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Rudyard Kipling
Mit der Nachtpost
Unheimliche Geschichten
Aus dem Englischen von
Friedrich Polakovics
Insel Verlag
insel taschenbuch 1368
Erste Auflage 1991
Originalausgabe © Insel Verlag
Frankfurt am Main und Leipzig 1991
Alle Rechte vorbehalten
Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes
Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuchverlag
Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus
Satz: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Joseph Rudyard Kipling, geboren am 30. Dezember 1865 in Bombay, ist am 18. Januar 1936 in London gestorben. Kaum überschaubar sind die Einzelausgaben und Auflagen der Romane und Erzählungen des Autors, dessen Erfolge sich nicht nur dem »Dschungelbuch«, den »Just-so-stories« oder »Kim« verdanken. Der Nobelpreisträger (1907) für Literatur, der uns in vielen seiner zahlreichen Kurzgeschichten die Unvereinbarkeit östlichen Denkens und westlicher Zivilisation vor Augen führt, hat dabei fast immer Motive aus dem Bereich des Phantastischen verwendet. So durchzieht all seine Geschichten ein Hauch des Übernatürlichen, oft auch kommt es zum Wechselspiel zwischen anschaulich geschildertem Diesseits und einer Ahnung von Jenseitigem. Fast nicht bekannt ist jedoch, daß Kipling auch etliche Erzählungen geschrieben hat, die sich dem Utopischen zuordnen lassen. So schildert »Mit der Nachtpost« (1905 und 1909) als »Geschichte aus dem Jahr 2000« eine Nachtfahrt mit einem transatlantischen Postluftschiff. Zu einer Zeit, da Funkverkehr noch selten war, sah Kipling schon die Notwendigkeit von Luftverkehrskontrollen und Kommunikationssystemen voraus. In der zweiten Erzählung »Mit der Leichtigkeit des A.B.C.« (1912) spielt dieser »Aerial Board of Control« eine düstere Rolle. Die ironisch-utopische Geschichte drückt Kiplings Besorgnis aus, alle Demokratie könnte obsolet werden weil ersetzt durch politisches Desengagement, Bevölkerungsreduktion und private Abkapselung unter der Herrschaft eines erdumfassenden, übermächtigen Konsortiums – eben des Luftüberwachungs-Ausschusses »A.B.C.«.
In der dritten Erzählung »Drahtlose Botschaft« – einer, wenn man so will, Utopie von vorgestern – unternimmt es der Autor anhand eines Experiments mit drahtloser Nachrichtenübermittlung, uns in meisterlicher Parallele gänzlich anders geartete, seelisch bedingte Vorgänge nahezubringen.
Mit der Nachtpost
An einem böigen Winterabend stand ich um neun Uhr auf den
unteren Stufen eines der äußeren G.P.O.-Türme∗ für den
Postversand. Zweck meines Hierseins war ein Abstecher nach
Quebec hinüber, mit dem »Postfrachter 162 oder sonst einem
dorthin bestimmten«: und der Generalpostmeister hatte den
Antrag persönlich gegengezeichnet. Dieser Talisman öffnete
sämtliche Türen, sogar jene zum Abfertigungs-Caisson ganz
unten im Tower, wo die sortierte Kontinentalpost versandbereit
lag. Wie Heringe stapelten sich die Postsäcke auf den langen
und grauen Untersätzen, die unsere G.P.O. noch immer als
»Kutschen« bezeichnet. Gleich fünf solcher Kutschen wurden
in meinem Beisein beladen und auf Leitschienen nach oben
geschossen, zum Eindocken in die wartenden Frachter, den
Sternen um einhundert Meter näher.
Vom Abfertigungs-Caisson geleitete mich ein
zuvorkommender, aufs beste geschulter Beamter – ein Mr. L.
∗ General Post Office
L. Geary, Zweiter Abfertiger für die Weststrecke – zum
Kapitänszimmer (eine Bezeichnung, welche romantische
Reminiszenzen in uns heraufruft), wo die Postkapitäne
eingeteilt werden. Dort stellte er mich den Kapitänen der
»162« vor – einem Kapitän Purnall sowie seinem Zweiten,
dem Kapitän Hodgson. Der eine ist klein und dunkelhaarig, der
andere hochgewachsen und rot, doch haben sie beide den
brütend verschleierten, für Adler wie Aeronauten
charakteristischen Blick. Man kann das auf Bildern unserer
Rennprofis sehen, von L. V. Rautsch angefangen bis zu der
kleinen Ada Warrleigh – jenes unergründbar Abstrakte in
Augen, welche gewohnt sind, nur die Leere des Raumes vor
sich zu haben.
An der Übersichtstafel des Kapitänszimmers registrieren
vibrierende Zeiger von etwa zwanzig Indikatoren nach
Breiten- und Längengraden die jeweilige Position von ebenso
vielen Frachtern auf deren Heimflug. Das Wort »Kap«
erscheint auf dem Skalenblatt einer Meßuhr; ein Gong schlägt
an; die südafrikanische Post von Mitte der Woche ist an den
Einlauftowers von Highgate, nichts weiter. Das Ganze erinnert
auf komische Weise an die kleine Signalglocke, welche an
Brieftaubenkästen das Eintreffen einer Botschaft anzeigt.
