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MARTIN BRÖKING-BORTFELDT Konfessioneller Religionsunterricht angesichts der multikulturellen und multireligiösen Zusammensetzung von Schulklassen Ein Vortrag 1 über dieses Thema hat eine Vorgeschichte, die zu meiner Geschichte mit dieser Universität gehört: Im Ok- tober 1978 war ich als zuvor fertig ausgebildeter evangeli- scher Theologe Studienanfänger hier in Oldenburg im Di- plom-Studiengang Pädagogik und begann damals mit einer 'theologisch-pädagogischen Doppelexistenz', die mir bis heute hilft, ein so brisantes Thema wie dieses nicht nur aus einer einzigen, verkürzenden Sichtweise zu diskutieren. Ich beginne mit zwei Vorbemerkungen: 1. Ich erwähne eine Alltäglichkeit, die mein jüngster Sohn im 3. Schuljahr einer Gemeinschaftsgrundschule in Köln an jedem Schultag antrifft: In seiner Klasse von 21 SchülerInnen gehört er als evangelisches Kind zu einer Minderheit von vier Kindern (das ist ein Anteil von 19 %); katholische Kinder gibt es doppelt so viele (also 38 %); die sechs muslimischen Kinder bedeuten einen An- teil von 28 %; außerdem gehören je ein russisch-ortho- doxes, ein jüdisches und ein Kind ohne Religionszuge- hörigkeit zur Klasse. Die Staatsangehörigkeiten verteilen sich folgendermaßen: elf deutsche Kinder (also 52 %), fünf türkische Kinder (das ist ein Anteil von 23 %) und 1 Leicht überarbeitete und erweiterte Fassung meines Hochschulvortrags im Rahmen des Habilitationsverfahrens im Fachbereich 3 (Sozialwissen- schaften; Studiengang Evang. Religionslehre) in Oldenburg am 28. Okto- ber 1993.

MARTIN BRÖKING-BORTFELDT - Uni Oldenburgdiglib.bis.uni-oldenburg.de/pub/unireden/ur59/dokument.pdf · 6 BRÖKING-BORTFELDT je ein Kind russischer, italienischer, marokkanischer,

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MARTIN BRÖKING-BORTFELDT

Konfessioneller Religionsunterricht angesichts dermultikulturellen und multireligiösen Zusammensetzung

von Schulklassen

Ein Vortrag1 über dieses Thema hat eine Vorgeschichte, diezu meiner Geschichte mit dieser Universität gehört: Im Ok-tober 1978 war ich als zuvor fertig ausgebildeter evangeli-scher Theologe Studienanfänger hier in Oldenburg im Di-plom-Studiengang Pädagogik und begann damals mit einer'theologisch-pädagogischen Doppelexistenz', die mir bisheute hilft, ein so brisantes Thema wie dieses nicht nur auseiner einzigen, verkürzenden Sichtweise zu diskutieren.

Ich beginne mit zwei Vorbemerkungen:

1. Ich erwähne eine Alltäglichkeit, die mein jüngster Sohnim 3. Schuljahr einer Gemeinschaftsgrundschule in Kölnan jedem Schultag antrifft: In seiner Klasse von 21SchülerInnen gehört er als evangelisches Kind zu einerMinderheit von vier Kindern (das ist ein Anteil von 19%); katholische Kinder gibt es doppelt so viele (also 38%); die sechs muslimischen Kinder bedeuten einen An-teil von 28 %; außerdem gehören je ein russisch-ortho-doxes, ein jüdisches und ein Kind ohne Religionszuge-hörigkeit zur Klasse. Die Staatsangehörigkeiten verteilensich folgendermaßen: elf deutsche Kinder (also 52 %),fünf türkische Kinder (das ist ein Anteil von 23 %) und

1 Leicht überarbeitete und erweiterte Fassung meines Hochschulvortrags

im Rahmen des Habilitationsverfahrens im Fachbereich 3 (Sozialwissen-schaften; Studiengang Evang. Religionslehre) in Oldenburg am 28. Okto-ber 1993.

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je ein Kind russischer, italienischer, marokkanischer, ira-nischer und ehemals jugoslawischer Nationalität, undzwar aus der ethnischen Gruppe der Roma. Was dieseKinder damit an jedem Schultag vor Augen haben undwas im Schulalltag noch vor einer Generation kaum an-zutreffen war, ist die multikulturelle und multireligiösePräsens von Menschen aus mehreren Kontinenten. Diesverstehe ich gleichermaßen als einen kulturellen Reich-tum und als eine pädagogische und auch religionspäd-agogische Chance, wobei ich zunächst noch offen lasse,welche Angebote an Religionsunterricht diese Grund-schulklasse derzeit wahrnehmen kann.

2. Die Fragen nach der Konfessionalität des Religionsun-terrichts und den religionspädagogischen Folgerungenaus der angesprochenen multikulturellen und multireli-giösen Alltäglichkeit in Schulklassen sind in der veröf-fentlichten Fachdiskussion aktuelle Themen2. Ich ver-stehe meine Aufgabe bei diesem Vortrag allerdings nichtso, daß ich überwiegend diese bereits vorliegenden Ver-öffentlichungen referiere, wenngleich ich mich an ein-zelnen Stellen darauf beziehe. Sondern ich möchte dieFragestellung nach der Konfessionalität aus verschiede-nen Blickwinkeln betrachten; dazu dienen die folgendenfünf Thesen, die zeigen, daß unsere Blickwinkel

- in der ersten und zweiten These die SchülerInnen,sodann

2 Ich nenne - aus einer Fülle von Stellungnahmen - nur exemplarisch:

- Themenheft 3/93 von "ru - Ökumenische Zeitschrift für die Praxis desReligionsunterrichts" (Titel: "Streit um Konfessionalität").

- mehrere Beiträge in Heft 1/93 von "religio", u.a. ein Interview vonKrischan Heinemann mit dem Vorbeter einer türkisch-islamischenGemeinde in Kassel (S. 14-19).

- Themenheft 1/93 des "Evang. Erzieher" (Titel: "Religionsunterrichtund Konfessionalität".

- Themenheft 2/93 des "Evang. Erzieher" (Titel: "Religionsunterricht -wie weiter?").

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- die ReligionslehrerInnen,- die Schule- und in der letzten These die Institution Kirche betref-

fen.

