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Der Begriff „Unterschenkelfraktur“ ist auch aus gutachterlicher Sicht in je- dem Fall interpretationsbedürftig. Ein- fachen geschlossenen Verletzungen oh- ne Weichteilschaden stehen schwerste Zerstörungen von Knochen und Weich- teilen am Ende einer breit gefächerten Palette gegenüber. Therapie, Komplika- tionen, Heilungsergebnisse und die Ak- zeptanz des Patienten bestimmen letz- ten Endes das funktionelle Resultat. Feste Zusammenhänge zwischen diesem Resultat und der erreichten anatomi- schen Rekonstruktion gibt es nicht. Be- gutachtung verlangt daher die klinisch- praktische Erfahrung eines Unfallchi- rurgen, gemessen am allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft. Es muss zu Zusammenhangsfragen, Scha- densbewertung, Stand und Fortgang des Heilverfahrens Stellung genommen wer- den. Gutachterliche Untersuchungen Eine gründliche und gezielte Befragung bzw.Anamneseerhebung sollten der ein- gehenden Untersuchung vorangehen bzw. sie begleiten. Subjektive Angaben über Beschwerden oder Funktionsein- bußen weisen u. U. auf objektiv schlech- te Heilungsergebnisse hin. Vergleiche mit der Partnerextremität sind von gro- ßem Wert. Befunde und Messergebnisse sind nachprüfbar zu dokumentieren. Der Einsatz moderner bildgebender Untersuchungsverfahren sowie gezielter Laboruntersuchungen ist gutachter- licher Standard. Über evtl. notwendige Zusatzgut- achten muss rechtzeitig entschieden werden,um unnötige Verzögerungen im Gesamtablauf zu vermeiden. Diskre- panzen zwischen dem subjektiven Be- finden und dem objektiven Befund ha- ben nicht selten soziale Hintergründe. Fehlverarbeitung bis hin zu schweren pathologischen psychosomatischen Stö- rungsmustern bedürfen oft der fachspe- zifischen gutachterlichen Beurteilung bzw. Behandlung. Die gutachterliche klinische Befund- erhebung nach Unterschenkelschaft- frakturen hat neben der Bein- bzw. Unterschenkellänge Stellungsfehler,Ge- lenkfunktion, Durchblutung, Ödeme und Trophik sowie Muskel- und Ner- venfunktionen zu berücksichtigen.Auf- schlussreich sind Narben, entzündliche Veränderungen,eventuelle Fistelbildun- gen oder Ulzera. Kontrakte Füße, mus- kuläre Insuffizienzen, Dysfunktionen bzw. totale Ausfälle können auf evtl. ab- gelaufene Kompartmentsyndrome hin- weisen. Der knöcherne Ausheilungszustand, eventuelle Störungen oder Komplikatio- nen sowie Folgeschäden angrenzender Gelenke werden röntgenologisch, ggf. durch Zusatzaufnahmen,Tomogramme, Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S177 Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S177–S179 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur Wieland Otto Universitätsklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, BG-Kliniken Bergmannstrost, Halle, Saale MdE nach Unterschenkelfrakturen Univ.-Prof. Dr.Wieland Otto Universitätsklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, BG-Kliniken Bergmannstrost, Merseburger Straße 165, 06112 Halle, Saale (E-Mail: [email protected], Tel.: 0345-1326324, Fax: 0345-1326326) Zusammenfassung Unterschenkelfrakturen sind nach knöcher- ner Verletzung und begleitendem Weichteil- schaden sehr vielgestaltig. Folgeschäden sind nicht immer zu vermeiden. Das subjek- tive Befinden des Patienten und der objek- tive medizinische Befund müssen nicht übereinstimmen. Die MdE nach Unterschen- kelfrakturen muss am Verlust des Gliedma- ßenabschnitts bzw. an der verbliebenen funktionellen Wertigkeit gemessen werden. Empfehlungen dazu sind in Standardwerken zur Begutachtung zusammengestellt und teilweise kommentiert. Sie können für den Gutachter, der seine klinisch-praktische Er- fahrung als Unfallchirurg einbringen und sich auf den aktuellen Stand der medizini- schen Wissenschaft beziehen sollte als Orientierung dienen, wenn er zu Zusam- menhangsfragen, Schadensbewertung und Stand des Heilverfahrens seine Empfehlun- gen gibt. Nur so kann der Unfallversiche- rungsträger jenen medizinischen Kenntnis- stand erlangen, der ihm eine sachliche Ent- scheidung über die Höhe der MdE ermög- licht. Sie kann zwischen 0 und 70% betragen und ist individuell befundorientiert festzu- legen. Schlüsselwörter Verletzungsmuster · Unterschenkelschaft- fraktur · Funktionsverlust · Bewertungsmaß- stäbe · Individuelle Entscheidung