»Zeit, sich zum Abflug fertigzumachen«, sagt Kapitän
Purnall, und der Passagierlift schießt mit uns hinauf zur
obersten Plattform des Towers. »Unsere Kutsche wird erst
eingedockt, wenn sie voll ist und wenn auch die Postbegleiter
an Bord sind.«…
»Nr. 162« wartet ganz oben auf uns, am Einstieg E. Das
riesige Rund ihrer Rückseite schimmert eisig im
Lampenschein, und eine winzige Positionskorrektur bewirkt
einen leichten Ruck an den Halteklampen.
Kapitän Purnall zieht eine finstere Miene und verschwindet
im Innern. Unter leisem Zischen pendelt die »162« sich in die
vorgeschriebene, waagrechte Lage. »Nr. 162« mißt von der
Bugkappe (die vom Durchpfeilen unzähliger Meilen aus
Hagel, aus Eis und aus Schnee diamantgleich geschliffen ist)
bis zu den Führungsringen ihrer drei achternen Luftschrauben
wohl an die achtzig Meter, bei einem über beträchtliche Länge
gleichbleibenden Durchmesser von mehr als zehn Metern. Erst
der Vergleich mit den dreihundert zu zweiunddreißig Metern
jedes beliebigen Luftkreuzers führt uns richtig vor Augen,
welche Kraft diesen Schiffsrumpf durch alle Unbill des
Wetters vorantreibt mit einer Geschwindigkeit, welche das
Spitzentempo der großen »Zyklon« noch weit übertrifft!
Das Auge entdeckt an der Außenhaut keinerlei Fuge, bis auf
den haarfeinen Einschnitt der Bugsteuerung – Magniacs Ruder,
das uns die Beherrschung des unsichern Luftraums erst richtig
erlaubt hat, doch dem Erfinder nur Armut und halbe
Erblindung eintrug. Es ist nach Castellis »Möwenschwingen«-
Kurve berechnet. Hebt man nur wenige Fuß dieser fast nicht
sichtbaren Platte um neun Millimeter an, so bricht der Frachter
fünf Meilen nach Back- oder Steuerbord aus, noch bevor man
ihn wieder unter Kontrolle gebracht hat. Fährt man jedoch das
Ruder voll aus, so ist er gleich wieder auf kerzengeradem
Kurs. Neigt man das Ganze nach vorn – eine winzige
Raddrehung reicht dafür aus –, so saust der Frachter auf- oder
abwärts, ganz je nachdem. Und bei kompletter Drehung des
Rades gibt’s in der Luft einen Rauchpilz, der das Schiff
vertikal eine halbe Meile nach oben katapultiert.
»Ja«, sagt Kapitän Hodgson, als hätte er meine Gedanken
erraten. »Castelli glaubte, die Aeroplanlenkung erfunden zu
haben, und hatte doch nur die Steuerung lenkbarer Ballone
entdeckt. Magniac hat dann ein Ruder erfunden, um
Kriegsluftkreuzer leichter rammen zu können. Als der Krieg
aber abgeschafft wurde, kam Magniac um den Verstand und
sagte, er könne dem Vaterland nun nicht mehr nützen. Ich
frage mich, wer von uns wirklich weiß, was wir tun.«
»Wenn Sie das Kutschen-Eindocken mitkriegen wollen, dann
sollten Sie jetzt an Bord kommen. Es ist gleich soweit«, sagt
Mr. Geary. Ich benutze den mittschiffs gelegenen Einstieg.
Das Innere des Frachters ist ohne Aufwand gestaltet. Die
Hüllen der Gasbehälter befinden sich nur einen halben Meter
über dem Kopf und berühren mit ihrer oberen Krümmung fast
schon die Außenwand. Passagierkreuzer und Privatjachten
verbergen die Tanks hinter Dekorationen, die G.P.O. jedoch
begnügt sich mit dem offiziell-grauen Anstrich. Die
Innenverschalung trennt etwa fünfzehn Meter des Bugraums
und ebensoviel am Heck vom Mittelteil ab, doch enthält der
abgeschottete Bugraum den Schacht für die Höhensteuerung,
das Heck hingegen die Bohrungen für den Schiffsantrieb. Der
Maschinenraum liegt etwa mittschiffs. Ihm schließt sich nach
vorne, fast bis an die Krümmung der Bugtanks, ein jetzt noch
geöffneter Einlaß an, durch den unsre »Kutsche« eingedockt
werden soll. Über die Lukenumrandung hinweg sieht man
hundert Meter nach unten, bis auf den Grund des Caissons, von
wo der Stimmenlärm zu uns heraufdringt. Unten das Licht
verdüstert sich jetzt und wird zum Donnergetöse, mit dem
unsre »Kutsche« längs ihrer Leitschienen zu uns emporschießt.