Erste These:

Das vielerorts geäußerte "Unbehagen am Religionsunter-richt"3 erwächst nicht zuletzt aus dem Anachronismus seinerkonfessionellen Trennung; denn auf dem Rücken von Schüle-rinnen und Schülern wird der ungeklärte innerchristlicheStreit um die Inhaltsbestimmung und die Zukunft der Öku-mene ausgetragen.

Kinder und Jugendliche in der Schule haben das Recht, Ana-chronismen4, also nicht mehr zeitgemäße und von der ge-sellschaftlichen Entwicklung überholte Elemente des Schul-lebens abzulehnen; dies kann auf verschiedenartige Weisegeschehen: durch innerliche oder auch äußere Distanzierung,durch eine verstärkte Suche nach Alternativen oder durch in-tensive Diskussionen mit Verantwortlichen. Dies alles ereig-net sich im Umfeld des "in öffentlichen Schulen ordentli-chen Lehrfaches Religionsunterricht", wie unsere Verfas-sung in Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz definiert, nicht erst seitkurzem, sondern seit mindestens 20 Jahren in der Schulpra-xis ebenso wie in der religionspädagogischen Theoriebil-

3 Vgl. z.B. das "Hamburger Memorandum zum Religionsunterricht" vom

Februar 1992; in: EvErz 45. Jg. (1993), H. 1, S. 29-34, hier: S. 33.

4 Vgl. z.B. den "Braunschweiger Ratschlag", das Ergebnis einer religions-pädagogischen Fachtagung, vom Februar 1991, der von einem "realexi-stierenden Anachronismus" spricht; zit. nach: M. Hahn u.a., Welchen Re-ligionsunterricht braucht die öffentliche Schule? In: EvErz 45. Jg. (1993),H. 1, S. 10-29, hier: S. 12. Vgl. ferner G. Otto, Religionskunde in derSchule. Konfessioneller Unterricht als Anachronismus. In: EvKomm 25.Jg. 1992), H. 1, S. 31-34.

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dung, seit z.B. Siegfried Vierzig5 schon 1973 einen "konfes-sionell-kooperativen Religionsunterricht" forderte. Diesemögliche Form des Religionsunterrichts, die im übrigenmeist stillschweigend an vielen Schulen längst Realität ist,ging damals allerdings von heute auch schon wieder verän-derten Konfessions- und Religionszugehörigkeiten im Klas-senverband aus, und zwar von je nach Region unterschiedli-chen Anteilen evangelischer und katholischer SchülerInnenmit einer meist minimalen Restkategorie an Konfessionslo-sen oder Angehörigen anderer Religionen.

In meiner ersten These weise ich darauf hin, daß im Diskus-sionsprozeß über die Konfessionalitätsfrage der "innerchrist-liche Streit um die Inhaltsbestimmung der Ökumene unge-klärt" ist, und das seit rund 25 Jahren. Das zeigt sich auchnoch in einer der jüngsten Stellungnahmen zu unserem The-ma, einem Beitrag von Harry Noormann6 mit dem Titel"Konfessionelle Kooperation oder ein freier Dienst der Kir-chen an einem freien Religionsunterricht? Anmerkungenzum Stand der Debatte um die ökumenische Zukunft desRU"7. Ich kritisiere, daß Schülerinnen und Schülern bisheute von kirchlicher Seite und z.T. auch von religionspäd-agogischen Fachleuten ein vieldeutiger, unscharfer und miß-verständlicher "Ökumene"-Begriff präsentiert wird; mit einund demselben Wort "Ökumene" wird z.B. bei Noormannbeschrieben:

- die ortsnahe Kooperation zwischen evangelischer undkatholischer Kirche

5 Vgl. H. 2/73 der "Informationen zum Religionsunterricht", S. 5-7.

6 H. 3/93 von "ru", S. 84-87.

7 Diese Titelformulierung greift eine Leitthese der EKD-Synode vom April1958 in Berlin-Weißensee auf, in der es heißt: "Die Kirche ist zu einemfreien Dienst an einer freien Schule bereit"; zit. nach: Denkschriften derEKD Bd. 4/1: Bildung und Erziehung. GTB Bd. 417. Gütersloh 1987, S.38.

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bzw. die sog. "kleine Ökumene"8 der christlichen Kirchenuntereinander ebenso wie

- die sog. "große Ökumene"9, die auch das Gespräch unddie Kooperation mit nichtchristlichen Religionen sucht,z.B. dem Islam, und

- die sehr allgemeine Definition von "Ökumene", daß sie"den gesamten 'bewohnten Erdkreis' meint"10.

Um zugunsten von SchülerInnen an diesem Problem weiter-zukommen, ist es zunächst nötig, ihnen diesen bislang viel-deutigen und unscharfen Ökumene-Begriff besser und ur-sprünglicher zu erklären, auch um seine didaktische Dimen-sion zu erkennen: Das griechische Wort "oikoumene", dassowohl im NT11 als auch in der griechischen Fassung desAT12, der Septuaginta, geläufig ist, führt seinen Wortstammauf das Verb "oikeo" (="wohnen") und das Substantiv "oi-kos" zurück (="Haus, Wohnhaus, Hausstand, Wohnsitz, Hei-mat") - also lauter Begriffe, die um den nahen und greifbarenLebensbereich kreisen. Das Problem mit dem davon abgelei-teten Begriff "oikoumene" beginnt schon im profanen grie-chischen Sprachgebrauch; denn seine ursprüngliche Bedeu-tung, "die ganze bewohnte Erde", wird eingegrenzt auf dievon Griechen bewohnten Länder im Gegensatz zur übrigenWelt der Barbarenländer; ähnlich wird mit "oikoumene"dann in römischer Zeit das Gebiet des römischen Reiches inAbgrenzung zu den übrigen, von Rom nicht eroberten Län-dern gemeint. Der Begriff "Ökumene" ist also seit dem Al-

8 Vgl. Noormann a.a.O. (s.o. Anm. 6) S. 86.

9 Ebd. S. 87.

10 Ebd. S. 85.

11 Vgl. z.B. Mt 24,14; Lk 2,1; 4,5; 21,16; Apg 11,28; 16,6.31; 19,27; 24,5;Röm 10,18; Hebr 1,6; 2,5; Apk 3,10; 12,9; 16,14.

12 Vgl. z.B. Ps 24,1; 50,12; 77,19; 89,12; 93,1; 96,10.13; 97,4; 98,7.9; Spr8,31; Jes 13,11; 14,17; 24,4; 27,6; Jer 10,12; 51,15.