MdE nach Unterschenkelfrakturen

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Page 1: MdE nach Unterschenkelfrakturen

Der Begriff „Unterschenkelfraktur“ ist auch aus gutachterlicher Sicht in je-dem Fall interpretationsbedürftig. Ein-fachen geschlossenen Verletzungen oh-ne Weichteilschaden stehen schwersteZerstörungen von Knochen und Weich-teilen am Ende einer breit gefächertenPalette gegenüber. Therapie, Komplika-tionen, Heilungsergebnisse und die Ak-zeptanz des Patienten bestimmen letz-ten Endes das funktionelle Resultat.Feste Zusammenhänge zwischen diesemResultat und der erreichten anatomi-schen Rekonstruktion gibt es nicht. Be-gutachtung verlangt daher die klinisch-praktische Erfahrung eines Unfallchi-rurgen, gemessen am allgemeinen Standder medizinischen Wissenschaft. Esmuss zu Zusammenhangsfragen, Scha-densbewertung, Stand und Fortgang desHeilverfahrens Stellung genommen wer-den.

Gutachterliche Untersuchungen

Eine gründliche und gezielte Befragungbzw.Anamneseerhebung sollten der ein-gehenden Untersuchung vorangehenbzw. sie begleiten. Subjektive Angabenüber Beschwerden oder Funktionsein-bußen weisen u. U. auf objektiv schlech-te Heilungsergebnisse hin. Vergleichemit der Partnerextremität sind von gro-ßem Wert. Befunde und Messergebnissesind nachprüfbar zu dokumentieren.Der Einsatz moderner bildgebenderUntersuchungsverfahren sowie gezielterLaboruntersuchungen ist gutachter-licher Standard.

Über evtl. notwendige Zusatzgut-achten muss rechtzeitig entschiedenwerden, um unnötige Verzögerungen imGesamtablauf zu vermeiden. Diskre-panzen zwischen dem subjektiven Be-finden und dem objektiven Befund ha-ben nicht selten soziale Hintergründe.Fehlverarbeitung bis hin zu schwerenpathologischen psychosomatischen Stö-rungsmustern bedürfen oft der fachspe-zifischen gutachterlichen Beurteilungbzw. Behandlung.

Die gutachterliche klinische Befund-erhebung nach Unterschenkelschaft-frakturen hat neben der Bein- bzw.Unterschenkellänge Stellungsfehler, Ge-lenkfunktion, Durchblutung, Ödemeund Trophik sowie Muskel- und Ner-venfunktionen zu berücksichtigen.Auf-schlussreich sind Narben, entzündlicheVeränderungen, eventuelle Fistelbildun-gen oder Ulzera. Kontrakte Füße, mus-kuläre Insuffizienzen, Dysfunktionenbzw. totale Ausfälle können auf evtl. ab-gelaufene Kompartmentsyndrome hin-weisen.

Der knöcherne Ausheilungszustand,eventuelle Störungen oder Komplikatio-nen sowie Folgeschäden angrenzenderGelenke werden röntgenologisch, ggf.durch Zusatzaufnahmen, Tomogramme,

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S177

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S177–S179 © Springer-Verlag 2001 Unterschenkelfraktur

Wieland OttoUniversitätsklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,BG-Kliniken Bergmannstrost, Halle, Saale

MdE nach Unterschenkelfrakturen

Univ.-Prof. Dr.Wieland OttoUniversitätsklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,BG-Kliniken Bergmannstrost,Merseburger Straße 165, 06112 Halle, Saale(E-Mail: [email protected],Tel.: 0345-1326324, Fax: 0345-1326326)

Zusammenfassung

Unterschenkelfrakturen sind nach knöcher-ner Verletzung und begleitendem Weichteil-schaden sehr vielgestaltig. Folgeschädensind nicht immer zu vermeiden. Das subjek-tive Befinden des Patienten und der objek-tive medizinische Befund müssen nichtübereinstimmen. Die MdE nach Unterschen-kelfrakturen muss am Verlust des Gliedma-ßenabschnitts bzw. an der verbliebenenfunktionellen Wertigkeit gemessen werden.Empfehlungen dazu sind in Standardwerkenzur Begutachtung zusammengestellt undteilweise kommentiert. Sie können für denGutachter, der seine klinisch-praktische Er-fahrung als Unfallchirurg einbringen undsich auf den aktuellen Stand der medizini-schen Wissenschaft beziehen sollte alsOrientierung dienen, wenn er zu Zusam-menhangsfragen, Schadensbewertung undStand des Heilverfahrens seine Empfehlun-gen gibt. Nur so kann der Unfallversiche-rungsträger jenen medizinischen Kenntnis-stand erlangen, der ihm eine sachliche Ent-scheidung über die Höhe der MdE ermög-licht. Sie kann zwischen 0 und 70% betragenund ist individuell befundorientiert festzu-legen.

