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Methodik zur Erstellung von
Verletzungsrisikofunktionen aus
Realunfalldaten
Dipl.-Ing. Florian Spitzhüttl
Dipl.-Ing. Henrik Liers
Berlin, November 2016
A N W E N D U N G S B E R E I C H
S E I T E 3
Methodik zur Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen aus Realunfalldaten
Dipl.-Ing. Florian Spitzhüttl
Dipl.-Ing. Henrik Liers
Dresden, November 2016
I . I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
S E I T E I
I Inhaltsverzeichnis
I Inhaltsverzeichnis ...................................................................................................... I
II Formelzeichen ........................................................................................................ III
III Abstract .................................................................................................................. V
1 Einleitung ................................................................................................................ 1
2 Grundlagen von Verletzungsrisikofunktionen .......................................................... 2
2.1 Definition .......................................................................................................... 2
2.2 Abhängige Variable .......................................................................................... 2
2.3 Unabhängige Variablen .................................................................................... 3
2.4 Mathematische Funktion .................................................................................. 4
2.5 Anwendung ...................................................................................................... 6
2.6 Herausforderungen .......................................................................................... 8
3 Statistische Modelle zur Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen .................... 10
3.1 Kurvenanpassung auf Basis relativer Häufigkeiten ........................................ 11
3.2 Logistische Regression .................................................................................. 14
3.3 Contour lines of equal injury severity ............................................................. 18
3.4 Survival-Analysis ............................................................................................ 23
3.5 Grenzen statistischer Modelle ........................................................................ 25
3.6 Bewertung der Modellgüte ............................................................................. 26
4 Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger ................................... 32
4.1 Wahl und Filterung des Datensatzes ............................................................. 32
4.2 Wahl der abhängigen Variable ....................................................................... 34
4.3 Wahl der unabhängigen Variablen ................................................................. 37
4.4 Wahl des statistischen Modells ...................................................................... 50
4.5 Berechnung von Verletzungsrisikofunktionen ................................................ 51
4.6 Diskussion ...................................................................................................... 60
4.7 Anwendungsgrenzen und Hinweise für Anwender ......................................... 68
I . I N H A L T S V E R Z E I C H N I S
S E I T E I I
5 Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen für Radfahrer ..................................... 69
6 Zusammenfassung und Ausblick........................................................................... 79
7 Literaturverzeichnis ............................................................................................... 81
8 Abbildungsverzeichnis ........................................................................................... 84
A Zensierte Daten .................................................................................................... VII
B Erweiterungen des „Contour lines of equal injury severity” .................................... XI
C Beispielfälle für auffällige PKW-Radfahrerunfälle ................................................ XIII
D Einfluss des Sekundäranpralls auf die Verletzungsschwere ................................ XV
I I . F O R M E L Z E I C H E N
S E I T E I I I
II Formelzeichen
Große Buchstaben
Formelzeichen Beschreibung
AIS Abbreviated Injury Scale
BRPX Berührpunkt (Erstkontakt) am Fahrzeug in x-Richtung
CDC Collision Deformation Characteristics (SAE J224)
D Definitionsbereich einer Funktion 𝑓: 𝐷 → ℝ
F Sterbe-/Verletzungswahrscheinlichkeit
H Absolute Summenhäufigkeit
ISS Injury Severity Score
ISSx Metrischer ISS
MAIS Maximaler AIS-Wert
MAISFzg Maximaler AIS-Wert aller am Fahrzeug entstandenen Verletzungen
MAISSek Maximaler AIS-Wert aller beim Sekundäranprall entstandenen Verletzungen
R Relative Summenhäufigkeit
R2 Bestimmtheitsmaß oder Determinationskoeffizient
S Überlebensfunktion (engl. Survival Function)
X Zeitraum bis zum Eintreten eines Ereignisses
Kleine Buchstaben
Formelzeichen Beschreibung
a Anstieg einer linearen Funktion
b Ordinatenabschnitt einer linearen Funktion
e Eulersche Zahl (𝑒 ≈ 2,71828183)
h Absolute Häufigkeit
i, j, k Laufvariablen
n Fallzahl
p Wahrscheinlichkeit
r Relative Häufigkeit
t Zeitraum
v Geschwindigkeit
x Unabhängige Variable
y Abhängige Variable
𝜀 Stoßzahl oder Restitutionskoeffizient
I I . F O R M E L Z E I C H E N
S E I T E I V
Indizes
Formelzeichen Beschreibung
0 Anfangs-/Initialwert
fatal getötet
FG Fußgänger
g Grenzwert
ges Gesamt
ISSx Metrische ISS
i Laufindex
j Laufindex
k Kollision
klass Klassifikationsergebnis
krit kritisch
MAIS1 MAIS = 1
MAIS2+ MAIS ≥ 2
MAIS3+ MAIS ≥ 3
n Endwert (variabel)
o Oberer Schwellenwert
PKW Fahrzeug/PKW
Rad Radfahrer
rel Relativ
u Unterer Schwellenwert
Abkürzungen
Formelzeichen Beschreibung
AEB Autonomous emergency braking
AIC „Akaike Information Criterion”
AUC Area Under Curve
BASt Bundesanstalt für Straßenwesen
BIC „Bayesian Information Criterion”
engl Englisch
EuroNCAP Europäisches Neuwagen-Bewertungs-Programm
FAT Forschungsvereinigung Automobiltechnik
FARS Fatality Analysis Reporting System
GIDAS German In-Depth Accident Study
IRF Injury Risk Function
JDME Jahr der Markteinführung des Fahrzeugmodells
ROC Receiver Operating Characteristics
SHT Schädel-Hirn-Trauma
VDA Verband der Automobilindustrie
VRF Verletzungsrisikofunktion
VUFO Verkehrsunfallforschung an der TU Dresden GmbH
I I I . A B S T R A C T
S E I T E V
III Abstract
Verletzungsrisikofunktionen gewinnen in der Fahrzeugsicherheit zunehmend an Be-
deutung. Ob zum Verständnis von Verletzungsmechanismen, der Definition von
Schutzkriterien oder der Übertragung von Simulationsergebnissen auf das Unfallge-
schehen, häufig bedarf es Aussagen zum Zusammenhang von technischen Unfall-
parametern wie Belastung oder Unfallschwere und der prognostizierten Verletzungs-
schwere. Zur Erstellung der statistischen Modelle sind bisher keine standardisierten
und allgemein anerkannten Festlegungen etabliert. Ziel der Arbeit ist die Erarbeitung
einer konsistenten, zusammenhängenden Vorgehensweise zur Erstellung von Ver-
letzungsrisikofunktionen aus Realunfalldaten, mit dem Schwerpunkt der Betrachtung
und Bewertung bereits angewendeter statistischer Modelle. Als Ergebnis werden
Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger und Radfahrer in frontalen PKW-
Kollisionen erstellt.
Für eine umfassende Untersuchung werden allgemeine Grundlagen von Verlet-
zungsrisikofunktionen zusammengetragen und erläutert. Als Ergebnis einer Literatur-
recherche sowie Befragung von Fachabteilungen verschiedener Automobilhersteller
werden die etablierten statistischen Modelle:
Kurvenanpassung auf Basis relativer Häufigkeiten
Binär logistische Regression
Multinomiale logistische Regression
Contour lines of equal injury severity
Survival-Analysis
analysiert und hinsichtlich Anwendbarkeit für die Erstellung von Verletzungsrisiko-
funktionen bewertet.
Die erarbeitete Vorgehensweise wird für PKW-Fußgänger- und PKW-Radfahrer-
Unfälle auf Basis der Realunfalldatenbank GIDAS (German In-Depth Accident Stu-
dy) umgesetzt. Dafür werden auf Basis der konkreten Fragestellung Randbedingun-
gen definiert, ein statistisches Modell formuliert und anschließend Verletzungsrisiko-
funktionen für die verwendete Stichprobe erzeugt. Die wesentlichen Punkte sind die
Identifikation der Zielvariablen, die Analyse und Bewertung potentieller Einflusspa-
rameter und die Wahl des statistischen Modells. Darauf basierend erfolgt die Be-
rechnung der Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger und Radfahrer in frontalen
PKW-Kollisionen. Bedeutsam sind Beurteilungen zur Modellgüte, um Aussagen dar-
über treffen zu können, wie gut das statistische Modell die Beobachtungen innerhalb
der Stichprobe erklärt.
I I I . A B S T R A C T
S E I T E V I
Als wesentliche Einflussparameter werden Kollisions- (Fußgänger) bzw. Relativge-
schwindigkeit (Radfahrer), Alter der Person (Bildung homogener Altersgruppen: Kin-
der, Erwachsene, ältere Menschen), Stoßart am Fahrzeug (frontaler Vollstoß) und
Alter des Fahrzeugmodells (PKW-Modelle, die ab dem Jahr 2000 in den Markt ein-
geführt wurden) dargelegt. Unter Verwendung der binären logistischen Regression
werden Modelle für MAIS2+ bzw. MAIS3+ verletzte Erwachsene sowie ältere Fuß-
gänger erstellt und die zugehörigen Verletzungsrisikofunktionen dargestellt. Sie er-
reichen gute Werte der Modellgütekriterien und können Anwendung bei der Bewer-
tung von Fahrzeugsicherheitssystemen finden. Für die Modelle für Kinder oder getö-
tete Fußgänger stehen aufgrund der gewählten Randbedingungen nur sehr geringe
Fallzahlen zur Verfügung, wodurch momentan noch keine robusten Modelle erstellt
werden können.
Die Fußgängermodelle werden analog auf PKW-Radfahrer-Unfälle angewendet. An-
stelle der Kollisionsgeschwindigkeit wird die für Radfahrer besser geeignete Relativ-
geschwindigkeit verwendet. Die erzielten Modellgütekriterien liegen nicht in einem
akzeptablen Bereich für eine valide Bewertung des Verletzungsrisikos von Radfah-
rern in PKW-Kollisionen. Sie suggerieren aufgrund der komplexen Anprallkonstellati-
onen eine große Heterogenität der Gruppen. Eine genauere Betrachtung hinsichtlich
Kollisionskonstellation und Prädiktionsparametern verspricht hier robustere Wahr-
scheinlichkeitsmodelle.
1 E I N L E I T U N G
S E I T E 1
1 Einleitung
Verletzungsrisikofunktionen (VRF) (engl.: „Injury Risk Function”, IRF) sind substanti-
elle Hilfsmittel für die Bewertung von Fahrzeugsicherheitssystemen. Sie dienen der
Prognose zu erwartender Verletzungsschweren in Abhängigkeit eines oder mehrerer
Unfallparameter(s). Sie kommen vor allem dann zur Bewertung von Systemen zum
Einsatz, wenn warnende und/oder eingreifende Systeme den Ablauf eines realen
Unfalls verändern (könnten).
Aktuell werden viele verschiedene statistische Modelle zur Erstellung von Verlet-
zungsrisikofunktionen verwendet und es ist keine standardisierte und allgemein an-
erkannte Vorgehensweise etabliert (Banglmaier et al. [6], Hasija [14], Kröyer et al.
[22], Niebuhr et al. [32], [33]). Die mithilfe unterschiedlicher Modelle erzeugten Funk-
tionen können bei gleicher Stichprobe (engl.: „sample“) sowohl nahe beieinanderlie-
gen, als auch große Unterschiede aufweisen (z.B. Hasija [14]). Daher sind die Re-
sultate einer Bewertung eines Systems im Realunfallgeschehen stark abhängig von
dem gewählten statistischen Modell.
Die Harmonisierung und Empfehlung einer anerkannten Vorgehensweise für die Er-
stellung von Verletzungsrisikofunktionen aus Realunfalldaten ist von großem Inte-
resse für eine einheitliche Bewertung von Fahrzeugsicherheitssystemen. Für biome-
chanische Stichproben wird derzeit an einem ISO-Dokument für die Erzeugung von
Verletzungsrisikofunktionen gearbeitet [18]. Im Bereich der Fahrzeugsicherheitsfor-
schung bzw. bei der Nutzung realer Unfalldaten ist eine harmonisierte Vorgehens-
weise ebenfalls erstrebenswert.
Bisher wurden nur wenige Verletzungsrisikofunktionen aus Unfalldatenbanken mit
großen Fallzahlen veröffentlicht ([15], [32], [36], [40]). Ziel der vorliegenden Studie ist
es, eine Übersicht über aktuell verwendete statistische Modelle zu geben und nach
Auswahl einer geeigneten Methode konkrete Verletzungsrisikofunktionen für Fuß-
gänger und für Radfahrer auf Basis der Realunfalldatenbank GIDAS (German In-
Depth Accident Study) als Grundlage für die Bewertung von Fahrzeugsicherheitssys-
temen zu erstellen.
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 2
2 Grundlagen von Verletzungsrisikofunktionen
2.1 Definition
Die Bezeichnung Verletzungsrisikofunktion (VRF, engl.: Injury Risk Function, IRF)
sowie deren Charakter sind im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Begriff-
lichkeiten nicht sauber definiert. Verbreitung finden die VRF nahezu ausschließlich
im Bereich der Biometrie / Biomechanik sowie der Fahrzeugsicherheitsforschung.
Sie stellen prinzipiell eine interdisziplinäre Schnittstelle dieser beiden Bereiche dar.
Ein Großteil der biomechanischen Untersuchungen trägt zum Verständnis von Ver-
letzungsmechanismen bei Verkehrsunfällen bei und wird in zunehmendem Maße als
Werkzeug für Fahrzeugsicherheitsstudien angewandt. Dennoch lassen sich zwi-
schen den Disziplinen Unterschiede hinsichtlich der verwendeten Größen, Zielstel-
lungen und eingesetzten Verfahren feststellen, auf die im Verlauf der Studie einge-
gangen wird.
Eine Verletzungsrisikofunktion beschreibt die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen
eines bestimmten Zielereignisses (abhängige Variable) in Abhängigkeit von einer
oder mehreren Einflussgrößen (unabhängige Variable) für eine bestimmte Populati-
on.
2.2 Abhängige Variable
Das Zielereignis der Verletzungsrisikofunktion wird als abhängige Variable (engl.:
dependent variable) bezeichnet. Sie ist meist binär bzw. dichotom, kann aber auch
multinomial ausgeprägt sein.
Im Bereich der Fahrzeugsicherheit und Verkehrsunfallforschung wird damit gemein-
hin das Eintreten einer gewissen (Mindest-) Verletzungsschwere beschrieben. Dafür
wird eine messbare oder beobachtete (meist ordinal skalierten) Größe 𝑧 mithilfe ei-
nes zugehörigen, festgelegten Grenzwerts 𝑧𝑔 in die binäre abhängige Variable 𝑦
überführt:
𝑦 = { 1 𝑓ü𝑟 𝑧 ≥ 𝑧𝑔
0 𝑓ü𝑟 𝑧 < 𝑧𝑔 (2.1)
So gilt beispielsweise für die abhängige Variable bei der Betrachtung der Wahr-
scheinlichkeit, dass eine Person mindestens eine Verletzungsschwere nach der
„Abbreviated Injury Scale“ (AIS, weiterführende Informationen in [10]) von 2 oder
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 3
größer (entspricht einem maximalen AIS der Person (MAIS) von 2 oder größer; als
„MAIS2+“ bezeichnet) erleidet:
𝑦 = { 1 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 ≥ 2 0 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 < 2
(2.2)
Es ist möglich Verletzungsrisikofunktionen für die Verletzungsschwere für
die gesamte Person (bspw. amtliche Verletzungsschwere, MAIS, ISS etc.)
Einzelverletzungen (bspw. AIS)
Körperregionen (bspw. AISKopf).
zu erzeugen.
Häufig werden Verletzungsrisikofunktionen für die folgenden Zielvariablen erzeugt:
pMAIS2+ Wahrscheinlichkeit, mindestens MAIS2+ verletzt zu sein MAIS2+ = 0 MAIS0, MAIS1
MAIS2+ = 1 MAIS2, MAIS3, MAIS4, MAIS5, MAIS6
pMAIS3+ Wahrscheinlichkeit, mindestens MAIS3+ verletzt zu sein MAIS3+ = 0 MAIS0, MAIS1, MAIS2
MAIS3+ = 1 MAIS3, MAIS4, MAIS5, MAIS6
pschwer Wahrscheinlichkeit, mindestens schwer verletzt zu sein schwer = 0 unverletzt, leicht verletzt
schwer = 1 schwer verletzt, getötet
pgetötet Wahrscheinlichkeit, (mindestens) getötet zu sein getötet = 0 unverletzt, leicht verletzt, schwer verletzt
getötet = 1 getötet
2.3 Unabhängige Variablen
Die Einflussgrößen auf die abhängige Variable werden unabhängige Variablen (auch
Prädiktoren, engl.: independent variables; prediction variables) genannt. Es sind
physikalische Parameter, die das Zielereignis prädizieren sollen.
Es sei
𝒙 = [𝑥1, 𝑥2, 𝑥3, ⋯ , 𝑥𝑛]𝑇 (2.3)
ein Vektor zur Beschreibung der unabhängigen Variablen 𝑥1, 𝑥2, 𝑥3, ⋯ , 𝑥𝑛.
Die unabhängigen Variablen können Eigenschaften einer
Nominalskala (Bsp.: männlich/weiblich, Audi/BMW/Mercedes/OPEL/VW/…)
Ordinalskala (Bsp.: AIS 1 - 6)
Kardinalskala (Bsp.: Modelljahr, Alter)
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 4
besitzen. Zusätzlich unterscheidet man in kategoriale (diskrete) und metrische (steti-
ge und quasistetige) Größen. Im Bereich der Fahrzeugsicherheit und Verkehrsunfall-
forschung sind das in erster Linie Größen, welche die Kollisions- oder Anprallschwe-
re beschreiben:
Physikalische Parameter
Bsp.: Kraft, Moment, Geschwindigkeit, Beschleunigung, etc.
Darüber hinaus können die unabhängigen Variablen auch
physiologische / individuelle Parameter
Bsp.: Geschlecht, Alter, Gewicht, Größe, Vorerkrankungen etc.
situative Parameter
Bsp.: Stoßseite, Gurtnutzung, Anprallpunkt etc.
fahrzeugspezifische Eigenschaften
Bsp.: Fahrzeugalter, Existenz passiver Systeme, Frontkonturgestaltung etc.
umfassen.
In der Biomechanik werden häufig so genannte Verletzungskriterien (engl.: injury
criterion) als Prädiktionsgrößen benutzt. Bei ihnen handelt es sich um physikalische
Parameter, die mit einem Verletzungsschweremaß (einer bestimmten Körperregion)
korrelieren (vgl. [18]). Beispiele sind der HIC15, der Nij, sowie die Brusteindrückung
(engl.: chest deflection) oder die Brustbeschleunigung (engl.: chest acceleration).
2.4 Mathematische Funktion
Mithilfe der mathematischen Funktion wird die Eintrittswahrscheinlichkeit 𝑝 der ab-
hängigen Variable 𝑦 als Funktion der unabhängigen Variable(n) 𝒙 modelliert:
𝑝(𝑦 = 1) = 𝑓(𝒙) (2.4)
Aufgrund der dichotomen (0 oder 1) Charakteristik der abhängigen Variable 𝑦 be-
steht der Zusammenhang, dass sich die Summe der Wahrscheinlichkeiten der Kom-
plementärereignisse zu 1 ergibt:
𝑝(𝑦 = 0) + 𝑝(𝑦 = 1) = 1 (2.5)
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 5
Generell existiert keine vorgegebene mathematische Funktion 𝑓(𝒙), mit der eine
Verletzungsrisikofunktion beschrieben wird. Da es sich dabei aber um eine Wahr-
scheinlichkeitsfunktion handelt, müssen im Allgemeinen folgende Bedingungen er-
füllt sein (Ausnahmen s.u.):
A1 Die beiden Extremwerte 0 und 1 dürfen nicht unter- bzw. überschritten
werden:
0 ≤ 𝑝(𝒙) ≤ 1 𝑓ü𝑟 𝒙 ∈ 𝐷 (2.6)
A2 Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer bestimmten Verletzungs-
schwere muss 0 sein, wenn alle unabhängigen Variablen 𝒙 null sind:
𝑝(𝒙 = 0) = 0 (2.7)
A3 Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer bestimmten Verletzungs-
schwere muss 1 sein, wenn alle metrischen, abhängigen Variablen 𝒙 ge-
gen ∞ streben (bzw. kategoriale/nominale Variablen die Ausprägungen an-
nehmen, welche zur höchsten Eintrittswahrscheinlichkeit der Zielvariable
führt):
𝑝(𝒙 → ∞) = 1 (2.8)
A4 Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer bestimmten Verletzungs-
schwere muss bei äquivalentem Unfallszenario größer oder gleich sein
(monoton steigend), wenn auch eine unabhängige Variable größer ist:
𝑝(𝑥𝑖 ≥ 𝑙) ≥ 𝑝(𝑥𝑖 ≥ 𝑘) 𝑓ü𝑟 𝑎𝑙𝑙𝑒 𝑘, 𝑙 ∈ 𝐷 𝑚𝑖𝑡 𝑙 ≥ 𝑘 (2.9)
A5 Die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einer bestimmten Verletzungs-
schwere 𝑧𝑘 muss größer oder gleich sein als die Wahrscheinlichkeit für das
Eintreten einer höheren Verletzungsschwere 𝑧𝑙:
𝑝(𝑧 ≥ 𝑧𝑘) ≥ 𝑝(𝑧 ≥ 𝑧𝑙) 𝑓ü𝑟 𝑎𝑙𝑙𝑒 𝑧𝑘 , 𝑧𝑙 ∈ 𝐷 𝑚𝑖𝑡 𝑧𝑙 > 𝑧𝑘 (2.10)
Dabei kann es je nach Modellierung des statistischen Modells Ausnahmen für diese
Bedingungen geben. Ein Beispiel dafür, dass Bedingung A2 nicht erfüllt sein muss
findet sich bei der üblichen Anwendung der Kollisionsgeschwindigkeit des gegneri-
schen Fahrzeugs als Prädiktor für das Verletzungsrisiko von Fußgängern. Dabei
können auch bei einer Kollisionsgeschwindigkeit von 𝑣𝑘 = 0 𝑘𝑚
ℎ sowohl durch die
Eigengeschwindigkeit des Fußgängers, als auch durch Stürzen infolge eines Aus-
weichens oder Erschreckens und dem damit verbundenem Sekundäranprall auf der
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S E I T E 6
Straßenoberfläche Verletzungen entstehen. Wird das Modell um eben diese Prä-
diktoren erweitert, muss die Wahrscheinlichkeitsfunktion wieder der Bedingung A2
entsprechen, insofern keine weiteren Einflüsse relevant sind.
Ein Beispiel dafür, dass Bedingung A4 nicht in allen Fällen erfüllt sein muss ist die
Wahl des Prädiktors „Alter des Fußgängers“. Aufgrund der Anatomie von Kindern
(Skelettentwicklung, Muskulaturentwicklung) und der im Vergleich zu Erwachsenen
veränderten Anprallstellen von Kindern am Fahrzeug infolge der geringeren Körper-
größe ist das Verletzungsrisiko 𝑝(𝐴𝑙𝑡𝑒𝑟) nicht zwangsläufig für alle Bereiche des Al-
ters monoton steigend.
Es ist daher immer eine Frage des Modells, ob alle Bedingungen obligatorisch sind.
Die Aufgabe bei der Erzeugung von Verletzungsrisikofunktionen ist es, eine geeigne-
te Funktion zu finden, die den Randbedingungen genügt und die empirisch beobach-
teten Daten angemessen abbildet. Der Verlauf der Funktion wird dabei einerseits
durch die Vorgabe der mathematischen Funktion und andererseits durch die ermit-
telten Koeffizienten bestimmt. Sehr häufig kommen logistische Grundfunktionen zum
Einsatz, da sie sich mit ihrem sigmoiden („S-Form“) Verlauf sehr gut den Punkten
𝑝(𝒙 = 0) = 0 und 𝑝(𝒙 → ∞) = 1 annähern. Zudem sind sie gut für die Abbildung von
Dosis-Wirkungs-Beziehungen geeignet, die sich auch im Bereich der Biomechanik
und Fahrzeugsicherheit häufig finden lassen („je mehr [Belastung], … desto [höher
die Verletzungsschwere]“). Neben den logistischen Kurven existieren auch einige
andere Funktionen, die jeweils verschiedene Vor- und Nachteile aufweisen. Ab-
schnitt 3 befasst sich deshalb mit den statistischen Modellen zur Erstellung von Ver-
letzungsrisikofunktionen.
2.5 Anwendung
Die Hauptanwendung einer Verletzungsrisikofunktion im Bereich der Verkehrsunfall-
forschung ist deren Nutzung bei der Bewertung aktiver oder passiver Fahrzeugsi-
cherheitssysteme. Die Funktion ist entweder ein Hilfsmittel zur Evaluierung der zu
erwartenden Änderung bei der Unfallschwere durch aktive, in den Unfalleinlauf ein-
greifende Fahrzeugsicherheitssysteme oder wird zur vergleichenden Bewertung ver-
schiedener passiver Maßnahmen angewendet. Durch die Existenz mehrerer Verlet-
zungsrisikofunktionen verschiedener Grenzwerte der abhängigen Variable kann
durch Differenzbildung die Wahrscheinlichkeit für diskrete Ausprägungen ermittelt
werden.
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 7
Abbildung 2.1 – Beispiele für Verletzungsrisikofunktionen inkl. Ablesebeispiel
Abbildung 2.1 zeigt beispielhaft zwei Verletzungsrisikofunktionen für die Wahrschein-
lichkeit verschiedener Verletzungsschweren von Fußgängern (rot – mindestens
schwerverletzt, blau – mindestens leicht verletzt), die mittels binärer logistischer Re-
gression auf Basis von Realunfalldaten erzeugt werden. Abzulesen sind die Wahr-
scheinlichkeiten für verschiedene Verletzungsschweren des Fußgängers in Abhän-
gigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (= Geschwindigkeit des PKW im Moment der
frontalen Fußgängerkollision). Veranschaulicht wird die Vorgehensweise für die ge-
nannte Anwendung zur Bewertung aktiver Sicherheitssysteme am Beispiel einer
Notbremsfunktion für drohende Fußgängerkollision an der Fahrzeugfront (Pedestrian
AEB). Wenn es per Systemeingriff und/oder durch eine Fahreraktion gelingt, die Kol-
lisionsgeschwindigkeit (des Realunfalls) von 50 km/h zu reduzieren (im Beispiel auf
40 km/h), verändern sich die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Verletzungs-
schweregrade. Wichtig ist dabei, dass diese Methode einen statistischen Ansatz
darstellt und nicht für den Einzelfall anzuwenden ist. In der Regel werden mehrere
hundert oder sogar tausend Realunfälle (ohne Sicherheitssystem) simuliert (mit Si-
cherheitssystem) und am Ende mittels Verletzungsrisikofunktion miteinander vergli-
chen.
