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Mathematik-Ausbildung ist Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten Prof. Dr. Thomas Risse Institut für Informatik & Automation Fakultät Elektrotechnik & Informatik, Hochschule Bremen 11. Februar 2009 Zusammenfassung Dieser Beitrag belegt die programmatische These im Titel und ent- wickelt davon ausgehend und gestützt auf reiche Erfahrungen mit (den Problemen) der Mathematik-Ausbildung an Fachhochschulen ein Kon- zept für das Modul MATHE3 für Technische Informatiker im dritten Semester. 1 Einführung Über die Schwierigkeiten, mit denen sich die Mathematik-Ausbildung an Fachhochschulen konfrontiert sieht, ist schon genügend referiert worden, von Seiten der Hochschullehrer vgl. z.B. [13] von Seiten der Arbeitgeber 1 . Hier soll es in erster Linie darum gehen, inwieweit die Mathematik-Ausbildung dazu angetan ist, zum wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten. Der Titel ist natürlich programmatisch gemeint: m.E. ist nämlich gerade die Mathematik-Ausbildung dazu angetan, wissenschaftliches Arbeiten zu erler- nen. Fast zu trivial anzumerken, geht es dabei doch darum, gegebene oder selbstgestellte Probleme mit anderen Studierenden zu lösen, wobei im Lö- sungsprozess nötig ist, sich aus dem Kontext ergebende Bedingungen klar zu 1 laut Matthias Schuster, Leiter des Personalwesens und Mitglied der Geschäftsführung bei T-Systems: habe man Aspiranten oft genug erst ein- mal nachschulen müssen, „damit sie die Mathematik auf die Reihe kriegen“. www.heise.de/jobs/Streitpunkt-Fachkraeftemangel–/artikel/119509 1

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Mathematik-Ausbildungist Anleitung zum wissenschaftlichen Arbeiten

Prof. Dr. Thomas RisseInstitut für Informatik & Automation

Fakultät Elektrotechnik & Informatik, Hochschule Bremen

11. Februar 2009

Zusammenfassung

Dieser Beitrag belegt die programmatische These im Titel und ent-wickelt davon ausgehend und gestützt auf reiche Erfahrungen mit (denProblemen) der Mathematik-Ausbildung an Fachhochschulen ein Kon-zept für das Modul MATHE3 für Technische Informatiker im drittenSemester.

1 Einführung

Über die Schwierigkeiten, mit denen sich die Mathematik-Ausbildung anFachhochschulen konfrontiert sieht, ist schon genügend referiert worden, vonSeiten der Hochschullehrer vgl. z.B. [13] von Seiten der Arbeitgeber1.Hier soll es in erster Linie darum gehen, inwieweit die Mathematik-Ausbildungdazu angetan ist, zum wissenschaftlichen Arbeiten anzuleiten.Der Titel ist natürlich programmatisch gemeint: m.E. ist nämlich gerade dieMathematik-Ausbildung dazu angetan, wissenschaftliches Arbeiten zu erler-nen. Fast zu trivial anzumerken, geht es dabei doch darum, gegebene oderselbstgestellte Probleme mit anderen Studierenden zu lösen, wobei im Lö-sungsprozess nötig ist, sich aus dem Kontext ergebende Bedingungen klar zu

1 laut Matthias Schuster, Leiter des Personalwesens und Mitglied derGeschäftsführung bei T-Systems: habe man Aspiranten oft genug erst ein-mal nachschulen müssen, „damit sie die Mathematik auf die Reihe kriegen“.www.heise.de/jobs/Streitpunkt-Fachkraeftemangel–/artikel/119509

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machen, von Unwesentlichem abzusehen, zu einem Modell des Problemfeldeszu kommen, das Modell so zu formalisieren, daß man allein oder mit AnderenLösungsversuche starten kann. Hier gilt es, auf Ideen zu kommen, sich von Be-kanntem zu Analogschlüssen anregen zu lassen, Sackgassen zu erkennen usw.– eben das ganze Arsenal an möglichen Problemlösungsverfahren [2] durch-zuspielen. Erst danach kümmert sich die Problemlöserin um die einschlägigenmathematischen Lösungsverfahren, wählt das angesichts der Randbedingun-gen günstigste und wendet es an. Überlegungen zur Plausibilität bringenmöglicherweise Grenzen des Modells oder des gewählten Verfahrens zu Tageund führen gegebenenfalls zu Modifikationen.