Sehr rasch kommt sie näher, war eben noch briefmarkenklein,
ist jetzt schon spielkartengroß, gewinnt die Ausmaße eines
Kahns und schließlich eines Pontons. Die beiden Beamten
darauf heben während des Eindockens nicht einmal ihre
Köpfe. Die Quebec-Poststücke fliegen unter den Fingern der
Männer hervor und landen in den beschrifteten Fächern,
während die zwei Kapitäne und Mr. Geary sich überzeugen,
daß die Kutsche sicher eingedockt ist. Einer der beiden
Beamten reicht jetzt den Postbegleitzettel über den Lukenrand.
Kapitän Purnall drückt seinen Daumen darauf und reicht das
Papier zurück: der Empfang ist bestätigt. »Guten Flug«,
wünscht Mr. Geary und verschwindet danach durch den
Ausstieg, worauf der fußhohe Kompressor die Tür
pneumatisch verschließt.
»A-ah« seufzt der Kompressor, während die Druckluft
entweicht. Unsre Festhalteklampen lösen sich klickend. Wir
sind klar zum Abflug.
Kapitän Hodgson öffnet die große Kolloid-Bodensichtklappe,
durch die ich das von Millionen Lichtern erhellte London unter
uns ostwärts weggleiten sehe, sobald der Sturm uns erfaßt hat.
Die erste, tiefhängende Winterwolke verdeckt den vertrauten
Anblick und verfinstert ganz Middlesex. An ihrem südlichen
Rand ist das Licht eines Postfrachters sichtbar, wie es die
weißliche Wolle durchpflügt. Sekundenlang leuchtet es auf wie
ein Stern, ehe der Frachter nach unten verschwindet, in
Richtung der Anlegetowers von Highgate. »Die Bombay-
Post«, sagt Kapitän Hodgson nach einem Blick auf seine Uhr.
»Mit vierzig Minuten Verspätung.«
»Wie hoch sind wir jetzt?« frage ich.
»Zwölfhundert Meter. Wollen Sie nicht auf die Brücke
mitkommen?«
Die »Brücke« (gesegnet sei die G.P.O. als Refugium ältester
Traditionen!) besteht aus dem Anblick von Kapitän Hodgsons
Beinen auf der Kontrollplattform, die quer zum Schiff steht,
knapp über Kopfhöhe. Die Blenden am Bugkolloid öffnen
sich, und Kapitän Purnall, die eine Hand an der Steuerung,
geht auf leichten Steigflug. Der Höhenanzeiger klettert auf
1300.
»Recht steil heute nacht«, murrt er vor sich hin, während
draußen die Wolken Schicht um Schicht abwärts vorbeiziehen.
»Im allgemeinen haben wir um diese Jahreszeit schon unter
eintausend Meter den Ostwind im Rücken. Dieser Blindflug
durch nichts als Wolken ist mir gründlich zuwider!«
»Ganz wie Van Cutsem auch. Schau mal hinüber, wie schräg
er hinaufjagt!« sagt Kapitän Hodgson. Ein Nebelscheinwerfer
glimmt durch die Wolken herauf, fast zweihundert Meter
tiefer. Der Antwerpener Postfrachter signalisiert und
verschwindet im Steigflug zwischen zwei fernen, backbords
vorüberjagenden Wolken, wobei seine Längsseite blutrot
aufleuchtet im doppelten Lichtstrahl von Sheerness. In einer
halben Stunde werden wir bei diesem Sturm schon über dem
Nordmeer sein, aber Kapitän Purnall bleibt gelassen auf
Steigflug – nach welcher Richtung auch immer.
»Fünfzehnhundert – zweitausend – zweitausendeinhundert« –
der Neigungsmesser zeigt es uns an, noch ehe wir in der
Ostströmung sind, die sich bei etwa 1800 durch einen
Schneeschauer ankündigt. Kapitän Purnall ruft den
Maschinenraum an und schaltet den Drehzahlregler herunter.
Es hat keinen Sinn, die Maschinen über Gebühr zu belasten,
wenn Aeolus persönlich – und noch dazu gratis – für gutes
Vorankommen sorgt. Erst jetzt sind wir wirklich auf Kurs – die
Bugkappe weist ganz genau auf unseren Peilungsstern. In
dieser Höhe breiten die tieferen Wolken sich unter uns, von
den trockenen Fingern des Ostwinds strähnig und sauber
durchkämmt. Und noch weiter unten sieht man die starke
westliche Strömung, durch die wir gestiegen sind. Über uns
zieht der südwärts treibende Dunst seinen Schleier gleich
einem Bühnenvorhang vors Firmament. Das Mondlicht
wandelt die Wolkenschicht unter uns zur makellos-silbernen
Fläche, die nur unser Schatten durchläuft. Das Doppelfeuer
von Bristol und Cardiff (jene prächtigen, schrägen Strahlen
über der Severnmündung) taucht direkt vor uns auf – wir
benutzen die südliche Winterstrecke. Coventry-Mitte, die
Drehscheibe unseres englischen Netzes, schickt alle zehn
Sekunden seinen blitzenden Lichtstrahl in nördlicher Richtung
herauf, und ein, zwei Strich steuerbords beschreibt The Leek,
der große Wolkenbrecher von Saint David’s Head, mit seinem
unverwechselbar grünen Strahl einen Lichtkegel von
fünfundzwanzig Grad. Bei der herrschenden Wetterlage muß
die Wolkenschicht über ihm wohl eine halbe Meile dick sein,
aber das hat für The Leek nichts zu bedeuten.
