maja räusperte mich.
„Und… und was meinst du, würden sie von dir
wollen?“
Er brauchte nicht zu antworten, konnte es nicht
wissen. Aber Maja wusste es. Es war ihr so klar,
wie es nur sein konnte. Sie wollten sie. Es konnte
nur einen Grund geben, warum diese Menschen
hier waren. Sie hatte sie beleidigt, zutiefst in ih‐
rer Ehre gekränkt und nun waren sie hier, um
Rache zu üben.
„Ähm… hat dich sonst noch jemand…“
Maja zögerte das Wort auszusprechen.
Xaver half ihr auf die Sprünge.
„Verfolgt? Meinst du das?“ Er schüttelte den
Kopf und verputzte den letzten Rest seiner
15
Schnitte, nur um aufzuspringen und sich eine
neue zuzubereiten. „Nein, niemand. Die sollen
bloß kommen.“ Er warf sich in die Brust. „Ich
bin eigentlich schon gewappnet.“ Er sah sie von
der Seite an. „Ich meine, es musste doch irgend‐
wann so kommen, oder?“
„Was meinst du?“
Er wedelte mit den Händen.
„Na, diese Lakota‐Geschichte.“
Maja lief rot an.
„Du hast sie doch nicht etwa gelesen?“
„Gott bewahre!“ Xaver verdrehte die Augen.
„Bin ich verrückt? Nur den Anfang, als ich noch
dachte, es könnte etwas mit Cowboys und Ka‐
nonen herauskommen. Aber dann kamst du
gleich wieder mit diesem Agentenschrott.“ Er
schloss ergeben die Augen. „Außerdem ist es ja
auch nicht gerade so, als würdest du deinen
Kram verstecken. Ich meine, du postest den
Quatsch überall, wo er nicht gleich wieder he‐
rausfliegt.“
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„Ich hab Verpflichtungen. Meine Leser warten
auf die Fortsetzungen.“
Xaver verdrehte die Augen.
„Ich weiß. Sie kommentieren und du kommen‐
tierst zurück und schreibst und schreibst und
hast deshalb keine Zeit für etwas anderes… wie
staubsaugen.“
Maja verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das ist wichtig für mich, vielleicht das Wich‐
tigste überhaupt.“
Xaver stöhnte.
„Ich weiß. Zurück zum Thema. Wenn ich das
richtig sehe, hast du wieder mit deinem blonden
Agenten angefangen, der unsterblichen Liebe,
den ekelhaften Beschreibungen…“
Maja stemmte die Arme in die Seiten.
„Da ist nichts Ekelhaftes an der Liebe.“
„Du musst es ja wissen.“ Xaver grinste. Er lieb‐
te es, sie auf die Palme zu bringen. Sie merkte
natürlich sofort, was Sache war, und wehrte ge‐
konnt ab.
17
„Also gut, ich hab etwas geschrieben über einen
Agenten und… und einen Lakota.“
„Und?“
„Naja.“ Sie zögerte. „Hab erst später gelesen…
und du weißt, ich hasse es zu recherchieren.“ Sie
blickte entschuldigend zu ihm hoch. „Und dass
mein Englisch nicht so toll ist.“
„Ja, weiß ich.“
Xaver nickte ihr ermunternd zu und sie holte
tief Luft.
„Also, ich hab diese Liebesgeschichte geschrie‐
ben und erst später gehört, dass… dass amerika‐
nische Ureinwohner nicht so offen… also, dass
man das einfach nicht macht.“
Xaver stöhnte.
„Brillant. Also hast du ihre empfindlichen Ge‐
fühle verletzt.“
„Ich weiß nicht.“ Sie sah verstohlen Richtung
Fenster. „Also, ich sah einen vorhin. Er… er hat
mich angeguckt.“
Xaver verzog spöttisch den Mund.
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„Das ist natürlich wirklich verdächtig.“
Maja nickte eifrig.