2 MATLAB

The Mathworks werben für MATLAB mit dem Slogan MATLAB is the lan-guage of scientific computation. Grundsätzlich verfügt MATLAB zusammenmit dem Maple kernel der Symbolic Math Toolbox über die Mächtigkeit heu-te etablierter Computer-Algebra-System wie Mathematica, Maple, MuPado.a. Es ist damit prädestiniert, als Werkzeug die Mathematik-Ausbildung zuunterstützen. Wie meine interaktiven Dokumente [5],[6],[7] soll der Einsatzvon Werkzeugen wie MATLAB die Studierenden aktivieren: Don’t preachfacts, stimulate acts! [1]. So ganz nebenbei lernen die Studierenden dannauch noch den Umgang mit einem tool, das sich eindeutig als Industrie-Standard-Werkzeug etabliert hat. Entsprechend setzen auch Kollegen wieProf. Dr. Manfred Mevenkamp und Prof. Dr. Werner Phillipsen und ichMATLAB in ihren Lehrveranstaltungen ein.Die Studierenden ziehen eine ’klassische’ Veranstaltung einer mit MATLAB-Unterstützung vor, weil sie den Aufwand, MATLAB lernen zu müssen, scheu-en. Vor die Wahl gestellt, entscheiden sie sich mehrheitlich gegen Klausurenmit MATLAB am Rechner.Ich selbst habe auch sehr durchwachsene Erfahrungen mit MATLAB-gestütz-ten Klausuren gemacht, insofern als einige Studierende syntaktisch falschem-files ablieferten, so daß von einer seriösen Auseinandersetzung mit demeigentlichen Problem keine Rede mehr sein konnte. Dies bedeutet aber ei-gentlich nur, daß ich in den Modul-bezogenen Übungen ausführlicher aufdie Benutzung von MATLAB eingehen muß, wenn ich der Bedeutung vonMATLAB gemäß an der MATLAB-Unterstützung von MATHE3 festhaltenwill.

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3 Die Veranstaltung MATHE3

Bei dem Modul MATHE3 handelt es sich um die Mathematik für Studierendeder Technischen Informatik (im weitesten Sinne) im dritten Fachsemester.Die Veranstaltung baut in mehrfacher Hinsicht auf die Module MATHE1und MATHE2 auf:

• analog zu Potenzreihen (MATHE2) entwickelt man periodische Funk-tionen in Fourier-Reihen, die ihrerseits zur Fourier-Transformation (Mut-ter aller Integraltransformationen wie etwa der Lapace-Transformation,mit deren Hilfe man Differentialgleichungen (MATHE2) lösen kann) fürnicht-periodische Funktionen verallgemeinert werden. Etwa die Fourier-Koeffizienten gewinnt man durch Integration (MATHE2).

• die Analysis, d.h. die Lehre der Funktionen einer Veränderlichen (MA-THE2) wird verallgemeinert zur mehrdimensionalen Analysis, d.h. zurLehre der Funktionen mehrerer Veränderlicher. Damit geht die Wie-derholung und Verallgemeinerung von Begriffen wie Stetigkeit, Diffe-rentierbarkeit, (Kurven-, Volumen-, Flächen-) Integral (MATHE2) ein-her. Die Numerik [5],[7] der einschlägigen Verfahren zur Lösung vonSystemen nicht-linearer Gleichungen, Optimierung, Interpolation, Qua-dratur, Lösung von Systemen gewöhnlicher und partieller Differential-gleichungen setzt solide Kenntnisse der linearen Algebra (MATHE1)voraus (s.a. [12]).