»Unser Planet ist recht gut beleuchtet, das steht außer Frage«,
meint Kapitän Purnall am Steuer, während Cardiff-Bristol
unter uns weggleitet. »Ich entsinne mich noch der alten Zeiten
mit ihren gewöhnlichen weißen Vertikalstrahlern, die
höchstens eintausend Meter in den Dunst hinaufgereicht haben
– und auch da mußte man wissen, wo sie zu suchen waren.
Und bei wirklich verhangenem Himmel hätte man ebensogut
den Hut draufhauen können. Mitunter hat man sich damals
ganz schön verfranzt auf dem Heimflug. Heute dagegen ist es,
als führe man Piccadilly entlang.«
Er deutet in Richtung der Lichtsäulen, welche die
Wolkendecke durchstoßen. Von Englands Umrissen sehen wir
nichts – nur eine weißliche Bodenschicht, die allerorten
durchsetzt ist mit Schächten verschiedenfarbenen Lichts, von
Holy Island herauf weiß und rot, von St. Bee als weißes
Blinkfeuer, und so geht es weiter bis an den Rand unsres
Blickfelds. Gesegnet seien Sargent, Ahrens und die Gebrüder
Dubois für die Erfindung dieser Wolkenbrecher, welche das
Reisen so sicher gemacht haben!
»Gehen Sie höher beim Anflug auf The Shamrock?« fragt
Kapitän Hodgson. Cork Light (grün und unbeweglich) wird
nun immer größer. Kapitän Purnall nickt. Dichtester
Flugbetrieb herrscht hier herum – die Wolkenbank unter uns
ist streifig erhellt von den laufenden Flammenspuren der
Atlantikschiffe, welche knapp über der Dunstschicht Eilkurs
auf London nehmen. Durch Konferenzbeschluß sind den
Postfrachtern die Flugstraßen auf 1700 vorbehalten – doch
wenn es ein Ausländer eilig hat, nimmt er’s im englischen
Luftraum nicht so genau. Unter langgezogenem Heulen des
Fahrtwinds an der vorderen Ruderklappe gewinnt »162« an
Höhe, wir überfliegen Valencia (weiß-grünweiß) in sicheren
2100 Metern und dippen unseren Scheinwerferstrahl zur
Begrüßung eines hereinkommenden Washington-Postfrachters.
Keine Wolke steht überm Atlantik, und die schwachen
Schaumstreifen an den Ufern der Dingle Bay zeigen an, wo die
windgepeitschte See gegen die Küste anbrandet. Ein großer
S.A.T.A.-Liner (Societe Anonyme des Transports Aeriens,
Lufttransport-A.G.) geht 800 m unter uns abwechselnd höher
und tiefer, auf der Suche nach einem Durchschlupf inmitten
des steifen West. Noch weiter unten liegt ein flugunfähig
gewordener Däne: er ist dabei, seine Daten nach
internationalem Code an den Liner weiterzugeben. Unser
Hauptkommunikator fängt den Funkverkehr auf und hört mit.
Schon will Kapitän Hodgson ihn abschalten, besinnt sich aber
im letzten Moment: »Vielleicht möchten Sie mithören«, sagt
er.
»›Argol‹ von St. Thomas«, wimmert es im Empfänger.
»Informieren Sie Eigner, Lager von drei
Steuerbordantriebswellen durchgeschmort. Können noch
Flores erreichen, Weiterflug nicht mehr möglich. Sollen wir in
Fayal Ersatzlager kaufen?«
Der Liner bestätigt den Funkspruch und rät, die Lager
verkehrtherum einzubauen. ›Argol‹ funkt zurück, dies sei
schon geschehen, doch ohne Erfolg, und läßt danach ihrem
Unmut über das deutsche Billig-Email für Antriebslager freien
Lauf. Der Franzose stimmt dem von Herzen bei, ruft noch
»Courage, mon ami« und schaltet ab.
Dann verschwinden die Lichter der beiden unter der Kimm.