Verletzungsrisikofunktionen werden also in der Regel retrospektiv aus empirischen
Daten ermittelt und dienen der prospektiven Bewertung zukünftiger Sicherheitssys-
teme. Sie stellen eine wichtige Möglichkeit dar, die Folgen veränderter (aber nicht
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
Wah
rsch
ein
lich
keit
p in
%
Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
p (schwerverletzt+)
p (getötet)p(leicht verletzt) = 17 %
p(getötet) = 23 %
p(schwer verletzt) = 60 %
p(leicht verletzt) = 26 %
p(getötet) = 12 %
Unfall mit System (bspw. AEB):
vk = 40 km/h
Realunfall:
vk = 50 km/h
p(schwer verletzt) = 62%
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 8
verhinderter) Unfälle zu bewerten. Sie können außerdem auch innerhalb einer Fahr-
zeugfunktion eingesetzt werden (bspw. Qualifizierung des e-Calls durch Prädiktion
der zu erwartenden Verletzungsschwere in Abhängigkeit der vom Fahrzeug ermittel-
ten Unfallschwere sowie ggf. individuellen Eigenschaften des Fahrers).
2.6 Herausforderungen
Allgemein ergeben sich bei der Erstellung einer Verletzungsrisikofunktion einige
Herausforderungen, die die Zuverlässigkeit stark beeinflussen. Praxl [37] hat für den
Bereich der Biomechanik die folgenden vier Faktoren bewertet:
Stichprobe (engl.: sampling)
Die Unsicherheit aufgrund von statistischen Rückschlüssen von einer Stich-
probe auf die Grundgesamtheit wird „Effekt der Stichprobe“ genannt.
Geringe Stichprobengrößen (in biomechanischen Studien meist kleiner 100)
führen nicht selten zur Notwendigkeit der Interpolation/Imputation oder Aus-
wertung statistisch unzureichender Datensätze.
Darüber hinaus ist die Verteilung der Personen nicht gleich der Verteilung in
der Gesamtpopulation. So resultieren beispielsweise physiologische Unter-
schiede in biomechanischen Untersuchungen mit Leichen auf der Tatsache,
dass hier zumeist die Körper älterer Menschen untersucht werden, woraus
abweichende Ergebnisse zum lebenden Menschen resultieren ([13], [44]).
Zensierung von Daten (engl.: censoring)
Die Unsicherheit aufgrund der Ungenauigkeit bei der Bestimmung der Tole-
ranzgrenzen wird „Effekt der Zensierung“ genannt.
Geprüfte Belastungsgröße (engl.: test severities)
Die Unsicherheit der Verletzungsschwereprädiktion aufgrund der im Test ge-
wählten Belastungsgröße bezeichnet Praxl als „Effekt der Prüfung“.
Statistisches Modell (engl.: statistical model)
Die Verzerrungseffekte aufgrund der gewählten statistischen Methode für die
Erstellung der Verletzungsrisikofunktion werden unter der Bezeichnung „Effekt
der Statistik“ zusammengefasst.
2 G R U N D L A G E N V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 9
Einige der genannten Herausforderungen für biomechanische Tests können bei der
Analyse von Realunfalldaten umgangen werden, während andere im gleichen Um-
fang zu berücksichtigen sind.
So besteht ein großer Vorteil von Realunfalldaten darin, dass/wenn in der entspre-
chenden Datenbank große Fallzahlen enthalten sind. Damit stellt sich das Problem
der Stichprobengröße in deutlich geringerem Ausmaß. Dagegen ist es wichtig, die
Repräsentativität / Allgemeingültigkeit des Datensatzes zu betrachten. Die spezifi-
schen Aufnahmekriterien und Zielstellungen der Datenerfassungen führen zu Ver-
zerrungen der Grundgesamtheit. Zum Beispiel enthält die amerikanische Datenbank
„Fatality Analysis Reporting System“ (FARS) nur Verkehrsunfälle mit Todesfolge. Sie
umfasst zwar große Datenmengen, lässt aber keine allgemeingültigen Aussagen
zum Verletzungsrisiko zu.
Im Gegensatz dazu beinhaltet die GIDAS-Datenbank Unfälle, bei denen mindestens
eine Person verletzt wurde. Damit ist sie allgemeingültiger als die FARS Datenbank,
beinhaltet aber wiederum keine Unfälle mit Sachschaden. Generell findet sich dieses
Problem in ähnlicher Form bei fast allen Unfalldatenbanken wieder. Eine Betrach-
tung des verwendeten Datensatzes erfolgt im Abschnitt 4.1.
Die Zensierung von Realunfalldaten spielt keine entscheidende Rolle. Sie sind na-
hezu immer links- und rechtszensiert, da sie nicht reproduzierbar sind und immer
multivariate Einzelereignisse darstellen.
Die Wahl des Bereichs der geprüften Belastungsgröße ist für biomechanische Tests
eine wichtige Einflussgröße und ein Ungenauigkeitsfaktor. Für Realunfalldaten spielt
das keine Rolle. Die Existenz von Rekonstruktionsdaten liefert diverse Parameter,
die zur Beschreibung der Unfallschwere herangezogen werden können. Daraus
folgt, dass die Bestimmung der Belastungen nicht aus der Simulation bzw. aus
Dummy-Tests heraus erfolgen muss. Die Verteilung der Verletzungsschwere (ab-
hängige Variable) und der beeinflussenden Größen (unabhängige Variablen) im Da-
tensatz ist dagegen eine wichtige Betrachtung für die Einschätzung der Vertrauens-
bereiche der Verletzungsrisikofunktion.
Das zugrundeliegende statistische Modell hat auch für Verletzungsrisikofunktionen
aus Realunfalldaten einen wichtigen Einfluss. Daher werden im folgenden Abschnitt
3 verschiedene statistische Modelle zur Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen
genauer betrachtet.
3 S T A T I S T I S C H E M O D E L L E Z U R E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 1 0
3 Statistische Modelle zur Erstellung von Verletzungsri-
sikofunktionen
Wie in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben existieren für die Erstellung
von Verletzungsrisikofunktionen auf Basis von Realunfalldaten bisher keine festen
Normen. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich vor allem aus der Vielzahl möglicher
statistischer Modelle und der speziellen Eigenschaften der zu Grunde liegenden Da-
ten. Diverse Arbeiten haben sich bereits mit unterschiedlichen Betrachtungsweisen
(häufig aus der Biomechanik) mit den Unterschieden/Gemeinsamkeiten und Unge-
nauigkeiten verschiedener Methoden auseinandergesetzt (u.a. [6], [14], [22], [24],
[37]).
In diesem Abschnitt wird als Ergebnis einer Literaturrecherche, sowie der Befragung
von Fachabteilungen verschiedener Automobilhersteller ein Überblick über verwen-
dete statistische Modelle gegeben und deren Vor- und Nachteile bezüglich der Er-
stellung von Verletzungsrisikofunktionen aus Realunfalldaten aufgeführt. Die Aspek-
te der Verbreitung in der Fachwelt, der Anwendbarkeit im Bereich der Fahrzeugsi-
cherheit und benötigter Datengrundlagen werden bei der Bewertung berücksichtigt.
Die folgenden Modelle haben sich dabei als etablierte Ansätze gezeigt und werden
in den folgenden Abschnitten aufgeführt:
Kurvenanpassung auf Basis relativer Häufigkeiten
Binär logistische Regression
Multinomiale logistische Regression
Contour lines of equal injury severity
Survival-Analysis
Es existieren noch weitere Modelle, die nicht oder nur selten Anwendung finden oder
leichte Abwandlungen bzw. Sonderfälle der betrachteten Modelle sind. Sie werden
an dieser Stelle mit einem Literaturhinweis aufgeführt, aber nicht genauer beschrie-
ben:
Probit Regression Model Agresti [1], Schild [41]
Consistent Threshold Method Nusholtz/Mosier [34]
Certainty Method Mertz et. al. [29]
Mertz/Weber Method Mertz/Weber [28]
Modified Logistic Regression Model Nakahira [31], Banglmaier [6]
Risk Curve Evaluation Criteria Nakahira [31]
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S E I T E 1 1
3.1 Kurvenanpassung auf Basis relativer Häufigkeiten
Die Kurvenanpassung auf Basis relativer Häufigkeiten ist ein einfaches Modell zur
Beschreibung eines Verletzungsrisikos in Abhängigkeit einer unabhängigen Variab-
le. Dabei wird für jeden Wert der unabhängigen Variable (bspw. Kollisionsgeschwin-
digkeit) die relative Häufigkeit einer bestimmten Verletzungsschwere (bspw.
MAIS2+) in der Stichprobe gebildet. Im Anschluss wird eine Kurvenanpassung auf
Basis der beobachteten Daten und mit Hilfe der Methode der kleinsten Quadrate
durchgeführt. Damit stellt diese Methode ein Regressionsverfahren dar. Wie in Kapi-
tel 2.4 beschrieben, eignet sich als Grundfunktion für die Modellierung des Zusam-
menhangs zwischen der unabhängigen und der abhängigen Variable eine logisti-
sche Funktion.
Abbildung 3.1 zeigt beispielhaft die Ermittlung der relativen Einzelhäufigkeiten für
jede Kollisionsgeschwindigkeit (rechte Seite) für eine (Mindest-) Verletzungsschwere
𝑀𝐴𝐼𝑆 ≥ 2 (MAIS2+) aus den beobachteten Unfalldaten (linke Seite) und Abbildung
3.2 den zugehörigen Graphen. Anhand der beobachteten Datenpunkte wird ein stei-
gender Verlauf der Wahrscheinlichkeit, MAIS2+ verletzt zu sein, mit steigender Kolli-
sionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 deutlich. Wichtig ist, dass Datenpunkte im unteren Definiti-
onsbereich (niedrige 𝑣𝑘) auf einer größeren Anzahl beobachteter Unfälle basieren
und damit eine tendenziell höhere Genauigkeit besitzen als Punkte bei großen Kolli-
sionsgeschwindigkeiten, die nur sehr selten auftreten.
Abbildung 3.1 – Beispiel für relative Häufigkeiten von MAIS2+ Verletzungen über der Kollisi-
onsgeschwindigkeit aus GIDAS
Dies beruht auf der Charakteristik der Grundgesamtheit. Es ist sinnvoll, die Vertei-
lung der unabhängigen Variable (im Beispiel 𝑣𝑘) in der Grundgesamtheit zu betrach-
ten. In Abbildung 3.2 wird ersichtlich, dass nicht immer für alle diskreten 𝑣𝑘 (entspre-
chend der Diskretisierung 1 𝑘𝑚
ℎ) ausreichend Unfälle in der Grundgesamtheit enthal-
Unfall-Nr. vk MAIS
1 35 5
2 11 1
3 25 2
4 45 3
5 12 2
6 43 1
7 18 1
8 20 1
… … …
1072 54 1
Anteil MAIS2+ je vk (km/h)
vk nMAIS1 nMAIS2+ nges Anteil MAIS2+
0 2 - 2 0%1 1 - 1 0%3 6 - 6 0%4 5 1 6 17%5 22 9 31 29%6 7 2 9 22%7 8 2 10 20%8 9 1 10 10%9 3 1 4 25%
10 40 4 44 9%… … … … …
3 S T A T I S T I S C H E M O D E L L E Z U R E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 1 2
ten sind. Besonders im Bereich hoher 𝑣𝑘 kommt es zu fehlenden Datenpunkten und
Ausreißern infolge geringer Fallzahlen.
Abbildung 3.2 – Beobachtete Anteile (relative Häufigkeiten) aus GIDAS
Anschließend erfolgt die Vorgabe/Auswahl einer geeigneten Regressionsfunktion.
Denkbare Ansätze sind dabei polynomisch (einfach linear, linear quadratisch, linear
kubisch etc.), exponentiell, logistisch u.a. Die Funktionsform wird durch Minimierung
des Fehlers mittels der Methode der kleinsten Quadrate bestimmt. Abbildung 3.3
zeigt die Beispiele einer linearen Regression mit verschiedenen Polynomgraden so-
wie Randbedingungen.
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
Re
lati
ve H
äufi
gke
it r
(vk) i
n %
Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
Anteil MAIS2+ verletzter Fußgänger bei PKW-Frontalanprallen in Abhängigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (GIDAS, n = 1.072)
Datenpunkt basiert auf 81 Werten
Datenpunkte basieren auf 2 Werten
vermeintliche Ausreißer (Basis: 1 Unfall)
kein Unfall mit diesem vk
kein Datenpunkt
3 S T A T I S T I S C H E M O D E L L E Z U R E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 1 3
Polynom 1. Grades Polynom 1. Grades + Randbed. [0;0]
Polynom 2. Grades Polynom 3. Grades
Abbildung 3.3 – Bestimmung einer Regressionsfunktion
Ein großer Vorteil des Modells ist die Anpassung der Kurve auf Basis der beobachte-
ten Daten. Dabei ist die Kurvenform (Regressionsfunktion) frei wählbar, was den
Verlauf deutlich beeinflusst. Zusätzlich kann ein Nulldurchgang erzwungen werden,
womit die Bedingung A2 erfüllt wird.
Dagegen muss die Funktion nicht notwendigerweise monoton steigend sein (keine
Erfüllung von Bedingung A4) und kann auch Funktionswerte 𝑝(𝒙) < 0 (ohne
Zwangsbedingung) oder 𝑝(𝒙) > 1 annehmen (keine Erfüllung von Bedingung A1
bzw. A3). Das bedeutet, dass keine Wahrscheinlichkeitsaussage möglich ist. Eine
multivariate Betrachtung ist mit dieser Methode nur bedingt möglich. Es erfolgt keine
Gewichtung der einzelnen Datenpunkte untereinander.
Zusammenfassend ist das statistische Modell der Kurvenanpassung auf Basis relati-
ver Häufigkeiten nur bedingt für die Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen an-
p > 100% !
y = 0.0099x + 0.1243R² = 0.7049
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
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(vk) i
n %
Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
Anteil MAIS2+ verletzter Fußgänger bei PKW-Frontalanprallen in Abhängigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (GIDAS, n = 1.072)
Wa
hrs
ch
ein
lich
ke
itp
in
%
y = 0.012xR² = 0.6624
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
Re
lati
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äufi
gke
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(vk) i
n %
Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
Anteil MAIS2+ verletzter Fußgänger bei PKW-Frontalanprallen in Abhängigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (GIDAS, n = 1.072)
Zwangs-punkt
p > 100% !
Wa
hrs
ch
ein
lich
ke
itp
in
%
y = -6E-05x2 + 0.0158x + 0.0222R² = 0.7323
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
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(vk)
in %
Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
Anteil MAIS2+ verletzter Fußgänger bei PKW-Frontalanprallen in Abhängigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (GIDAS, n = 1.072)
p > 100% !
Wa
hrs
ch
ein
lich
ke
itp
in
% y = -8E-07x3 + 8E-05x2 + 0.0098x + 0.076R² = 0.7374
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
Re
lati
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gke
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(vk) i
n %
Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
Anteil MAIS2+ verletzter Fußgänger bei PKW-Frontalanprallen in Abhängigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (GIDAS, n = 1.072)
p > 100% !
Wa
hrs
ch
ein
lich
ke
itp
in
%
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S E I T E 1 4
wendbar, da die in 2.4 genannten Bedingungen nicht notwendigerweise ausreichend
erfüllt werden und eine multivariate Berücksichtigung mehrerer Einflüsse nur bedingt
möglich ist.
3.2 Logistische Regression
Die logistische Regression (auch Logit-Model) versucht über einen Regressionsan-
satz zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis (abhängige Variab-
le) in Abhängigkeit von verschiedenen Einflussgrößen (unabhängige Variablen) zu
erwarten ist [4]. Sie ist also eine statistische Klassifikationsfunktion. Die logistische
Regression wird häufig verwendet, da die Abhängigkeit zwischen abhängiger und
unabhängiger Variable nichtlinear ist.
Unterschieden wird in die binär logistische Regression mit einer dichotom ausge-
prägten abhängigen Variable und die multinomiale logistische Regression mit einer
nominal ausgeprägten abhängigen Variable mit mehr als zwei diskreten Merkmalen.
Meist ist mit dem Begriff der logistischen Regression ohne weitere Hinweise die bi-
näre Form gemeint.
Bei der binär logistischen Regression wird die Wahrscheinlichkeitsfunktion für das
Eintreten einer dichotomen abhängigen Variable (Bsp: getötet: ja/nein) geschätzt.
Dabei wird versucht die (beobachteten) Einflussgrößen (unabhängigen Variablen) zu
bestimmen, welche die Zugehörigkeit zu einer der beiden Ausprägungen am besten
beschreiben.
Durch die Annahme einer latenten Variable 𝑧𝑗 als Linearkombination der unabhängi-
gen Variablen 𝑥𝑖 mit:
𝑧𝑗 = 𝛽0 + ∑ 𝛽𝑖 ∙ 𝑥𝑖,𝑗
𝑛
𝑖=1
(3.1)
wird die Verbindung zwischen abhängiger und beobachteter unabhängiger Variable
hergestellt:
𝑦𝑗 = { 1 𝑓ü𝑟 𝑧𝑗 > 0
0 𝑓ü𝑟 𝑧𝑗 ≤ 0 (3.2)
Die Regressionskonstante 𝛽0 und die Regressionskoeffizienten 𝛽𝑖 (häufig Logit-
Koeffizienten genannt) werden auf Basis der beobachteten (empirischen) Daten in
einem iterativen Algorithmus mittels des Maximum-Likelihood-Verfahrens geschätzt.
3 S T A T I S T I S C H E M O D E L L E Z U R E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 1 5
Im Unterschied zu linearen Regressionsverfahren ist die abhängige Variable nicht
metrisch, sondern nominal und es erfolgt keine Vorhersage tatsächlicher Werte,
sondern deren Eintrittswahrscheinlichkeit. Dafür verwendet das Modell die logisti-
sche Funktion.
𝑝(𝑦 = 1) =1
1 + 𝑒−𝑧 (3.3)
𝑚𝑖𝑡 𝑒 ≈ 2,71828183 (𝐸𝑢𝑙𝑒𝑟𝑠𝑐ℎ𝑒 𝑍𝑎ℎ𝑙)
Die Regressionskoeffizienten β𝑖 geben einen Hinweis auf die Einflussstärke der je-
weiligen unabhängigen Variablen 𝑥𝒊. Die logistische Funktion hat die Eigenschaft,
sich im kompletten Definitionsbereich im Intervall [0; 1] zu bewegen (𝑓: 𝐷 → [0; 1]),
was der Bedingung A1 genügt, und zeigt eine sigmoide (s-förmiger Verlauf), streng
monoton steigende Kurve (Vergleiche Bedingung A4). Außerdem ist sie symmetrisch
zum Wendepunkt 𝑝(𝑦 = 1) = 0,5.
Abbildung 3.4 zeigt das Beispiel einer aus empirischen Daten ermittelten binär logis-
tischen Regressionskurve als Wahrscheinlichkeitsfunktion für MAIS2+ verletzte Fuß-
gänger bei einer frontalen Kollision mit einem PKW in Abhängigkeit von der Kollisi-
onsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 (keine Einschränkung des Fahrzeugalters, inkl. Streifstöße).
Abbildung 3.4 – Beispiel einer binär-logistischen Regressionskurve
0%
10%
20%
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40%
50%
60%
70%
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90%
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0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110
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(vk)
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Kollisionsgeschwindigkeit vk in km/h
Anteil MAIS2+ verletzter Fußgänger bei PKW-Frontalanprallen in Abhängigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit (GIDAS, n = 1.072)
Logistische Regression
Wa
hrs
ch
ein
lich
ke
itp
in
%
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Wie bei allen parametrischen Modellen werden die Parameter (hier: Regressionsko-
effizienten) bei der binär logistischen Regression anhand empirisch beobachteter
Daten geschätzt. Zudem ist eine multivariate Bewertung möglich, um mehrere Ein-
flussgrößen, die die dichotome Ausprägung der abhängigen Variablen beschreiben,
abbilden zu können. Die sigmoide Kurve bildet Dosis-Wirkungs-Beziehungen sehr
gut ab, kann keine Wahrscheinlichkeiten kleiner null oder größer eins annehmen
(Wertebereich 𝑊 = {𝑝(𝑥)|0 < 𝑝(𝑥) < 1}, Vergleiche Bedingung A1) und ist im kom-
pletten Definitionsbereich streng monoton steigend (Vergleiche Bedingung A4).
Hasija [14] hat mehrere statistische Modelle hinsichtlich gut und schlecht korrelie-
render Daten geprüft. Die binär logistische Regression zeigt eine gute Funktionskur-
ve für gut korrelierende Daten und eine schlechte Funktionskurve für wenig korrelie-
rende Daten. Mit anderen Verfahren lassen sich dagegen auch gute Funktionskur-
ven für wenig korrelierende Daten erzeugen.
Nachteilig an der logistischen Funktion ist, dass es mathematisch keinen Nulldurch-
gang geben kann. Damit wird die Bedingung A2 (𝑝(𝒙 = 0) = 0) nicht erfüllt. Die
Wahrscheinlichkeit für einen relevanten Offset von null ist abhängig von der Größe
der Stichprobe.
Je kleiner die Stichprobe, desto wahrscheinlicher ist ein relevanter Offset [37]. Nega-
tiv ist auch die durch die logistische Funktion vorgegebene Kurvenform und Symmet-
rie ohne Bezug zur realen Verteilung. Die Vorgabe der Kurvenform gilt im Grunde für
alle parametrischen Modelle und ist somit nicht als spezielles Problem der logisti-
schen Regression zu sehen.
Die Kurvenanpassung erfolgt besonders gut in Bereichen mit hoher Datendichte. In
Bereichen mit wenig zugrundeliegenden Datenpunkten kann sie dagegen ungenauer
sein. Bei der Erzeugung von binär logistischen Regressionskurven für mehrere Ver-
letzungsschweren ist eine höhere Wahrscheinlichkeit für geringere Verletzungs-
schweren mathematisch möglich. Das bedeutet, dass Schnittpunkte von Kurven,
z.B. MAIS2+ und MAIS3+ in Bereichen mit geringer Datendichte auftreten können
(Vergleiche Bedingung A5). Diese Anforderung kann mithilfe bedingter Wahrschein-
lichkeiten [15] oder mittels der multinomialen logistischen Regression (siehe Ab-
schnitt 3.2) umgangen werden.
Zusammenfassend ist das statistische Modell der binär logistischen Regression eine
etablierte und die am häufigsten genutzte Methode für die Erstellung von Verlet-
zungsrisikofunktionen. Sie ist aufgrund der analytischen Form der Funktion sehr gut
für Systembewertungen einsetzbar. Eine Berücksichtigung mehrerer unabhängiger
Variablen ist möglich (multivariate Bewertung), womit alle Einflüsse im so genannten
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S E I T E 1 7
Logit als Linearkombination dargestellt werden. Die Methode stellt sicher, dass das
Modell in Summe die realen Ergebnisse abbildet (für einen realen Datensatz mit n
Getöteten berechnet das Modell exakt n Getötete). Der Nachteil des fehlenden Null-
durchgangs kann bei entsprechender Einflussgröße (z.B. Kollisionsgeschwindigkeit
des Unfallgegners) plausibel sein oder ist bei vergleichenden / relativen Betrachtun-
gen (bspw. mit vs. ohne System) weniger problematisch. Bei anderen Einflussgrö-
ßen (bspw. Relativgeschwindigkeit) ist dies nicht der Fall. Das Modell eignet sich vor
allem deswegen sehr gut für die Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen, da es
sich an den realen, empirischen Daten orientiert (wenig Annahmen notwendig).
Die multinomiale logistische Regression ist eine Erweiterung der binär logistischen
Regression, bei der die abhängige Variable mehr als zwei Ausprägungen annehmen
kann. Das Vorgehen und die Vor- und Nachteile sind in den meisten Punkten ana-
log. Deshalb wird an dieser Stelle nur auf Unterschiede zur binären Form der logisti-
schen Regression hingewiesen.
Da die abhängige Variable nicht dichotom sein muss (ist sie dichotom, ist das Modell
identisch zur binär logistischen Regression), kann sie auch ein ordinales Skalenni-
veau mit mehr als zwei Ausprägungen besitzen. So können bspw. einzelne MAIS-
Werte oder die Einteilung in leicht verletzt, schwer verletzt und getötet gemeinsam
modelliert werden. Dadurch sind Überschneidungen mehrerer Kurven verschiedener
Verletzungsschweren ausgeschlossen (Vgl. Bedingung A5), was einen zusätzlichen
Vorteil zur binär logistischen Regression darstellt.
Ein Nachteil der multinomialen logistischen Regression besteht in der Verwendung
der gleichen Regressionskoeffizienten 𝛽𝑖 der Funktionskurven für die verschiedenen
Verletzungsschweren.
Das würde bedeuten, dass die unabhängige(n) Variable(n) identischen Einfluss auf
verschiedene Ausprägungen der abhängigen Variablen hat, was sehr fraglich er-
scheint. Insbesondere beim nicht-linearen MAIS eignet sich diese Methode daher
nicht.
Auch die Aufnahme zusätzlicher unabhängiger Variablen zur besseren Beschrei-
bung der Zusammenhänge ist für verschiedene Verletzungsschweren nicht möglich.
Lediglich der Schnittpunkt mit der y-Achse (𝛽0) ist unterschiedlich.