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tertum und seit den biblischen Zeiten mit Elementen vonAusgrenzung und Exklusivität belastet: Auf der einen Seitemeint "Ökumene" eine universale Grundgesamtheit, aber aufder anderen Seite zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß derSprachgebrauch oft eine Teilmenge eingrenzt und damit zu-gleich andere ausgrenzt. Nur wer diese Hypothek berück-sichtigt und im Auge behält, hat eine Chance, in Lernprozes-sen die örtlichen und lebensnahen Grundbedeutungen von"Ökumene" zu erkennen und didaktisch zu nutzen. Wer mitSchülerInnen im Unterricht über "Ökumene" arbeitet, hatzwar theoretisch die ganze Christenheit bzw. die Koopera-tion ihrer Teile im Blick; aber in der konkreten Praxis vonSchule und Kirche stellt sich das Christentum für SchülerIn-nen ganz überwiegend als zerteilt, uneinig und oftmals auchfriedensunfähig dar - bis hin zur Aufteilung und Trennungdieses Schulfaches nach Konfessionszugehörigkeit. Bei die-ser Problematik und im Blick auf eine mögliche Alternative,einen sog. "ökumenischen Religionsunterricht"13, ist deshalbzunächst eine inhaltliche Klärung des "Ökumene"-Begriffsund seiner didaktischen Folgerungen nötig.

Die internationale ökumenische Bewegung ist zumindest inden letzten Jahren auf diese Problematik eingegangen, in-dem sie sich von einer lange geltenden eigenen Lernformelzunehmend distanziert; diese bisherige Lernformel lautete:"global denken - lokal handeln"14. Konrad Raiser, bis 1992Hochschullehrer in Bochum und seit Anfang 1993 fünfterGeneralsekretär des ÖRK in Genf, hat sich an dieser Kritikdes Lernbegriffs intensiv beteiligt: "Die Weckung eines 'glo-balen Bewußtseins' kann jedenfalls nicht die primäre Zielset-

13 Vgl. Noormann a.a.O. (s.o. Anm. 6) S. 86.

14 Vgl. z.B. K. Raiser, Ökumene und Lernen: Nur ein Problem der Didaktik?In: G. Orth (Hg.), Dem bewohnten Erdkreis Schalom. Beiträge zu einerZwischenbilanz ökumenischen Lernens. Münster 1991, S. 171-178, hier:S. 173 f. S.u. Anm. 18.

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zung ökumenischen Lernens sein ... Die Globalisierung desProblembewußtseins hat offenkundig lähmende Konsequen-zen auf der Handlungsebene und verstärkt die Abwehrreak-tionen ... Die landläufige Gegenüberstellung von lokaler undglobaler Perspektive ist eine lähmende Abstraktion. Öku-mene ist das Geflecht der vielen kleinen und kleinsten Haus-halte, Alltagswelten, die im größeren Haushalt der bewohn-ten Erde verbunden und voneinander abhängig sind"15. Rai-ser führt hier in wünschenswerter Klarheit den "Ökumene"-Begriff auf seine Ursprungsbedeutungen des nahen Erfah-rungs- und Lernbereichs zurück und öffnet damit zugleichneue Aussichten für die Zukunft der Ökumene, und zwargleichermaßen zwischen den Kirchen, in der gesellschaftli-chen Öffentlichkeit und im Bildungssystem. Auf eineknappe Formel gebracht heißt das: Ortsnah und erfahrungs-bezogen, also in der einzelnen Schulklasse und im Erfah-rungshorizont von Kindern und Jugendlichen, wird sich dieZukunft der Ökumene entscheiden. Die Ökumene wird danneine Zukunft haben, wenn SchülerInnen die Alltagswelt alsein Geflecht von lebendigen Verbindungen wahrnehmen unddeuten, an dem sie selbst partizipieren.

Zweite These:

Die zunehmende Präsens vieler Kulturen und Religionen amLernort Schule konfrontiert Schülerinnen und Schüler viel-fach noch mit einem Religionsunterricht, der dazu verpflich-tet, "Unterricht auf einer vorökumenischen Provinzbühne zuveranstalten, auf der die Schülerschaft unablässig Stückeaus dem Repertoire einer nachchristlichen Alltagswelt insze-niert"16.

15 Ebd. S. 174.

16 Braunschweiger Ratschlag a.a.O. (s.o. Anm. 4) S. 14.

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Die multikulturelle und multireligiöse Wirklichkeit unsererGesellschaft ist für Schülerlnnen selbst ein ökumenischerLernanstoß: in der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit, manch-mal der Konfrontation, aber auch der Verständigung zwi-schen gesellschaftlichen Gruppen, - konkret: - in der Wohn-nachbarschaft, am Arbeitsplatz und eben auch in der Nach-bar-Stuhlreihe der Schulklasse leben Menschen in unsererGesellschaft längst schon interkulturell und interreligiös zu-sammen. Ich warne allerdings davor, in diesem Befund zu-gleich schon ein Regulativ bestehen zu sehen, das Konfliktesteuert und Gegensätze überwindet. Wenn wir uns daran er-innern, daß christliche Traditionen, auch die als "ökume-nisch" bezeichneten, immer der Gefahr der Exklusivität undder Exkommunikation ausgesetzt waren, so befinden wir unsunter den Anforderungen interkulturellen und interreligiösenLernens in einem 'Entwicklungsland' und - wie ich leiderhinzufügen muß - z.T. noch vor einem Lernanfang.

Für die Unterrichtssituation von SchülerInnen aus verschie-denen christlichen Konfessionen oder aus nichtchristlichenReligionen folgt daraus: Kinder und Jugendliche habeneinen Anspruch darauf, Regeln kennenzulernen und einePraxis zu erproben, die die Friedensfähigkeit einer multikul-turellen und multireligiösen Gesellschaft fördern; um imBild des Braunschweiger Ratschlags zu bleiben: erforderlichist die Veränderung unserer Kulturlandschaft dahingehend,daß die jugendlichen DarstellerInnen eine Bühne angebotenbekommen, auf der sie mit Hilfe eines neuen Drehbuchs ihretatsächliche und echte Wirklichkeit inszenieren können.