»Das ist einer der Lundt & Bleamer-Transporter«, sagt
Kapitän Hodgson. »Geschieht ihnen recht – warum verwenden
sie deutsche Legierungen in ihren Antriebsblocks! Der kommt
heut abend nicht mehr bis Fayal. Übrigens, möchten Sie jetzt
einen Blick in den Maschinenraum tun?«
Da ich schon gespannt auf diesen Vorschlag gewartet habe,
folge ich Kapitän Hodgson auf seinem Weg von der Plattform,
sehr tief gebückt, um mit dem Kopf nicht gegen die
Treibstoffbehälter zu rennen. Wir wissen, daß Fleury’s Gas
alles heben kann, wie die weltberühmten Versuche von 89
gezeigt haben, doch erfordern seine nahezu unbegrenzten
Expansionskräfte einen sehr großen Tankraum. Sogar in dieser
dünnen Luft reduzieren die Höhenruder den normalen Auftrieb
beständig um ein Drittel, und trotzdem muß die »162«
gelegentlich mit dem Ruder nach unten gedrückt werden, sonst
würden wir bis an die Sterne steigen. Kapitän Purnall zieht es
vor, in den höheren Schichten zu fliegen, doch sind bezüglich
der Schiffssteuerung keine zwei Kapitäne der gleichen
Meinung. »Bin ich auf der Brücke«, sagt Kapitän Hodgson, »
so nehme ich vierzig Prozent des Gasauftriebs weg und steuere
nur mit dem oberen Ruder – also mit Aufwärts- und nicht mit
Abwärtstendenz, könnte man sagen. Jede Art hat was für sich,
es ist bloß Gewohnheitssache. Sehen Sie mal auf die
Neigungsanzeige! Immer nach dreißig Knoten drückt Tim uns
nach unten, das geht so gleichmäßig wie unser Atem.«
Man sieht es am Neigungsmesser. Fünf, sechs Minuten lang
klettert der Anzeigepfeil von 2000 auf 2200. Dann kommt das
leise Zischen des Ruders, und schon sinkt der Pfeil bis unter
2000, während wir zehn oder fünfzehn Knoten im Abwärtsflug
zurückgelegt haben.
»Bei schwerem Wetter läßt sie sich ebensogut mit den
Luftschrauben dirigieren«, sagt Kapitän Hodgson, löst dabei
die Barriere, welche den Maschinenraum vom leeren Deck
abteilt, und führt mich nach unten.
Hier sehen wir Fleurys Vakuumkammer-Paradoxon – das wir
heutzutag als gegeben hinnehmen, ohne erst viel drüber
nachzudenken – buchstäblich in voller Aktion. Die drei
Antriebsaggregate sind verstärkte Fleury-Hochdruckturbinen
mit einem Limit von 3000 Touren, also bis zu dem Punkt, wo
die Schaufeln zu »schrillen« anfangen – d. h. von sich aus ein
Vakuum erzeugen, ganz wie früher die Schiffsschrauben bei zu
hoher Drehzahl. Das Limit von »162« liegt vergleichsweise
tief, bedingt durch geringere Größe ihrer neun Luftschrauben,
die, obschon leichter bedienbar als die alten Kolloid-
Thelussons, früher zu »schrillen« beginnen. Die
Mittschiffturbine, die für gewöhnlich nur zur Verstärkung
gebraucht wird, ist abgeschaltet. Also sind die
Vakuumkammern von Back- und Steuerbordturbine direkt mit
den Rückstoß-Hauptrohren gekoppelt. Von den tiefgewölbten
Expansionstanks führen Ventilröhren säulengleich zu den
Turbinenkästen, und von dort treibt das Gas in sausendem
Wirbel die spiraligen Schaufeln mit einer Wucht, die jeder
Motorsäge die Zähne wegblasen würde. Dahinter wird dann
der Gasdruck mithilfe der Auftriebsregelungsklappen gehemmt
oder beschleunigt, je nach Bedarf. Davor ist die
Vakuumkammer, wo der Fleurystrahl als violettgrünes
Flammenband wirbelt. Die gekoppelten U-Röhren der
Vakuumkammer sind aus drucksicherem Kolloid (weil kein
Glas der Beanspruchung standhalten könnte), und ein
Hilfsmaschinist mit getönten Schutzbrillen läßt den Gasstrahl –
das Herzstück des Ganzen – nicht aus den Augen. Der
Vorgang ist ja noch immer kein restlos gelöstes Rätsel. Sogar
Fleury, der ihn erfand und, anders als Magniac, als
Multimillionär starb, konnte nicht erklären, wie und warum der
rastlose kleine Impuls in den U-Röhren im Bruchteil eines
Sekundenbruchteils jene furiose Gasdruckwelle durch die
graugrüne Kühlflüssigkeit treibt, die tropfenweise (man kann
es hören) vom hinteren Ende des Vakuums durch die
Zuleitungsrohre herein- und durchs Hauptrohr in die Bilgen
zurückkommt. Dort nimmt sie ihren gasförmigen, man möchte
fast sagen ›denkenden‹ Zustand wieder an und steigt auf zu
neuerlicher Aktion. Bilgentank, oberer Tank, Seitentank,
Expansionskammer, Vakuum, Hauptrückstrahlrohr (für den
flüssigen Zustand) und wiederum Bilgentank bilden so den
beständigen Kreislauf. Fleury’s Strahl achtet darauf, und der
Maschinist mit den Schutzbrillen achtet auf Fleury’s Strahl.