„Genau, hier sieht nie jemand hoch. Warum
sollte er auch. Die Vorhänge sind immer ge‐
schlossen.“
Xaver fuhr sich durch sein Haar.
„Ich weiß, weil Sonnenlicht Gift und Galle für
dich bedeutet.“
Maja räusperte mich unbehaglich.
„Du weißt genau, dass ich mich konzentrieren
muss.“
„Okay.“ Xaver seufzte. „Wenn du damit Geld
verdienen würdest, hätte es ja vielleicht einen
Sinn.“
Sie verdrängte rasch jedes Gefühl von Unbeha‐
gen, das sich ob dieses Wortwechsels im Begriff
war, einzustellen.
Xaver kam umgehend zum Thema zurück.
„Also, ein Volk wurde beleidigt, und jetzt sucht
es den Übeltäter und stellt ihn an den Marter‐
pfahl.“
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„Sei nicht kindisch“, schnaubte Maja, auch
wenn sich das Magendrücken verschlimmerte.
„Es… es ist vielleicht doch etwas ganz anderes.
Vor allem hab ich noch andere Typen hier her‐
umlungern sehen. Sowas wie Bodyguards, oder
Agenten.“
„Agenten?“ Xaver verschluckte sich fast an
dem Glas Milch, das er sich gerade aus dem
Kühlschrank geholt hatte. „Agenten? Bist du si‐
cher? So wie in ‚Agents on Fire‘?“
„Ganz genau.“ Sie nickte heftig. „Genau daran
dachte ich auch.“
Xaver lachte los.
„In der Hölle der Geheimdienste?“
Maja blickte verächtlich auf ihn hinunter.
„Du weißt genau, dass dieser Titel sich nie
durchsetzen konnte.“
„Ja klar“, nickte er. „Die Übersetzung bringt es
nie.“
Maja fühlte regelrecht, wie ihr Gesicht einen
verträumten Ausdruck annahm.
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„‘Agents on Fire‘ klingt einfach viel eleganter.
Und vermittelt perfekt das Dilemma in dem sich
die Hauptdarsteller befinden.“
„Bitte nicht“, stöhnte Xaver. „Diese blöden
Agenten nerven mich endlos.“
Diese Beleidigung ihrer Lieblings‐TV‐Serie
konnte sie natürlich nicht auf sich sitzen lassen
und holte bereits Luft zum Gegenschlag, als sich
Xavers Stirn auf einmal in Falten verzog. Sein
Gesicht nahm den Ausdruck an, den sie nur aus
Momenten kannte, in denen er über seinen Text‐
aufgaben brütete.
„Also“, sagte er langsam und betont. „Du hast
nicht nur Menschen aus fremden Ländern gese‐
hen, sondern auch noch geheimnisvolle Sicher‐
heitskräfte. Und du fürchtest, sie könnten etwas
mit dir zu tun haben.“
„Es tut mir leid“, murmelte Maja kleinlaut.
„Das sollte es auch.“ Sein strafender Blick traf
sie erbarmungslos. „Entweder dreht deine Phan‐
tasie völlig mit dir durch und du siehst Gespens‐
21
ter…“ Er stockte. „Mehr Gespenster als gewöhn‐
lich.“ Eine seiner Augenbrauen wanderte in die
Höhe. „Oder finstere Mächte suchen dich heim,
um Rache zu nehmen für deine Internet‐
Untaten.“
Maja schluckte, doch wehrte sie sich.
„Das sind keine Untaten. Das ist Befreiung
und… und Befreiung eben…“
„Wehe, wenn sie losgelassen…“, stöhnte Xaver
wieder. „Ehrlich. Ich hab keine Ahnung, was du
meinst, aber offensichtlich musst du schleunigst
damit aufhören.“ Hoffnung flackerte in seinem
Blick. „Und etwas Vernünftiges tun. Etwas Sinn‐
volles. Etwas, das ich auch in der Schule erzäh‐
len kann.“
Er schob die Unterlippe vor, und ein hysteri‐
sches Kichern brach aus Maja heraus.