Zusammenfassend ist die multinomiale logistische Regression eine Erweiterung der
etablierten binär logistischen Regression, mit der Überschneidungen der Wahr-
scheinlichkeitskurven verschiedener Ausprägungen der abhängigen Variable zu
vermeiden sind. Dies genügt der Bedingung A5. Die Risikofunktionen für verschie-
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S E I T E 1 8
dene Ausprägungen der abhängigen Variable sind direkt ablesbar. Angesichts der
großen Nachteile wie identische Auswahl der unabhängigen Variablen und identi-
sche Regressionskoeffizienten erscheint die binär logistische Regression mit dem
alternativen Lösungsansatz der bedingten Wahrscheinlichkeit (Helmer [15]) geeigne-
ter.
Das Probit-Regressions-Modell (siehe Agresti [1], Moore [30], Schild [41]) ist der lo-
gistischen Regression (in diesem Zusammenhang häufig Logit-Modell genannt) sehr
ähnlich. Der Hauptunterschied besteht in der unterschiedlichen Verteilungsannahme
für die abhängige Variable. So nimmt das Probit-Modell statt einer logistischen eine
Normalverteilung (Gleichung der Verteilungsfunktion siehe Formel (3.5)) an. Abbil-
dung 3.5 stellt die Dichtefunktionen beider Verteilungsannahmen vergleichend dar.
𝐹(𝑧) = 𝜙(𝑧) =1
√2𝜋∫ 𝑒−1/2𝑡2
𝑑𝑡𝑧
−∞
(3.4)
Im Vergleich führen die Modelle nur zu geringfügig anderen Ergebnissen. Einzig in
der Annäherung an die Ordinatenachse und an die Wahrscheinlichkeit von 1 zeigen
sie leichte Unterschiede.
Abbildung 3.5 – Vergleich der Dichtefunktionen des Logit-Modells und der Normalverteilung
des Probit-Modells [35]
3.3 Contour lines of equal injury severity
Die Methode der „Contour lines of equal injury severity“ ist ein modellbasierter An-
satz, der 2013 von Niebuhr et al. [32] veröffentlicht und Anfang 2015 [33] (Bezug auf
verschiedene Körperregionen) weiterentwickelt wurde.
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S E I T E 1 9
Das Modell beschreibt eine Methodik zur Erstellung einer konsistenten Familie von
Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger. Das Grundmodell ist dabei ein phäno-
menologischer Ansatz der einen exponentiellen Zusammenhang zwischen Verlet-
zungsschwere und Kollisionsgeschwindigkeit annimmt. Das heißt, dass eine Model-
lierung anhand vermuteter Einflüsse erfolgt und sich nicht an Realdaten orientiert.
Das Modell verwendet als abhängige Variable die Verletzungsschwere mithilfe der
metrischen 𝐼𝑆𝑆𝑥-Skala (Vergleiche [19]). Im Folgenden sind die Definitionen des
𝐴𝐼𝑆𝑥 und des 𝐼𝑆𝑆𝑥 aufgeführt.
Metrische 𝐴𝐼𝑆𝑥-Skala:
𝐴𝐼𝑆𝑥[𝑖] ∶= 25
(𝑒5 − 1) ∙ (𝑒𝐴𝐼𝑆[𝑖] − 1) ≈ 0,1696 ∙ (𝑒𝐴𝐼𝑆[𝑖] − 1) (3.5)
𝑚𝑖𝑡 𝐴𝐼𝑆 ≔ [𝐴𝐼𝑆1 ⋯ 𝐴𝐼𝑆9]𝑇 𝑢𝑛𝑑 𝐷 = {𝐴𝐼𝑆𝑖 ∈ ℕ | 0 ≤ 𝐴𝐼𝑆𝑖 ≤ 6}
Metrische 𝐼𝑆𝑆𝑥-Skala:
𝐼𝑆𝑆𝑥 ∶= ∑ 𝐴𝐼𝑆𝑥[𝑖]
3
𝑖=1
(3.6)
Tabelle 3.1 zeigt den Vergleich zwischen dem nicht metrischen 𝑀𝐴𝐼𝑆 zur metrischen
𝐼𝑆𝑆𝑥-Skala.
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Tabelle 3.1 – Vergleich MAIS und ISS zum metrischem ISSx
MAIS ISS ISSx
0 0 0
1 1 … 3 0,29 … 0,87
2 4 … 12 1,08 … 3,25
3 9 … 27 3,24 … 9,71
4 16 … 48 9,09 … 27,27
5 25 … 75 25 … 75
6 75 * 75 *
* per Definition
Als unabhängige Variable wird die Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 verwendet. Dazu
wird festgesetzt, dass eine kritische Geschwindigkeit 𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡 existiert, ab der die Ver-
letzungswahrscheinlichkeit 𝑝(𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡) = 1 beträgt. Für einen Vollstoß ist die exponenti-
elle Funktion in Abhängigkeit von der Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 und der Verlet-
zungsschwere der 𝐼𝑆𝑆𝑥-Skala definiert als:
𝑝𝐼𝑆𝑆𝑥(𝑣𝑘) = 𝑚𝑖𝑛𝑣≥0
{(𝑣𝑘
𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡)
𝐼𝑆𝑆𝑥
, 1} (3.7)
Zusätzlich erfolgt eine Unterscheidung der Stoßart in Vollstoß (engl.: „full-frontal im-
pact“), Streifstoß (engl.: „grazing“) und Beinahe-Zusammenstoß (engl.: „near-miss“)
(siehe dazu Anhang B) und ob ein Kopfanprall stattgefunden hat oder nicht (engl.:
„head impact“ – HI und „avoided head impact“ – AHI).
Abbildung 3.6 zeigt die Kurven für folgende Verletzungsschweren bei einem Vollstoß
mit Kopfanprall:
{𝐼𝑆𝑆𝑥 > 1} = {𝑀𝐴𝐼𝑆2 +}
{𝐼𝑆𝑆𝑥 > 2.5} ≈ {𝐼𝑆𝑆 > 9}
{𝐼𝑆𝑆𝑥 > 5} = {𝐼𝑆𝑆 > 15} = 𝑃𝑜𝑙𝑦𝑡𝑟𝑎𝑢𝑚𝑎
{𝐼𝑆𝑆𝑥 > 10} ≈ {𝑓𝑎𝑡𝑎𝑙}
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S E I T E 2 1
Abbildung 3.6 – Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger mit Kopfanprall (Contour lines of
equal injury severity) [32]
In der Erweiterung der aktuellsten Veröffentlichung werden drei weitere Modellneue-
rungen ergänzt.
Es erfolgt eine Unterscheidung in die Altersklassen 𝑗:
Kinder (engl.: children) 0 – 14 Jahre
Erwachsene (engl.: adults) 15 – 60 Jahre
Ältere Erwachsene (engl.: seniors) älter als 60 Jahre
Vorteile der „Contour lines of equal injury severity“ sind vor allem die streng monoton
steigende Funktion (Vergleiche Bedingung A4) und der enthaltene Zwangspunkt
𝑝(𝑣𝑘 = 0) = 0 . Auch die Unterscheidung nach der Anprallkonstellation in Voll-,
Streifstoß und Beinahe-Kollision erscheint aufgrund deutlicher Unterschiede im Un-
fallablauf und Energieaustausch zwischen PKW und Fußgänger sinnvoll.
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S E I T E 2 2
Darüber hinaus wird eine konstante Geschwindigkeit1 𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡 angenommen, bei der
jeder Fußgänger die entsprechende Verletzungsschwere mit einer Wahrscheinlich-
keit von 𝑝(𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡) = 100 % erleidet. Die entsprechenden Werte sind teilweise aus alter
Literatur entnommen und die Fahrzeuge der aktuellen PKW-Flotte weisen einen ver-
besserten Fußgängerschutz, sowie andere Frontkonturgestaltungen auf. In der neu-
esten Anpassung des Modells ist dieser Parameter nicht mehr für alle Verletzungs-
schweren und Altersgruppen konstant, sondern wird mithilfe empirischer Daten pa-
rametrisiert. Die Verwendung der metrischen 𝐼𝑆𝑆𝑥-Skala erzeugt eine gute Skalier-
barkeit und erhöht die Aussagegüte der Kurve. Allerdings findet der 𝐼𝑆𝑆𝑥 in der
Fahrzeugsicherheit bisher kaum Anwendung und Ergebnisse des Modells sind daher
nur sehr schwer mit anderen Kurven vergleichbar.
Nachteilig ist die feste Funktionsform (exponentiell bzw. linear). Hier sind die Erwei-
terung des Modells und die damit einhergehende Anpassung auf empirische Daten
eine wichtige Weiterentwicklung. Die vorgeschlagene lineare Modellierung von
Streifstößen wurde bisher nicht weitergehend untersucht. Durch eine korrekte Mo-
dellierung von Streifkollisionen könnten Fußgängerschutzsysteme wesentlich reali-
tätsnäher bewertet werden. Weiterhin nachteilig ist, dass die Funktion selbst nur uni-
variat (𝑣𝑟𝑒𝑙 bzw. 𝑣𝑘) erstellt wurde. Zusätzliche Einflüsse wie Alter, Stoßart und Kopf-
anprall gehen zwar in das Gesamtmodell ein, in der Funktion selbst wird aber (bis-
her) keine multivariate Betrachtung umgesetzt2. Das Modell findet nur Anwendung
auf PKW-Fußgängerkollisionen. Eine Anwendung auf Fahrradfahrer oder andere
Unfallkonstellationen wurde bisher nicht veröffentlicht.
Zusammenfassend ist die fehlende Anpassung auf Realdaten und die starke Abhän-
gigkeit von 𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡 (eher unüblich, (noch) nicht an Realdaten wie z.B. GIDAS validiert)
mit Vorsicht zu betrachten. In der Weiterentwicklung des Modells ist beides besser
umgesetzt. Der 𝐼𝑆𝑆𝑥 findet momentan nur selten Verwendung. Die neueste Erweite-
rung zeigt im Vergleich nur noch geringe Unterschiede in der resultierenden Funkti-
on mit der logistischen Regression.
1 Bei andere Methoden existiert meist kein 𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡. Reale Unfalldaten geben keinen Hinweis auf die
Existenz einer kritischen Geschwindigkeit.
2 In nachfolgenden Untersuchungen wurde zusätzlich das Alter (und andere Größen) berücksichtigt.
3 S T A T I S T I S C H E M O D E L L E Z U R E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N
S E I T E 2 3
3.4 Survival-Analysis
Die Survival-Analysis (deutsch auch Ereigniszeit-Analyse genannt) ist ein Modell zur
Beschreibung der Zeit bis zum Eintreten eines bestimmten Ereignisses (engl.: „time
to event“). Der Begriff „survival“ leitet sich von der Analyse der Überlebenszeit bis
zum Eintreten des Todes bzw. Bauteilversagens ab. Die Überlebenswahrscheinlich-
keit gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass die Zeit bis zum „Tod“ länger als 𝑡 ist.
Das Ereignis „Tod“ bezieht sich dabei auf ein beliebiges Ereignis. Im Falle der Unfall-
forschung oder Biometrie wird damit eher eine Verletzungsschwere oder ein sonsti-
ges biomechanisches Verletzungskriterium beschrieben. Die „Zeit“ bis zum Eintreten
des Ereignisses bezieht sich dann auf die unabhängige Variable, also z.B. die Kolli-
sionsgeschwindigkeit.
Die Überlebensfunktion 𝑆(𝑡) (engl.: Survival Function) ist die Funktion für die Über-
lebenswahrscheinlichkeit:
𝑆(𝑡) = 𝑝 (𝑋 > 𝑡) (3.8)
mit t - Variable (beliebige Zeit)
X - Ereignis (Zeit bis zum „Tod“)
p - Wahrscheinlichkeit für Variable bis zum Ereignis X
Randbedingungen sind:
𝑆(𝑡 = 0) = 1 (3.9)
𝑆(𝑡) ≤ 𝑆(𝑢) 𝑓ü𝑟 𝑢 < 𝑡 (3.10)
𝑆(𝑡) → 0 𝑓ü𝑟 𝑡 → ∞ (3.11)
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S E I T E 2 4
Die Verletzungswahrscheinlichkeit wird durch die komplementäre Funktion ausge-
drückt
𝐹(𝑡) = 𝑝(𝑋 ≤ 𝑡) = 1 − 𝑆(𝑡) (3.12)
Die Ereignisdichtefunktion (engl.: failure density function) ergibt sich aus der ersten
Ableitung von 𝐹(𝑡) und ist die Rate des betrachteten Ereignisses pro Zeiteinheit:
𝑓(𝑡) = 𝑑𝐹(𝑡)
𝑑𝑡 (3.13)
Das Modell der Survival-Analysis ist ähnlich dem Modell der binär logistischen Re-
gression und wird im Bereich der Biometrie vergleichbar häufig verwendet. Im Be-
reich der Unfallforschung wird das Modell bisher nur selten genutzt.
Die abhängige Variable besitzt wie bei der binär logistischen Regression eine dicho-
tome Ausprägung und ist nichtlinear abhängig von der/den kategorialen oder metri-
schen unabhängigen Variable/n. Die Annahme der Verteilung der unabhängigen Va-
riable spielt eine entscheidende Rolle. Bei Annahme einer logistischen Verteilung
entspricht die Kurve exakt der logistischen Regression. Zusätzlich wird die Zensur
der Daten (engl.: censoring) berücksichtigt (weitere Angaben zu zensierten Daten
siehe Anhang A). Untersuchungen zum Einfluss verschiedener Verteilungen und
unterschiedlich zensierter Daten auf die Verletzungsrisikofunktion findet sich bei
Hasija [14] und Praxl [37].
Abbildung 3.7 und Abbildung 3.8 zeigen Scatterplots verschiedener Verletzungsrisi-
kofunktionen mit unterschiedlicher Stichprobengröße. Sie zeigen einen ähnlichen
Verlauf wie das Modell der logistischen Regression. Der wichtigste Unterschied ist
der Schnittpunkt mit der y-Achse bei 𝑝(𝑥 = 0) = 0. Für weiterführende Informationen
zum Modell der Survival-Analysis siehe Hosmer et. al. [17] oder Kleinbaum et. al.
[20].
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Abbildung 3.7 – Scatterplot von Verletzungs-
risikofunktionen, Stichprobengröße 10 [37]
Abbildung 3.8 – Scatterplot von Verletzungs-
risikofunktionen, Stichprobengröße 160 [37]
Die Vorteile und Nachteile des Modells der Survival-Analysis sind denen der binär
logistischen Regression sehr ähnlich. So erzeugt das Modell für einen gut korrelier-
ten Datensatz ebenfalls eine „gute“ Funktionskurve [14]. Der größte Vorteil besteht
darin, dass je nach Verteilungsannahme auch die Verletzungswahrscheinlichkeit für
𝑝(𝑣𝑘 = 0) = 0 abgebildet wird. Außerdem wird die Verteilung der unabhängigen Va-
riable berücksichtigt. Diese ist allerdings für Realunfalldaten meist unbekannt. Zu-
dem hat Hasija [14] gezeigt, dass auch für schlecht korrelierte Daten „gute“ Funkti-
onskurven erzeugbar sind.
Zusammenfassend ist das Modell der Survival-Analysis ein geeignetes Modell zur
Erzeugung von Verletzungsrisikofunktionen. Es ist der logistischen Regression sehr
ähnlich bzw. bei Wahl einer logistischen Verteilung sogar identisch. Die Survival-
Analysis bietet zudem die Möglichkeit, auch intervallzensierte oder exakte Daten zu
verarbeiten. Realunfalldaten sind in der Regel rechts- und linkszensiert (s. 4.1). Für
den Bereich der Biomechanik und den Einsatz für Dummy- / Labor-Tests hat sich die
Survival-Analysis als angewendetes Verfahren etabliert. Für Unfalldaten wird es bis-
her nur selten angewendet.
3.5 Grenzen statistischer Modelle
Die inhaltliche Interpretation der Ergebnisse der statistischen Modelle obliegt immer
einer gewissen Eigenverantwortung. So existieren bei jedem Modell Gestaltungs-
spielräume zur Beeinflussung der Ergebnisse. Diese sind mannigfaltig und reichen
vom Datensatz (Filterkriterien, Subgruppen, Ausreißer) über die unabhängige(n) Va-
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S E I T E 2 6
riable(n) (Parameter, Skalenniveaus, Größenordnung) bis zur mathematischen
Funktion selbst. Daher sind alle modellierten Verletzungsrisikofunktionen immer un-
ter den entsprechenden Modellierungsprämissen zu betrachten und kritisch zu hin-
terfragen.
Gleichzeitig weisen alle Modelle auch Grenzen sowohl in der Modellierung als auch
der Interpretation auf. Die Auswahl passender abhängiger und unabhängiger Variab-
len ist immer in Anbetracht der Verfügbarkeit beziehungsweise Genauigkeit und
auch im Hinblick auf die Nutzbarkeit für die spätere Anwendung der Verletzungsrisi-
kofunktion zu wählen. Dadurch ergeben sich Restriktionen, durch die ggf. nicht im-
mer der „beste“ Parameter gewählt werden kann, sondern der „passendste“. Wel-
cher das ist, gilt es bei der Modellierung zu bestimmen.
Wichtig ist, dass Verletzungsrisikofunktionen nur im Rahmen statistischer Verfahren
Anwendung finden können. Einzelfallaussagen können mit ihrer Hilfe nicht getroffen
werden.
3.6 Bewertung der Modellgüte
Mathematisch lassen sich auch mit einer kleinen Grundgesamtheit oder mit schlecht
korrelierten Daten „schöne“ Kurven erzeugen (vgl. [14]). Daher ist die Bewertung der
Güte der berechneten Modelle sowie eine Einschätzung zur Nutzbarkeit der erzeug-
ten Funktionen unerlässlich. Dazu gibt es bei der Verwendung von statistischen Ana-
lysemethoden verschiedene Gütekriterien.
Mithilfe der Gütekriterien wird die Modellgüte des Gesamtmodells beurteilt. Es kann
also eine Aussage darüber getroffen werden, wie gut die unabhängige(n) Variable(n)
die abhängige Variable erklären kann (können) oder anders ausgedrückt wie gut
eine Unterscheidung der Ausprägung 1/0, verletzt/unverletzt (o.ä.) mithilfe des Mo-
dells getroffen werden kann. Gleichzeitig sollte eine Überanpassung (engl.: overfit-
ting) eines Modells verhindert werden (Als Überanpassung oder overfitting wird eine
Anpassung des Modells mithilfe zu vieler unabhängiger Variablen bezeichnet, um
den gewählte Datensatz sehr gut/exakt zu abzubilden.). Informationskriterien wie
das „Akaike Information Criterion” (AIC) oder „Bayesian Information Criterion” (BIC)
berücksichtigen zusätzlich die Gefahr einer Überanpassung.
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Zur Beurteilung der berechneten Modelle werden verschiedene Gütekriterien hinzu-
gezogen:
Klassifikationsergebnisse
Pseudo-R-Quadrat-Statistiken
o Cox und Snell-R2
o Nagelkerke-R2
„Receiver Operating Characteristic” (ROC)
Informationskriterien
o Akaikes Informationskriterien (AIC)
o Bayes‘sches Informationskriterium (BIC)
Es existieren noch einige weitere Gütekriterien wie das McFadden R2, der Like-
lihood-Ratio-Test, der Hosmer-Lemeshow-Test, der Press’s Q-Test u.a., auf die hier
nicht weiter eingegangen wird (weiterführende Literatur siehe [2], [4], [7], [11], [38]).
Zusätzlich zur Betrachtung der Gütekriterien des Modells trägt eine Ausreißerdiag-
nostik (welche Punkte stellen Ausreißer dar, Entscheidung über Ausschluss, Akzep-
tanz oder Modellveränderung) zur Modellverbesserung bei.
Klassifikationsergebnisse
Eine Möglichkeit, die Güte der Anpassung auf die beobachteten Daten zu beschrei-
ben, stellen die Klassifikationsergebnisse dar. Dabei wird ein Vergleich der empirisch
beobachteten Gruppenzugehörigkeit mit den durch das Regressionsmodell erzeug-
ten (vorhergesagten) Gruppenzuweisungen (Grenzwert der Wahrscheinlichkeit meist
𝑝𝑔 = 50 % ) entsprechend:
𝑦𝑘𝑙𝑎𝑠𝑠,𝑖 = { 1 𝑓ü𝑟 𝑝𝑖(𝒙𝑖) ≥ 𝑝𝑔
0 𝑓ü𝑟 𝑝𝑖(𝒙𝑖) < 𝑝𝑔 (3.14)
angestellt. Abbildung 3.9 zeigt den Vergleich der „Trefferquote“ an einem Beispiel.
Die „true positives“ (1 beobachtet, 1 vorhergesagt) werden als Sensitivität und die
„true negatives“ (0 beobachtet, 0 vorhergesagt) als Spezifität bezeichnet.
Abbildung 3.9 – Modellgütebetrachtung: Beispiel für Klassifikationsergebnisse
beobachtetvorhergesagt
0 1 % richtig
0 82 7 92,1
1 21 23 52,3
% insgesamt 77,4 22,6 78,9
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S E I T E 2 8
Die Verwendung der Klassifikationsergebnisse als Beurteilungskriterium für Wahr-
scheinlichkeitsmodelle ist allerdings umstritten. Sie sollten nicht als alleiniges Güte-
kriterium herangezogen werden.
Pseudo-R²-Statistiken
„Die sogenannten Pseudo-R²-Statistiken versuchen, den Anteil der erklärten „Varia-
tion“ des logistischen Regressionsmodells zu quantifizieren“ [4]. Sie beschreiben
also die Güte des Gesamtmodells und sind mit dem Bestimmtheitsmaß R2 bei der
linearen Regression zu vergleichen. Dazu wird ein Vergleich des Nullmodells (alle
Regressionskoeffizienten auf null gesetzt) mit dem vollständigen Modell durchge-
führt.
Das Cox-Snell-R² hat einen Wertebereich
𝑊𝐶𝑜𝑥−𝑆𝑛𝑒𝑙𝑙 = {𝑅2𝐶𝑜𝑥−𝑆𝑛𝑒𝑙𝑙 ∈ ℝ|0 ≤ 𝑅2
𝐶𝑜𝑥−𝑆𝑛𝑒𝑙𝑙 < 1} (3.15)
In der Literatur wird ab einem Wert 𝑅2Cox−Snell > 0,2 von einer „akzeptablen“ Modell-
güte und ab 𝑅2Cox−Snell > 0,4 einer „guten“ Modellgüte gesprochen [4].
Nagelkerkes-R² hat einen Wertebereich
𝑊𝑁𝑎𝑔𝑒𝑙𝑘𝑒𝑟𝑘𝑒𝑠 = {𝑅2𝑁𝑎𝑔𝑒𝑙𝑘𝑒𝑟𝑘𝑒𝑠 ∈ ℝ|0 ≤ 𝑅2
𝑁𝑎𝑔𝑒𝑙𝑘𝑒𝑟𝑘𝑒𝑠 ≤ 1} (3.16)
In der Literatur wird ab einem Wert 𝑅2Nagelkerkes > 0,5 von einer „sehr guten“ Modell-
güte gesprochen. Aufgrund der eindeutigen inhaltlichen Interpretation ist das Güte-
kriterium nach Nagelkerke bevorzugt gegenüber Cox-Snell zu verwenden [4].
„Receiver Operating Characteristics” (ROC)
Der ROC dient ebenfalls der Bewertung der Sensitivität und Spezifität des Modells.
Dazu wird die relative Häufigkeitsverteilung der „true positives“ (Sensitivität) und der
„true negatives“ (Spezifität) für jeden mögliche Parameterwert bestimmt und auf der
Ordinate bzw. Abszisse in einem Diagramm aufgetragen (siehe Abbildung 3.10). Der
Flächeninhalt unter der Kurve (engl.: „Area under curve”, AUC) des ROC ist dann ein
Maß für die Modellgüte. Eine Diagonale und damit ein AUC-Wert von 0,5 entspricht
einem zufälligen binären Ereignis (z.B. Laplace-Münze). Bei einem idealen Modell
erreicht die Fläche einen Wert von 1.
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S E I T E 2 9
Abbildung 3.10 – Modellgütebetrachtung: Beispiel für ROC AUC
Der ROC/AUC sollte nicht für die Modellauswahl verwendet werden, da er nur wi-
derspiegelt, wie häufig das Modell richtig oder falsch lag, die Größe des Fehlers al-
lerdings unberücksichtigt bleibt.
Informationskriterien
Die Informationskriterien AIC, AICc als auch BIC sind Modellgütekriterien zum Ver-
gleich zweier Modelle mit unterschiedlichem Modellierungsgrad / unabhängigen Va-
riablen. Mithilfe dieser Kriterien lässt sich eine Aussage zur Verbesserung eines Mo-
dells durch Hinzunahme oder Weglassen eines Parameters treffen. Der alleinste-
hende Wert dagegen besitzt keinerlei Interpretationsmöglichkeit. Die Informationskri-
terien dienen der Bewertung mehrerer Modelle mit demselben Ansatz. Da sie keine
Absolutmaße darstellen, können keine zwei unterschiedlichen Modelle verglichen
werden, sondern nur zwei (oder mehr) gleiche Kurven unterschiedlichen Modellie-
rungsgrades (unterschiedliche abhängige Variablen). Es wird die Modellgüte mit der
Berücksichtigung, dass das Modell nicht unnötig komplex wird („overfitted“, gemes-
sen an der Anzahl der Parameter) bewertet. Sie sind damit ein Kriterium zur Aus-
wahl des geeigneten Modellierungsgrades. Neben weiteren sind die beiden wichtigs-
ten das Akaike Informationskriterium (engl.: „Akaike Information Criterion”, AIC) und
das Bayes‘sche Informationskriterium (engl.: „Bayesian Information Criterion”, BIC).
Se
nsitiv
itä
t
100% – Spezifität
– Laplace-verteiltes Ereignis
(bspw. Münzwurf)
-- sehr gutes Modell
– reales Modell
(FG, 15 - 59 Jahre, frontal; AUC = 0,722)
■ AUC des realen Modells
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S E I T E 3 0
Das AIC nimmt an, dass das negative und logarithmierte Maximum der Likelihood-
Funktion 𝑙𝑛 (ℓ(𝜃)) für unendlich große Stichproben asymptotisch gegen die Zahl der
zu schätzenden Parameter 𝑘 konvergiert [2]. Der Term 2𝑘 wird deshalb als
„Strafterm“ für die Anzahl der Variablen berücksichtigt.