Ein winziger Ölfleck, ja sogar das natürliche Fett eines
Fingerabdrucks an den Schutzkappen der Verbindungsventile
genügt, um den Strahl sofort zum Erlöschen zu bringen, und es
bedarf großer Mühe, ihn neuerlich aufzubauen. Das
beansprucht dann einen halben Tag Arbeit für die gesamte
Besatzung und kostet die G.P.O. einhundertsiebzig Pfund an
hinausgeworfenem Geld für Radiumsalze und ähnliches Zeug.
»Sehen Sie sich mal unsre Schubverstärkerringe an. Sie
werden daran kaum eine Legierung aus Deutschland vorfinden.
Läuft alles auf echten Steinen, nicht wahr«, sagt Kapitän
Hodgson, während der Maschinist eine der Schutzkappen
aufklappt. »Unsere Antriebswellen laufen in Lagern der I.D.C.
(Industriediamanten-Compagnie), die Steine sind so sorgfältig
geschliffen wie Teleskoplinsen. Sie kommen per Stück auf 37
Pfund. Ihre Lebensdauer ist noch lange nicht abgelaufen. Diese
Lager zum Beispiel stammen von »Nr. 97«, und die wiederum
hat sie von der alten ›Dominion of Light‹ übernommen, für die
sie aus dem Wrack von einem der ›Perseus‹-Aeroplane
ausgebaut worden sind, in den Jahren, als man noch
stoffbespannte Kisten mit Thorium-Motoren verwendet hat!
Eigentlich sind sie ein schimmernder Vorwurf für all diese
billige deutsche ›Rubin‹-Emaillierung der sogenannten
›Diamantstaub‹-Beläge und unverläßlichen
Aluminiumlegierungen, die nur unsern dividendenhungrigen
Eignern behagen, aber uns Skipper wahnsinnig machen.«
Rudermaschine und Gasauftriebsregler, beide unterhalb der
Kontrolltafel des Maschinenraums, sind die einzigen, deren
Funktion sichtbar ist. Das von Zeit zu Zeit hörbare leise
Zischen rührt vom Ölkolben der Rudermechanik her, wogegen
der Auftriebsregler, nicht minder geschützt als die U-Röhren
dahinter, einen zweiten Fleurystrahl zeigt, nur in verkehrter
Richtung und von grünlicherem Violett. Seine Aufgabe ist es,
den Gasauftrieb zu reduzieren, wobei er jedoch nicht
überwacht werden muß. Und damit hat sich’s auch schon: ein
winziges Pumpengestänge, das neben einem grünflimmernden
Lämpchen gedämpfte Quietschlaute von sich gibt; dahinter, am
Ende des fünfzig Meter langen, flachen Tunnels mit den
Tanks, ein schwächlich flackernder, violetter Schein; zwischen
den beiden Lichtern drei weißlackierte Turbinenschutzgitter,
die an gekippte Aalkörbe gemahnen und den leeren Durchblick
akzentuieren. Man hört es rieseln, wenn das verflüssigte Gas
aus dem Vakuum in die Bilgentanks fließt, und man vernimmt
das leise Klicken beim Schließen der Durchlaßklappen, sobald
Kapitän Purnall die »162« bugabwärts steuert. Das Gesumm
der Turbinen und das Rauschen der Luft an der Schiffshaut
wirkt in der universellen Stille nicht anders, als legte ein
wollener Lappen sich um das Fahrzeug. Und dabei machen wir
die Meile in achtzehn Sekunden!
Ich spähe vom vordern Maschinenraum-Ende über die
Lukenumrahmung in die »Kutsche« hinunter. Dort sind die
Postangestellten dabei, die Poststücke zu sortieren – nach
Winnipeg, Calgary, Medicine Hat – und in den betreffenden
Postbeuteln zu verstauen. Ein Pakken Postkarten liegt aber
noch auf dem Tisch.
Plötzlich schrillt eine Klingel: Alarm! Die Maschinisten eilen
an die Turbinenventile. Doch der Strahlsklave mit seinen
Schutzbrillen hebt nicht einmal den Kopf. Er darf seinen
Posten niemals verlassen. Wir werden sehr hart gebremst und
gehen dann rückwärts. Von der Kontrollplattform tönen
Wortfetzen herein.