• die Wahrscheinlichkeitsrechnung diskreter Zufallsvariablen benötigt undwiederholt Kombinatorik (MATHE1), während diejenige stetiger Zu-fallsvariablen Integration (MATHE2) zur Auswertung der Verteilungs-funktionen braucht. In der Statistik verbirgt die Verwendung von tabel-lierten Verteilungen der Test-Statistiken den Umstand, daß man ohneIntegration (komplizierter) Verteilungsfunktionen aufgeschmissen wäre.

Der Umstand, daß MATHE3 auf MATHE1 und MATHE2 aufbaut, wird vonStudierenden nur ungern wahrgenommen: sie haben zu viel vergessen, dasWiederaufarbeiten ist zu mühselig. Hinzu kommt, daß viele Studierende Pro-bleme haben, sich Objekte im Raum wie etwa Graphen von skalarwertigenFunktionen zweier Variabler oder Position und Orientierung solcher Objekteauch im Verhältnis zueinander (z.B. Kamera und Objekt) vorzustellen. MA-THE3 verlangt also die Ausbildung ganz anderer Fähigkeiten als etwa Wertein eine Formel einzusetzen und dann die Formel auszuwerten, wie sie in derSchule antrainiert werden.

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3.1 Realisation des Curriculums

Nach eher ernüchternden Erfahrungen mit anderen Lehr- und Lernmetho-den in MATHE3 [8],[9] habe ich im WS08/09 – wie wahrscheinlich in je-dem anderen Modul auch – versucht, in seminaristischem Unterricht den inder Modulbeschreibung spezifizierte Stoff zu vermitteln. In der zugehörigenModul-begleitenden Übung sollte dann eingeübt werden, MATLAB zu pro-grammieren und zur Problem-Lösung einzusetzen, z.B.

Fourier-Reihen und Fourier-Transformation in MATLAB: Fourier-Ko-effizienten berechnen, Synthesizer realisieren

Skalar- und Vektor-wertige Funktionen mehrerer Veränderlicher inMATLAB: Funktionen visualisieren, partielle Ableitungen visualisie-ren, Extrema bestimmen, Integrale berechnenEs ergaben sich auch immer wieder interessante Anstöße, sich mit wei-terführenden Fragen auseinanderzusetzen, z.B. mit Wegen konstanterSteigung in vorgegebenem Terrain2. Zur Auseinandersetzung mit nu-merischen Verfahren stelle ich eine Vielzahl von (praktischen) Aufgabenin [7] zur Verfügung.

Stochastik = Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik in MATLAB:z.B. Pseudo-Zufallszahlen-Generatoren programmieren und bewerten

Materialien, MATLAB-Skripte, links usw. standen den Studierenden auf AU-LIS3 zur Verfügung.

3.2 Leistungsbewertung

Um dem studentischen Verhalten, erst fünf Minuten vor der (Abschluß-)Klausur damit zu beginnen, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen, habeich drei online-Klausuren gestützt durch mein Test-System Fit in Mathema-tik, FiM [4] Nr.97,88,93 durchgeführt. Durch eine Verbindung der Lernplatt-form ILIAS und des Computer-Algebra-Systems MATLAB/Maple erlaubtFiM, beliebige mathematische Test-Aufgaben zu erzeugen und die Antwor-ten der Studierenden zu bewerten. Diese Test-Aufgaben haben naturgemäßeinen eher kalkulatorischen Charakter, was dem Ziel, der oben benannten

2 s. tour.m www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=file_117070&client_id=hsbremenund tour_gui.m www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=file_117389&client_id=hsbremen

3 siehe Magazin > Kategorie Fakultät 4: Elektrotechnik und Informatik >Kategorie Technische Informatik (TI BSc) > Gruppe MATHE3 Risse WS08/09

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studentischen Unart entgegenzuwirken, aber nicht abträglich ist. Am Endedes Semesters stand eine Klausur an den Labor-Rechnern, im Rahmen de-rer die Studierenden ein paar kleine Probleme mit MATLAB lösen mußten.Ähnliche Klausur-Formen haben sich schon im Modul Mikro-Computer, MI-COMP bewährt.