𝐴𝐼𝐶 = −2 𝑙𝑛 (ℓ(𝜃)) + 2𝑘 (3.17)
Burnham und Andersen ([8] und [7]) empfehlen für kleine Stichproben die Erweite-
rung des 𝐴𝐼𝐶, den 𝐴𝐼𝐶𝑐 zu verwenden.
Dementgegen sehen sie das 𝐵𝐼𝐶 mit Nachteilen gegenüber dem 𝐴𝐼𝐶/𝐴𝐼𝐶𝑐, da es
nicht aus Informationen abgeleitet ist. Schwarz sieht im 𝐴𝐼𝐶 den Nachteil der Stich-
probenunabhängigkeit im Strafterm, wodurch große Stichproben mit vielen Parame-
tern bevorzugt werden. Deshalb empfiehlt er die Verwendung des 𝐵𝐼𝐶 [42], bei dem
der Faktor des Strafterms mit der Stichprobegröße 𝑛 wächst:
𝐵𝐼𝐶 = −2 ∙ 𝑙𝑛 (ℓ(𝜃)) + 𝑘 ∙ 𝑙𝑛 (𝑛) (3.18)
Ausreißerdiagnostik
Neben der Betrachtung der Modellgüte können einzelne Beobachtungen in der
Stichprobe das Modell stark beeinflussen. Das kommt vor allem zum Tragen, wenn
entweder ein unpassendes Modell formuliert wird oder die besondere Variab-
lenausprägung nicht vom Modell beschrieben werden kann. Um dies herauszufin-
den, ist eine Ausreißerdiagnostik sinnvoll, mit deren Hilfe eine Modellverbesserung
erzielt werden kann oder die Grenzen des Modells festgestellt und diskutiert werden
können. Es gilt im Einzelfall zu entscheiden, ob ein Datenpunkt ausgeschlossen,
akzeptiert oder eine Modellveränderung vorgenommen wird.
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S E I T E 3 1
Als Beispiele sind zwei reale Verkehrsunfälle aus der GIDAS Datenbank mit auffälli-
ger Verletzungsschwere im Vergleich zur Kollisionsgeschwindigkeit aufgeführt:
PKW-Fußgängerunfall mit 𝑣𝑘 = 14 𝑘𝑚
ℎ . Der Fußgänger wurde dabei getötet
(MAIS6) (GIDAS-Fall 1060868)
Hier passt die sehr geringe Kollisionsgeschwindigkeit nicht zur maximalen
Verletzungsschwere. Allerdings wird bei der Einzelfallkontrolle deutlich, dass
die tödlichen Verletzungen (u.a. Zerquetschung Halsmark, Dens-Fraktur) mit
dem Anprall auf die Straße/Bordsteinkante und dem sehr hohen Alter des
Fußgängers (männlich, 96 Jahre) in Verbindung stehen. Dies zeigt, dass ins-
besondere beim Fußgänger die Kollisionsgeschwindigkeit (Geschwindigkeit
des PKW im Moment der Kollision) allein als Prädiktionsparameter nicht aus-
reichend ist und das Alter des Fußgängers ein substantieller Einflussparame-
ter für die Fußgänger-Verletzungsschwere ist.
PKW-Fußgängerunfall mit 𝑣𝑘 = 67 𝑘𝑚
ℎ . Der Fußgänger verletzte sich leicht
(MAIS1)
(GIDAS-Fall 30090252)
Trotz der hohen Anprallgeschwindigkeit und einem Vollstoß zog sich der
Fußgänger nur Prellungen, Schürfungen und eine Riss-Quetsch-Wunde am
Kopf zu (alles Verletzungen der Schwere AIS = 1). Entscheidend war hier ei-
ne glückliche Anprallkonstellation mit Kopf- und Schulteranprall im Front-
scheibenbereich, sowie das geringe Alter der Person (23 Jahre, männlich).
Ein weiterer möglicher Einfluss war der Zustand des Fußgängers (leicht alko-
holisiert, vorher Einnahme von Betäubungsmitteln).
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S E I T E 3 2
4 Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen für Fuß-
gänger
In den Kapiteln 2 und 3 werden die Grundlagen und möglichen statistischen Modelle
für Verletzungsrisikofunktionen zusammengetragen und erläutert. Aufbauend darauf
wird in diesem Kapitel die Vorgehensweise der Modellerstellung erklärt und anhand
eines konkreten Datensatzes durchgeführt. Das Ergebnis sind Kurven, die das Ver-
letzungsrisiko von Fußgängern in PKW-Unfällen beschreiben.
Die Modellformulierung wird anhand der folgenden Punkte durchgeführt:
Wahl und Filterung des Datensatzes
Wahl der abhängigen Variable
Wahl der unabhängigen Variablen
Wahl des statistischen Modells
Berechnung von Verletzungsrisikofunktionen
Das Vorgehen ist dabei als iterativer Prozess zu verstehen, da die einzelnen Schritte
viele Quereinflüsse haben und sich gegenseitig beeinflussen. So steht die Wahl des
Datensatzes in Abhängigkeit zum gewählten Zielereignis (abhängige Variable) und
die Filterung in Abhängigkeit zu den unabhängigen Variablen. Die Bewertung der
erzeugten Kurven mithilfe der Modelgüteparameter (Vgl. Abschnitt 3.6) wiederum
beeinflusst die Auswahl der unabhängigen Variablen und eventuell sogar die Wahl
des Datensatzes. Auch Ausreißer, die anhand der erstellten Modelle identifiziert
werden können, erfordern unter Umständen eine erneute Anpassung des Datensat-
zes oder umfassende Änderungen bei der Modellformulierung.
Im Anschluss an die Modellformulierung ist eine Diskussion und darin enthaltenen
Annahmen bzw. resultierenden Grenzen wichtig.
4.1 Wahl und Filterung des Datensatzes
Als Datensatz für die Erstellung der Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger in
PKW-Unfällen wird die Realunfalldatenbank der German In-Depth Accident Study
(GIDAS) verwendet.
GIDAS ist ein Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt)
und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik e.V. (FAT). Die Organisations-
Iterativer Pro-
zess
4 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R F U ß G Ä N G E R
S E I T E 3 3
struktur des Projekts ist in Abbildung 4.1 dargestellt. Es besteht seit 01. Juli 1999
und umfasst Daten aus den Erhebungsgebieten Dresden und Hannover. In diesen
Gebieten werden jährlich etwa 2.000 Unfälle dokumentiert und in der GIDAS-
Datenbank codiert. Dabei werden an der Unfallstelle und im Krankenhaus etwa
3.500 Einzeldaten pro Unfall erhoben. Im Anschluss an die Dokumentation wird je-
der Unfall rekonstruiert.
Abbildung 4.1 – Organisationsstruktur des GIDAS Projektes
Da die Erhebungsgebiete topographisch einen guten Bundesdurchschnitt darstellen,
die Erhebung nach einem genau definierten Stichprobenplan erfolgt und die Fallzahl
entsprechend hoch ist, kann die GIDAS-Datenbank für repräsentative Aussagen
zum deutschen Unfallgeschehen genutzt werden. Für weitere Informationen siehe
[45].
Wie jede Datenbank enthält GIDAS auch unvollständige Datensätze bzw. einige un-
bekannte Codierungen. Da die Datenbank sehr umfassend ist und eine große Un-
fallzahl beinhaltet, wird auf Imputation (mathematische Verfahren, mit denen fehlen-
de Daten vervollständigt werden) verzichtet und Datensätze mit unbekannten Grö-
ßen ausgeschlossen. Der für die Untersuchungen benutzte Masterdatensatz wird
durch Filterabfragen unter Berücksichtigung relevanter Einschränkungen erstellt. Er
enthält die abhängigen und unabhängigen Variablen.
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S E I T E 3 4
Für den Masterdatensatz wird der aktuelle Abzug der GIDAS-Datenbank (Stand
30.06.2015) verwendet. Aufgrund der beschriebenen Erhebungsmethodik kommt es
zu Verzerrungen innerhalb der Datenbasis, welche bei der Bewertung der daraus
erzeugten Kurven zu beachten sind (siehe Kapitel 4.6). Realunfalldaten sind immer
links- und rechtszensiert, da sie im Gegensatz zu biomechanischen Proben nahezu
nicht reproduzierbar sind und immer multivariate Einzelereignisse darstellen. Die
Kenntnis der exakten Verteilung eines Parameters kommt bei Realunfalldaten nahe-
zu nicht vor.
Der zur Berechnung der Verletzungsrisikofunktionen zur Verfügung stehende Daten-
satz wird für PKW-Fußgängerunfälle wie folgt erzeugt (n = Stichprobengröße = An-
zahl Unfälle):
Abbildung 4.2 – Stichprobe PKW-Fußgängerunfälle aus GIDAS
Streifstöße und Sonderfälle werden sowohl automatisiert als auch im Rahmen von
Einzelfallanalysen ausgeschlossen. Somit kann ein gewisser subjektiver Einfluss
beim Ein- bzw. Ausschluss von einzelnen Fällen nicht völlig ausgeschlossen werden.
4.2 Wahl der abhängigen Variable
Die Wahl des Zielereignisses (abhängige Variable) richtet sich nach der Zielsetzung.
Es gilt also, ein geeignetes Verletzungskriterium für die Erstellung der Verletzungsri-
sikofunktion zu finden, um die Wahrscheinlichkeit einer Verletzungsschwere vorher-
zusagen. Im Rahmen dieser Studie werden Verletzungsrisikofunktionen für ver-
schiedene Zielgrößen erstellt, da sich die Auswahl der geeigneten Kurven häufig an
der Anwendung orientiert.
GIDAS-Datensatz (07/2015): n = 27.051
Erstkollision PKW – Fußgänger: n = 2.134
nur Frontalkollisionen: n = 1.397
Markteinführungsjahrab 2000: n = 305
Ausschluss Streifstöße und Sonderfälle*: n = 288
Masterdatensatz zur IRF-Berechnung: n = 288
* bspw. weitere Kollision des Fußgängers mit anderem fahrenden Fahrzeug, Einquetschen des Fußgängers
zwischen zwei Fahrzeugen, Suizidversuche, knieender/liegender Fußgänger etc.
Auswahl aller Unfälle mit bekannten Informationen zu Anprallseite, Verletzungs-
schwere und Alter des Fußgängers, Kollisionsgeschwindigkeit, Alter des PKW:
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S E I T E 3 5
In vielen Analysen wird der MAIS (maximaler Wert aller Einzelverletzungsschweren
nach der „Abbreviated Injury Scale“ (AIS), weiterführende Informationen in [10]) ge-
nutzt, da dieser die physische Verletzungsschwere einer Person gut beschreibt. Al-
lerdings erlaubt der MAIS keine direkte Aussage darüber, ob eine Person verstorben
ist oder nicht. So kann es vorkommen, dass eine Person bei einem Verkehrsunfall
mit einem 𝑀𝐴𝐼𝑆 = 3 verstirbt und eine andere Person mit einem 𝑀𝐴𝐼𝑆 = 5 überlebt.
Dies kann anhand der amtlichen Verletzungsschwere (𝑃𝑉𝐸𝑅𝐿, Definition nach [43])
ermittelt werden. Die amtliche Definition unterscheidet in:
unverletzt
leicht verletzt (ambulante Behandlung und Verletzungen ohne Krankenhaus-
aufenthalt)
schwer verletzt (stationäre Behandlung im Krankenhaus)
getötet (innerhalb von 30 Tagen an den Unfallfolgen verstorben)
Diese Definition besitzt dagegen den Nachteil, dass sie die physische Verletzungs-
schwere schlechter beschreibt als der MAIS, da sie sich stark an der Hospitalisie-
rungsdauer orientiert. Gelegentlich finden so Personen als Schwerverletzte Eingang
in die Unfallstatistiken, obwohl sie keine Verletzung erlitten (MAIS=0), aber zur
Überwachung mehr als 24 Stunden im Krankenhaus verblieben.
Ein Nachteil des MAIS ist, dass er nur die Schwere der schwersten Einzelverlet-
zung(en) angibt. Es ist daher möglich, dass sehr unterschiedlich verletzte Personen
den gleichen 𝑀𝐴𝐼𝑆 erreichen und formal die gleiche Letalitätswahrscheinlichkeit
aufweisen. So besitzt eine Person mit einem Polytrauma, bspw. bestehend aus SHT
II. Grades (AIS3), Hämatopneumothorax (AIS3) und einer Leberruptur (AIS3), einen
𝑀𝐴𝐼𝑆 = 3; ebenso wie eine Person, die „lediglich“ eine (komplexe) Tibiafraktur
(AIS3) erlitten hat. Ein Ansatz, der versucht, solche Effekte besser zu berücksichti-
gen, ist der „Injury Severity Score“ (ISS, siehe [5]), bei dem die drei höchsten AIS-
Werte aus sechs verschiedenen Körperregionen quadriert und anschließend sum-
miert werden. Da die Einteilung des AIS ordinal und nicht metrisch ist, sind auch
MAIS und ISS nicht metrisch skaliert. Dadurch ist eine Vergleichbarkeit verschiede-
ner Verletzungsschweren nur ordinal möglich. Der Versuch eines metrischen ISSx
formuliert Junge et al [19].
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S E I T E 3 6
Geeignete bzw. häufig verwendete abhängige Variablen für Verletzungsrisikofunkti-
onen im Bereich der Verkehrsunfallforschung sind:
Amtliche Verletzungsschwere
AIS (Einzelverletzungen, Körperregionen)
MAIS (Gesamtverletzungsschwere)
ISS / ISSx
Da jede Skala charakteristische Vor- und Nachteile aufweist, ist es wichtig, die Wahl
entsprechend der Fragestellung zu treffen. Zudem spielt auch die Verfügbarkeit der
Daten eine Rolle. So enthalten die meisten nationalen Verkehrsunfallstatistiken nur
die amtliche Verletzungsschwere und keine Angaben zum MAIS. Aus den gestellten
Anforderungen hinsichtlich Anwendbarkeit, Verfügbarkeit in der Datenbank sowie
adäquater Aussagefähigkeit wird im Rahmen dieser Studie der MAIS als Maß für die
Verletzungsschwere favorisiert. Um zudem aber auch Aussagen über getötete Fuß-
gänger treffen zu können, wird zusätzlich die Verletzungsschwere „getötet“ nach
amtlicher Definition betrachtet.
Folgende abhängige Variablen werden zur Erstellung von Verletzungsrisikokurven
genutzt:
MAIS2+
𝑦𝑀𝐴𝐼𝑆2+ = { 1 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 ≥ 2 0 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 < 2
(4.1)
MAIS3+
𝑦𝑀𝐴𝐼𝑆3+ = { 1 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 ≥ 3 0 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 < 3
(4.2)
getötet (nach amtlicher Definition)
𝑦𝑓𝑎𝑡𝑎𝑙 = { 1 𝑓ü𝑟 𝑃𝑉𝐸𝑅𝐿 = "𝑔𝑒𝑡ö𝑡𝑒𝑡" 0 𝑓ü𝑟 𝑃𝑉𝐸𝑅𝐿 ≠ "𝑔𝑒𝑡ö𝑡𝑒𝑡"
(4.3)
Für die Bewertung der Verletzungsschwere nach AIS wird der AIS-Katalog von
2005, Update 2008 verwendet.
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S E I T E 3 7
4.3 Wahl der unabhängigen Variablen
Für die Wahl der unabhängigen Variable(n) zur Beschreibung der im vorangegange-
nen Abschnitt ausgewählten abhängigen Variable ist eine Analyse potentieller Prä-
diktionsgrößen wichtig. Viele Studien zur Bewertung von Verletzungsrisiken haben
sich bereits mit potentiellen Parametern für die Vorhersage der Eintrittswahrschein-
lichkeit beschäftigt. Nicht immer sind Einflüsse direkt sichtbar und auch eine gute
Korrelation begründet nicht zwangsläufig eine Kausalität. Die Genauigkeit der Para-
meter, vor allem von Rekonstruktionsparametern (z.B. „Wie gut sind die in Unfallda-
tenbanken codierten Kollisionsgeschwindigkeiten?“, besonders im unteren Ge-
schwindigkeitsbereich aufgrund geringer Deformationen am Fahrzeug etc.), sollte
kritisch hinterfragt und die Anwendbarkeit diskutiert werden. Wichtige Punkte sind:
Anwendbarkeit und Aussagefähigkeit
Verfügbarkeit im Datensatz
Verteilung
Häufungen bei bestimmten Codierungen
Fehlerhafte Codierungen
Systematische Fehler aufgrund der Erhebungsmethode
Die Parameter können direkt durch ihren Einfluss auf das statistische Modell berück-
sichtigt werden oder indirekt durch eine Filterung des Datensatzes, wodurch die All-
gemeingültigkeit der resultierenden Funktion eingeschränkt wird.
Mögliche Einflussgrößen werden zur besseren Übersichtlichkeit unterteilt in:
Kollisionsparameter
Fahrzeugparameter
Individuelle Eigenschaften des Fußgängers
Kollisionsparameter sind Parameter, die die Kollision beschreiben beziehungswei-
se unterteilen oder die Schwere der Kollision quantifizieren. Dies beinhaltet charak-
teristische Größen wie Geschwindigkeiten (Kollisionsgeschwindigkeit, Relativge-
schwindigkeit, Initialgeschwindigkeiten, Geschwindigkeitsänderung, etc.), Anprall-
stelle(n) am Fahrzeug, die Stoßart (Voll-, Streifstoß), die Bewegungsrichtung der
Beteiligten und einige weitere.
Kollisionsgeschwindigkeit:
Mit der Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 ist im Rahmen von PKW-Fußgängerunfällen die
Fahrzeuggeschwindigkeit (Kollisionsgegner des Fußgängers) in Längsrichtung zum
Zeitpunkt der Kollision gemeint.
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S E I T E 3 8
Vorteile:
Korreliert (v.a. beim Frontalanprall) sehr gut mit der Stärke/Schwere des An-
pralls und somit der Verletzungsschwere (da die Geschwindigkeit des Fuß-
gängers meist deutlich geringer ist)
Häufig in der GIDAS-Datenbank verfügbar (aus Rekonstruktion bzw. Simula-
tion)
Allgemein gut verständlicher Parameter
Nachteile:
Berücksichtigt nicht die Geschwindigkeit des Fußgängers
Beschreibt nicht den Energieeintrag (v.a. relevant bei Streifstößen)
Eignung als Prädiktionsparameter:
Wird üblicherweise für Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger genutzt
Für die meisten PKW-Fußgängerunfälle der beste in ausreichender Anzahl
verfügbare Einflussparameter
Besitzt v.a. bei sehr geringen und sehr hohen Werten Limitationen
Für viele Anwendungen (Systembewertung) sehr gut geeignet
Relativgeschwindigkeit:
Mit der Relativgeschwindigkeit 𝑣𝑟𝑒𝑙 wird die Annäherungsgeschwindigkeit der
Schwerpunkte beider Beteiligter zum Kollisionszeitpunkt beschrieben (siehe Abbil-
dung 4.3).
Vorteile:
Korreliert (v.a. beim Frontalanprall) sehr gut mit der Stärke/Schwere des An-
pralls und somit der Verletzungsschwere
Häufig in der Datenbank verfügbar (aus Rekonstruktion bzw. Simulation)
Allgemein gut verständlicher Parameter
Berücksichtigt die Geschwindigkeit beider Beteiligter
Nachteil:
Beschreibt nicht den Energieeintrag
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S E I T E 3 9
Eignung als Prädiktionsparameter:
Wird gelegentlich für Verletzungsrisikofunktionen genutzt
Für einen Großteil der PKW-Fußgängerunfälle verfügbar (GIDAS-Datenbank)
Für viele Anwendungen (Systembewertung) sehr gut geeignet
Für einige Sonderfälle (bspw. stehender PKW) besser geeignet als die Kolli-
sionsgeschwindigkeit
Aufgrund geringer Fußgängergeschwindigkeiten sehr ähnlich der Kollisions-
geschwindigkeit des PKW
Abbildung 4.3 – Definition der Relativge-
schwindigkeit 𝒗𝒓𝒆𝒍 in GIDAS
Abbildung 4.4 – Definition der Geschwindig-
keitsänderung 𝜟𝒗 in GIDAS
Geschwindigkeitsänderung (delta-v) des PKW:
Mit der Geschwindigkeitsänderung 𝛥𝑣𝑃𝑘𝑤 des PKW wird die vektorielle Geschwin-
digkeitsänderung (Einlauf – Auslauf) des PKW während des Stoßes beschrieben
(siehe Abbildung 4.4).
Vorteile:
Berücksichtigt Geschwindigkeit und Masse der Beteiligten
Korreliert im Allgemeinen sehr gut mit der Stärke/Schwere des Anpralls und
somit der Verletzungsschwere (v.a. von Fahrzeuginsassen)
Häufig in der GIDAS-Datenbank verfügbar
Nachteil:
Aufgrund der im Vergleich zum PKW kleinen Masse des Fußgängers ist die
Geschwindigkeitsänderung des PKW bei PKW-Fußgängerkollisionen häufig
sehr gering
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S E I T E 4 0
Eignung als Prädiktionsparameter:
Aufgrund der großen Massedifferenz der beiden Kollisionsgegner nicht geeig-
net
Nur bedingt für Systembewertungen geeignet (erneute Rekonstruktion not-
wendig)
Geschwindigkeitsänderung des Fußgängers:
Mit der Geschwindigkeitsänderung 𝛥𝑣𝐹𝐺 des Fußgängers wird die vektorielle Ge-
schwindigkeitsänderung (Einlauf – Auslauf) des Fußgängers während des Stoßes
beschrieben (siehe Abbildung 4.4).
Vorteile:
Berücksichtigt die Geschwindigkeit und Masse der Beteiligten und damit den
Energieeintrag in den Fußgänger
Korreliert sehr gut mit der Stärke/Schwere des Anpralls und somit der Verlet-
zungsschwere
Nachteile:
Unklare/bedenkliche Genauigkeit aufgrund der schwierigen Bestimmung der
Größe
In Unfalldatenbanken kaum/nicht verfügbar (testweise Codierung in GIDAS
seit 2010)
Für Personen nicht gebräuchlicher Parameter
Eignung als Prädiktionsparameter:
(noch) nicht nutzbar aufgrund mangelnder Verfügbarkeit in der Datenbank
Bisher nicht verwendeter Parameter für VRFs
Für Systembewertungen nur sehr bedingt geeignet (schwer in virtuellen Fäl-
len (nach Systemeingriff) berechenbar, erneute Rekonstruktion notwendig)
Stoßart:
Mithilfe der Stoßart kann eine Unterscheidung des Zusammenpralls in Vollstoß und
Streifstoß (weitere nominale Ausprägungen möglich) erfolgen. Als alleiniger Parame-
ter ist die Unterscheidung der Stoßart nicht ausreichend. In Kombination mit einer
anderen Größe, wie z.B. der Kollisionsgeschwindigkeit, ist sie allerdings vielverspre-
chend, da mit ihrer Hilfe Streifstöße im Modell deutlich besser beschrieben werden
können. Bei Streifstößen kommt es meistens zu einem nicht unerheblichen rotatori-
schen Anteil in der resultierenden Bewegung des Fußgängers, wodurch auch bei
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S E I T E 4 1
höheren Kollisionsgeschwindigkeiten ein deutlich verringertes Verletzungsrisiko auf-
tritt. Allerdings existiert keine allgemeingültige Definition von Streifstoß und Vollstoß.
Vorteile:
Unterscheidung in unterschiedliche Anprallsituationen möglich
Berücksichtigung rotatorischer Anteile der resultierenden Fußgängerbewe-
gung
Nachteile:
Als einzelne Größe nicht ausreichend
Keine allgemeine Definition existent
Grenzen je Fahrzeug unterschiedlich und nur durch aufwendige Einzelfallana-
lysen möglich
Eignung als Prädiktionsparameter:
Bei Betrachtung in Kombination mit einem anderen Kollisionsparameter deut-
liche Modellverbesserung möglich
Definition muss festgelegt und bei der Auswertung und Diskussion von Er-
gebnissen berücksichtigt werden
Weitere Kollisionsparameter:
Es existieren noch weitere Parameter, die den Energieeintrag und damit die Kollisi-
onsschwere beschreiben können. Dies sind Größen wie die Impulsänderung des
Fußgängers 𝛥�⃗�𝐹𝐺 = 𝑓(𝑚𝐹𝐺 , ∆�⃗�𝐹𝐺), Formänderungsarbeit 𝑈 = 𝑓(𝑚𝐹𝐺 , 𝑚𝑃𝑘𝑤, 𝑣𝑟𝑒𝑙, ε ),
kinetische Energie 𝛴𝐸𝑘𝑖𝑛 = 𝑓(𝑚𝐹𝐺 , 𝑚𝑃𝑘𝑤, 𝑣𝐹𝐺 , 𝑣𝑃𝑘𝑤) u.a., welche auch rotatorische
Bewegungsanteile berücksichtigen können.
Allerdings sind diese Größen bisher nicht oder kaum in Unfalldatenbanken enthalten
und Berechnungen führen aktuell noch zu Bedenken hinsichtlich der Genauigkeit.
Außerdem wird eine Anwendbarkeit für Systembewertungen im Vergleich zu Aus-
wertungen mithilfe der Kollisionsgeschwindigkeit o.ä. deutlich erschwert. Es ist an-
zumerken, dass der größte Einfluss auf energetische Größen meist aus dem quadra-
tischen Anteil der Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 des PKW resultiert und kombinierte
Größen daher nur einen begrenzt größeren Informationsgehalt haben. Mit Hinblick
auf eine zunehmende Verfügbarkeit in Unfalldatenbanken könnten solche Ansätze
zukünftig vielversprechend sein.
Fahrzeugparameter sind Parameter, die das Fahrzeug genauer beschreiben bezie-
hungsweise den Datensatz bezüglich der betrachteten Fahrzeuge eingrenzen. Das
beinhaltet charakteristische Größen wie das Alter des Fahrzeugs (hinsichtlich kon-
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S E I T E 4 2
struktiver Aspekte, NCAP-Anforderungen etc.), die Fahrzeugklasse, Kollisionsge-
wicht, Karosserie (Frontkonturgestaltung) und einige weitere.