»Tim ist über irgendwas fuchsteufelswild«, meint Kapitän
Hodgson gelassen. »Wollen mal nachsehn!«
Tatsächlich hat Kapitän Purnall nichts mehr von jenem
verbindlichen Menschen an sich, der er noch vor einer halben
Stunde gewesen ist: er verkörpert nunmehr die gesamte
Autorität der G.P.O. Vor uns schwebt ein alter, überaus
schäbiger, aluminiumgeflickter Tramper mit
Zwillingsschraubenantrieb, so wenig berechtigt, sich auf
unserm Kurs in 1500 m Höhe herumzutreiben, wie ein
Pferdekarren im modernen Großstadtverkehr. Er ist mit einem
uralten »Barbette«-Kommandoturm ausgestattet – einem Ding
von 1,80 Höhe, vorn mit Geländerplattform –, und unser
Signalscheinwerfer strahlt dessen Oberteil an wie die Lampe
des Polizisten einen Verkehrssünder. Und wie ein
Gesetzesübertreter kommt jetzt aus dem Turm ein verstörter
Pilot in Hemdsärmeln zum Vorschein. Kapitän Purnall kurbelt
das Kolloidfenster auf, will reden von Mann zu Mann: es gibt
ja Momente, in denen die bloße Technik nicht ausreicht.
»Was hast du hier unter den Sternen zu suchen, du
wolkenkratzender Schornsteinfeger?« brüllt er hinüber,
während wir Bord an Bord treiben. »Weißt du nicht, daß hier
die Poststrecke ist? Und du willst ein Navigator sein, Bursche?
Bist ja nicht mal imstande, bei den Eskimos Luftballons zu
verkaufen! Deinen Namen und deine Nummer, so mach schon
– und dann hinunter mit dir, und sei dreimal – !«
»Ich bin auf einmal hier oben gewesen«, schreit heiser der
völlig entgeisterte Mann – es klingt fast wie Hundegebell.
»Und was Sie machen, das kümmert mich einen Dreck, Sie
trauriger Posthengst!«
»Finden Sie, Sir? Na, dann sorg’ ich dafür, daß es Sie
kümmert! Ich mache Sie fest, mit dem Heck Richtung Disko∗,
und lege Sie still. Und von der Versicherung kriegen Sie
keinen Groschen, sobald man Sie wegen Behinderung sperrt!
Verstehn Sie mich jetzt?«
Darauf brüllt der Fremde: »Sehn Sie sich lieber meine
Propeller an! Dort unten hat’s einen Wirbel gegeben, der hat
das reine Schirmgestell aus uns gemacht! Seit zwölf
Kilometern treibt es uns hoch, und innen sehen wir aus wie ein
kaputtes Uhrwerk! Mein Maat hat einen gebrochenen Arm,
mein Maschinist einen zerschlagenen Schädel. Der Gasstrahl
ist abgerissen, als die Maschine zu Bruch ging, und… und…
um Gotteswillen, sagen Sie mir, wie hoch wir sind, Kapitän!
Ich hab’ das Gefühl, wir sacken jetzt ab!«
»Zweitausendeinhundert. Können Sie das halten?« Kapitän
Purnall, alle Insulte bewußt übergehend, beugt sich aus dem
Kolloidluk, überzeugt sich vom Zustand des fremden
Fahrzeugs und zieht prüfend die Luft ein. Das leckgewordene
Schiff stinkt infernalisch.
∗ Insel vor der Westküste Grönlands. Anm. d. Ü.
»Wenn wir Glück haben, machen wir’s noch bis St. John’s.
Wir sind gerade dabei, den Vordertank abzudichten, aber das
Gas pfeift ganz einfach davon!« jammert der fremde Pilot.
»Der sackt ab wie ein Stein«, meint leise Kapitän Purnall.
»Ruf mal das Wachschiff an, George!« Unsre Kontrolluhr
zeigt an, daß wir, Bord an Bord mit dem Luftvagabunden,
innerhalb weniger Minuten einhundertfünfzig Meter an Höhe
verloren haben.
Kapitän Purnall drückt einen Schalter, und der Strahl des
Signalscheinwerfers durchbricht die Nacht mit rotierenden
Speichen aus Licht.
»Das wird schon jemanden herbeirufen«, sagt er, während
Kapitän Hodgson den Hauptkommunikator betätigt. Er hat das
Wachboot der Nordküste angerufen, ein paar hundert Meilen
westlich, und gibt jetzt den Sachverhalt durch.
»Ich werd’ Ihnen Beistand leisten!« brüllt Kapitän Purnall zu
der einsamen Gestalt in ihrem Leitturm hinüber.
»Steht es so schlimm?« kommt’s zurück. »Es ist mein
eigenes Schiff – und nicht versichert!«
»Das hätt’ ich mir denken können«, murrt Hodgson.
»Besitzerrisiko ist das schlimmste von allen!«
»Komm’ ich nicht mehr bis St. John’s – auch nicht mit
diesem Wind?« tönt es klagend herüber.
»Machen Sie alles bereit zum Verlassen des Schiffs! Haben
Sie gar keinen Auftrieb mehr – weder vorne noch achtern?«
»Nichts – nur die Mittschifftanks, und die sind nicht dicht!
Ich sagte ja schon, mein Gasstrahl ist weg, und – « Ein
Hustenkrampf im Gestank des entweichenden Gases macht
den Worten ein Ende.