Die religionspädagogische Theoriebildung leistet dazu, nichtzuletzt wenn sie die internationale ökumenische Diskussionaufgreift, seit einigen Jahren ihren Beitrag: "Viele Jugendli-che (und Erwachsene) erleben die Multikulturalität unsererGesellschaft heute bereits hautnah ... Ihre eigene Lebensweltund ihr religiöses Bewußtsein reflektieren heißt für sie, nachihrer eigenen religiösen Orientierung und nach den Glau-

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bensvorstellungen ihrer direkten Nachbarn zu fragen ... DieBeschäftigung mit fremden Lebens- und Glaubensweltensoll helfen, auf komplexer werdende Wirklichkeit angemes-sen zu reagieren und zur 'Entprovinzialisierung' des eigenenHorizonts beizutragen ... Bildung im Zusammenhang vonReligion soll dazu beitragen, den anderen, 'Fremden' in au-thentischer Selbstinterpretation seiner Welt und Lebenssitua-tion zu Wort kommen zu lassen und die spezifischen kultu-rellen, sozialen oder religiösen Aspekte wahrzunehmen, diedas eigene Wahrnehmungs- und Interpretationsschema gerneausblendet ... Neue Informationen über fremde Kulturen undReligionen sind auch neue Informationen über die eigeneKultur und Religion. Die Kenntnis anderer Religionen undreligiöser Orientierungen hilft, auch die eigene besser zu ver-stehen. Es geht ... darum, Identität in der Wahrnehmung undReflexion von Differenz auszubilden"17. Ich benenne fünfFolgerungen aus dieser Positionsbestimmung und beziehesie auf die multikulturelle und multireligiöse Zusammenset-zung von Schulklassen:

1. Die gesellschaftliche Präsens vieler Kulturen richtetnicht primär die Forderung an die eingewanderten Min-derheiten aus 'fremden' Kulturen, die hier einheimischeMehrheitskultur zu adaptieren und sich zu assimilieren;sondern unsere Gesellschaft als Ganze steht vor der An-forderung, aber auch vor der Chance, 'in, mit und unter'allen hier anwesenden Kulturen zu lernen. Der Schulall-tag sollte Möglichkeiten enthalten, kulturelle Prägungengegenseitig vorzustellen und dabei z.B. die Feste im Jah-reskreis zur Veranschaulichung heranzuziehen.

2. Die Präsens anderer Kulturen und Religionen ist gleich-sam eine Folie, hinter der sich eigene kulturelle und reli-

17 J. Lott, Interkulturelles Lernen und das Studium der Religionen. In: JRP

Bd. 8: 1991. Neukirchen-Vlyun 1992, S. 71-85, hier: S. 82-84.

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giöse Identitäten abheben. Lott unterstreicht ausdrück-lich, daß eigene "Identität in der Wahrnehmung und Re-flexion von Differenz" ausgebildet wird; interkulturellesLernen in der Schule will also nicht Unterscheidungs-merkmale nivellieren, sondern vielmehr aufmerksamwahrnehmen und gemeinsam reflektieren. Ich kommejetzt auf die eingangs erwähnte Grundschulklasse zurückund beschreibe ihr derzeitiges Angebot an Religionsun-terricht: Erteilt werden je zwei Wochenstunden evangeli-sche, katholische und islamische Religion, und zwar vondrei verschiedenen Lehrerinnen nahezu ohne inhaltlicheBerührungspunkte und auch ohne Kooperationen; dierestlichen Kinder nehmen mit Zustimmung der Elternam evangelischen Religionsunterricht teil, wohl vor al-lem deshalb, weil ihn die Klassenlehrerin erteilt. Mit die-sem, voneinander abgeschotteten Unterrichtsangebotwird seit Beginn der Grundschulzeit und voraussichtlichauch bis zu ihrem Ende eine einzigartige Lernchanceausgelassen und ignoriert: Kinder mit sieben Nationali-täten und fünf Konfessions- bzw. Religionszugehörig-keiten könnten voneinander und miteinander an ihrenUnterschieden unendlich viel lernen, wenn die Schuledafür Raum gäbe; nicht zuletzt würden sie in einem Le-bensalter, das von Offenheit und Lernneugier geprägt ist,für den Prozeß ihrer Identitätsbildung den Reichtum unddie Vielfalt von Kulturen nutzen können und damit imKindesalter einen entscheidenden Beitrag für die Frie-densfähigkeit unserer Gesellschaft heute und auch in derkommenden Generation leisten.

3. Die eigene Lebenswelt und das religiöse Selbstbewußt-sein mit andersartigen und fremden Prägungen zu ver-gleichen, setzt allerdings eine Kompetenz und eine in-haltliche 'Beheimatung' in der eigenen kulturellen undreligiösen Lebenswelt voraus. Hier bestehen nicht erstseit kurzem erhebliche Defizite, und zwar im Wirkungs-

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bereich aller Erziehungsinstanzen, sei es Familie, Schuleoder Kirche. Bloße Postulate oder vordergründige Re-Evangelisierungsprogramme helfen hier nicht weiter. Ichwage die Prognose, daß ein sozialwissenschaftlich-empi-risch überprüftes, religionspädagogisch-didaktischesKonzept ökumenischen Lernens18 die eigene religiöseIdentität von SchülerInnen stärken hilft, sofern sichLernorte dafür öffnen und zugleich dem Kontakt mit an-deren Kulturen und Religionen zugänglich bleiben. Umdies zu verdeutlichen und zu materialisieren, greife ichauf den dreifachen Ökumene-Begriff zurück, den PhilipPotter bei der VI. ÖRK-Vollversammlung 1983 in Van-couver ausführlich dargestellt hat:

- eine eschatologisch definierte Ökumene, die biblisch-theologische Argumentationen aufgreift und von derSpannung zwischen Verheißung und Erfüllung ihresWeges lebt;

- eine interkulturell bzw. transkulturell definierte Öku-mene vor allem im pädagogischen und religionspäd-agogischen Raum, die von der biblischen Exodus-Erfahrung her eigene Kulturkontexte infragezustellenbereit istund in der lernenden Begegnung mit anderen Kultu-ren am eigenen Ort und in der konkreten Erfahrungsich selbst immer wieder neu bestimmt;

- eine ökologisch definierte Ökumene, die im gesell-schaftlichen Raum die didaktisch relevanten Wechsel-

18 In meiner Habilitationsschrift, die 1994 unter dem Titel "Mündig Öku-

mene lernen" in der Schriftenreihe der Universität Oldenburg (Isensee-Verlag) erscheint, gehe ich auf dieses Konzept ein und diskutiere es imBlick auf seine Realisierungschancen in Kirche, Schule und Gesellschaft;dazu gehört auch der Vorschlag, die bisherige ökumenische Lernformel"global denken - lokal handeln" (s.o. Anm. 14) durch die Neuformulie-rung zu ersetzen: "lokal denken - lokal handeln - global überprüfen" (vgl.dort vor allem Kap. 4.2 und Kap. 4.3.5: S. 177 f., 182 u. 222).