Alter des Fahrzeugmodells (Jahr der Markteinführung des Fahrzeugmodells):
Mithilfe des Alters des Fahrzeugmodells können konstruktive Gegebenheiten in Be-
zug auf fußgängerschutzrelevante Maßnahmen berücksichtigt werden. Diese Ein-
flüsse werden damit nicht einzeln und auch nicht modell- oder herstellerabhängig
berücksichtigt, sondern bezogen auf eine generelle (angenommene oder beobachte-
te) Entwicklung.
Vorteil:
Berücksichtigung fußgängerschutzrelevanter Maßnahmen bzw. den zum ent-
sprechenden Zeitpunkt geltenden gesetzlichen Regelungen sowie Anforde-
rungen aus dem Verbraucherschutz
Nachteil:
Annahme einer generalisierten Entwicklung auf dem Fahrzeugmarkt, unab-
hängig von einzelnen Modellen oder Herstellern
Eignung als Prädiktionsparameter:
Zur direkten Berücksichtigung als Prädiktionsparameter ist eine Normierung
oder Standardisierung notwendig (intervallskalierte Größe)
Indirekte Berücksichtigung durch Filterung des Datensatzes auf neuere Fahr-
zeuge führt zu deutlicher Verringerung des Datensatzes
Dieser Effekt tritt vor allem bei vielen Realunfalldatenbanken auf, da diese ei-
nen i.d.R. eine Verschiebung zu älteren Fahrzeugen bzw. eine Altersdifferenz
zur aktuellen Fahrzeugflotte aufweisen
Fahrzeugkontur:
Mithilfe der Fahrzeugkontur können konstruktive Maßnahmen mit fußgängerschutz-
relevantem Einfluss berücksichtigt werden. Im Gegensatz zum Alter des Fahrzeuges
kann der Bezug zu einzelnen Modellen hergestellt werden. Allerdings ist es schwie-
rig eine klare Definition bzw. Unterscheidung zwischen verschiedenen Konturen zu
formulieren.
Zudem ist eine Vielzahl von denkbaren Einflussgrößen möglich (bspw. Winkel der
Motorhaube, Höhe der Haubenvorderkante bzw. der Stoßstange, Winkel der Front-
scheibe, Breite der A-Säule, Steifigkeit der Frontscheibe usw.).
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S E I T E 4 3
Vorteil:
Berücksichtigung fußgängerschutzrelevanter Maßnahmen
Nachteile:
Saubere Definition schwierig
Metrische Größen wie Steifigkeit selten/nicht bekannt
Übertragung generalisierter Aussagen zu bestimmter Fahrzeugkontur ohne
konkreten Nachweis
Eignung als Prädiktionsparameter:
Prinzipiell wichtige Einflussgröße auf das Verletzungsrisiko von Fußgängern
Aufgrund schwieriger Klassifikation oder nicht verfügbarer Daten ist die Nut-
zung als Prädiktionsparameter nur schwer möglich
Verwendung des Fahrzeugalters als zusammengefasste Größe liefert besse-
re Anwendbarkeit
Masse des Fahrzeuges:
Mithilfe der Masse des Fahrzeuges kann eine bei gleicher Geschwindigkeit verän-
derte kinetische Energie und veränderte Trägheit des Fahrzeuges berücksichtigt
werden. Allerdings ist der Einfluss der Massevarianz der Fahrzeuge aufgrund der
deutlich geringeren Masse der Fußgänger relativ klein.
Vorteil:
Berücksichtigung des Einflusses der Masse auf die kinetische Energie und
Trägheit des Fahrzeugs
Nachteile:
Nur geringer Einfluss aufgrund des großen Massenunterschieds zwischen
Fahrzeug und Fußgänger
Geringerer Einfluss (linear) als die Kollisionsgeschwindigkeit (quadratisch)
Eignung als Prädiktionsparameter:
Kann zur Modellverbesserung beitragen, hat aber einen relativ geringen Ein-
fluss
Individuelle Eigenschaften des Fußgängers sind Parameter, die den Fußgänger
genauer beschreiben. Dies umfasst charakteristische Größen wie das Alter und Ge-
schlecht der Person, die Größe, das Gewicht, eventuelle Vorerkrankungen und eini-
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S E I T E 4 4
ge weitere. Der Verlauf des Einflusses solcher Größen wird viel diskutiert und ist oft
nicht genau bekannt.
Alter der Person:
Mithilfe des Alters der Person können altersabhängige, physiologische Einflüsse des
Fußgängers wie Körpergröße, Knochendichte, Muskulatur, Reaktionsvermögen u.a.
zusammengefasst im Modell abgebildet werden. Insbesondere die Veränderungen
der physiologischen Konstitution von Menschen über ihr Lebensalter ist ein Phäno-
men, was bei der Prädiktion von Verletzungsschweren Berücksichtigung finden soll-
te. Speziell der physiologische Einfluss von älteren Menschen ab etwa 70 Jahren
wird als sehr groß angesehen. Der Alterseinfluss wird häufig linear, selten quadra-
tisch angenommen. Auch andere Modellierungsformen sind möglich, um den un-
gleichmäßig auftretenden Veränderungen über das Lebensalter Rechnung zu tra-
gen. Trotz teils kontroverser Diskussionen über Altersgruppen und deren Grenzen
besteht Konsens darüber, Kinder und Erwachsene separat zu betrachten. Für die
Festlegung der Altersgruppengrenze existieren verschiedene Auffassungen.
Vorteile:
Berücksichtigung altersabhängiger, physiologischer Einflüsse
Indirekte Berücksichtigung der veränderten Anprallkinematik aufgrund der ge-
ringeren Körpergröße von Kindern
Nachteil:
Exakter Verlauf nicht genau bekannt (linear nicht ausreichend), daher schwie-
rig als Modellparameter integrierbar
Eignung als Prädiktionsparameter:
Sehr starker Einfluss (i.d.R. bei allen Verkehrsbeteiligungsarten, aber insbe-
sondere beim Fußgänger), daher ist eine Berücksichtigung unbedingt zu emp-
fehlen
Besonders bei der Betrachtung getöteter Personen bedeutsame Einflussgrö-
ße
Verlauf des Einflusses fraglich/nicht exakt bekannt
Linearer Einfluss zu ungenau, daher erscheint eine gruppierte Betrachtung
sinnvoll
Auch im Hinblick auf demographischen Wandel weiterhin relevant
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S E I T E 4 5
Geschlecht:
Mithilfe des Geschlechts der Person können physiologische Einflüsse berücksichtigt
werden, die sich aus den anatomischen Unterschieden der Geschlechter ergeben.
Vorteil:
Berücksichtigung geschlechtsabhängiger, physiologischer Einflüsse
Nachteile:
Nur binäre Ausprägung
Annahme konstanter physiologischer Einflüsse je Geschlecht
Einfluss sehr unterschiedlich, je nach Fragestellung
Eignung als Prädiktionsparameter:
Bei Fußgängerunfällen nur geringer geschlechterspezifischer Einfluss
Verwendung aufgrund geringer Relevanz nicht sinnvoll
Einflüsse können durch andere individuelle Parameter (Größe, Masse) be-
rücksichtigt werden
Größe und Masse der Person:
Mithilfe der Größe und der Masse der Person können spezifische Unterschiede des
Körperbaus der Person berücksichtigt werden. Bei Fußgängern entscheidet die Grö-
ße im Einzelfall über den Auftreffpunkt (v.a. des Kopfes) am Fahrzeug und beein-
flusst somit indirekt die Verletzungsschwere.
Vorteil:
Berücksichtigung veränderter Anprallkinematik infolge variabler Körpergröße
und Masse
Nachteile:
Aufgrund des großen Masseunterschieds zwischen Fahrzeug und Fußgänger
nur geringer Einfluss in „normalem“ Bereich
Auftreffpunkt entlang der Fahrzeuglängsachse (in x-Richtung) des PKW ist
i.d.R. weniger relevant als die Anprallstelle in lateraler Richtung (y-Richtung)
Eignung als Prädiktionsparameter:
Berücksichtigung des Körperbaus kann je nach Fragestellung sinnvoll sein
Für PKW-Fußgängerunfälle nur mit geringem Einfluss
Schlechte Eignung als Eingangsgröße für eine Systembewertung
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S E I T E 4 6
Es existieren weitere Einflussgrößen wie die Richtung des Fußgängers zum Fahr-
zeug (aus Sicht des Fahrzeuges wird angegeben, aus welcher Richtung sich der
Fußgänger dem Fahrzeug näherte), Vorerkrankungen des Fußgängers, Beklei-
dungsstärke usw., die aber keinen statistisch signifikanten Einfluss auf das Ge-
samtmodell besitzen.
Die Wahl der unabhängigen Parameter für das statistische Modell wird vor allem
unter Berücksichtigung der Fragestellung sowie der durch Hinzunahme/Ausschluss
einzelner Größen beeinflussten Modellgüte iterativ getroffen (siehe oben beschrie-
bener Prozess der Modellformulierung).
Für die Anwendung der Verletzungsrisikofunktionen für fußgängerschutzrelevante
Sicherheitssysteme bei PKW-Fußgängerunfällen mit den in 4.2 ausgewählten Ver-
letzungsschweren, wird eine Berücksichtigung folgender Parameter gewählt:
Stoßart
Alter des Fahrzeugmodells
Alter der Person
Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘
Die Art der Berücksichtigung der genannten Parameter in das Gesamtmodell unter-
scheidet sich dabei voneinander.
Als Stoßart werden im Rahmen der vorliegenden Studie ausschließlich Unfälle mit
Vollstoß (engl.: „full frontal“) betrachtet. Dies wird durch den Ausschluss von Unfällen
im Masterdatensatz umgesetzt, bei denen der Fußgänger einen Streifstoß (engl.:
„grazing“) erfahren hat. Dadurch kommt es zu keiner Berücksichtigung von Zusam-
menprallen, die einen großen rotatorischen Anteil in der resultierenden Bewegung
des Fußgängers zur Folgen haben bzw. bei denen der Fußgänger nur eine sehr ge-
ringe Überdeckung mit der Fahrzeugfront hat. Für die Unterscheidung in Voll- und
Streifstoß gibt es in der Literatur verschiedene Ansätze (Position des Erstkontakts
am Fahrzeug, Unterteilung des Körpers in sieben gleich große Teile, Treffer des
Körperschwerpunktes u.a.).
Für die Verletzungsrisikofunktionen im Rahmen dieser Studie sollen ausschließlich
Vollstöße betrachtet werden. Zunächst werden dazu alle Fußgängerkollisionen be-
trachtet, bei denen die Deformation an der Fahrzeugfront (Definition nach der zwei-
ten Stelle der „Collision Deformation Characteristics“ (CDC, SAE J224)) stattfand.
Dann werden dann alle Fälle ausgeschlossen, bei denen der Berührpunkt (Erstkon-
takt) am Fahrzeug in x-Richtung (Referenz ist die Fahrzeugfront mit x = 0) mehr als
30cm betrug. Darüber hinaus werden sämtliche Anpralle an den Fahrzeugecken
(Berührpunkt in y-Richtung zwischen 0 und 30cm von der Fahrzeugaußenkante) im
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S E I T E 4 7
Einzelfall geprüft und dabei Streifstöße ausgeschlossen. Zudem werden Sonderfälle
(kniende, liegende oder in die Front/Scheibe springende Fußgänger) ausgeschlos-
sen. Fälle, bei denen der Fußgänger seine durch das Fahrzeug entstandene Verlet-
zung ausschließlich durch das Überrollen der unteren Extremitäten erleidet, finden
ebenfalls keine Betrachtung.
Die Berücksichtigung des Alters des Fahrzeugmodells ist aufgrund des im Laufe der
Zeit deutlich verbesserten Fußgängerschutzes der verschiedenen Modelle sinnvoll.
Auch durch die Einführung von Fußgänger-Tests im Rahmen von EuroNCAP seit
1997 ist ein größeres Interesse der Automobilhersteller im Bereich des Fußgänger-
schutzes sichtbar. Für die Wahl des Fahrzeugalters als Prädiktionsparameter sind
allerdings die oben genannten Nachteile zu beachten. Deshalb wird das Alter des
Fahrzeugs nicht direkt als Einflussgröße modelliert, sondern indirekt durch die Filte-
rung des bestehenden Datensatzes berücksichtigt.
Abbildung 4.5 zeigt die Verteilung des Markteinführungsjahres (JDME) aller PKW in
frontalen Fußgängeranstößen in GIDAS. Es zeigt sich eine deutliche Verringerung
der Fallzahl bei ausschließlicher Betrachtung neuerer Fahrzeuge. Um die gegenläu-
figen Anforderungen einer möglichst homogenen Gruppe (Zusammenfassung weni-
ger Jahrgänge in einer Klasse) auf der einen Seite und möglichst großer Fallzahlen
auf der anderen Seite zu berücksichtigen, werden im Rahmen der vorliegenden Stu-
die nur Fahrzeugmodelle betrachtet, die ab dem Jahr 2000 in den Markt eingeführt
wurden.
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S E I T E 4 8
Abbildung 4.5 – Verteilung des Markteinführungsjahres der PKW in frontalen Fußgängeran-
stößen in GIDAS
Wie oben aufgeführt wird eine Berücksichtigung des Alters der Person für Fußgän-
gerunfälle unbedingt empfohlen. Der Verlauf des Alterseinflusses wird häufig als li-
near angenommen, was in der Literatur stark angezweifelt wird. Ein exakter Verlauf
ist nicht bekannt. Allerdings wird davon ausgegangen, dass der Einfluss für erwach-
sene Menschen in einem großen Bereich nur einen geringen Anstieg hat und erst
bei älteren Menschen stark zunimmt. Daher wird das Alter der Person für die Erstel-
lung der Verletzungsrisikofunktionen nicht als Prädiktionsparameter direkt, sondern
durch die Bildung möglichst homogener Gruppen berücksichtigt3, für die jeweils ei-
gene Kurven modelliert werden.
_________________________________________________________________________________
3 Aufgrund der schwierigen Modellierung des Alterseinflusses (nichtlinear, aber unbekannter) wurde
dazu im Rahmen des Projekts eine Vereinbarung getroffen. Die Art der Modellierung und die Grup-
pengrenzen orientieren sich an den Veröffentlichungen von Niebuhr, Junge, Achmus/Rosén.
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
120
130<
198
01
980
19
811
982
19
831
984
19
851
986
19
871
988
19
891
990
19
911
992
19
931
994
19
951
996
19
971
998
19
992
000
20
012
002
20
032
004
20
052
006
20
072
008
20
092
010
20
11
An
zah
l Fä
lle
Markteinführungsjahr
Verteilung des Markteinführungsjahres der PKW in frontalen Fußgängeranstößen in GIDAS
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S E I T E 4 9
Für die Trennung in Gruppen sind in der Literatur verschiedene Grenzen zu finden.
Die Klassifikation der Gruppen orientiert sich an der an Veröffentlichungen von Nie-
buhr, Junge, Achmus/Rosén und umfasst folgende Altersgruppen:
Kinder 0 – 14 Jahre
Erwachsene 15 – 59 Jahre
Ältere Menschen 60+ Jahre
Abbildung 4.6 zeigt die Fallzahlen der unterteilten Altersgruppen des Masterdaten-
satzes. Die vorher getroffene Limitation auf Fahrzeuge ab Markteinführungsjahr
2000 führt zu teils kleinen Gruppengrößen, die für die Berechnung von Verletzungs-
risikofunktionen kritisch sind bzw. nicht ausreichen. Bei Nutzung des MAIS werden
unbekannte Werte ausgeschlossen.
Abbildung 4.6 – Fallzahlen der definierten Altersgruppen des Masterdatensatzes für Fußgän-
ger
Als wichtigste Einflussgröße auf die Verletzungsschwere von Fußgängern bei PKW-
Fußgängerunfällen wird die Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 identifiziert. Sie korreliert
vor allem bei frontalen Zusammenstößen mit voller Überdeckung sehr gut mit der
Schwere der Verletzung, ist von den verfügbaren Parametern am häufigsten im
GIDAS-Datensatz bekannt und sehr gut für eine Systembewertung einsetzbar. In der
GIDAS-Datenbank ist sie als ganzzahliger Wert in km/h abgelegt und Ergebnis der
für jeden Unfall durchgeführten Unfallrekonstruktion. Abbildung 4.7 zeigt die Vertei-
lung der Kollisionsgeschwindigkeit im Masterdatensatz. Der größte Teil der Fußgän-
gerunfälle (80 %) findet bei Kollisionsgeschwindigkeiten bis 40 km/h statt. Somit ha-
ben die Wahrscheinlichkeitsmodelle in diesem Bereich eine größere Aussagegenau-
igkeit.
Verletzungsschwere
Altersgruppe MAIS1 MAIS2+ MAIS3+ getötet
0 - 14 Jahre 53 7 2 1
15 - 59 Jahre 90 43 19 4
60+ Jahre 34 41 21 9
Alle 177 91 42 14
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S E I T E 5 0
Abbildung 4.7 – Verteilung der Kollisionsgeschwindigkeit im Masterdatensatz
Zusammengefasst werden folgende Parameter direkt oder indirekt im Modell be-
rücksichtigt:
Kollisionsgeschwindigkeit des Fahrzeugs
Alter des Fußgängers
Jahr der Markteinführung des Fahrzeugmodells (Fahrzeugalter)
Stoßart
4.4 Wahl des statistischen Modells
Wie eingangs erwähnt, existiert keine feste Definition der Vorgehensweise zur Er-
stellung von Verletzungsrisikofunktionen und daher auch kein vorgeschriebenes sta-
tistisches Modell. In Kapitel 3 werden verschiedene mögliche statistische Modelle
erläutert und hinsichtlich Vor- und Nachteilen sowie Anwendbarkeit diskutiert. Bei
der Wahl des passenden Ansatzes ist es wichtig die Eigenschaften der verwendeten
Daten zu beachten und zu prüfen, ob die Modellannahmen legitim sind. Die Bedin-
gungen A1 – A5 sind in diese Überlegungen einzubeziehen.
Die Möglichkeit einer multivariaten Betrachtung ist wichtig, um die komplexen Zu-
sammenhänge, die bei Fragestellungen der Fahrzeugsicherheit auftreten, im Modell
abbilden zu können. Da die Anwendbarkeit für Systembewertungen der hauptsächli-
che Motivationsgrund für Verletzungsrisikofunktionen ist, sollte die resultierende
Funktion in analytischer Form vorliegen.
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S E I T E 5 1
Aus Sicht der Verkehrsunfallforschung ist eine Anwendbarkeit und Anpassung auf
empirische Realunfalldaten von elementarer Bedeutung. Die Verteilung einzelner
Größen in den Daten ist nicht genau bekannt. Das betrachtete Modell der Survival-
Analysis erfüllt die Bedingungen A1 – A5 und ist im Allgemeinen anerkannt. Die lo-
gistische Regression ist der Survival-Analysis sehr ähnlich und bei Annahme einer
logistischen Verteilung sogar identisch. Durch diese Annahme kommt es zu einem
fehlenden Nulldurchgang (Vgl. Bedingung A2). Alle anderen Bedingungen werden
erfüllt und die „Dosis-Wirkungs-Beziehung“ kann sehr gut abgebildet werden.
Daher kann für die Betrachtung von PKW-Fußgängerunfällen das statistische Modell
der binären logistischen Regression empfohlen werden und wird für die Berechnung
der folgenden Kurven gewählt.
4.5 Berechnung von Verletzungsrisikofunktionen
Auf Basis des beschriebenen Vorgehens zur Erstellung von Verletzungsrisikofunkti-
onen werden Modelle für die Wahrscheinlichkeit von Fußgängern erstellt, in PKW-
Frontalkollisionen MAIS2+ verletzt, MAIS3+ verletzt bzw. getötet zu werden. Es wer-
den Streifstöße und Sonderfälle, sowie Kollisionen mit Fahrzeugmodellen, die vor
2000 in den Markt eingeführt wurden nicht berücksichtigt. Die genannten Modelle
werden für Kinder, Erwachsene und ältere Menschen als Funktion der Kollisionsge-
schwindigkeit 𝑓(𝑣𝑘) erstellt. Wie bereits in Abbildung 4.6 gezeigt, führen die ge-
troffenen Limitationen und die Unterteilungen zu teils kleinen Gruppengrößen. Daher
werden nur Kurven für die ausreichend großen Gruppen:
Erwachsene, die MAIS2+ verletzt werden
Erwachsene, die MAIS3+ verletzt werden
ältere Menschen, die MAIS2+ verletzt werden
ältere Menschen, die MAIS3+ verletzt werden
dargestellt, um belastbare Kurven zu erhalten.
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S E I T E 5 2
Erwachsene:
Abbildung 4.8 zeigt die Kurven für die Wahrscheinlichkeit von Erwachsenen, MAIS2+
bzw. MAIS3+ verletzt zu werden. Die zugehörigen Funktionen lauten:
𝑝𝑀𝐴𝐼𝑆2+(𝑣𝑘) =1
1 + 𝑒𝑥𝑝(3,016 − 0,079 ∙ 𝑣𝑘) (4.4)
und
𝑝𝑀𝐴𝐼𝑆3+(𝑣𝑘) =1
1 + 𝑒𝑥𝑝(4,848 − 0,088 ∙ 𝑣𝑘) (4.5)
Abbildung 4.8 – Verletzungsrisikofunktion für erwachsene Fußgänger in frontalen PKW-
Fußgängerunfällen
Die Kurven zeigen die für die logistische Regression typische sigmoide Form. Beide
weisen aufgrund der Modellannahme einer logistischen Verteilung ein Offset bei
𝑣𝑘 = 0 𝑘𝑚/ℎ auf. Der Wert des Offsets resultiert aus der Beobachtung von verletzten
Fußgängern durch Kollision mit Fahrzeugen mit geringen Geschwindigkeiten und mit
stehenden Fahrzeugen.
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Allgemein liegt die MAIS3+-Kurve im kompletten Definitionsbereich „unter“ der
MAIS2+-Kurve (vgl. Bedingung A5) und es existiert kein Schnittpunkt beider Kurven.
Dies ist notwendigerweise der Fall, da eine Person, die MAIS3+ verletzt wird definiti-
onsbedingt immer auch MAIS2+ verletzt ist. Anhand der Regressionskoeffizienten
(bzw. dem Logit) lässt sich der Einfluss der Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘 beurteilen.
Es ist wie zu erwarten erkennbar, dass bei beiden Kurven eine größere Kollisionsge-
schwindigkeit die Wahrscheinlichkeit verletzt zu werden erhöht. Im Vergleich ist der
Einfluss bei der MAIS3+-Kurve größer als bei der MAIS2+-Kurve. Dadurch ergibt
sich auch der leicht steilere Verlauf der MAIS3+-Kurve. Bei sehr großen Kollisions-
geschwindigkeiten weisen beide Kurven kaum noch bzw. nur einen geringen Unter-
schied auf und nähern sich der Wahrscheinlichkeit von 100 % an.
Tabelle 4.1 gibt einen Überblick über die Güte der Modelle der Verletzungsrisiko-
funktionen für erwachsene Fußgänger und führt die im Abschnitt 3.6 beschriebenen
Größen zur Bewertung der Modellgüte auf.
Die Angabe der Anzahl von Personen die leichter verletzt sind als das entsprechen-
de Kriterium (oder komplett unverletzt) und der komplementären Anzahl von Perso-
nen die schwerer oder gleich dem entsprechenden Kriterium verletzt sind zeigt die
Größe der verwendeten Stichprobe und deren Anteile. Die Gesamtzahl des Modells
für getötete Personen ist größer als bei den Modellen für MAIS2+ und MAIS3+ ver-
letzte Personen. Dies resultiert trotz gleicher Filterkriterien aus der unterschiedlichen
Bewertung der Verletzungsschwere (getötet/nicht getötet anhand amtlicher Verlet-
zungsschwere, MAIS resultierend aus den verschiedenen AISi) und der Existenz von
Personen mit unbekanntem MAIS-Wert, aber bekannter amtlicher Verletzungs-
schwere im Datensatz.
Das Verhältnis zwischen betrachteten Personen, die das Kriterium erfüllen und je-
nen, die das Kriterium nicht erfüllen gibt bereits einen Anhaltspunkt auf die Modellgü-
te. Bei sehr kleinen Gruppen ist die Erstellung einer Kurve nicht mehr sinnvoll, da
das Modell nicht als belastbar angesehen werden kann. So zeigt Tabelle 4.1 nur vier
Getötete bei 134 nicht getöteten Personen (erwachsene Fußgänger) im Datensatz.
Dadurch lässt sich kein valides Modell für getötete erwachsene Fußgänger der Al-
tersgruppe 15 – 59 Jahre erzeugen und die Ergebnisse sind grau hinterlegt, bzw. die
Kurve in Abbildung 4.8 nicht dargestellt.
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Tabelle 4.1 – Modellgüte VRF Fußgänger, Erwachsene (15 – 59 Jahre)
MAIS2+ MAIS3+ getötet
Anzahl
< Kriterium 90 114 134
≥ Kriterium 43 19 4
Gesamt 133 133 138
Modellgüte
true negative 92 % 97 % 99 %
true positive 52 % 40 % 25 %
Klassifik. gesamt 79 % 89 % 97 %
Cox-Snell-R² 0,268 0,249 0,115
Nagelkerkes-R² 0,373 0,437 0,499
AUC 0,722 0,687 0,621
Die Klassifikationsergebnisse (Einteilung nach Formel (3.14) und dem Grenzwert
𝑝𝑔 = 50 %) zeigen die Vorhersagegenauigkeit der Modelle in Bezug auf die beo-
bachteten Daten. Alle drei Modelle ergeben eine sehr gute Voraussagequote für die
true-negative-Fälle (richtigerweise als nicht MAIS2+/MAIS3+/getötet prognostiziert),
allerdings eine mittlere (MAIS2+, MAIS3+) bis schlechte (getötet) Voraussagequote
der true-positive-Fälle (richtigerweise als MAIS2+/MAIS3+/getötet vorhergesagt).
Während beim MAIS2+-Modell etwas mehr als 50 % der Personen korrekt als
MAIS2+ verletzt vorhergesagt werden, sind es beim Modell für getötete Personen
nur 25 %. Das entspricht nur einer der vier tatsächlich im Datensatz beobachteten
Personen, die getötet wurden.