Schlüsselwörter

Verletzungsmuster · Unterschenkelschaft-fraktur · Funktionsverlust · Bewertungsmaß-stäbe · Individuelle Entscheidung

Page 2: MdE nach Unterschenkelfrakturen

CT, Szintigraphie und MRT, erfasst, do-kumentiert und bewertet.

Einschätzung der MdE

Für die praktische Gutachtertätigkeitkönnen Richtwerte genutzt werden, wiesie für isolierte oder kombinierte Schä-den in verschiedenen Standardwerkenzusammengestellt und fallweise kom-mentiert werden. Sie haben Empfeh-lungscharakter, dienen aber bei Beach-tung dem Grundsatz der Gleichbehand-lung aller Versicherten. Bis auf geringeDifferenzen sind die Bewertungsmaß-stäbe der einzelnen Autoren deckungs-gleich, die Listen der zu bewertendenBefunde und Restschäden sind jedochunterschiedlich umfangreich.

Für den Unterschenkel gilt, dass al-le Verletzungsfolgezustände am totalenVerlust des Gliedmaßenabschnitts ge-messen werden müssen. Dieser wird beigünstigen Stumpfverhältnissen mit40%,bei ungünstigen mit bis zu 50% be-wertet. Amputationen beider Unter-schenkel sind mit 70–80% einzustufen.

Längenverluste von bis zu 4 cm bedin-gen 10%, von bis zu 6 cm 20% und bei > 6 cm 30% MdE. Fehlheilungen inForm von Achsenabweichungen werdenbei Varus-, Valgus- und Rekurvations-fehlern von 10° und mehr mit 20 bzw.25% MdE eingeschätzt (Tabelle 1).

Antekurvationsfehler werden alsweniger bedeutsam betrachtet und nichtspeziell erwähnt. Gleiches gilt für Rota-tionsfehler.Auch sie werden in den gän-gigen Empfehlungen zur Begutachtungnicht berücksichtigt. Eine Unterschen-kelpseudarthrose ist je nach Behinde-rung mit 40–50% zu bewerten.

Die vorgeschlagene Einstufung derMdE bei Folgeschäden an Knie- oderoberem Sprunggelenk im Sinn einerposttraumatischen Arthrose, Einstei-fung oder Instabilität variiert nachSchweregrad und funktioneller Behin-derung zwischen 10 und 50% (Tabelle 2).Ähnlich hoch zu bewerten ist die post-traumatische Osteitis mit chronisch re-zidivierender Fistelbildung (20–40%).

Schwere arterielle Durchblutungs-störungen können bis zu 50% MdE be-dingen, bei dadurch entstandenen tro-phischen Störungen bis zu 70%. Bei ve-nösen Rückflussstörungen nach throm-botischem Verschluss oder direkt ver-letzungsbedingt ohne oder mit trophi-schem Ulkus können bei einseitigerAusprägung zwischen 10 und 40%, beibeidbeinigem Befall zwischen 20 und60% MdE angemessen sein (Tabelle 3).Schäden an den Nerven des Unter-schenkels können die Erwerbsfähigkeitin Abhängigkeit vom Schweregrad, derKomplexität und trophischen Folge-

S178 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Unterschenkelfraktur

W. Otto

Degree of disablement after lower leg fractures

Abstract

Fractures of the lower leg shaft vary widelyin the bony lesions and in the soft tissuedamage sustained. Long-term impairmentcannot always be avoided.The patient’s sub-jective feelings of wellbeing or otherwise donot necessarily correlate with the objectivefindings on medical examination.The degreeof disablement after fractures of the lowerleg is measured with reference to the seg-ment of the limb that is totally lost and tothe remaining functional capacity. Compre-hensive recommendations are available inreference manuals on medical assessment, insome cases with commentaries.They are forexpert witnesses to use as guidelines; in ad-dition they are expected to draw on their ex-perience as trauma surgeons in hospital andprivate practice and to give due considera-tion to the current status of medical sciencewhen they give opinions and recommenda-tions on the causality of an injury, the degreeof impairment that will persist and the sta-tus of medical treatment. It is only throughaccessing this special knowledge that acci-dent insurances can reach an appropriatedecision on the degree of disablement. It canrange between 0 and 70% and has to be as-sessed according to the individual findingsin each case.