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beziehungen zwischen nahen eigenen Lebensberei-chen und weltweitem "Oikos" reflektiert, dem "leben-digen Haus der Erde"19.

Das eben angesprochene 'neue Drehbuch', nach demSchülerInnen ihre Wirklichkeit inszenieren lernen, solltein einem seiner Kapitel religiöse Orientierungen im Kon-text dieses dreifachen Ökumene-Begriffs erarbeiten. Esgibt bereits jetzt schon eine Fülle von Unterrichtsvor-schlägen für den Religionsunterricht, z.B. im Zusammen-hang und in der Veranschaulichung der drei ökumenisch-konziliaren Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewah-rung der Schöpfung, die ortsnah und erfahrungsbezogendarauf eingehen. - Ein Vorbehalt muß hier allerdings wei-ter bedacht werden: Zur heutigen gesellschaftlichen Wirk-lichkeit gehört die Tatsache, und zwar in den neuen Bun-desländern noch erheblich stärker als in den alten ausge-prägt, daß SchülerInnen inzwischen mehrheitlich nichtmehr im klassischen Sinn durch Familie, Kirche oderandere Instanzen 'religiös sozialisiert' sind; die jüngsteShell-Jugendstudie von 1992 stellt fest, daß im OstenDeutschlands 92 % der Jugendlichen konfessionslos oderkirchliche Randmitglieder sind und im Westen 76 % zudiesen Kategorien gehören20. In einem speziellen Beitragder Shell-Studie zur Fragestellung "Kirche und Religion -Säkularisierung als sozialistisches Erbe?" gibt JürgenEiben zusammenfassend einen weiterführenden Hinweis:"Die Ergebnisse deuten ... darauf hin, daß zwar die Kirch-lichkeit an breiter gesellschaftlicher Prägekraft eingebüßthat, aber nicht im Sinne einer linearen Entwicklung hinzur Säkulargesellschaft, sondern im Sinne gesellschaftli-

19 Zit. nach: W. Müller-Römheld (Hg.), Bericht aus Vancouver. Frank-

furt/M. 1983, S. 216.

20 Vgl. J. Zinnecker u.a., Jugendstudie '92: Die wichtigsten Ergebnisse imÜberblick. Jugend '92, Bd. 1, Opladen 1992, S. 213-306, hier: S. 240.

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cher Differenzierung"21. Für den Religionsunterricht undseine ökumenische Zukunft stellt sich demgemäß die zen-trale Aufgabe, diese 'gesellschaftliche Differenzierung'von stark zurückgehender Kirchlichkeit bei einemzugleich erhalten bleibenden Grundbestand von Religiosi-tät bei vielen Kindern und Jugendlichen wahrzunehmenund sowohl bei Unterrichtsinhalten als auch besonders beider Grundstruktur des Faches zu berücksichtigen; daß aufdie beschriebene 'gesellschaftliche Differenzierung' dieKonfessionalität des Religionsunterrichts eine unzurei-chende Antwort ist, die insbesondere von kirchlicher Seiteimmer noch gegeben wird, sei hier ausdrücklich erwähnt.

4. Jürgen Lotts Erwartung, daß Jugendliche ihre eigenenund fremde Lebensorientierungen in einem fruchtbarenDiskurs vergleichen, und dem entsprechende, hier ange-deutete ökumenische Lernschritte und -felder gehen vonder Grundvoraussetzung aus, daß die Akteure nach denPrinzipien von Rationalität und gegenseitigem Interessehandeln. Dagegen muß allerdings ein kritischer Einwandzur Sprache kommen, der im Blick auf die Einbrüchevon Irrationalität und Menschenverachtung in der gegen-wärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu recht fragt:"Wie kann das kulturelle Zurückbleiben und Hintertref-fen / der 'cultural lag' zwischen den ökumenischen Im-pulsen und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Ten-denzen mit ihren antiemanzipatorischen Affekten, frem-denfeindlichen Exzessen, nationalistischen Denkmu-stern, narzißtischen Sozialisationsverläufen mit Störun-gen der Sozialbezüge, Grandiositätsgefühlen und ten-denzieller Gewaltbereitschaft überwunden werden?"22.Eine erste, auch im Bildungssystem aufgetretene und

21 In: Jugend '92, Bd. 2, Opladen 1992, S. 91-104, hier: S. 102.

22 Diese Frage, deren Berechtigung ohne Zweifel besteht, hat mir SiegfriedVierzig Mitte 1993 in seinem Habilitationsgutachten gestellt.

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verständliche Reaktion ist Hilflosigkeit und Sprachlosig-keit gegenüber diesen Konfliktfeldern; eine weitere Re-aktion, vor allem im politischen Raum, beschränkt sichauf wechselseitige Schuldzuweisung und vordergründigeSymptombehandlung und ist von daher nicht weiterfüh-rend. Wenn überhaupt, so gibt es hier m.E. nur den An-satzpunkt, der einem doppelten Interesse folgt: Zumeinen müßten Jugendliche dieses Sozialisationstyps dieChance erhalten, Gegenbilder zu ihrer Sprachunfähigkeitund zu ihrer Sprache der Gewalt kennenzulernen; d.h.:so schwierig und mühsam das auch ist, sollte mit ihnendas Gespräch gesucht werden - am besten vorwiegendmit Gleichaltrigen -, damit sie dort selbst zur Sprachekommen und gemeinsam Sprache wiederfinden - imSinne des ökumenischen Lernmotivs, daß Menschen imKontext ihrer eigenen, nahen Lebenserfahrungen dieWirklichkeit deuten lernen und davon abgeleitet weitereund fernere Wahrnehmungsräume entdecken -, damit Ju-gendliche gemeinsam eine neue, humanere Sprachkulturlernen. Zum anderen haben alle für Erziehungs- und Bil-dungsprozesse Verantwortlichen die Aufgabe, Lernortefür dieses schwierige Gespräch zu finden und anzubie-ten; ob dazu der institutionelle Rahmen des schulischenReligionsunterrichts oder anderer Schulfächer oder einerkirchengemeindlichen Jugendarbeit oder eines kommu-nalen Jugendzentrums besser geeignet ist, mag dahinge-stellt bleiben23.