4 Angewandte Mathematik treiben ist Anlei-tung zum wissenschaftlichen Arbeiten

Probleme der Physik, der Informatik und generell der Naturwissenschaftenlöst man, indem man grundsätzlich ein Modell des betreffenden Anwendungs-zusammenhangs aufstellt, das interessierende Phänomen formalisiert, d.h. ineine im weitesten Sinne mathematische Formulierung gießt, etablierte oderrevolutionär neue Lösungverfahren auf diese Formulierung anwendet, die Lö-sung, das Ergebnis auf Plausibiltät prüft und gegebenenfalls durch Modifika-tion des Modells in die nächte Iteration des Problemlöse-Prozesses eintritt.Typische Indikatoren für eine methodische und damit wissenschaftliche Vor-gehensweise sind die in den Naturwissenschaften üblichen:

• Reproduzierbarkeit

• Nachprüfbarkeit

• Unterscheidbarkeit dessen, was innerhalb und außerhalb des Modellsliegt

• zusätzliche Kriterien wie Fehlerschranken, Effizienz, Optimalität usw.

Einige Fragestellungen, die Studierende im Rahmen meiner Veranstaltungbearbeiten sollten, seien im Folgenden kurz skizziert.

4.1 ein kleines Optimierungsproblem

Ich habe folgendes Problem4 gewählt, um Modellbildung, numerische vs sym-bolische Visualisierung sowie numerische vs symbolische Optimierung zu de-monstrieren:

4 s. Schaukel.pdf www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=file_104992&client_id=hsbremen

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Eine meiner Töchter entwickelte als kleines Mädchen auf der Schaukel Ehr-geiz: so heftig/so hoch wie möglich schaukeln, zum richtigen Zeitpunkt ab-springen, um dann so weit wie möglich durch die Luft zu fliegen . . .

h

(x1(t), y1(t))

ϕo

`

(x2(t), y2(t))

Eine Visualisierung des Vorganges setzt offenbar voraus, das Problem zumin-dest modelliert zu haben. MATLAB erlaubt dann hübsche Animationen5.Man muß die Schaukel-Phase (in rot) und (den Übergang in) die Freiflug-Phase (in blau) modellieren, die Abszisse des Aufprall-Punktes in Abhän-gigkeit vom Absprungszeitpunkt berechnen und diese Abszisse maximierenbzw. minimieren. Animationen6 demonstrieren den Unterschied der Lösungder linearisierten zur Lösung der originalen eben nicht-linearen Differential-gleichung.Dieses kleine Problem verbindet Modellierung mit Differentialgleichungen,Parameterdarstellungen der Trajektorien und Optimierung, d.h. Bestimmungvon Extrema. Zugleich vermittelt dieses Beispiel die Einsicht, daß Computer-Algebra-System schon Probleme dieses Komplexitätsgrades nicht mehr sym-bolisch und damit exakt sondern nur noch numerisch, also approximativ lösenkönnen.

4.2 jenseits des R3

Die meisten Probleme, die mit Methoden der angewandten Mathematik be-handelt werden können, sind im weitesten Sinne mehrdimensional. Einschlä-gige Belege sind FEM, Kodierung [12], Kryptographie [4], Nr. 83, 84, 89

5 s. swing_num.m, swing_sym.m www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=fold_103572&client_id=hsbremen6 s. swing_lin_vs_math.m www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=fold_113501&client_id=hsbremen

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sowie lineare und nicht-lineare Gleichungen, Methoden der kleinsten Fehler-quadrate, Eigenwert-Probleme, Optimierung, Interpolation, Quadratur, ge-wöhnliche und partielle Differentialgleichungen als die klassichen Gebiete derNumerik [7]. Alle diese Probleme finden sozusagen im Rn oder in hochdi-mensionalen Potenzen eines anderen Zahlen-Körpers statt. Deshalb ist eswichtig, Studierende frühzeitig an Objekte mathematischer Anschauung zugewöhnen, die mit unserer Anschauung des physikalischen dreidimensionalenRaumes nicht zu leisten ist. Beispiele liefert jedes der oben genannten Ge-biete zu Genüge, etwa das elektrostatische Potential eines Dipols, darstellbarnur im R4.