Der Wert des Cox-Snell-R2 weist mit 0,268 und 0,249 auf eine „akzeptable“ Modell-
güte für MAIS2+ und MAIS3+ und auf eine eher schlechte Modellgüte der Kurve für
getötete Fußgänger hin. Die Werte des Nagelkerkes-R2 zeigen beim Vergleich der
drei Modelle dagegen ein anderes Bild. Während das MAIS2+-Modell einen Wert
von 0,373 ergibt, erreicht das Modell für getötete Personen mit 0,499 einen deutlich
höheren Wert. Das lässt sich vor allem mit der sehr hohen true-negative-Quote er-
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klären, die sich aufgrund des geringen Anteils getöteter Personen ergibt und die vom
Nagelkerkes-R2 höher bewertet wird.
Die AUC Werte des ROC stützen die Einschätzung der Modelle nach den Klassifika-
tionsergebnissen und dem Cox-Snell-R2. Das MAIS2+-Modell erreicht mit 0,722 ei-
nen für Modelle zur Fußgängerverletzungsschwereprädiktion sehr hohen und auch
das MAIS3+-Modell mit 0,687 einen hohen Wert. Das Modell für getötete Personen
liegt mit 0,621 noch in einem geeigneten Bereich, kommt einem rein zufälligen Er-
eignis (Bsp. Münzwurf, AUC = 0,5) näher und ist – auch mit Blick auf die geringe
Fallzahl – kritisch zu bewerten.
Da alle Gütekriterien charakteristische Vorteile und auch Nachteile besitzen sollten
für die Bewertung der Modellgüte immer mehrere Kriterien gemeinsam betrachtet
werden. Die Bewertung anhand einzelner Werte besitzt nur eine begrenzte Aussa-
gekraft.
Zusammengefasst zeigen alle Modellgüte-Parameter, dass die erzeugten Kurven für
die Wahrscheinlichkeit eines Fußgängers, bei einer frontalen Kollision mit einem
PKW MAIS2+ bzw. MAIS3+ verletzt zu werden, verlässliche Modelle darstellen. Das
Modell zur Prädiktion tödlicher Verletzungen bei Fußgängern kann dagegen nicht als
belastbar betrachtet werden. Vor allem die geringe Anzahl getöteter Personen in der
Stichprobe wird als Ausschlusskriterium gesehen.
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Ältere Menschen:
Abbildung 4.9 zeigt die Verletzungsrisikofunktionen für MAIS2+ bzw. MAIS3+ ver-
letzte Fußgänger der Altersgruppe älterer Menschen (59+ Jahre). Die zugehörigen
Funktionen lauten:
𝑝(𝑀𝐴𝐼𝑆2+) =1
1 + 𝑒𝑥𝑝(2,233 − 0,113 ∙ 𝑣𝑘) (4.6)
𝑝(𝑀𝐴𝐼𝑆3+) =1
1 + 𝑒𝑥𝑝(2,976 − 0,076 ∙ 𝑣𝑘) (4.7)
Abbildung 4.9 – Verletzungsrisikofunktion für ältere Menschen in frontalen PKW-
Fußgängerunfällen
Analog Abbildung 4.8 zeigen die Kurven eine sigmoide Form und ein Offset vom Ko-
ordinatenursprung. Im Vergleich ist der Offset deutlich größer als bei den Modellen
für erwachsene Personen (15 – 59 Jahre). Dies ist plausible, da ein Blick in Realun-
fälle zeigt, dass ältere Menschen häufig bei sehr geringen Kollisionsgeschwindigkei-
ten schnell das Gleichgewicht verlieren, auf die Straße stürzen und der Anprall auf-
grund fehlender Abwehrreaktionen häufig zu deutlich schwereren Verletzungen führt.
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Die im Alter schlechter werdende physiologische Konstitution verstärkt diesen Effekt
zusätzlich. Dadurch kommt es auch bei sehr geringen Kollisionsgeschwindigkeiten
oder sogar bei einem im Moment der Kollision stehenden Fahrzeug (𝑣𝑘 = 0 𝑘𝑚/ℎ)
zu (teils schweren) Verletzungen. Auch die beiden Kurven für MAIS2+ und MAIS3+
verletzte ältere Fußgänger weisen keinen Schnittpunkt miteinander auf.
Der Einfluss der Kollisionsgeschwindigkeit liegt bei dem MAIS3+-Modell mit einem
Regressionskoeffizienten von 0,076 in einem ähnlichen Bereich wie bei den Model-
len für Erwachsene (15 – 59 Jahre). Der Koeffizient ist beim MAIS2+-Modell mit
0,113 aber deutlich höher, was zu einer steileren Kurve führt. Damit erreicht die
Wahrscheinlichkeit MAIS2+ verletzt zu werden schon bei mittleren Kollisionsge-
schwindigkeiten bereits Werte nahe der 100 %. Das spiegelt die deutlich größere
Verletzlichkeit älterer Menschen wider und bestätigt die Notwendigkeit der Modellie-
rung des Alterseinflusses bzw. die Unterteilung der Stichprobe in drei möglichst ho-
mogene Altersgruppen.
Tabelle 4.2 gibt einen Überblick über die Güte der Modelle der Verletzungsrisiko-
funktionen für ältere Fußgänger und führt die im Abschnitt 3.6 beschriebenen Grö-
ßen zur Bewertung der Modellgüte auf.
Tabelle 4.2 – Modellgüte VRF Fußgänger, ältere Menschen (60+ Jahre)
MAIS2+ MAIS3+ getötet
Anzahl
< Kriterium 34 54 74
≥ Kriterium 41 21 9
Gesamt 75 75 83
Modellgüte
true negative 76 % 85 % 99 %
true positive 84 % 45 % 11 %
Klassifik. gesamt 80 % 74 % 89 %
Cox-Snell-R² 0,315 0,201 0,101
Nagelkerkes-R² 0,422 0,287 0,204
AUC 0,797 0,653 0,549
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Die Stichprobe ist mit 75 (MAIS bekannt) beziehungsweise 83 (amtliche Verlet-
zungsschwere bekannt) Personen kleiner als bei den oben aufgeführten Modellen
für Erwachsene. Allerdings ist der Anteil der Personen, die das entsprechende Ver-
letzungskriterium erfüllen, deutlich größer (Anteil MAIS2+ = 55 %, Anteil MAIS3+ =
28 %, Anteil getötet = 11 %), was sich tendenziell positiv auf die Modellgüte aus-
wirkt.
Das MAIS2+- und das MAIS3+-Modell zeigen gute Klassifikationsergebnisse. Dage-
gen trifft das Modell für getötete Fußgänger auch wieder eine eher schlechte Klassi-
fizierung. Analog des Modells für getötete Erwachsene (15 – 59 Jahre) ergibt sich
wieder eine hohe true-negative-Quote, aber eine sehr geringe true-positive-Quote.
Das MAIS2+-Modell ergibt sehr gute Cox-Snell-R2 und Nagelkerkes-R2. Auch das
MAIS3+-Modell liegt noch in einem akzeptablen Bereich. Die R2-Werte für getötete
Fußgänger sind dagegen sehr gering und weisen auf eine geringe Modellgüte hin.
Die AUC der ROC zeigt eine ähnliche Tendenz zwischen den drei Modellen wie die
Klassifikationsergebnisse und R2-Werte. Die Modelle für MAIS2+ und MAIS3+ ver-
letzte Personen sind sehr gut bzw. akzeptabel, wohingegen das Modell für getötete
Fußgänger sehr nahe dem Wert eines Zufallsereignisses von 0,5 liegt. Das lässt auf
eine sehr begrenzte Aussagekraft schließen.
Zusammengefasst kann anhand der gemeinsamen Betrachtung der verschiedenen
Modellgütekriterien bei den erstellten MAIS2+- und MAIS3+-Kurven von validen, be-
lastbaren Modellen gesprochen werden, die zur Berechnung der Verletzungswahr-
scheinlichkeit eines älteren Fußgängers bei einem PKW-Frontalanprall verwendet
werden können. Das Modell für getötete Fußgänger basiert auf einer kleinen Anzahl
getöteter älterer Menschen, wodurch die Modellgüte sehr gering ist. Die Verwendung
dieses Modells zur Angabe der Wahrscheinlichkeit eines Fußgängers getötet zu
werden, muss kritisch gesehen werden. Daher wird das Modell nicht verwendet und
es ist keine zugehörige VRF dargestellt.
Kinder:
Tabelle 4.3 zeigt die Anzahl der beobachteten Kinder (Alter 0 – 14 Jahre) des jewei-
ligen Verletzungskriteriums in der Stichprobe und die Größen zur Bewertung der
Modellgüte für das MAIS2+-Modell. Die Modelle basieren mit 60 bzw. 67 Beobach-
tungen im Datensatz auf weniger Personen als die oben aufgeführten Modelle (Er-
wachsene und ältere Menschen). Hinzu kommt, dass die Stichprobe nur eine sehr
geringe Anzahl an Kindern enthält, die das jeweilige Kriterium erfüllen (𝑛MAIS2+ =
7, 𝑛MAIS3+ = 2, 𝑛𝑔𝑒𝑡ö𝑡𝑒𝑡 = 1). Daher ist die Erstellung eines Modells für MAIS2+ ver-
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letzte Kinder kritisch zu betrachten und für MAIS3+ verletzte und getötete Kinder
nicht sinnvoll.
Die Klassifikationsergebnisse zeigen für das MAIS2+-Modell die maximale Anzahl
der true negatives, aber nur eine sehr geringe Quote der true positives. Das bedeu-
tet, dass alle beobachteten, nicht MAIS2+ verletzten Kinder korrekt durch das Modell
vorhergesagt werden (Grenzwert 𝑝𝑔 = 50 %), aber gerade einmal 14 % der MAIS2+
verletzten Kinder richtig prädiziert werden können. Bei Betrachtung des Cox-Snell-R2
und Nagelkerkes-R2 geben beide eine sehr geringe Modellgüte an. Auch der AUC-
Wert des ROC ist gering und besagt, dass das Modell nahe einem zufälligen Modell
ist.
Alle Modellgüte-Kriterien besagen, dass die ermittelte Verletzungsrisikofunktion auf-
grund der geringen Fallzahlen keine belastbaren Aussagen zulässt. Daher werden
die Modelle für Kinder nicht verwendet und die Verletzungsrisikofunktionen nicht
dargestellt. Um valide Ergebnisse zu erzeugen, ist eine Vergrößerung des Datensat-
zes (bspw. durch eine Absenkung der getroffenen Grenze für das Modelleinfüh-
rungsjahr) anzuraten.
Tabelle 4.3 – Modellgüte VRF Fußgänger, Kinder (0 – 14 Jahre)
MAIS2+ MAIS3+ getötet
Anzahl
< Kriterium 53 58 66
≥ Kriterium 7 2 1
Gesamt 60 60 67
Modellgüte
true negative 100 % --- ---
true positive 14 % --- ---
Klassifik. gesamt 90 % --- ---
Cox-Snell-R² 0,081 --- ---
Nagelkerkes-R² 0,158 --- ---
AUC 0,571 --- ---
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4.6 Diskussion
Trotz des steigenden Bedarfs geeigneter Verletzungsrisikofunktionen existiert im
Bereich der Fahrzeugsicherheit bisher keine vorgegebene bzw. standardisierte Me-
thodik zu deren Erstellung. Zudem gibt es nur wenige Veröffentlichungen zu Verlet-
zungsrisikofunktionen (meist für die Wahrscheinlichkeit getötet zu werden, in Abhän-
gigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit). Allerdings führen diese selbst bei Nutzung
gleicher/ähnlicher Datensätze zu unterschiedlichen Ergebnissen (wie von Rosén u.
Sander [40] u.a. gezeigt). Eine kritische Betrachtung des Modells, getroffener An-
nahmen und eine Beschreibung von Limitationen ist daher substantiell.
Datensatz/Realunfalldaten
Der Auswahl und Charakteristik des Datensatzes, auf dem die Verletzungsrisiko-
funktionen basieren, kommt eine wichtige Bedeutung zu. Im Bereich der Fahrzeugsi-
cherheit werden dafür bevorzugt Realunfalldaten genutzt, um Verletzungsschwere-
prädiktionen auf Basis empirisch beobachteter Daten durchzuführen. Für die Be-
trachtung des Datensatzes ist es wichtig zu beurteilen, wie geeignet die Datenquelle
im Bezug zur gewünschten Zielstellung ist und wie die Fallauswahl Lage und Verlauf
der Verletzungsrisikofunktion beeinflusst.
Für die Erstellung der Verletzungsrisikofunktionen im Rahmen der vorliegenden Stu-
die wird die Realunfalldatenbank GIDAS verwendet. Im Allgemeinen kann diese
(nach Anwendung eines Gewichtungsverfahrens) als repräsentativ für das deutsche
Unfallgeschehen angesehen werden. Durch die ausschließliche Erhebung von Ver-
kehrsunfällen mit Personenschaden im GIDAS-Projekt fehlen allerdings Unfälle mit
Unverletzten (Sachschadensunfälle). Es liegen keine Erkenntnisse vor, bis zu wel-
cher Anprallschwere / Kollisionsgeschwindigkeit sich Fußgänger nicht verletzen.
Auch existieren keine verlässlichen Angaben darüber, wie viele Unfälle zwischen
PKW und Fußgänger stattfinden, bei denen sich der Fußgänger nicht verletzt.
Die Dunkelziffer nicht gemeldeter Verkehrsunfälle bei dieser Anprallkonstellation ist
vermutlich sehr hoch, wenn keine Verletzungen auftreten und das Fahrzeug keinen
Sachschaden erleidet. Somit findet üblicherweise eine systematische Überschätzung
der Verletzungswahrscheinlichkeit mit Verletzungsrisikofunktionen statt, die auf
GIDAS und ausschließlich auf Verletzten basieren. Diese Überschätzung tritt vor-
rangig bei sehr geringen Kollisionsgeschwindigkeiten (bis ca. 10km/h) auf.
Abhängige Variable
Zur Erstellung des Modells muss die Frage beantwortet werden, welches Verlet-
zungsschwerekriterium genutzt wird und welchen Einfluss es auf die Güte der Ver-
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letzungsrisikofunktionen hat. So birgt die Verletzungsschwere nach der amtlichen
Definition das Problem der Hospitalisierungsdauer. Bleibt eine Person stationär zur
Beobachtung im Krankenhaus, wird sie unabhängig von ihren realen Verletzungen
als schwer verletzt eingestuft. Deutlich besser als die amtliche Verletzungsschwere
eignet sich der MAIS mit sechs Verletzungsklassen als Maß für die Gesamtverlet-
zungsschwere. Er ergibt sich aus dem schwersten AIS-Wert der Einzelverletzungen
der Person. Allerdings ist der MAIS in nationalen Verkehrsunfallstatistiken (bspw.
Fachserie 8 / Reihe 7 des Deutschen Statistischen Bundesamtes) meist nicht ver-
fügbar. Eine Besonderheit des AIS ist die Tatsache, dass er nicht metrisch ist und
somit die Ausprägungen nur schwer direkt zueinander in Relation gesetzt werden
können. Außerdem bringt der Versuch die sehr unterschiedlichen Verletzungen in
einem einheitlichen Skalenniveau zu bewerten kritische Punkte mit sich, die unter
Experten nicht unumstritten sind. Zum Beispiel wird ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
I. Grades (ohne Bewusstlosigkeit) in der Version des AIS von 1990, Revision 1998
mit einem Wert von 2 eingestuft. Dementgegen wird in der neueren Version des AIS
von 2005, Update 2008 ein AIS-Wert von 1 angegeben. Mithilfe der Herabstufung
wird versucht, der im Feld zu häufigen, manchmal ungerechtfertigten Einschätzung
eines SHT I. Grades entgegenzuwirken. Da ein SHT 1. Grades infolge des Kopfauf-
pralls an der Fahrzeugfront oder auf der Straßenoberfläche bei Fußgängern sehr
häufig auftritt und dies auch häufig die schwerste Einzelverletzung nach dem AIS
darstellt, kommt es zu einem relevanten Unterschied zwischen den beiden AIS-
Versionen. Insbesondere bei der Betrachtung für die Wahrscheinlichkeit MAIS2+
verletzt zu werden, entstehen deshalb je nach Wahl der AIS-Version teils stark un-
terschiedliche Gruppengrößen und resultierend daraus voneinander abweichende
Verletzungsrisikofunktionen.
Unabhängige Variablen
Neben dem Verletzungsschwerekriterium stellt sich die wichtige Frage, welche Pa-
rameter sich zur Prädiktion der Verletzungsschwere eignen. Im Abschnitt 4.3 wird
daher auf eine Vielzahl verschiedener Parameter eingegangen, die sich dafür eig-
nen. Je mehr Parameter verwendet werden, desto genauer kann eine Verletzungs-
schwere vorhergesagt werden. Allerdings tritt schnell der Effekt ein, dass ein Modell
mit vielen Prädiktionsparametern auf einen Datensatz trainiert wird. Das heißt, es
kommt zu einem „overfitting“, wodurch das Modell sehr gut geeignet ist, um den
verwendeten Datensatz vorherzusagen, allerdings keine allgemeingültige Aussage
mehr treffen kann. Daher ist bei der Auswahl der verwendeten Daten die Betrach-
tung des AIC bzw. BIC wichtig (siehe Abschnitt 3.6). Neben der Kollisionsgeschwin-
digkeit werden das Alter des Fußgängers und die Stoßart als relevant identifiziert
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und verwendet. Allerdings erfolgt deren Berücksichtigung nur indirekt durch Bildung
von Altersgruppen und Filterung des Datensatzes auf reine Vollstöße.
Zusätzlich wird das Jahr der Markteinführung des Fahrzeugmodells indirekt berück-
sichtigt, um die Verletzungsrisikofunktionen möglichst gut auf die aktuelle Fahrzeug-
flotte und damit den Stand aktueller Fußgängerschutzmaßnahmen zu beziehen.
Somit müssen Art und Verlauf des Einflusses dieser drei Parameter nicht direkt mo-
delliert werden, womit insbesondere beim Fußgängeralter die in Kapitel 4.3 be-
schriebenen Herausforderungen umgangen werden.
Die Kollisionsgeschwindigkeit des PKW besitzt die größte Vorhersagekraft für die
Verletzungsschwere des Fußgängers beim PKW-Frontalanprall (siehe Abschnitt
4.3). Aufgrund der Ermittlung im Rahmen von Unfallrekonstruktionen unterliegt sie
einer begrenzten Genauigkeit und einem Toleranzbereich. In der GIDAS-Datenbank
liegt die Genauigkeit der Kollisionsgeschwindigkeit bei 1 km/h und der Toleranzbe-
reich wird mit etwa 5 km/h angegeben. Durch die iterative Ermittlung bei der Rekon-
struktion und dem Toleranzbereich kommt es zu Häufungen bei bestimmten Werten
(menschliche Präferenz bestimmter Werte, siehe Abbildung 4.7). Die Abbildung zeigt
auch, dass die Verteilung im Datensatz nicht gleichmäßig über den gesamten Defini-
tionsbereich ist. Geringere Kollisionsgeschwindigkeiten treten im Realunfallgesche-
hen (analog auch im kompletten Verkehrsgeschehen) deutlich häufiger auf. Diese
Besonderheiten beeinflussen die Ergebnisse der Modelle. Die Lage und Form der
logistischen Kurve wird vor allem von der großen Zahl an Werten im unteren Ge-
schwindigkeitsbereich bestimmt. Aussagen zu sehr hohen Kollisionsgeschwindigkei-
ten, die im realen Unfallgeschehen auch nur sehr selten vorkommen, besitzen eine
geringere Güte.
Das Alter des Fußgängers ist ebenfalls ein bedeutender Einflussparameter für die
Verletzungsschwere von Fußgängen. Es umfasst mehrere direkte und indirekte phy-
siologische Einflüsse wie bspw. die Körpergröße, Knochendichte, Muskulatur oder
auch das Reaktionsvermögen. Allerdings ist der Verlauf des Alterseinflusses nicht
genau bekannt und individuell sehr unterschiedlich. Die Annahme eines linearen,
quadratischen oder ähnlichen Ansatzes ist daher kritisch zu sehen, da dabei über
das Lebensalter eine stetige Steigerung der Verletzungswahrscheinlichkeit impliziert
wird. Es gilt jedoch als gesichert, dass Kinder eine deutlich veränderte Struktur im
Vergleich zu Erwachsenen aufweisen und dass ältere Menschen ab einem gewissen
Alter einen prägnanten Abfall ihrer physiologischen Verfassung zeigen. Zwischen
diesen beiden Punkten wird der Alterseinfluss als nahezu konstant angesehen. Da-
her wird der Alterseinfluss in den erstellten Modellen durch Erzeugung möglichst
homogener Gruppen berücksichtigt. Innerhalb dieser Gruppen wird kein Altersein-
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fluss angenommen. Die Altersgrenzen können nicht eindeutig bestimmt werden und
orientieren sich an den Veröffentlichungen von Niebuhr, Junge, Achmus/Rosén und
der resultierenden Fallzahl innerhalb einer Gruppe in der Stichprobe. Die Grenze für
ältere Menschen liegt bei ≥ 60 Jahren. Eine Grenze von ≥ 70 Jahren ist in Anbe-
tracht einsetzender physiologische Effekte möglicherweise die bessere Wahl, führt
allerdings zu sehr kleinen Fallzahlen. Die resultierende Modellgüte erzeugter Verlet-
zungsrisikofunktionen ist dann sehr gering. Durch die Gruppenbildung kommt es zu
einer scharfen Abgrenzung. Das entspricht nicht dem realen Einfluss, wird ange-
sichts des unbekannten Verlaufs allerdings als sinnvolle Modellierung betrachtet.
Durch den Ausschluss von Streifstößen soll ebenfalls eine Gruppe möglichst homo-
gener Unfälle erzeugt werden, bei denen die Fußgänger frontal angestoßen und
ganz oder teilweise aufgeschöpft werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass somit
sämtliche Anpralle in fußgängerschutzrelevanten Bereichen des Fahrzeuges adres-
siert werden.
Mit dem Ausschluss von Seiten- und Streifstößen werden auch vereinzelt Anpralle
im Bereich der unteren A-Säule oder im Frontscheibenbereich ausgeschlossen. Die-
ser Aspekt wird zugunsten einer verbesserten Modellgüte in Kauf genommen, weil
durch den Ausschluss von Streifstößen auch Datensätze eliminiert werden, bei de-
nen ein Großteil der Translationsenergie in Rotationsenergie umgewandelt wird und
bei denen auch hohe Kollisionsgeschwindigkeiten nur geringere Verletzungsschwe-
ren verursachen.
Die ausschließliche Betrachtung von Fahrzeugen mit einem Jahr der Markteinfüh-
rung des Fahrzeugmodells ab 2000 wird durchgeführt, um Verletzungsrisikofunktio-
nen für möglichst aktuelle Modelle mit einem gewissen Umfang an Fußgänger-
schutzmaßnahmen zu erzeugen (siehe Abschnitt 4.3).
Statistisches Modell
Die Wahl des statistischen Modells ist die zentrale Frage bei der Modellierung von
Verletzungsrisikofunktionen. Im Allgemeinen gibt es kein bestes Modell. Je nach
Anwendungsfall haben verschiedene Modelle unterschiedliche Vor- und Nachteile
und ihre Berechtigung.
Die Survival-Analysis und die logistische Regression (entspricht einer Survival-
Analysis mit logistischer Verteilungsannahme) wurden in der Vergangenheit häufig
zur Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen verwendet und haben sich dabei trotz
der Limitationen (Vergleiche Kapitel 3.2 und 3.4) als geeignete Modelle erwiesen
(Vergleiche [6], [21], [22], [25], [36], [37], [40], [39] u.a.). Bei beiden ist die Kenntnis
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beziehungsweise begründete Annahme einer Verteilung entscheidend. Für das Ver-
letzungsrisiko auf Basis von Realunfalldaten ist die Verteilung der unabhängigen
Variable allerdings nicht bekannt. Häufig wird durch die Wahl der logistischen Re-
gression die Annahme einer logistischen Verteilung getroffen. Generell ist die Prü-
fung der getroffenen Verteilungsannahme anzuraten.
Ein Vorteil, u.a. der logistischen Regression, ist die Orientierung an empirischen Da-
ten, die gegenüber phänomenologischen Ansätzen vorzuziehen ist.
Sekundäranprall
Beim PKW-Fußgängerunfall kommt es infolge der Primärkollision des Fußgängers
mit dem PKW häufig zu einem Aufprall des Fußgängers auf die Straßenoberfläche /
den Bordstein oder seltener auch zu Anprallen an anderen Objekten im Verkehrs-
und Seitenraum. Dieser Anprall wird als Sekundäranprall („ground impact“) bezeich-
net und beeinflusst die Gesamtverletzungsschwere von Fußgängern und Radfahrern
maßgeblich [26]. Die mit Abstand häufigste Anprallstelle ist die Straßenoberfläche
und die meisten Verletzungen treten im Bereich des Kopfes sowie der oberen und
unteren Extremitäten auf. Im Vergleich zum Primäranprall zeigt der Sekundäranprall
eine geringere Abhängigkeit von der Kollisionsgeschwindigkeit. Selbst bei sehr nied-
rigen Kollisionsgeschwindigkeiten treten (insbesondere bei älteren Fußgängern)
häufig schwere Verletzungen beim Sekundäranprall auf.
Fußgängerschutzrelevante Maßnahmen an Fahrzeugen adressieren ausschließlich
den Primäranprall des Fußgängers am Fahrzeug. Die meisten konstruktiven Para-
meter wie die Länge der Fronthaube, der Winkel der Frontscheibe oder die Höhe
des Stoßfängers haben keinen erkennbaren Einfluss auf das Eintreten eines Sekun-
däranpralls sowie dessen Verletzungsschwere (Vergleiche Kühn et al. [23]).