5. Ehe es allerdings zu den vorgenannten, dramatischenEntwicklungen kommt, sollte die Basis verbreitert wer-den, auf der Kinder und Jugendliche sowohl für "neueInformationen über fremde Kulturen und Religionen" alsauch "über die eigene Kultur und Religion" (Lott) auf-

23 Vgl. dazu auch: D. Baacke, Die stillen Ekstasen der Jugend. In: JRP 6:

1989. Neukirchen-Vluyn 1990, S. 3-25.

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nahmebereit werden. Dazu wird an die Konstitution desReligionsunterrichts die Forderung gerichtet, "zur 'Ent-provinzialisierung' des eigenen Horizonts beizutragen"(Lott); dem entspricht, wörtlich und sachlich überein-stimmend, der Hinweis des Braunschweiger Ratschlagsauf die "vorökumenische Provinzbühne". Diese Begriff-lichkeit und diese Forderung verdankt die ökumenischeDiskussion Ernst Lange, der bereits Anfang der siebzigerJahre eine "ökumenische Didaktik" vom "Erlernen desWelthorizonts" abhängig machte24 und die Christenheitin Westdeutschland dazu aufrief, anstatt abgründig pro-vinziell nur noch als "Provinz der Weltchristenheit" zuleben; und dann fügte er damals noch hinzu: "Das ist janoch nicht einmal eine sonderlich neue Weisheit; sie istin ihrer geistlichen Substanz etwa zwei Jahrtausendealt"25

Damit komme ich bei der Frage nach der Konfessionalitätdes Religionsunterrichts zu vier Ergebnissen aus dem Blick-winkel von SchülerInnen:

1. Die Ablehnung oder mehr noch das Desinteresse vonSchülerInnen gegenüber einem konfessionell getrennten'Unterricht auf einer vorökumenischen Provinzbühne'sind nur allzu berechtigt und verständlich; für die heu-tige Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichengilt: Ihre faktische Wahrnehmung und Partizipation anökumenischen Selbstverständlichkeiten in nahen Le-bens- und Erfahrungsräumen sind schon viel weiter fort-

24 E. Lange, Die ökumenische Utopie - oder: Was bewegt die ökumenische

Bewegung? Am Beispiel Löwen 1971. Menscheneinheit - Kircheneinheit.(Edition Ernst Lange Bd. 5) 2. Aufl. München 1986, S. 274.

25 E. Lange, Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns.(Edition Ernst Lange Bd. 2) München/Gelnhausen 1981, S. 309.

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geschritten, als z.B. die konfessionell getrennten Kirchendies wahrzunehmen bereit oder fähig sind.

2. Die multikulturelle und multireligiöse Alltagswirklich-keit läßt heutige Kinder und Jugendliche in der Schuleund an anderen Lernorten das Defizit erfahren und erlei-den, daß unsere Gesellschaft im Gespräch mit 'Anderen'und mit 'Fremden' weithin ungeübt ist.

3. Ein ökumenisches Lernkonzept, das auf den drei Ele-menten einer eschatologisch, einer interkulturell bzw.transkulturell und einer ökologisch definierten Ökumenebasiert, ist geeignet, SchülerInnen gleichsam 'ihren eige-nen Weg zur Religion'26 finden zu lassen, sofern sichLernorte dafür öffnen.

4. Trotz der weithin noch offenen Verhältnisbestimmungzwischen ökumenischem und interreligiösem Lernen ste-hen SchülerInnen schon jetzt vor der Anforderung, imKontakt mit anderen Kulturen und Religionen Differen-zen ebenso wie Übereinstimmungen zu erkennen, umdabei ihre eigene Identität zu entwickeln und gegenübergesellschaftlichen Anforderungen auszubalancieren.

Dritte These:

Aus der Konfessionszugehörigkeit von Religionslehrerinnenund -lehrern kann von kirchlicher Seite nicht der Anspruchabgeleitet werden, an der Konfessionalität des Religionsun-terrichts bindend festzuhalten. Vielmehr erwächst aus denWechselbeziehungen zwischen religionspädagogischerFachkompetenz, ökumenischer Lernbereitschaft und religiö-

26 Vgl. M. Bröking-Bortfeldt, Schüler und Bibel. Eine empirische Untersu-

chung religiöser Orientierungen. Die Bedeutung der Bibel für 13- bis 16-jährige Schüler. (Religionspädagogik heute Bd. 13 [zugleich Diss. Olden-burg 1982]) 2. Aufl. Aachen 1989, S. 221.

RELIGIONSUNTERRICHT 21

ser Identität in einer säkularisierten Gesellschaft eine Dia-log-Fähigkeit, die jenseits konfessioneller Abgrenzungen dasGespräch zwischen den Generationen, den Kulturen und denReligionen in der Schule fördern hilft.

An die Religionslehrerrolle werden von verschiedenen Sei-ten hohe Erwartungen gerichtet:

- SchülerInnen erwarten zu recht, daß ihnen nicht nur fach-liche Kompetenz begegnet, sondern daß sie in dem emo-tional wie kognitiv hoch sensiblen und meist ungeklärtenreligiösen Sektor ihrer Sozialisation beraten und begleitetwerden;

- der Lernort Schule erwartet, daß den ReligionslehrerInnender konfliktträchtige Interessenausgleich zwischen Päd-agogik und Theologie, zwischen Gesellschaft und Kirchesowie zwischen Profanität und Religion permanent ge-lingt;

- kirchliche Schulabteilungen erwarten, auch noch 25 Jahrenach dem Verblassen der "Evang. Unterweisung"27, vondiesen FachlehrerInnen in der Schule Loyalität gegenüberkirchlichen Loyalitäts- und Bestandssicherungs-Interes-sen;

- eine zunehmend multikulturell und multireligiös geprägteGesellschaft erwartet von schulischen Religionsfachleutenan einer hochrangigen und stark frequentierten 'Schnitt-stelle' zwischen den Kulturen und Religionen, daß sieKonflikte lösen und Dialog einüben helfen.