4.3 bedingte Wahrscheinlichkeiten

Ich habe Markoff-Ketten, also endliche, zeitdiskrete Markoff-Prozesse, alseinen Anwendungsbereich bedingter Wahrscheinlichkeiten gewählt. googlepage ranking [11] sollten die praktische Bedeutung illustrieren.

4.4 stochastische Unabhängigkeit

Stochastische Unabhängigkeit ist ein Qualitätskriterium von echten Zufalls-zahlen bzw. Pseudo-Zufallszahlen. Die Darstellung meiner Untersuchungenfür die DSI GmbH, Bremen, zusammen mit derjenigen eines entsprechendenMini-Projektes in MICOMP im SS08 sowie der Verweis auf einen c’t-Artikel7sollten die praktische Bedeutung illustrieren.

5 ernüchternde Erfahrungen

Kenntnisse und Fähigkeiten aus MATHE1 und MATHE2 stehen nicht inausreichendem Maße zur Verfügung, z.B. wissen die Studierenden nicht, wieRotationen der Ebene aussehen, sie kennen weder Ebenen im Raum nochParameter-Darstellungen des Kreises und haben vergessen, was einen Vek-torraum ausmacht (alles MATHE1); sie haben noch nie von Potenz-/Taylor-Reihen gehört (ein Taylor-Polynom kam erstmalig in der Klausur von Dr. Mat-thäus vor) und wissen nicht, was eine Differentialgleichung ist (obwohl Dr. Mat-thäus Trennung der Variablen behandelt hat) (alles MATHE2).Diese Defizite werden trotz entsprechender Appelle in meinem wöchentlich

7 s. ct_02_2009.pdf www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=file_119895&client_id=hsbremen

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aktualisierten Protokoll8 eher nicht behoben – Motto Es wird wohl auch ohnegehen. . .Nach Rücksprache mit dem Studiendekan habe ich am 20.11.08 die beidenBlöcke dem Thema lineare Differentialgleichungen und am 27.11.08 einenBlock dem Thema vektorielle Differentialgleichungen oder ’Wie man Dif-ferentialgleichungen höherer Ordnung in äquivalente Systeme von Differen-tialgleichungen erster Ordnung überführt’ und der Numerik gewidmet undso im Nachhinein die Grundlagen für folgenden, beispielhaften, zunächst zumodellierenden und dann zu optimierenden Vorgang gelegt.

5.1 online Test No 1 am 6.11.08

Ich entwickelte den ersten online Test9 mit FiM und stellte zum ThemaFourier-Reihen sieben kleine Test-Aufgaben (erste Fourier-Koeffizienten fürRechteck-Signale, Fourier-Koeffizienten für skalare Vielfache, harmonischeSchwingungen, physikalisch bedeutsame Fourier-Koeffizienten für skalare Viel-fache, verbindende Relation zwischen Sinus und Cosinus, erste komplexeFourier-Koeffizienten für Rechteck-Signale und erste komplexe Fourier-Koef-fizienten für ’verschobene’ Signale), die deutlich einfacher als in alten Klau-suren10 ausfielen. Laut Ankündigung mußte die Hälfte der Aufgaben einesjeden online Tests richtig bearbeitet worden sein, um zur Abschluß-Klausurzugelassen zu sein.Im ersten Anlauf gab es technische Schwierigkeiten, so daß ich mich gezwun-gen sah, die Aufgaben – wie vorbereitet – auf Papier auszuhändigen, von denStudierenden auf Papier lösen zu lassen und die meist erschreckend schwa-chen Ergebnisse zu korrigieren. Immerhin bekamen die Studierenden so eineRückmeldung, an der im Übrigen fünf der gut dreißig Studierenden nichtinteressiert waren.Im zweiten Anlauf eine Woche später klappte die Technik. Allerdings habenso viele Studierende den online Test nicht bestanden, daß ich ich mich ge-zwungen sah, den Test freizugeben: jedeR Studierende kann den Test jetztsooft bearbeiten, bis er/sie ihn (endlich) bestanden hat. Allerdings hattenEnde November, also drei Wochen nach dem online Test No 1, dennoch im-mer noch zehn (!) von den 39 Teilnehmern von den 43 Gruppen-Mitgliedernden Test nicht bestanden.