Lediglich die Höhe der Fronthaubenvorderkante benennt Kühn [23] als Einflussfak-
tor, was im Hinblick auf die Kinematik (Aufschöpfen versus Wegschleudern) plausi-
bel ist. Welche Bedeutung der Sekundäranprall beim Fußgängerfrontalanprall hat
und wie groß der Unterschied zwischen fahrzeuginduzierten Verletzungen und Ver-
letzungen beim Sekundäranprall sind, soll hier näher betrachtet werden. Dazu wer-
den die Einzelverletzungen in der GIDAS-Datenbank nach ihrer Verletzungsursache
unterschieden. Es werden zwei neue Größen definiert:
MAISFzg = maximale Einzelverletzungsschwere (nach AIS) aller am Fahrzeug
entstandenen Verletzungen
MAISSek = maximale Einzelverletzungsschwere (nach AIS) aller durch den
Sekundäranprall entstandenen Verletzungen
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In der Stichprobe der 288 verletzten Fußgänger mit Frontalanprallen an PKW ab
Modelljahr 2000 ließ sich für 265 Personen feststellen, welche Verletzungsschweren
am PKW und durch den Sekundäranprall verursacht wurden. Diese Einschätzung
wird vom interdisziplinären Erhebungsteam auf Basis aller verfügbaren Informatio-
nen (Anprallstellen/Beschädigungen am Fahrzeug, Bewegungsrichtung des Fuß-
gängers zum Fahrzeug, Art/Sitz/Schwere der Einzelverletzung, Körpergröße, Fuß-
gängerkinematik etc.) getroffen. Sie unterliegt dennoch einer gewissen Unsicherheit.
Die 265 Fälle im Datensatz stellen sich folgendermaßen dar:
46% - MAIS allein vom Fahrzeug bestimmt
(MAIS = MAISFzg , MAIS > MAISSek)
21% - MAIS allein vom Sekundäranprall bestimmt
(MAIS > MAISFzg , MAIS = MAISSek)
33% - MAIS durch Fahrzeuganprall und Sekundäranprall bestimmt
(MAIS = MAISFzg = MAISSek)
Somit lässt sich festhalten, dass in 79% der Fälle der MAIS gleich dem fahrzeugin-
duzierten MAIS (MAISFzg) entspricht. In 21% der Fälle bestimmt ausschließlich der
Sekundäranprall den MAIS. Die entsprechenden Angaben für weitere Verletzungs-
schweregrade (MAIS2+, MAIS3+) sind im Anhang D aufgeführt.
Für den MAISFzg wird eine zweite Verletzungsrisikofunktion erzeugt, die allein die
Verletzungswahrscheinlichkeit durch den Anprall am Fahrzeug darstellt. Allerdings
lässt sich das Auftreten und die Schwere eines Sekundäranpralls nicht als Prädikti-
onsparameter nutzen, weil dies eine Folge des Anpralls ist und stark von situativen
Gegebenheiten abhängig ist (bspw. Kopfaufprall auf der Straße, Geschwindigkeit
und Winkel beim Auftreffen etc.). Vor der Kollision ist somit nicht bekannt, ob ein Se-
kundäranprall stattfinden wird bzw. wie dieser abläuft. Das erklärt auch die im Ver-
gleich zu Verletzungsrisikofunktionen für PKW-Insassen deutlich geringeren Werte
bei den Modellgüten von Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger. Der Sekun-
däranprall ist zweifelsfrei ein sehr wichtiger Faktor, der die Fußgängerverletzungs-
schwere beeinflusst, allerdings kann er nicht statistisch vorhergesagt werden. Dazu
müssten Einzelfallsimulationen durchgeführt werden. Eine andere, eher theoretische
Möglichkeit ist es, die Information „Sekundäranprall ja/nein“ als binären, unabhängi-
gen Parameter im statistischen Modell zu berücksichtigen. Dies hat aber für die Sys-
tembewertung praktisch keinen Nutzen.
Abbildung 4.10 zeigt den Vergleich der Verletzungsrisikofunktionen (für die Wahr-
scheinlichkeit, MAIS2+ verletzt zu werden) mit und ohne Sekundäranprall für Er-
wachsene (Abbildung 4.11 für ältere Menschen). Der Unterschied beider Kurven ist
4 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R F U ß G Ä N G E R
S E I T E 6 6
bei erwachsenen Personen nur sehr gering, ist aber dabei passend zu den Feststel-
lungen von Ashton [3] im Bereich geringer Kollisionsgeschwindigkeit ausgeprägter.
Bei älteren Menschen ist die Differenz beider Kurven größer. Das belegt, dass sich
ältere Menschen häufiger beim Sekundäranprall schwerere Verletzungen zuziehen.
Gründe dafür sind die erhöhte Verletzlichkeit im Alter und die verminderte bzw.
schlechtere Reaktionsfähigkeit. Der Nutzen von passiven Fußgängerschutzmaß-
nahmen am Fahrzeug ist für diese Altersgruppe also gegenüber anderen Alters-
gruppen reduziert.
4 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R F U ß G Ä N G E R
S E I T E 6 7
Abbildung 4.10 – Vergleich der VRF (MAIS2+) mit und ohne Sekundäranprall für Erwachsene
Abbildung 4.11 – Vergleich der VRF (MAIS2+) mit und ohne Sekundäranprall für ältere Men-
schen
4 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R F U ß G Ä N G E R
S E I T E 6 8
4.7 Anwendungsgrenzen und Hinweise für Anwender
Quantitative Aussagen zur Verletzungswahrscheinlichkeit von Fußgängern mit Hilfe
der erstellten Funktionen sind nur im Rahmen statistischer Betrachtungen und für
große Anzahlen von Fällen sinnvoll. Die Anwendung für Einzelfälle sowie die Ablei-
tung konkreter Verletzungsschweren („Bei einer Kollisionsgeschwindigkeit von 40
km/h erleidet ein Fußgänger eine Verletzungsschwere von MAIS3.“) verbieten sich.
Auch können mit den Kurven keine Aussagen zu den Folgen von Geschwindigkeits-
reduktionen im Einzelfall abgeleitet werden („Wenn der PKW den Fußgänger mit x
km/h weniger angefahren hätte, wäre er nicht verstorben.“)
Im Rahmen von Auswertungen sollten die hier getroffenen Modellannahmen und
beschriebenen Limitationen berücksichtigt und ggf. aufgeführt werden. Dies sind
u.a.:
Die vorliegenden Funktionen gelten nicht für liegende oder kniende Fußgän-
ger sowie andere Sonderfälle (bspw. Sturz / Sprung auf das Fahrzeug).
Die Funktionen stellen die Verletzungswahrscheinlichkeit für den frontalen
Vollstoß dar. Sie gelten nicht für andere Kollisionskonstellationen (Seiten-,
Streif-, Heckanprall).
Selbst bei einem Vollstoß existiert eine gewisse Streuung über die Fahrzeug-
breite. So kann die individuelle Verletzungsschwere stark von der Anprallstel-
le abhängen, was in der Verletzungsrisikofunktion nicht abgebildet ist. Die
Funktion stellt lediglich eine durchschnittliche Verletzungswahrscheinlichkeit
dar.
Die erzeugten Funktionen gelten für PKW-Modelle der Markteinführungsjahre
2000 bis 2013, wobei ein Großteil der Fahrzeuge aus den Jahren 2000 –
2005 stammt. Somit gelten sie auch nur für PKW-Modelle ohne Pop-Up-
Haube und externen Airbag.
Realunfalldaten besitzen zudem auch immer Einschränkungen hinsichtlich der Aktu-
alität der Daten. Die Datenbanken spiegeln die Ergebnisse aktueller beziehungswei-
se vergangener Fahrzeuggenerationen wider. Somit kann der Nutzen neuer Sicher-
heitssysteme erst nach einer gewissen Zeit der Marktdurchdringung retrospektiv be-
stimmt werden.
Allerdings sind Potentialabschätzungen auf simulativer Basis oder unter Nutzung
gewisser Annahmen und Modelle möglich, bei denen aus ingenieurverantwortlicher
Sicht immer ein pessimistischer Ansatz geboten ist (Vgl. [9], [13], [12]).
5 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R R A D F A H R E R
S E I T E 6 9
5 Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen für Radfah-
rer
Auch für Radfahrer sind Modelle für das Verletzungsrisiko bei Verkehrsunfällen für
die Bewertung von Fahrzeugsicherheitssystemen von großem Interesse. Analog des
Vorgehens bei PKW-Fußgängerunfällen (Vgl. Abschnitt 4) werden statistische Mo-
delle für Verletzungsrisikofunktionen auf Basis der Realunfalldatenbank GIDAS
(German In-Depth Accident Study) für PKW-Radfahrerunfälle erstellt.
Dabei gilt es, wichtige Unterschiede zu beachten, wie:
Veränderte Anprallkinematik
(i.d.R. höhere Aufwurfweiten, Kopfanprall bei größerer Abwickellänge, höhere
Position (z-Wert) der unteren Extremitäten)
Größere Masse des Radfahrers (inklusive Rad)
Höhere Geschwindigkeit des Radfahrers
Streifstöße sind schwieriger zu definieren
Teilweise kein Kontakt zwischen PKW und Zweiradaufsasse
Schutz des Kopfes durch Helmnutzung
Wahl und Filterung des Datensatzes:
Der zur Berechnung der Verletzungsrisikofunktionen zur Verfügung stehende Daten-
satz wird für PKW-Radfahrerunfälle wie folgt erzeugt (n = Stichprobengröße = An-
zahl Unfälle):
Abbildung 5.1 – Stichprobe Radfahrer-PKW Unfälle aus GIDAS
GIDAS-Datensatz (07/2015): n = 27.051
Erstkollision PKW – Radfahrer: n = 5.019
nur Frontalkollisionen: n = 3.220
Markteinführungsjahrab 2000: n = 911
MAIS, Alter und Vrel bekannt: n = 775
5 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R R A D F A H R E R
S E I T E 7 0
Für Radfahrer wurde keine Ausreißerdiagnostik bzw. Einzelfallkontrolle durchgeführt.
Bei Kollisionen zwischen PKW und Fahrrädern gibt es noch wesentlich mehr Varianz
bei den Anprallkonstellationen und der Verletzungsentstehung. Der wichtigste As-
pekt ist der teilweise ausbleibende Kontakt zwischen PKW und Fahrradfahrer, wenn
nur das Fahrrad (meist am Vorder- bzw. Hinterrad) mit dem PKW kollidiert.
Wahl der abhängigen Variable
Folgende abhängige Variablen werden zur Erstellung von Verletzungsrisikokurven
genutzt:
MAIS2+
𝑦𝑀𝐴𝐼𝑆2+ = { 1 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 ≥ 2 0 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 < 2
(5.1)
MAIS3+
𝑦𝑀𝐴𝐼𝑆3+ = { 1 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 ≥ 3 0 𝑓ü𝑟 𝑀𝐴𝐼𝑆 < 3
(5.2)
getötet (nach amtlicher Definition)
𝑦𝑓𝑎𝑡𝑎𝑙 = { 1 𝑓ü𝑟 𝑃𝑉𝐸𝑅𝐿 = "𝑔𝑒𝑡ö𝑡𝑒𝑡" 0 𝑓ü𝑟 𝑃𝑉𝐸𝑅𝐿 ≠ "𝑔𝑒𝑡ö𝑡𝑒𝑡"
(5.3)
Für die Bewertung der Verletzungsschwere nach AIS wird der AIS-Katalog von
2005, Update 2008 verwendet.
Wahl der unabhängigen Variable
Analoge Vorgehensweise wie beim Fußgänger (Vgl. Abschnitt 4.3) in Form mög-
lichst homogener Gruppen:
Relativgeschwindigkeit
Alter des Radfahrers
o Kinder 0 – 14 Jahre
o Erwachsene 15 – 59 Jahre
o Ältere Menschen 60+ Jahre
Alter des Fahrzeugmodells: JDME ≥ 2000
Stoßart: frontaler Vollstoß
Durch die Verwendung der Relativgeschwindigkeit 𝑣𝑟𝑒𝑙 (Beschreibung siehe Ab-
schnitt 4.3) statt der Kollisionsgeschwindigkeit wird die im Vergleich zum Fußgänger
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S E I T E 7 1
häufig höhere Eigengeschwindigkeit des Radfahrers berücksichtigt. Abbildung 5.2
zeigt die Verteilung der Relativgeschwindigkeit. Der größte Teil der Radfahrerunfälle
findet bei Relativgeschwindigkeiten bis 30 km/h statt. Somit haben die Wahrschein-
lichkeitsmodelle in diesem Bereich eine größere Aussagegenauigkeit.
Abbildung 5.2 – Verteilung der Relativgeschwindigkeit im Masterdatensatz
Abbildung 5.3 zeigt die Fallzahlen der unterteilten Altersgruppen des Masterdaten-
satzes für PKW-Radfahrerunfälle. Die Limitation auf Fahrzeuge ab Markteinfüh-
rungsjahr 2000 führt zu teils kleinen Gruppengrößen, die für die Berechnung von
Verletzungsrisikofunktionen kritisch sind bzw. nicht ausreichen. Bei Nutzung des
MAIS werden unbekannte Werte ausgeschlossen.
Abbildung 5.3 – Fallzahlen der definierten Altersgruppen des Masterdatensatzes für Radfahrer
Verletzungsschwere
Altersgruppe MAIS1 MAIS2+ MAIS3+ getötet
0 - 14 Jahre 57 10 4 -
15 - 59 Jahre 469 81 15 1
60+ Jahre 116 42 11 1
Alle 642 133 30 2
5 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R R A D F A H R E R
S E I T E 7 2
Ein geringer Einfluss des Alters des Fahrzeugmodells ist nachweisbar, wirkt sich
allerdings noch weniger auf die Modellgüte aus als bei PKW-Fußgängerunfällen.
Dies ist plausibel, da viele Radfahrer während der Kollisionsphase nicht am PKW
anprallen und somit die Verletzungsschwere unabhängig von der Fahrzeugfrontkon-
turgestaltung sowie eventuellen Fußgängerschutzmaßnahmen ist. Abbildung 5.4
zeigt die Verteilung des Markteinführungsjahres (JDME) aller PKW in frontalen Rad-
fahreranstößen in GIDAS. Das Vorgehen von PKW-Fußgängerunfällen (siehe Ab-
schnitt 4.3) zur Berücksichtigung des Fahrzeugalters wird auf die PKW-
Radfahrerunfälle übertragen. Es werden nur Fahrzeugmodelle betrachtet, die ab
dem Jahr 2000 in den Markt eingeführt wurden.
Abbildung 5.4 – Verteilung des Markteinführungsjahres der PKW in frontalen Radfahreranstö-
ßen in GIDAS
Wahl des statistischen Modells:
Analog der PKW-Fußgängerunfälle (Vgl. Abschnitt 4.4) wird für PKW-
Radfahrerunfälle das statistische Modell der binär logistischen Regression für die
Berechnung der Verletzungsrisikofunktionen gewählt.
Berechnung der Verletzungsrisikofunktion:
Auf Basis des beschriebenen Vorgehens zur Erstellung von Verletzungsrisikofunkti-
onen werden Modelle für die Wahrscheinlichkeit von Radfahrern erstellt, in PKW-
Frontalkollisionen MAIS2+ verletzt, MAIS3+ verletzt bzw. getötet zu werden. Streif-
0
25
50
75
100
125
150
175
200
225
250
<19
80
19
801
981
19
821
983
19
841
985
19
861
987
19
881
989
19
901
991
19
921
993
19
941
995
19
961
997
19
981
999
20
002
001
20
022
003
20
042
005
20
062
007
20
082
009
20
102
011
20
122
013
An
zah
l Fä
lle
Markteinführungsjahr
Verteilung des Markteinführungsjahres der PKW in frontalen Radfahreranstößen in GIDAS
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S E I T E 7 3
stöße, Sonderfälle sowie Kollisionen mit PKW-Modellen, die vor 2000 in den Markt
eingeführt wurden, finden keine Berücksichtigung. Die genannten Modelle werden
für Kinder, Erwachsene und ältere Menschen als Funktion der Relativgeschwindig-
keit 𝑓(𝑣𝑟𝑒𝑙) erstellt. Wie bereits in Abbildung 5.3 und Abbildung 4.6 gezeigt, führen
die getroffenen Limitationen und die Unterteilungen zu teils kleinen Gruppengrößen.
Erwachsene Radfahrer (15 – 59 Jahre):
Tabelle 5.1 gibt einen Überblick über die Güte der Modelle der Verletzungsrisiko-
funktionen für erwachsene Radfahrer und führt die im Abschnitt 3.6 beschriebenen
Größen zur Bewertung der Modellgüte auf. Die Anzahl der Personen, die das jewei-
lige Verletzungskriterium erfüllen, gegenüber den Personen, die leichter verletzt
wurden und als Basis für die Erstellung der Modelle dienen, differieren stark. So sind
81 MAIS2+ verletzte Radfahrer gegenüber 469 leichter verletzten Personen eine
gute Gruppengröße, wohingegen 15 gegenüber 535 Personen beim Modell für
MAIS3+ verletzte Radfahrer eine kleine Gruppengröße darstellt und geringe Modell-
güten erwarten lässt. Für das Modell für getötete Radfahrer findet sich in der Stich-
probe für die Altersgruppe Erwachsener (15-59 Jahre) lediglich 1 getötete Person
(gegenüber 549 nicht getöteter), weshalb es nicht sinnvoll ist, ein Modell zu erstel-
len.
Die Betrachtung der Modellgütekriterien (Cox-Snell-R², Nagelkerkes-R², AUC der
ROC) der erstellten Modelle zeigt sehr geringe Werte und deutet darauf hin, dass die
Modelle den Verletzungsmechanismus bzw. die Verletzungskriterien allein auf Basis
der unabhängigen Variable (Relativgeschwindigkeit) nicht ausreichend beschreiben
können. Aufgrund der geringen Werte der Modellgütekriterien wird auf eine Darstel-
lung der Funktionen verzichtet.
5 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R R A D F A H R E R
S E I T E 7 4
Tabelle 5.1 – Modellgüte VRF Radfahrer, Erwachsene (15 – 59 Jahre)
MAIS2+ MAIS3+ getötet
Anzahl
< Kriterium 469 535 549
≥ Kriterium 81 15 1
Gesamt 550 550 550
Modellgüte
true negative 100 % 100 % ---
true positive 1 % 0 % ---
Klassifik. gesamt 85 % 97 % ---
Cox-Snell-R² 0,024 0,023 ---
Nagelkerkes-R² 0,043 0,104 ---
AUC 0,506 0,500 ---
Ältere Radfahrer:
Tabelle 5.2 gibt einen Überblick über die Güte der Modelle der Verletzungsrisiko-
funktionen für ältere Radfahrer und führt die im Abschnitt 3.6 beschriebenen Größen
zur Bewertung der Modellgüte auf. Auch bei diesen Modellen ist zu erkennen, dass
die Fallzahl der MAIS3+ verletzten bzw. getöteten Radfahrern sehr klein ist. Die Be-
trachtung aller Modellgütekriterien (Cox-Snell-R², Nagelkerkes-R², AUC der ROC)
weist auch hier auf eine schlechte Modellgüte hin, was den Hinweis verstärkt, dass
das Vorgehen zur Modellierung nicht analog zum Fußgänger übertragen werden
kann. Aufgrund der geringen Werte der Modellgütekriterien wird auf eine Darstellung
der Kurven verzichtet.
5 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R R A D F A H R E R
S E I T E 7 5
Tabelle 5.2 – Modellgüte VRF Radfahrer, ältere Menschen (60+ Jahre)
MAIS2+ MAIS3+ getötet
Anzahl
< Kriterium 116 147 157
≥ Kriterium 42 11 1
Gesamt 158 158 158
Modellgüte
true negative 98 % 99 % ---
true positive 7 % 9 % ---
Klassifik. gesamt 74 % 93 % ---
Cox-Snell-R² 0,043 0,054 ---
Nagelkerkes-R² 0,063 0,136 ---
AUC 0,527 0,542 ---
Kinder:
Tabelle 5.3 gibt einen Überblick über die Güte der Modelle der Verletzungsrisiko-
funktionen für Kinder und führt die im Abschnitt 3.6 beschriebenen Größen zur Be-
wertung der Modellgüte auf. Die Unfallzahlen von Kindern auf Fahrrädern im Stra-
ßenverkehr ist allgemein deutlich geringer als bei den vorangegangenen Modellen.
Die Anzahl MAIS2+, MAIS3+ verletzter Radfahrer der Altersgruppe „0 – 14 Jahre“ ist
in der Stichprobe sehr gering und es findet sich kein getötetes Kind in der Stichprobe
wieder. Die Modellgüte der MAIS2+ verletzten Kinder zeigt bessere Werte als die
Modelle für Erwachsene und ältere Menschen. Sie liegt allerdings dennoch nicht in
einem akzeptablen Bereich für eine robuste Bewertung des Verletzungsrisikos von
Radfahrern in PKW-Kollisionen. Aufgrund der geringen Werte der Modellgütekrite-
rien wird auf eine Darstellung der Funktionskurven verzichtet.
5 E R S T E L L U N G V O N V E R L E T Z U N G S R I S I K O F U N K T I O N E N F Ü R R A D F A H R E R
S E I T E 7 6
Tabelle 5.3 – Modellgüte VRF Radfahrer, Kinder (0 – 14 Jahre)
MAIS2+ MAIS3+ getötet
Anzahl
< Kriterium 57 63 67
≥ Kriterium 10 4 0
Gesamt 67 67 67
Modellgüte
true negative 98 % --- ---
true positive 20 % --- ---
Klassifik. gesamt 87 % --- ---
Cox-Snell-R² 0,178 --- ---
Nagelkerkes-R² 0,313 --- ---
AUC 0,591 --- ---
Diskussion:
Relativgeschwindigkeit:
Die Relativgeschwindigkeit zwischen PKW und Fahrrad besitzt eine gewisse Erklä-
rungskraft für die Verletzungsschwere der Radfahrer. Aufgrund der Ermittlung im
Rahmen von Unfallrekonstruktionen unterliegt sie einer begrenzten Genauigkeit und
einem Toleranzbereich. In der GIDAS-Datenbank liegt die Genauigkeit der Relativ-
geschwindigkeit bei 1 km/h und der Toleranzbereich wird mit etwa 5 km/h angege-
ben, was bereits einer sehr guten Rekonstruktion entspricht. Durch die iterative Er-
mittlung bei der Rekonstruktion und dem Toleranzbereich kommt es zu Häufungen
bei bestimmten Werten (menschliche Präferenz bestimmter Werte, siehe Abbildung
5.2). Die Abbildung zeigt auch, dass die Verteilung im Datensatz nicht gleichmäßig
über den gesamten Definitionsbereich ist. Geringere Relativgeschwindigkeiten treten
im Realunfallgeschehen (analog auch im kompletten Verkehrsgeschehen) häufiger
auf. Dadurch entsteht eine rechts-schiefe Verteilung.
Frontaler Vollstoß:
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Bei Kollisionen zwischen PKW und Radfahrern gibt es wesentlich mehr Varianz bei
den Anprallkonstellationen und der Verletzungsentstehungen als bei Fußgängerun-
fällen. Daher ist die exakte Definition eines frontalen Vollstoßes schwierig. Dies re-
sultiert auch in der Schwierigkeit, die Verletzungsschwere des Radfahrers zu prädi-
zieren. Im Gegensatz zum Fußgänger reicht es nicht, alle Stöße im Bereich der
PKW-Front exklusive der Außenbereiche zu berücksichtigen, um einen Vollstoß zu
definieren. Eine weitere Unterscheidung, mindestens in die Gruppen „nur Anprall des
Fahrrades am PKW“ sowie „Überdeckung des Fahrradfahrers mit der Fahrzeugfront“
erscheint hier sinnvoll.
Modellbildung/Modellgüte:
Die berechneten Modelle für Verletzungsrisikofunktionen für Radfahrer in frontalen
PKW-Kollisionen zeigen schlechte Werte der Modellgütekriterien und sind nicht für
robuste Aussa-
gen verwendbar. Es ist nicht anzuraten, die gezeigte Vorgehensweise für PKW-
Fußgänger-Unfälle analog auf PKW-Fahrrad-Unfälle zu übertragen. Die gezeigten
Modelle geben starke Hinweise, dass sie die auftretenden Verletzungsmechanismen
nicht ausreichend beschreiben, da die Heterogenität der Anprallkonstellationen
selbst bei ausschließlichen Frontanstößen (am PKW) noch zu groß ist. Weitere Un-
tersuchungen der Modellierung sind hier zwingend erforderlich, um zusätzliche Ein-
flüsse festzustellen und die Modelle zu verbessern. Dies ist beispielsweise die Nut-
zung eines Fahrradhelmes, wenngleich dieser nur einen bestimmten Körperbereich
des Radfahrers adressiert.
Welche Bandbreite PKW-Radfahrer-Unfälle (mit Frontalanprall am PKW) aufweisen
können und wie schwer eine verlässliche Prädiktion der Verletzungsschwere fällt,
zeigen zwei reale Beispielfälle (siehe Anhang C). Ein Ansatz für eine Modellverbes-
serung ist die Bildung von Untergruppen, die hinsichtlich Kollisionsstellung, Anprall-
stelle, Überdeckungsgrad (genaue Definition frontaler Vollstoß erforderlich) u.a. ho-
mogener sind. Dies sollte mit Blick auf die verbleibende Fallzahl geschehen.
Der Einfluss des Jahres der Markteinführung des PKW-Modells ist bei PKW-
Radfahrerunfällen deutlich geringer als bei PKW-Fußgängerunfällen. Auf eine Ein-
schränkung könnte gegebenenfalls zugunsten größerer Fallzahlen verzichtet wer-
den.
Die Abbildung der Verletzungsschwere durch die Relativgeschwindigkeit erscheint
nicht für alle PKW-Fahrrad-Unfälle ausreichend, da auch bei hohen Relativge-
schwindigkeiten geringe Verletzungsschweren resultieren können (siehe Beispielfall
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1 in Anhang C) und auch bei geringen Relativgeschwindigkeiten große Verletzungs-
schweren (siehe Beispielfall 2 in Anhang C). Weitere Möglichkeiten für eine genaue-
re Abbildung der eingebrachten kinetischen Energien kommen durch die Unter-
scheidung in Ego-Geschwindigkeit des Fahrzeuges 𝑣𝑃𝑘𝑤 und der Geschwindigkeit
des Rades 𝑣𝑅𝑎𝑑 oder der Unterscheidung der Relativgeschwindigkeit in longitudina-
ler 𝑣𝑟𝑒𝑙,𝑥 und lateraler Richtung 𝑣𝑟𝑒𝑙,𝑦.