Aber was für Erwartungen, so muß sich als Kernfrageanschließen, richten ReligionslehrerInnen selbst an ihreBerufsrolle und an ihr Verhältnis zu Religion und Kirche?Klaus Langer hat mit seiner 1988 fertiggestellten Hamburger

27 Vgl. J. Lott, Erfahrung - Religion - Glaube. Probleme, Konzepte und Per-

spektiven religionspädagogischen Handelns in Schule und Gemeinde.Weinheim 1991, S. 97.

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empirischen Untersuchung zum Thema "Der Religionslehrerin der Großstadt und seine Kirche"28 im Blick auf die Di-stanz zur Kirche für - zum Teil aufgeregten - Diskussions-stoff gesorgt. Bei genauerer Betrachtung lassen die Einzelbe-funde eher den Schluß zu, daß sich diese Berufsgruppe imnormalen gesellschaftlichen Mittelfeld von Nähe bzw. Di-stanz zur Kirche bewegt29. Ich gebe hier einen zusammen-fassenden Befund Langers über das Kirchenbild der befrag-ten ReligionslehrerInnen wieder, weil er für die Konfessio-nalitätsfrage Folgerungen zuläßt: "Die persönlichen Vorstel-lungen von Kirche bleiben keine Privatangelegenheit desReligionslehrers, sondern finden sich in einem starken Maßein seinem Unterricht wieder. Zwei Drittel der Religionsleh-rer, die einer parteiischen Kirche zuneigen, ... zeigen großeBereitschaft, von einer solchen Kirche auch im RU zu reden;ein beträchtlicher Teil der Religionslehrer, die sich eine ge-meindeorientierte und zugleich unpolitische Kirche wün-schen, ... möchte eine solche Kirche auch im RU thematisie-ren"30. Demgemäß ist die ganz unausweichliche konfessio-nelle Öffnung des Religionsunterrichts zentral auf die ent-sprechende Konsensbildung innerhalb der Religionslehrer-schaft angewiesen, und zwar sowohl derer, die bereits in derSchule tätig sind, als auch des Teils, der auf eine Anstellungwartet, als auch derer, die sich z.Zt. in der Ausbildung befin-den.

28 Veröffentlicht unter dem Titel: Warum noch Religionsunterricht? Religio-

sität und Perspektiven von Religionspädagogen heute. Gütersloh 1989.

29 Gewissermaßen in Klammern sei hinzugefügt: In einem Gespräch mitKlaus Langer habe ich seine Zustimmung erhalten, sein Befragungsinstru-ment, einen umfangreichen schriftlichen Fragebogen, für eine entspre-chende Befragung jüngerer PastorInnen heranzuziehen; ich habe die - al-lerdings empirisch noch nicht abgesicherte - Vermutung, daß sich die Dif-ferenzen zwischen jüngeren ReligionspädagogInnen und TheologInnenals gar nicht besonders groß herausstellen werden.

30 A.a.O. (s.o. Anm. 28) S. 285.

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Diese Konsenssuche für die Zukunft des Religionsunter-richts jenseits konfessioneller Trennung ist, wie die dritteThese zum Ausdruck bringt, auf drei Bezugsgrößen gleich-rangig angewiesen:

- religionspädagogische Fachkompetenz,- ökumenische Lernbereitschaft und- eigene religiöse Identitätsbildung der ReligionslehrerIn-

nen in einer säkularisierten Gesellschaft.

Stichwortartig gebe ich dazu einige Hinweise:

- Eine religionspädagogische Fachkompetenz hat bereits inder Ausbildung das gesellschaftswissenschaftliche Be-zugssystem dieses Faches in Unabhängigkeit von theolo-gischen und kirchlichen Dominanzinteressen geklärt undmethodisch genutzt; das schließt ausdrücklich verglei-chende religionswissenschaftliche Anteile ein.

- Eine ökumenische Lernbereitschaft von Religionspädago-gInnen ist an der schon erwähnten Rückführung des"Ökumene"-Begriffs auf den nahen und erfahrungsbezo-genen Lernhorizont orientiert, schließt Kenntnisse auchaußereuropäischer Lernkonzepte ein und bleibt sich derSpannung zwischen immer wieder drohender 'Provinziali-tät' und notwendiger Verankerung in einer 'Provinz derWeltchristenheit' (Ernst Lange31) bewußt.

- Die eigene religiöse Identitätsbildung in einer säkulari-sierten Gesellschaft wird sich immer nur in der Spannungzwischen Nähe und Distanz zu einer konkreten kirchli-chen Gemeinschaft, ihren Glaubensüberzeugungen undHandlungsperspektiven entwickeln und weiterbilden; aberreligiöse Identität ist nicht freischwebend und gänzlichunabhängig von solchen Traditionen möglich, die z.B. wir

31 S.o. Anm. 24 und 25.

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den jüdisch-christlichen Befreiungsimpulsen und den bi-blischen Bundesschlüssen verdanken.

Mit Hilfe dieser dreifachen Kompetenz können Religions-lehrerInnen ihren Unterricht zu einem Ort qualifizieren, andem sie selbst als dialogisch Lernende Dialog ermöglichen:zwischen der jungen und der älteren Generation, zwischenMehrheits- und Minderheitskulturen und im Gespräch unse-res hiesigen Christen- und Kirchentums mit der Ökumeneund mit anderen Religionen.

Vierte These:

Bei der Weiterentwicklung eines Religionsunterrichts zwi-schen den Konfessionen und im Dialog mit anderen Kultu-ren und Religionen ist der Lernort Schule auf eine Stärkungseiner Unabhängigkeit von gesellschaftspolitischen Normie-rungen und von ministeriellen Anordnungen angewiesen.

Diese These gibt einige Koordinaten an, auf die ein konfes-sionell nicht mehr beschränkter Religionsunterricht angewie-sen ist, wenn er, was unbedingt wünschenswert ist, zur Stär-kung und zur Unabhängigkeit des Lernorts Schule in einersäkularen Gesellschaft beitragen soll:

Gesellschaftspolitische Normierungen haben dem gesamtenBildungssystem in den letzten Jahrzehnten Schaden zuge-fügt; ich nenne nur als Beispiele:

- Halbherzigkeiten bei der Verwirklichung von Chancen-gleichheit und der Durchlässigkeit von Schulkarrieren imBlick auf das Reformmodell Gesamtschule,

- die Dominanz der Finanzpolitik über die Schulpolitik,- das z.T. ungeklärte Verhältnis zwischen Allgemeinbil-

dung und beruflicher Bildung sowie die wirtschaftlich-in-dustriellen Verwertungsinteressen am Bildungssystem,

RELIGIONSUNTERRICHT 25

- die wirtschaftspolitischen und bisweilen fast neokoloniali-stischen Elemente der europäischen Integration, die z.B.die pädagogischen und interkulturellen Intentionen der"Europa-Schule" überlagern32.