8 s. Protokoll.pdf www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=file_104992&client_id=hsbremen9 s. online-Test No 1 www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=tst_107951&client_id=hsbremen

10 vgl. math3.pdf und mehr_dgl.pdf in www.weblearn.hs-bremen.de/risse/MAI/docs/Klausur

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5.2 online Test No 2 am 11.12.08

Thema sind Skalar- und Vektor-wertige Funktionen mehrerer Veränderlichermit vier Aufgaben (Nullstellen-Bestimmung, Gradienten-Berechnung, Appro-ximation durch quadratisches Taylor-Polynom, Maximumsbestimmung undEigenwert-Berechnung). Hinzu kamen drei Aufgaben zu (ausschließlich linea-ren) Differentialgleichungen (separable, homogene, inhomogene Differential-gleichung mit Anfangsbedingungen), um die Defizite aus MATHE2 wenigs-tens ansatzweise auszugleichen.Die schlechten Ergebnisse unter Klausur-Bedingungen rechtfertigten dasselbeVorgehen wie beim ersten online Test: Freigabe des Testes und Vorgabe, daßjedeR TeilnehmerIn den Test mindestens einmal erfolgreich absolviert habenmuß. Vor der Weihnachtspause hatten das aber nur sechs Teilnehmer geradegeschafft.

5.3 online Test No 3 am 22.1.09

Thema ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung (Zuverlässigkeit von Computer-Systemen, Zustandsverteilung einer Markoff-Kette im Gleichgewicht, Erwar-tungswert und Varianz diskreter und kontinuierlicher Zufallsvariabler).Das Ergebnis unmittelbar nach der online Klausur war diesmal ermutigender:

Gesamtzahl der Personen, die den Test gestartet haben 25Gesamtzahl aller beendeten Tests (Schaltfläche ’Test beenden’ gedrückt) 23Mittlere Bearbeitungsdauer aller Tests 00:43:09Gesamtzahl der bestandenen Tests 19

5.4 Abschluß-Klausur

Nur mit Mühe hatten alle Studierenden hatten bis zur Abschluß-Klausuralle online Tests erfolgreich absolviert. Die Abschluß-Klausur bestand ausvier kleinen Aufgaben, die mit MATLAB geeignet zu visualisieren waren:

1. Wie gut approximieren die Anfänge der Fourier-Reihe ein gegebenesSignal?

2. Bestimme numerisch Minima von Funktionen mehrerer Veränderlicher.

3. ein mehrdimensionales Optimierungsproblem

4. und eine Simulation der Wahrscheinlichkeitsrechnung

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Von 33 Teilnehmern bestanden am 3.2.09 nur 14 Teilnehmer. In der Wiederholer-Klausur am 13.3.09 bestanden von ??? Teilnehmern noch ??? Teilnehmer.

6 studentische Reaktionen

• I.a.R. besuchen über 30 Studierende die Vorlesung. Allerdings reagierenauf meine Fragen immer nur dieselben sechs Studierenden. Am semi-naristischen Unterricht beteiligen sich also nur 20% aktiv. 80% sindbestenfalls passiv mitschreibend anwesend, schlechtestenfalls mit mai-len, surfen, chatten usw. anderweitig beschäftigt.