„Es tut mir leid“, wiederholte sie und knuffte
ihn in die Seite. „Ich reiß mich zusammen.“ Sie
überlegte. „Das bedeutet, ich werde erst einmal
darüber schreiben.“
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Erleichtert atmete sie auf, froh eine momentane
Lösung entdeckt zu haben.
„Na doll“, grummelte der Junge in sich hinein
und wühlte in seiner Schultasche. Doch kaum
hatte er seinen Gameboy in den Fingern, ließ ihn
ein Aufschrei von Maja, seiner Mutter, zusam‐
menzucken.
„Verdammt, verdammt...“ Der Bildschirm fla‐
ckerte, doch das war nicht die Ursache ihres
Unmutes. Obwohl ihr Sorgenkind, der Compu‐
ter, sich wie üblich mühsam und lautstark aus
seinem Schönheitsschlaf aufrappelte, sich stot‐
ternd einige Momente weigerte und zierte, so
ließ er sich doch eigentlich rasch und problemlos
hochfahren und ermöglichte ihr den Zugang zu
der Welt, die ihr ein und alles war. Doch ihr Flu‐
chen hatte einen Grund und der lag nicht nur in
der überquellenden Mailbox.
Ein schlechtes Zeichen, fürwahr. Ließ sie doch
die zahlreichen Kommentare zu ihren Werken
nicht mehr direkt in ihren Briefkasten senden,
23
sondern bemühte sich, die Korrespondenzen auf
ein Mindestmaß zu beschränken. Ein Zuge‐
ständnis, das dem kreativen Genius erlaubt wer‐
den sollte. Ein Zugeständnis, das vielleicht ihr
Ego weniger streichelte, da sie weniger Feed‐
back, weniger Lob und Ermunterung seitens ab‐
hängiger Leser erhielt. Aber das Opfer war eine
Notwendigkeit, hemmte doch jede Zeitver‐
schwendung den Fluss ihres Schaffens.
Ergo war es kein Wunder, dass sie beim unge‐
wohnten Anblick der Anzahl von Nachrichten
erschrak.
Noch weniger verwunderlich war es, dass sie in
regelrechte Panik geriet, als sich ihr die Absen‐
der jener Nachrichten offenbarten. Das Unheil
ließ sich zwar nicht auf eine Person zurückfüh‐
ren, jedoch auf die Bewegung, deren Wort‐ und
Rädelsführer diese Person war.
Wie um alles in der Welt war sie an ihre E‐Mail
Adresse geraten?
Womit in aller Welt hatte sie das verdient.
24
Schon seit geraumer Zeit machte sie ihr das Le‐
ben schwer, verwässerte mit ihren penibel aus‐
gedrückten, vernichtend konservativen Kom‐
mentare ihren Lesern den Kunstgenuss. Schon
seit geraumer Zeit kämpften ihre Online Anhän‐
ger auf virtuellem Grunde gegen die giftigen
Säuren, die sich den Weg durch ihren Netzan‐
schluss in die unschuldige Gemeinschaft der
Freunde romantischer Literatur bahnten.
Natürlich war es eben diese Romantik, die die‐
ser Dame ein Dorn im Auge war. Diese Roman‐
tik, die ihrem verknöcherten Gemüt den Brech‐
reiz entlockte, dem sie verbalen Ausdruck ver‐
lieh.
Doris van Karnten, extremistisches Fangirl der
Jahrtausendserie ‚Agents on Fire‘. Sie leitete
nicht nur einen Fanclub, sondern gleich mehrere.
Sie organisierte Foren, Conventions, Petitionen
und Aktionen verschiedenster Färbungen und
Ziele. Sie betrieb einen Fanshop, produzierte
Briefpapier, Ansichtskarten, Wallpaper und
25
Banner mit den Helden des kleinen Bildschirms.
Mit dem Helden, dem blonden Star der Serie:
Finn Cackleford.