Im Blick auf ministerielle Anordnungen erinnere ich aus derErfahrung meines Heimatbundeslandes Nordrhein-Westfalenan die katastrophalen schulpolitischen Folgen, die diebetriebswirtschaftliche Orientierung des Kienbaum-Gutach-tens für den Schulalltag erbracht hat. Die Disqualifizierungpädagogischer Kriterien für das Handlungskonzept der Leh-rerschaft hat insbesondere im Bereich der Sekundarstufe Iund II Eigeninitiative, Phantasie und Kreativität für einenlangen Zeitraum erstickt.

Schule als 'Spielball' und 'Manövriermasse' von politischenInteressen wird im Blick auf die Zukunftsfähigkeit derganzen Gesellschaft paralysiert. Das schulische Unterrichts-fach Religion hat Anteil an den Beschädigungen, denenSchule als ganze ausgesetzt ist. Die derzeit laufenden Klä-rungsprozesse über "Religion" und ein mögliches Ersatzfach"Ethik" sowie z.B. auch über das Brandenburger Modell"Lebensgestaltung-Ethik-Religion"33 haben überhaupt nureine Chance, nach pädagogischen und religionspädagogi-schen Kriterien sachgerecht entschieden zu werden, wenn esgelingt, die gesellschaftspolitischen und ministeriellen Ein-flußnahmen auf das Bildungssystem Schule zurückzuweisen.Eine innerschulische Kooperation und Solidarisierung zwi-schen allen Fächern ist dazu ebenso nötig wie ein eigenstän-

32 Vgl. R. Schmitt u.a., Grundschule in Europa - Europa in der Grundschule.

Hg. v. Arbeitskreis Grundschule. (Beiträge zur Reform der GrundschuleBd. 83/84) Frankfurt/M. 1992.

33 Vgl. J. Heumann, Über Sinn und Unsinn bekenntnisorientierter Unter-richtsfächer in der öffentlichen Schule. In: Ders. (Hg.), Freiheit und Kritik.Beiträge zu einer ideologiekritischen Religionspädagogik. Siegfried Vier-zig zu Ehren. Oldenburg 1991, S. 21-26.

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diger Schwerpunkt in der pädagogischen und religionspäd-agogischen Theoriebildung, der die Folgen eines 'unfreienUnterrichts in einer unfreien Schule' abschätzt und beim Na-men nennt. Der evangelischen Kirche stände es gut an, wennsie sich an ihr eigenes Votum, den Beschluß der EKD-Syn-ode von 195834, erinnerte, daß sie "zu einem freien Dienstan einer freien Schule bereit" ist und dementsprechend heutezur Verteidigung dieser pädagogisch ebenso wie theologischqualifizierten Freiheit beiträgt.

Fünfte These:

Die christlichen Kirchen in Deutschland wären gut beraten,wenn sie die verfassungsmäßige Bestimmung, daß "der Reli-gionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzender Religionsgemeinschaften erteilt"35 wird, nicht als Besitz-stand und Privileg begriffen, sondern als Chance, ihre ei-gene Partizipation am Lernen in und an der Ökumene neuzu entdecken - zur Einübung ihrer Dialog-Bereitschaft ge-genüber anderen Konfessionen, Kulturen und Religionenhier und in der ganzen Ökumene.

Aus allem bis jetzt Gesagten ergibt sich vieles, was diechristlichen Kirchen hierzulande besser nicht täten. IhreGlaubwürdigkeitskrise kann gewiß nicht dadurch überwun-den werden, daß die junge Generation im Schulalltag diekonfessionelle Trennung fortgesetzt weiter präsentiert be-kommt; sondern bei unserer Fragestellung wäre schon vielgewonnen, wenn die christlichen Kirchen Offenheit und Dia-logbereitschaft zuließen. Offenheit zwischen Angehörigenverschiedener Konfessionen, Religionen, Kulturen und Na-tionalitäten wäre nicht nur wünschenswert, sondern für die

34 S.o. Anm. 7.

35 Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz.

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Friedensfähigkeit dieser Gesellschaft geradezu überlebens-notwendig; die christlichen Kirchen in Deutschland als dieRepräsentantinnen der Mehrheitsreligion haben hier eineentscheidende Einfluß- und Mitwirkungsaufgabe vor sich.Dialogbereitschaft, die diese Offenheit inhaltlich und didak-tisch qualifiziert, erwarten viele gesellschaftliche Gruppenvon den christlichen Kirchen, nicht zuletzt die Schüler- undLehrerschaft im öffentlichen Bildungssystem Schule.

Ein konkreter Vorschlag dazu sei beim Namen genannt; erstammt von einer Besuchsgruppe des ÖRK in Deutschland,zu der u.a. der ehemalige Generalsekretär Emilio Castro undder südafrikanische Bürgerrechtler Christiaan Frederick Be-yers Naudé gehörten. Sie schreiben am Ende ihres Deutsch-landbesuchs im Juni 1993 in ihrem "Brief an die Kirchenge-meinden"36 über die "Aufgaben der ökumenischen Gemein-schaft, ... sehr bald eine interreligiöse Konsultation inDeutschland über Probleme des Rassismus und der Gewaltabzuhalten. Zu den Teilnehmern sollten Mitglieder der jüdi-schen, muslimischen und christlichen Gemeinschaften gehö-ren"37. Dieser Vorschlag wendet sich keineswegs nur an dieKirchenleitungen, sondern wird sich als ökumenischer Lern-impuls dann bewähren, wenn er in jeder Stadt, in jeder Kir-chengemeinde und in jeder Schule aufgegriffen wird, damitim jüdisch-islamisch-christlichen Trialog Rassismus und Ge-walt gemeinsam überwunden werden.

36 Veröffentlicht u.a. in der Ökumenischen Rundschau 42. Jg. (1993), H. 4,

S. 510-514.

37 Ebd. S. 514.

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