Keywords

Injury pattern · Lower leg shaft fractures ·Loss of function · Evaluation criteria · Individ-ual decision

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S177–S179 © Springer-Verlag 2001

Tabelle 1MdE bei Fehlheilungsergebnissennach Unterschenkelschaftfraktu-ren, nach Izbicki et al. [1]

Fehlheilung Grad [°] Anteil [%]

Varus > 10 20Valgus > 10 25Rekurvation > 10 25

Tabelle 2MdE bei Gelenkschäden nach Unterschenkelschaftfrakturen, nach Izbicki et al. [1]

Gelenkschäden Anteil [%]

Arthrose im Kniegelenk 10–30Beweglichkeit im Kniegelenk 0/0/120° 10Beweglichkeit im Kniegelenk 0/0/90° 20Einsteifung im Kniegelenk 0/5/5° 30Einsteifung im Kniegelenk 0/20/20° 40Einsteifung im Kniegelenk 0/30/30° 50Leichtes Wackelknie 20Starkes Wackelknie mit Orthese 30–50Arthrose im OSG 20–40

Ankylose/Arthrodese im OSGHackenfuß > 20° 40Spitzfuß £ 20° 20Spitzfuß > 20° 30

Page 3: MdE nach Unterschenkelfrakturen

schäden um ≥ 40% mindern (s. Tabelle4). Das Kompartmentsyndrom hinter-lässt Schäden im Sinn einer gestörtenTrophik und Funktion bis hin zu anato-mischen Teilverlusten.Sie sind analog zuoben Gesagtem zu bewerten.

Bisher nicht in den vorliegendenEmpfehlungen berücksichtigt sindfunktionelle Schäden im Bereich derHebedefekte nach freiem Lappentrans-fer oder Gewebetransplantation und u. U. auch kosmetische Auswirkungenbzw. Komplikationen. Hier sind Analo-gieschlüsse zu direkten Verletzungsfol-gen zu ziehen.

Anforderungen an den Gutachter

Begutachtung zur MdE nach Unter-schenkelfrakturen setzt Wissen, Erfah-rung und sichere Urteilskraft voraus.Diese können nur von einem langjährigklinisch-praktisch, unfallchirurgisch tä-tigen Chirurgen entwickelt und erwar-tet werden.Der Gutachter hat sich in denDienst der jeweiligen Auftraggeber, alsoder Unfallversicherungsträger, zu stel-

len, denen er Kenntnisse und Erfahrun-gen vermittelt, über die diese sonst nichtverfügen können. Es gilt, Tatsachen fest-zustellen und Befunde so zu erläutern,dass für die Versicherungsträger einesachliche Entscheidung möglich wird.Nach isolierter Unterschenkelfrakturkann die resultierende MdE zwischen 0und 70% liegen. Renten- und Heilver-fahren erhalten durch das fachärztlicheGutachten richtungweisende Impulse.

Der Gutachter muss daher in jedemEinzelfall auf der Grundlage nachprüf-barer, exakt dokumentierter Befundeund gut begründet seine Empfehlunggeben, die einerseits den berechtigtenAnsprüchen des Unfallverletzten undandererseits den Interessen des Unfall-versicherers gerecht wird. Das ist einenicht immer leichte und gerade deshalbbesonders verantwortungsvolle Aufga-be.

Literatur1. Izbicki W, Neumann N, Spohr H (1992) Unfall-

begutachtung, 9. Aufl. de Gruyter, Berlin

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S179

Tabelle 3MdE bei venösen Rückflussstörun-gen, nach Izbicki et al. [1]

Rückflussstörung Anteil [%]

Chronisches ÖdemEin Bein 10–30Beide Beine 20–40

Chronisches Ödem mit Ulkus bzw. trophischen Störungen

Ein Bein ≤ 40Beide Beine ≤ 60

Tabelle 4MdE bei Nervenschäden an Unter-schenkel und Fuß, nach Izbicki et al.[1], Paresen mindern, neurotro-phische Störungen erhöhen Gradder MdE

Nervenschaden Anteil [%]

Plegie des N. tibialis 25Plegie des N. fibularis 25Plegie beider Nerven 40