Maja wollte nicht behaupten, dass sie ihn mehr
liebte, als diese Doris es tat. Sie wollte auch nicht
behaupten, dass sie das einzig wahre Recht auf
die Auffassung des Charakters besaß, den er so
gekonnt und genial verkörperte.
Sie behauptete allerdings, dass ihr das Recht
zustand, ihre Auffassung der Dinge zu veröf‐
fentlichen, gleichgesinnten Seelen so die Mög‐
lichkeit zu verschaffen, ein Forum für ihre ein‐
samen Fantasien zu entdecken, sich nicht alleine
zu fühlen mit dem, was sich im tiefsten Inneren
ihrer Seele, in den verbotenen, verschlossenen
Kerkern versteckte.
War es denn falsch zu träumen? War es falsch
von Romantik zu träumen in einer Welt, die so
vollkommen frei von Romantik ist? Und diese
Welt war frei von Romantik. Es war die harte
Welt der Geheimdienste. Eine knallharte Welt,
26
dominiert von Gewalt und Hass. War es nicht
umso entzückender, ausgerechnet in dieser Welt
die zarte Pflanze der Liebe erblühen zu lassen,
zwei Seelen zu vereinen, die so verschieden, so
weit voneinander entfernt und doch so nah wa‐
ren.
Natürlich, sie waren beide Kollegen, Majas
Agenten. Ein Job, eine Berufung, ein Ideal. Und
sie beide waren Männer. Zwei Männer, die sich
liebten.
Natürlich nicht in der Serie. Nicht auszudenken
in einer amerikanischen Mainstream Produktion.
Nicht auszudenken, eine Idee wie diese der te‐
xanischen Landbevölkerung zuzumuten.
Aber hier, im freien Europa, in einem freien
Land, in der freien Phantasiewelt einer Frau?
Nein, nicht einer Frau alleine. Tausende teilten
Majas Vision. Tausende sahen in dem wöchentli‐
chen Geplänkel, den Macho‐artigen Streitereien
unter tapferen Kriegern gegen das Böse, nur ein
Vorspiel für etwas Größeres, etwas Wahrhafti‐
27
ges, für die echte Liebe, wie sie es nur zwischen
zwei gleichgestellten Kerlen geben kann. Kämp‐
fend um Dominanz, kämpfend um die Macht,
kämpfend für ein abstraktes Ziel, das sensible
Gemüter kaum interessierte. Der Kampf dage‐
gen, erschwert durch persönliche Schicksals‐
schläge, Dramen und Seelenqualen – er konnte
nur zu einer Lösung, zu einem Höhepunkt füh‐
ren. Zu der absoluten Hingabe an den einzigen
Menschen, der Halt und Stütze gewährleisten
konnte.
Und in Finn Cacklefords Welt, besser gesagt, in
der seines Charakters, konnte es das Ersehnte
nur in einem Menschen geben. In dem großen,
dunkel gelockten Angelo Multobene, seinem
Partner, seinem Mitstreiter, seiner Deckung.
Und in den Gefilden der Slash‐Literatur, seines
Geliebten.
Heimlich lasen die Fans es; heimliche Leiden‐
schaften flammten auf bei der Vorstellung der
beiden ach so männlichen Figuren, im immer‐
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währenden Clinch. Ungebrochen seelisch und
körperlich verstrickt in immerwährender Um‐
schlingung der heißen Leiber, vereint in dem
ewigen Tanz, suchend nach Ekstase, verlangend
nach Erfüllung, wissend um die Unmöglichkeit
ihres Begehrens.
Slash macht frei. Der Slash verschönert den
grauen Alltag, Slash hält Existenzen wie die Ma‐
jas am Leben. Slash vertreibt die Langeweile und
die Enttäuschung. Er öffnet Pforten, enthüllt Ge‐
heimnisse, erlaubt Entdeckungen. Der Slash ist
die Krone der Fanliteratur.