Sekundäranprall:
Der Sekundäranprall hat für PKW-Fahrrad-Unfälle einen noch größeren Einfluss als
bei PKW-Fußgängerunfällen (Vergleiche Abschnitt 4.6). In der gewählten Stichprobe
existiert für 745 verletzte Radfahrer die Information, welcher maximale AIS am Fahr-
zeug bzw. durch den Sekundäranprall entstanden ist. Hinsichtlich des Beitrages vom
Fahrzeug- und Sekundäranprall zum MAIS der Person zeigen diese 745 Fälle die
folgende Verteilung:
23% - MAIS allein vom Fahrzeug bestimmt
(MAIS = MAISFzg , MAIS > MAISSek)
44% - MAIS allein vom Sek. anprall bestimmt
(MAIS > MAISFzg , MAIS = MAISSek)
33% - MAIS durch Fahrzeuganprall und Sekundäranprall bestimmt
(MAIS = MAISFzg = MAISSek)
Verglichen mit Fußgängern, wo der MAIS in ca. jedem fünften Fall vom Sekun-
däranprall bestimmt wird, ist der Anteil beim Radfahrer doppelt so groß. Der Anteil
der Radfahrer, die sich keine Verletzung am PKW zuzogen (MAIS = MAISSek,
MAISFzg = 0), beträgt 42%. Das bedeutet, dass zwei von fünf Radfahrern, die mit
(ihrem Fahrrad an) einer PKW-Front kollidieren, ihre Verletzungen ausschließlich
beim Aufprall auf die Fahrbahn/Straßenoberfläche erleiden. Mit reinen fahrzeugseiti-
gen Maßnahmen lässt sich daher eine Verbesserung des Schutzes von Radfahrern
nur bedingt erreichen.
6 Z U S A M M E N F A S S U N G U N D A U S B L I C K
S E I T E 7 9
6 Zusammenfassung und Ausblick
Verletzungsrisikofunktionen gewinnen in der Fahrzeugsicherheit zunehmend an Be-
deutung. Ob zum Verständnis von Verletzungsmechanismen, der Definition von
Schutzkriterien oder der Übertragung von Simulationsergebnissen auf das Unfallge-
schehen, häufig bedarf es Aussagen zum Zusammenhang von Belastung / Unfall-
schwere und dem prognostizierten Verletzungsrisiko. Zur Erstellung der statistischen
Modelle ist allerdings bisher keine standardisierte und allgemein anerkannte Vorge-
hensweise etabliert.
In der vorliegenden Studie werden die Grundlagen von Verletzungsrisikofunktionen
betrachtet, mehrere statistische Modelle recherchiert und hinsichtlich ihrer Vor- und
Nachteilen sowie der Anwendbarkeit auf Realunfalldaten bewertet. Für die Erstellung
von Verletzungsrisikofunktionen basierend auf Realunfalldaten zeigt sich die logisti-
sche Regression als ein gut geeignetes und passendes Modell. Die Verfahrensweise
zur Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen wird für Fußgänger und Radfahrer in
frontalen PKW-Unfällen umgesetzt und Modelle für MAIS2+, MAIS3+ verletzte bzw.
getötete Personen erstellt.
Für PKW-Fußgängerunfälle besitzt die Kollisionsgeschwindigkeit den größten Ein-
fluss auf die Verletzungsschwere. Darüber hinaus ist das Alter des Fußgängers eine
wichtige Einflussgröße. Die Trennung des Datensatzes in drei weitestgehend homo-
gene Altersgruppen erweist sich als gute Methode, diesem Einfluss Rechnung zu
tragen. Der Ausschluss von älteren Fahrzeugen (anhand des Jahres der Marktein-
führung des Fahrzeugmodells) und Streifstößen ist sinnvoll und wird in der Stichpro-
be durchgeführt. Als Datenbasis werden Realunfälle aus der German In-Depth Acci-
dent Study (GIDAS) verwendet. In GIDAS stehen prinzipiell ausreichend Datensätze
für die Erstellung von Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger und Radfahrer zur
Verfügung. Nach den getroffenen Einschränkungen, insbesondere auf gewisse Jah-
re der Markteinführung des Fahrzeugmodells, reduziert sich die Stichprobe aller-
dings erheblich.
Für MAIS2+ und MAIS3+ verletzte Fußgänger (Erwachsene und ältere Menschen)
können valide Wahrscheinlichkeitsmodelle erstellt werden. Die zugehörigen VRF
sind in Abbildung 4.8 und Abbildung 4.9 dargestellt. Die Güte der Modelle für getöte-
te Fußgänger ist bei beiden Altersgruppen als zu gering einzustufen. Auf die Abbil-
dung der zugehörigen VRF wird deshalb verzichtet. Die Wahrscheinlichkeitsmodelle
für Kinder können aufgrund der sehr geringen Anzahl MAIS2+, MAIS3+ verletzter
und getöteter Kinder nicht als belastbar betrachtet werden. Ergänzend muss darauf
6 Z U S A M M E N F A S S U N G U N D A U S B L I C K
S E I T E 8 0
hingewiesen werden, dass eine Überprüfung der getroffenen Verteilungsannahme
der unabhängigen Variablen durchgeführt werden sollte, um sicherzustellen, dass
die erzeugten Modelle die Charakteristik der verwendeten Daten korrekt abbilden.
Mithilfe von Konfidenzintervallen lässt sich die Zuverlässigkeit der Wahrscheinlich-
keitsaussage einschätzen.
Mit den erstellten Funktionen lässt sich beispielweise die Auswirkung jener aktiven
Sicherheitssysteme bewerten, deren Auslösung zu einer Reduktion der Kollisionsge-
schwindigkeit beim Fußgängeranprall führt. Aus dem statistischen Vergleich der Ver-
letzungswahrscheinlichkeit des originalen Unfalls mit jener des veränderten (simu-
lierten) Unfalls lässt sich bei Betrachtung ausreichend vieler Unfälle der Nutzen ei-
nes solchen Systems bewerten.
Bei jeder Nutzung von Verletzungsrisikofunktionen ist Wert auf die Anwendbarkeit zu
legen. Die hier aufgeführten Funktionen dürfen nicht für Einzelfallaussagen, Angabe
einer konkreten Verletzungsschwere sowie für alle hier nicht betrachteten Fälle (lie-
gende, kniende, springende Fußgänger, Streif-, Seiten-, Heckanpralle, Überrollen)
benutzt werden.
Für PKW-Radfahrerunfälle werden analog der Wahrscheinlichkeitsmodelle für PKW-
Fußgängerunfälle Modelle für Verletzungsrisikofunktionen erzeugt. Anstelle der Kol-
lisionsgeschwindigkeit wird die für Radfahrer besser geeignete Relativgeschwindig-
keit verwendet.
Die Güte der Wahrscheinlichkeitsmodelle für frontale Fahrrad-PKW Unfälle sind trotz
großer Fallzahlen nicht ausreichend für belastbare Aussagen. Keiner der untersuch-
ten Parameter erweist sich als signifikanter Prädiktionsparameter für alle frontalen
PKW-Fahrrad-Unfälle. Als Grund ist vor allem die Heterogenität der Gruppe zu se-
hen. Die Modelle für PKW-Fußgängerunfälle können daher nicht einfach übernom-
men werden. Methodisch ist das Vorgehen dennoch übertragbar. Eine genauere
Betrachtung hinsichtlich der Kollisionskonstellation und zusätzlicher Prädiktionspa-
rameter (bspw. Helmnutzung) verspricht robustere Wahrscheinlichkeitsmodelle.
7 L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S
S E I T E 8 1
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8 A B B I L D U N G S V E R Z E I C H N I S
S E I T E 8 4
8 Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.1 – Beispiele für Verletzungsrisikofunktionen inkl. Ablesebeispiel .......... 7
Abbildung 3.1 – Beispiel für relative Häufigkeiten von MAIS2+ Verletzungen über der
Kollisionsgeschwindigkeit aus GIDAS ............................................ 11
Abbildung 3.2 – Beobachtete Anteile (relative Häufigkeiten) aus GIDAS ................. 12
Abbildung 3.3 – Bestimmung einer Regressionsfunktion ......................................... 13
Abbildung 3.4 – Beispiel einer binär-logistischen Regressionskurve ....................... 15
Abbildung 3.5 – Vergleich der Dichtefunktionen des Logit-Modells und der
Normalverteilung des Probit-Modells [35] ...................................... 18
Abbildung 3.6 – Verletzungsrisikofunktionen für Fußgänger mit Kopfanprall (Contour
lines of equal injury severity) [32] ................................................... 21
Abbildung 3.7 – Scatterplot von Verletzungsrisikofunktionen, Stichprobengröße 10
[37] ................................................................................................. 25
Abbildung 3.8 – Scatterplot von Verletzungsrisikofunktionen, Stichprobengröße 160
[37] ................................................................................................. 25
Abbildung 3.9 – Modellgütebetrachtung: Beispiel für Klassifikationsergebnisse ...... 27
Abbildung 3.10 – Modellgütebetrachtung: Beispiel für ROC AUC ............................ 29
Abbildung 4.1 – Organisationsstruktur des GIDAS Projektes ................................... 33
Abbildung 4.2 – Stichprobe PKW-Fußgängerunfälle aus GIDAS ............................. 34
Abbildung 4.3 – Definition der Relativgeschwindigkeit 𝒗𝒓𝒆𝒍 in GIDAS ..................... 39
Abbildung 4.4 – Definition der Geschwindigkeitsänderung 𝜟𝒗 in GIDAS ................. 39
Abbildung 4.5 – Verteilung des Markteinführungsjahres der PKW in frontalen
Fußgängeranstößen in GIDAS ....................................................... 48
Abbildung 4.6 – Fallzahlen der definierten Altersgruppen des Masterdatensatzes für
Fußgänger ..................................................................................... 49
8 A B B I L D U N G S V E R Z E I C H N I S
S E I T E 8 5
Abbildung 4.7 – Verteilung der Kollisionsgeschwindigkeit im Masterdatensatz ........ 50
Abbildung 4.8 – Verletzungsrisikofunktion für erwachsene Fußgänger in frontalen
PKW-Fußgängerunfällen ................................................................ 52
Abbildung 4.9 – Verletzungsrisikofunktion für ältere Menschen in frontalen PKW-
Fußgängerunfällen ......................................................................... 56
Abbildung 4.10 – Vergleich der VRF (MAIS2+) mit und ohne Sekundäranprall für
Erwachsene ................................................................................... 67
Abbildung 4.11 – Vergleich der VRF (MAIS2+) mit und ohne Sekundäranprall für
ältere Menschen ............................................................................. 67
Abbildung 5.1 – Stichprobe Radfahrer-PKW Unfälle aus GIDAS ............................. 69
Abbildung 5.2 – Verteilung der Relativgeschwindigkeit im Masterdatensatz ............ 71
Abbildung 5.3 – Fallzahlen der definierten Altersgruppen des Masterdatensatzes für
Radfahrer ....................................................................................... 71
Abbildung 5.4 – Verteilung des Markteinführungsjahres der PKW in frontalen
Radfahreranstößen in GIDAS ........................................................ 72
Abbildung 8.1 – Risiko für ein Polytrauma für Fußgänger mit Kopfanprall ................ XI
Abbildung 8.2 – Erweiterte Verletzungsrisikofunktion für ein Polytrauma (𝑰𝑺𝑺𝒙 > 𝟓)
für Fußgänger mit Kopfanprall (Contour lines of equal injury
severity) ......................................................................................... XII
Abbildung 8.3 – Skizze und Deformationen bei einem PKW-Radfahrerunfall –
Beispiel 1 ...................................................................................... XIII
Abbildung 8.4 – Skizze und Deformationen bei einem PKW-Radfahrerunfall –
Beispiel 2 ..................................................................................... XIV
A Z E N S I E R T E D A T E N
S E I T E V I I
A Zensierte Daten
Als zensiert (engl. censored oder truncated) werden Daten bezeichnet, die un-
vollständig bekannt sind. Man kennt beispielsweise den Funktionswert 𝑦(𝑥)
oberhalb eines bestimmten Argumentes 𝑥, ohne den genauen Grenzwert zu
kennen. Zensierte Daten entstehen dann, wenn nicht alle notwendigen Be-
obachtungen oder Messungen gemacht werden können (vergleiche [16], [27],
[37]). So passiert beispielsweise ein Verkehrsunfall mit einem Verletzungskrite-
rium (z.B. MAIS2+ verletzter Fahrer) nur bei einer bestimmten Prädiktionsgröße
(z.B. Kollisionsgeschwindigkeit 𝑣𝑘) und kann nicht mit einer veränderten Prädik-
tionsgröße bei gleichen Randbedingungen wiederholt werden. Das heißt, es ist
bekannt, dass das Verletzungskriterium bei der realen Kollisionsgeschwindig-
keit eingetreten ist. Es ist aber nicht bekannt, ob es ebenfalls bei einer kleineren
Kollisionsgeschwindigkeit eingetreten wäre.
Der Status der Daten bezüglich Ihrer Zensur sollte für die weitere Arbeit mit den
Daten für Verletzungsrisikofunktionen bekannt sein. Es wird in rechtszensierte,
linkszensierte, intervallzensierte und unzensierte bzw. exakte Daten unter-
schieden. Die vier Datentypen werden im Folgenden erläutert.
Rechtszensierte Daten:
Ein Datenpunkt (𝑥; 𝑦) für den nach Definition (2.2) 𝑦(𝑥) = 0 gilt (also zum Bei-
spiel eine leichtverletzte Person mit MAIS = 1 bei dem Verletzungskriterium
MAIS2+), wird als rechtszensiert bezeichnet, wenn der Grenzwert 𝑥𝑔 in dem
Intervall [𝑥; +∞] liegt. Der genaue Wert des Grenzwertes ist unbekannt.
Ein Beispiel aus der Biomechanik:
Angenommen wird ein biomechanisches Modell, bei dem das Verletzungskrite-
rium 𝑦 das Auftreten einer Fraktur (0 – keine Fraktur; 1 – Fraktur) infolge einer
einwirkenden Kraft, Prädiktionsgröße 𝑥, anzeigen soll. Es wird mit einer Kraft 𝑥𝑢
auf das Modell eingewirkt und es tritt als Reaktion keine Fraktur auf. Nach Glei-
chung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥 = 𝑥𝑢) = 0 (8.1)
Unter konstanten Randbedingungen wird jede Kraft 𝑥 ≤ 𝑥𝑢 aufgrund der gerin-
geren Belastung ebenfalls zu keiner Fraktur führen. Das Verhalten des Modells
A Z E N S I E R T E D A T E N
S E I T E V I I I
infolge einer Krafteinwirkung kleiner oder gleich der getesteten Kraft ist be-
kannt:
𝑦(𝑥 ≤ 𝑥𝑢) = 0 (8.2)
Dagegen ist die Reaktion auf eine Kraft 𝑥 > 𝑥𝑢 unbekannt, da der exakte
Grenzwert 𝑥𝑔, bis zu dem keine Fraktur entsteht, aus der Messung nicht hervor
geht. Nach Gleichung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥 > 𝑥𝑢) = { 0 𝑓ü𝑟 𝑥 < 𝑥𝑔
1 𝑓ü𝑟 𝑥 ≥ 𝑥𝑔 (8.3)
Das Verhalten des Modells oberhalb, in einem Graphen “rechts”, des Prüfwer-
tes 𝑥𝑢 ist unbekannt beziehungsweise zensiert. Man sagt, der Messwert ist
„rechtszensiert“.
Linkszensiert Daten:
Ein Datenpunkt (𝑥; 𝑦) für den nach Definition (2.2) 𝑦(𝑥) = 1 gilt (also zum Bei-
spiel eine verletzte Person mit MAIS ≥ 2 bei dem Verletzungskriterium
MAIS2+), wird als linkszensiert bezeichnet, wenn der Grenzwert 𝑥𝑔 in dem In-
tervall [−∞; 𝑥] liegt. Der genaue Wert des Grenzwertes ist unbekannt.
Ein Beispiel aus der Biomechanik:
Angenommen wird das oben beschriebene biomechanische Modell auf das mit
einer Kraft 𝑥𝑜 eingewirkt wird. Diesmal tritt als Reaktion eine Fraktur auf. Nach
Gleichung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥 = 𝑥𝑜) = 1 (8.4)
Unter konstanten Randbedingungen wird jede Kraft 𝑥 ≥ 𝑥𝑜 aufgrund der größe-
ren Belastung ebenfalls zu einer Fraktur führen. Das Verhalten des Modells in-
folge einer Krafteinwirkung größer oder gleich der getesteten Kraft ist bekannt:
𝑦(𝑥 ≥ 𝑥𝑜) = 1 (8.5)
A Z E N S I E R T E D A T E N
S E I T E I X
Dagegen ist die Reaktion auf eine Kraft 𝑥 < 𝑥𝑜 unbekannt, da der exakte
Grenzwert 𝑥𝑔, ab dem eine Fraktur entsteht, aus der Messung nicht hervor
geht. Nach Gleichung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥 < 𝑥𝑜) = { 0 𝑓ü𝑟 𝑥 < 𝑥𝑔
1 𝑓ü𝑟 𝑥 ≥ 𝑥𝑔 (8.6)
Das Verhalten des Modells unterhalb, in einem Graphen “links”, des Prüfwertes
𝑥𝑜 ist unbekannt beziehungsweise zensiert. Man sagt, der Messwert ist „links-
zensiert“.
Intervallzensierte Daten:
Ein Datenpunkt (𝑥; 𝑦) wird als intervallzensiert bezeichnet, wenn der Grenzwert
𝑥𝑔 in dem Intervall [𝑥𝑢; 𝑥𝑜] liegt. Dabei ist 𝑥𝑢 der untere Schwellwert, bei dem
die Person oder das Modell unverletzt ist und 𝑥𝑜 der obere Schwellwert, bei
dem die Person oder das Modell verletzt ist. Der genaue Wert des Grenzwertes
𝑥𝑔 ist unbekannt.
Ein Beispiel aus der Biomechanik:
Angenommen wird wieder das oben beschriebene biomechanische Modell. Das
Modell wird zuerst mit einer Kraft 𝑥𝑢 belastet und es tritt als Reaktion keine
Fraktur auf. Nach Gleichung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥 = 𝑥𝑢) = 0 (8.7)
Im Anschluss wird mit einer Kraft 𝑥𝑜 auf das Modell eingewirkt und es tritt als
Reaktion eine Fraktur auf. Nach Gleichung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥 = 𝑥𝑜) = 1 (8.8)
Unter konstanten Randbedingungen wird jede Kraft 𝑥 ≤ 𝑥𝑢 zu keiner Fraktur
und jede Kraft 𝑥 ≥ 𝑥𝑜 zu einer Fraktur führen. Das Verhalten des Modells infol-
ge einer Krafteinwirkung kleiner 𝑥𝑢 und größer 𝑥𝑜 ist bekannt:
𝑦(𝑥) = { 0 𝑓ü𝑟 𝑥 ≤ 𝑥𝑢
1 𝑓ü𝑟 𝑥 ≥ 𝑥𝑜 (8.9)
A Z E N S I E R T E D A T E N
S E I T E X
Dagegen ist die Reaktion auf eine Kraft 𝑥𝑢 < 𝑥 < 𝑥𝑜 unbekannt, da der exakte
Grenzwert 𝑥𝑔, ab dem eine Fraktur entsteht, aus der Messung nicht hervor
geht. Nach Gleichung (2.2) folgt:
𝑦(𝑥𝑢 < 𝑥 < 𝑥𝑜) = { 0 𝑓ü𝑟 𝑥 < 𝑥𝑔
1 𝑓ü𝑟 𝑥 ≥ 𝑥𝑔 (8.10)
Das Verhalten des Modells innerhalb des Intervalls der Prüfwerte ]𝑥𝑢; 𝑥𝑜[ ist
unbekannt beziehungsweise zensiert. Man sagt, der Messwert ist „intervallzen-
siert“.
Unzensierte oder exakte Daten:
Ein Datenpunkt (𝑥; 𝑦) wird als unzensiert oder exakt bezeichnet, wenn der
Grenzwert 𝑥𝑔, bei dem das Verletzungskriterium 𝑦 eintritt, exakt der geprüften
Prädiktionsgröße 𝑥 entspricht.
𝑦(𝑥) = { 0 𝑓ü𝑟 𝑥 < 𝑥𝑔
1 𝑓ü𝑟 𝑥 ≥ 𝑥𝑔 (8.11)
In den Gleichungen (8.1) – (8.11) lässt sich die Prädiktionsgröße 𝑥 auch analog
(2.3) in vektorieller Schreibweise darstellen.
Realunfalldaten sind immer links- und rechtszensiert, da sie nahezu nicht re-
produzierbar sind und immer multivariate Einzelereignisse darstellen.
B E R W E I T E R U N G E N D E S „ C O N T O U R L I N E S O F E Q U A L I N J U R Y S E V E R I T Y ”
S E I T E X I
B Erweiterungen des „Contour lines of equal injury severity”
Unterscheidung der Stoßart:
Für Beinahe-Kollision (engl.: „miss“) kein Verletzungsrisiko:
𝑝𝐼𝑆𝑆𝑥 = 0 (8.12)
Für Streifstoß (engl.: „grazing“) linearer Anstieg von Beinahe-Kollision bis Voll-
stoß:
𝑝𝐼𝑆𝑆𝑥(𝑣𝑘) = 𝑎(𝑣𝑘) ∙ 𝑥 + 𝑏(𝑣𝑘) (8.13)
Für frontalen Vollstoß (engl.: „full-frontal“): (exponentielle) Funktion in Abhän-
gigkeit von der Kollisionsgeschwindigkeit
𝑝𝐼𝑆𝑆𝑥(𝑣𝑘) = 𝑚𝑖𝑛𝑣≥0
{(𝑣𝑘
𝑣𝑘𝑟𝑖𝑡)
𝐼𝑆𝑆𝑥
, 1} (8.14)
Abbildung 8.1 – Risiko für ein Polytrauma für Fußgänger mit Kopfanprall
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S E I T E X I I
“Both pedestrian injury risk functions, the one depending on the collision speed
(fig. 5) and the one depending on the pedestrian’s engagement with the vehicle
(fig. 4) can be summarized in one common higher-dimensional function. The
resulting risk function is a function of the collision speed, i.e. the speed of the
car, and the location where, in relation to the vehicle’s width, the pedestrian is
hit.” [32]
Abbildung 8.2 zeigt die zusammengesetzte Funktion für ein Polytrauma (𝐼𝑆𝑆𝑥 >
5), basierend auf den Gleichungen (8.12) bis (8.14):
Abbildung 8.2 – Erweiterte Verletzungsrisikofunktion für ein Polytrauma (𝑰𝑺𝑺𝒙 > 𝟓) für
Fußgänger mit Kopfanprall (Contour lines of equal injury severity)
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S E I T E X I I I
C Beispielfälle für auffällige PKW-Radfahrerunfälle
Beispielfall 1:
Abbildung 8.3 zeigt die Skizze und die Anprallkonstellation eines PKW-
Radfahrerunfalls aus der in Kapitel 5 verwendeten Stichprobe.
Abbildung 8.3 – Skizze und Deformationen bei einem PKW-Radfahrerunfall – Beispiel 1
Die folgenden Geschwindigkeiten wurden ermittelt bzw. rekonstruiert:
Radfahrer mit der Geschwindigkeit: 𝑣𝑅𝑎𝑑 = 15 𝑘𝑚/ℎ
Fahrzeug mit der Geschwindigkeit: 𝑣𝑃𝑘𝑤 = 87 𝑘𝑚/ℎ
Rekonstruierte Relativgeschwindigkeit: 𝑣𝑃𝑘𝑤 = 73 𝑘𝑚/ℎ
Die Radfahrerin war weiblich und 82 Jahre alt. Trotz der großen Relativge-
schwindigkeit und des recht hohen Alters der Frau erlitt sie nur einen 𝑀𝐴𝐼𝑆 = 1
(Einzelverletzungen: SHT 1. Grades, Fraktur des Daumens, Kopfplatzwunde,
Rissquetschwunde). Die Bilder der Deformationen am Rad in Abbildung 8.3
zeigen, dass die Radfahrerin von der PKW-Front am Hinterrad getroffen, aller-
dings nicht vollständig vom Fahrzeug erfasst wurde.
C B E I S P I E L F Ä L L E F Ü R A U F F Ä L L I G E P K W - R A D F A H R E R U N F Ä L L E
S E I T E X I V
Beispielfall 2:
Abbildung 8.4 zeigt die Skizze und die Anprallkonstellation eines weiteren
PKW-Radfahrerunfalls aus der in Kapitel 5 verwendeten Stichprobe.
Abbildung 8.4 – Skizze und Deformationen bei einem PKW-Radfahrerunfall – Beispiel 2
Die folgenden Geschwindigkeiten wurden ermittelt bzw. rekonstruiert:
Radfahrer mit der Geschwindigkeit: 𝑣𝑅𝑎𝑑 = 15 𝑘𝑚/ℎ
Fahrzeug mit der Geschwindigkeit: 𝑣𝑃𝑘𝑤 = 0 𝑘𝑚/ℎ
Rekonstruierte Relativgeschwindigkeit: 𝑣𝑃𝑘𝑤 = 15 𝑘𝑚/ℎ
Der Radfahrer war männlich und 43 Jahre alt. Im Moment der Kollision hatte
der PKW-Fahrer sein Fahrzeug bereits zum Stehen gebracht. Der PKW besaß
somit eine Eigengeschwindigkeit von 0 km/h. Trotz der relativ geringen Relativ-
geschwindigkeit und des mittleren Alter des Mannes erlitt er einen relativ hohen
Verletzungsschweregrad 𝑀𝐴𝐼𝑆 = 3 (Femurfraktur).
D E I N F L U S S D E S S E K U N D Ä R A N P R A L L S A U F D I E V E R L E T Z U N G S S C H W E R E
S E I T E X V
D Einfluss des Sekundäranpralls auf die Verletzungsschwere
MAIS allein vom
Fahrzeug
bestimmt
MAIS allein vom
Sekundäranprall
bestimmt
MAIS durch Fahrzeug-
und Sekundäranprall
bestimmt
MAIS1+ 46% 21% 33%
MAIS2+ 66% 16% 19%
MAIS3+ 62% 19% 19%
MAIS1+ 23% 44% 33%
MAIS2+ 39% 48% 13%
MAIS3+ 59% 31% 10%
Fußgänger
Radfahrer
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Stand November 2016