• Immer weniger Studierende nahmen an den Modul-begleitenden Übun-gen, die ja den praktischen MATLAB-Teil ausmachen sollten, teil: am20.11.08 nahm niemand teil. Die Teilnahme verbesserte sich, je näherdie Klausur rückte.

• Ich mußte die Studierenden mehrfach auffordern, doch endlich die on-line Teste erfolgreich zu absolvieren.

• Studierende lesen Protokoll.pdf nicht sorgfältig: viele meinten, Sit-zungen kämen doppelt im Protokoll vor, als ich zu jeder der mathemati-schen Aufgaben eine Woche später auch noch die zugehörigen Lösungenpublizierte.Auf meine Anfrage per mail, ob ich diesen Service, nämlich Protokoll.pdffortzuschreiben, fortsetzen solle, reagierten erstens unmittelbar nur dieüblichen Verdächtigen11 und zweitens alle insgesamt positiv.Ein Versuch, Studierende anhand von Namensschildern direkt anzu-sprechen, hat die Situation in der Vorlesung verbessert: ich kann derschweigenden Mehrheit mit Fragen besser auf die Pelle rücken.

• Studierende beschweren sich bei dem Studiengangsleiter (!) über onlineKlausuren: diese seien in der Prüfungsordnung nicht vorgesehen.

• Vornehmlich diejenigen Studierenden, die sich vermutlich wenig bisgarnicht mit MATLAB auseinandergesetzt haben, äußern Bedenkenhinsichtlich der MATLAB-gestützen Klausur. Ich verweise auf meineMATLAB-Anregungen in Protokoll.pdf, die ihrer Natur nach immerauf unmittelbare Erfolgserlebnisse abzielten, und darauf, daß ähnlicheProbleme in der Klausur mit MATLAB zu lösen seien.

11 in der Reihenfolge des Eintreffens Christin, Christian, Felix, Julia, Klaus-Werner,Beate, Andreas, Thorsten, Stefan, Muhammed, Paul, Henrik, Caren

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• Einzelne Studierende äußern Unbehagen am Thema Stochastik. Siewollen ungewöhnlicherweise lieber mehr mehrdimensionale Analysis.Ich habe daraufhin noch und mich besonders bemüht, die Relevanz derStochastik auch für Informatiker aufzuzeigen. Auch vor diesem Hinter-grund habe ich mir den Exkurs über Markoff-Ketten erst nach Rück-versicherung bei den ISTI-Studierenden erlaubt, die meinen Vortrag[10] an der LSBU angehört hatten.

6.1 Umfrage

In der Umfrage fanden die Studierenden – wie immer – den Stoffumfang, dieAnforderungen und das Tempo zu hoch.Korrespondierend bekam ich eher schlechte Noten wegen eher unklarer Lern-ziele, eher fehlendem roten Faden, eher unverständlicher Vermittlung derLerninhalte; anwendungsbezogene Beispiel ergänzten die Veranstaltung ehernicht, die Lernmaterialien waren eher wenig hilfreich, die Modul-begleitendenÜbungen eher wenig auf die Vorlesung abgestimmt.Entgegen meiner eigenen Einschätzung, die in der Veranstaltung immer wie-der bekräftigt wurde, halten die Studierenden ihre Vorkenntnisse in der Mehr-heit für mittelmäßig ausreichend. Sie wenden nach eigenen Angaben im Mit-tel drei von den vorgesehenen acht Stunden pro Woche für das Selbststudiumauf. Für mich sind sehr heterogene, teilweise widersprüchliche und meist we-nig konstruktive Pros und Cons verständlicherweise auch wenig hilfreich.

7 Ausblick

Ich bin mehr denn je der Ansicht, daß gerade die Mathematik-Ausbildungzum wissenschaftlichen Arbeiten anleitet:

• abstrahierendes Denken bei der Modell-BildungWann lassen sich beispielsweise ihrer Natur nach dreidimensionale Pro-bleme auf zweidimensionale Probleme reduzieren?