Doch dann gab es sie. Menschen, anonyme Ge‐
sichter, die es nicht ertragen konnten, wenn ihre
Helden anders handelten, anders liebten, als es
in ihrer verklemmten Gemütswelt möglich sein
durfte. Selbst wenn es nur in der Phantasie einer
einzelnen Person geschah.
Und all diese gesichtslosen Menschen kumu‐
lierten in einer Figur, Doris van Karnten. Doris,
weizenblond gefärbt, hager von Gestalt, besessen
29
von der Reinheit des heldenhaften Agenten. Be‐
sessen von der selbstgewählten Aufgabe, die
Beschmutzer jener Reinheit bloßzustellen, sich
an ihnen zu rächen, sie zu vernichten.
Und vor allen anderen, die die Welt anders sa‐
hen als sie selbst, hatte sie Maja auf ihrem Kie‐
ker. Vielleicht, weil Maja deutsch schrieb und sie
daher wohl eher zufällig auf ihre beleidigenden
Geschichten gestoßen war. Vielleicht, weil Maja
die Einzige war, die es wagte, auch in unserer so
kalten, harten Muttersprache die Charaktere der
Serie auszuleihen, um sie unmenschlichen Tortu‐
ren zu unterziehen. Vielleicht auch nur, weil Ma‐
ja es war, weil sie für diese Doris van Kampen
erreichbar war, weil sie Maja gefunden hatte.
Weil sie sie jetzt gefunden hatte.
Es musste etwas zu tun haben mit dieser ID, IP
Nummer, die hin und wieder und vollkommen
unverständlich für technisch und logisch unbe‐
gabte Geister wie Maja erwähnt wird.
Maja wusste, dass sie mehr Vorsicht hätte wal‐
30
ten lassen sollen, dass eine erfundene Identität,
ein abgedrehter Künstlername einfach nicht aus‐
reichte.
Grob fahrlässig, so hatte sie gehandelt, anders
ließ es sich nicht erklären.
Maja starrte auf die Absender. Sie war es. Un‐
verkennbar ihre Mailadresse. Unverkennbar der
Account ihrer Fangemeinschaft. Es war… all die‐
se Hasstiraden trugen ihre Handschrift. Es reich‐
te aus, die Betreffzeilen zu lesen, um sich dessen
klar zu werden. Es reichte, sich ein wenig in den
Gebieten, in den Räumen der Fangemeinschaften
herumgetrieben zu haben. Und ihre Anhänger
hatten es ihr gleichgetan.
Majas Briefkasten quoll über. Ihr Geheimnis
war gelüftet. Trotz des Pseudonyms, unter dem
sie schrieb, trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die
sie so gewissenhaft getroffen hatte, war ihre An‐
schrift durchgesickert.
Ein beängstigender Verdacht breitete sich in ihr
aus. Ihr Kopf fuhr herum, und sie starrte Xaver
31
erschrocken an. Er blickte zurück, mindestens
ebenso verwirrt, doch glücklicherweise noch oh‐
ne den Ernst der Lage zu erkennen. Glückliches
Kind.
Maja stürmte an ihm vorbei. Sie riss die Tür
auf. Zu spät kam ihr die Unvorsichtigkeit dieser
Handlung zu Bewusstsein. Doch noch spielte
diese keine Rolle. Niemand bedrohte sie. Noch
nicht. Niemand mit Ausnahme der Papiere, der
Massen von Papieren, die aus dem Briefkasten
neben der Tür quollen. Niemand außer den zahl‐
losen Briefen, die verziert mit Totenköpfen und
gestempelt mit Galgenmännchen und abstrakten
Zeichnungen von tödlichen Waffen, eine eindeu‐
tige Botschaft des Inhalts lieferten, den anzuse‐
hen, sie nicht mehr den Nerv hatte.
Automatisch, als könnte sie sich nicht zurück‐
halten, als wollte sie sich selbst quälen, griff sie
mit beiden Händen in die weiße Flut, packte,
wessen sie habhaft werden konnte, und zog sich
mit dem letzten Aufflackern der einstigen