• Denken und Argumentieren innerhalb und außerhalb des ModellesWenn beispielsweise ein Kreis durch einen Korridor, gegeben durch dieGraphen zweier Funktionen, paßt, welche Objekte mit anderen Silhou-etten passen dann auch hindurch?

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• Kontrastieren Modell und Wirklichkeitbeispielsweise das mathematische mit dem linearisierten mathemati-schen Pendel12, Einfluß von Reibung usw.

• Plausibilitäts- und Effizienzüberlegungen

• Intuition hinterfragen, z.B. Ziegen[3]- oder Monty Hall-Problem13, s.a.[4] Nr.79–81

Ich wünsche mir neugierigere, engagiertere, nachhaltiger lernende Studieren-de, die intrinsisch motiviert sich im Problemlösen üben und auf diese Weiselernen, wie man wissenschaftlich arbeitet.Ich hege die Hoffnung, daß die Studierenden gerade aus der Kombination vonklassischer Mathematik-Ausbildung mit Einsatz eines Computer-Algebra-Systems Nutzen ziehen.

Literatur

[1] Peter Baptist: Nach TIMMS und vor PISA – Gedanken zum Mathema-tikunterricht; Bayreuthhttp://did.mat.uni-bayreuth.de/didaktik/docs/halle.pdf

[2] George Pólya (1945): How to Solve It; Princeton University Press, ISBN0-691-08097-6s.a. http://freefeel.org/wiki/SummaryHowToSolveIt#s-1

[3] Gero von Randow: Das Ziegenproblem – Denken in Wahrscheinlichkei-ten; Science, Reinbek 2004

[4] Thomas Risse: Liste der Veröffentlichungen; Hochschule Bremenwww.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/papers.htm

[5] Thomas Risse: Grundlegende numerische Verfahren – CORDIC-Algo-rithmen, Nullstellenbestimmung, Quadratur, Integration von Differenti-algleichungen; interaktives Dokument, Hochschule Bremenwww.weblearn.hs-bremen.de/risse/MAI/docs/numerik.pdf

12 vgl. z.B. swing_lin_mathm www.aulis.hs-bremen.de/goto.php?target=file_113501&client_id=hsbremen13 s.a. www.comedia.com/hot/monty.html

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[6] Thomas Risse: Puzzles – Kryptographie, Kompression, Kodierung u.a.;interaktives Dokument, Hochschule Bremenwww.weblearn.hs-bremen.de/risse/MAI/docs/puzzles.pdf

[7] Thomas Risse: Addons zu M. T. Heath: Scientific Computing; interak-tives Dokument, Hochschule Bremenwww.weblearn.hs-bremen.de/risse/MAI/docs/heath.pdf

[8] Thomas Risse: Mathematik selbstgesteuert lernen? Versuch im 3. Se-mester Technische Informatik, BSc; Jahrestagung der DMV und GDM2007, Berlin 25.-30.3.2007www.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/DMV07mini

[9] Thomas Risse: Selbstgesteuertes Lernen – Teamcoaching als Alternati-ve zur Mathematik-Vorlesung – Ein Erfahrungsbericht; Tag der Lehre,19.6.07 Hochschule Bremen 2007www.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/Lehre07

[10] Thomas Risse: Markov Chains and Googles PageRanking;London South Bank University, LSBU, February 27th, 2008www.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/LSBU/markov.pdf

[11] Thomas Risse: Markoff-Ketten und Googles PageRanking;IIA-Kolloquium 6. Mai im Jahr der Mathematik 2008www.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/IIAkolloq080506

[12] Thomas Risse: Angewandte Mathematik: Body & Soul – eine Buchre-zension; 6. Workshop Mathematik für Ingenieure, Soest 12.9.2008www.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/MathEng6

[13] Dieter Schott, Thomas Schramm, Raimond Strauß, Thomas Risse: The-sen zur Mathematikausbildung von Ingenieuren; Wismarer Frege Reihe02/2007, ISSN 1862-1767, S.5-18www.weblearn.hs-bremen.de/risse/papers/PosiPaper

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