»Armer Teufel!« Doch das erreicht unsern Freund nicht.
»Und was sagt das Wachboot, George?«
»Will wissen, ob Gefahr für den Luftverkehr ist. Sagt, es sei
selber in Sturmnot und kann seine Position nicht verlassen. Ich
hab’ einen allgemeinen Notruf hinausgeschickt, damit uns
auch ohne den Lichtstrahl jemand zu Hilfe kommt – sonst
müssen wir selber es tun. Soll ich unsre Fangtaue klarmachen?
Moment – da ist ja schon einer! Noch dazu ein Planet-
Passagierschiff! Gleich wird es da sein!«
»Gib ihm durch, es soll seinen Rettungskorb ausfahren«, ruft
der Kollege. »Es ist nicht viel Zeit zu verlieren… Verbinden
Sie Ihren Maat!« brüllt er zum Tramper hinüber.
»Mein Maat ist versorgt. Aber der Maschinist! Er dreht
durch!«
»So beruhigen Sie ihn – mit dem Schraubenschlüssel – nur
rasch!«
»Aber ich halte durch bis St. John’s, wenn Sie mir helfen!«
»Sie halten nicht durch, sondern zu, und zwar auf den Grund
des Atlantik – in zwanzig Minuten sind Sie soweit! Sie sind
jetzt schon unter zweitausend! Los – und vergessen Sie nicht
die Papiere!«
Ein Planet-Passagierschiff auf Ostkurs beschreibt eine
saubere Schleife und hängt sich danach über uns. Das
Bodenkolloidluk ist offen, und die Transportschlingen hängen
heraus wie Fangarme. Wir schalten den Scheinwerfer ab,
während der Liner – haargenau kommt er herein – über dem
Leitturm des Trampers in Position geht. Jetzt taucht der Maat
auf, den Arm an den Leib gebunden, und taumelt zum
Rettungskorb. Ihm folgt ein Mann mit gräßlich durchblutetem
Kopfverband, fortwährend schreiend, er müsse zurück, den
Gasstrahl aufbauen! Der Maat beruhigt ihn, indem er sagt, im
Maschinenraum des Passagierschiffs erwarte ihn ein noch viel
schönerer Strahl. Der Kopfbandagierte nickt aufgeregt und
wird gleichfalls nach oben gehievt. Ein Junge und eine Frau
folgen. Vom Liner kommen aufmunternde Rufe, und wir
können die Passagiergesichter am Salonkolloid erkennen.
»Sie ist ein gutes Mädchen. Worauf wartet der Hohlkopf
noch?« sagt Kapitän Purnall.
Jetzt taucht der Skipper zum andernmal auf, appelliert
nochmals an uns, bei ihm zu bleiben und ihn bis St. John’s zu
begleiten. Danach taucht er unter und kommt – was wir
kleinen Menschen in der Leere des Raums ganz besonders
bejubeln – mit dem Schiffskätzchen zum Vorschein. Die
Fangtaue des Liners gehen zischend nach oben, rasselnd
schließt sich sein Bodenluk, und gleich darauf saust er davon.
Der Höhenmesser zeigt nur mehr 900 Meter an.
Vom Wachboot ergeht der Befehl, wir hätten beim Wrack zu
bleiben, das nunmehr langsam, in pfeifendem Zickzackkurs, in
seinen Tod sinkt.
»Halten Sie’s weiter im Suchscheinwerfer und geben Sie eine
generelle Warnung hinaus«, sagt Kapitän Purnall und geht
gleichfalls tiefer.
Aber das wäre nicht nötig. Es gibt keinen Liner, der die
Bedeutung unseres Vertikalstrahls nicht kennte und uns nicht
in weitem Bogen auswiche.
»Sie wird doch vollaufen und absaufen?« frage ich.
»Nicht unbedingt«, sagt der Kapitän. »Ich weiß da von einem
Wrack, das sich kopfüber und mit herausgekippten
Antriebsmaschinen noch drei Wochen auf den tieferen
Strecken herumtrieb, bloß von den vorderen Tanks in Schwebe
gehalten. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Gib ihr den Rest,
George, aber gib Obacht dabei! Dort vorn zieht ein böses
Wetter herauf!«
Kapitän Hodgson öffnet das Bodenluk, fährt das gewichtige
Fangeisen aus seiner Halterung, die in den Linern zumeist mit
einer Sitzbank verschalt ist. Wir hören das schwirrende Öffnen
der sichelförmigen Arme. Der Bug des Wracks wird
durchbohrt, herumgedreht und diagonal durchgerissen. Danach
saust das Schiff, noch immer in unserem Scheinwerferstrahl,
mit dem Heck voran in die Tiefe, gleitet wie eine verlorene
Seele längs unerbittlicher Lichtbahn hinab – und wird vom
Atlantik verschlungen.
»Ein dreckiger Job«, sagt Hodgson. »Wie das wohl früher
gewesen sein mag, in alten Zeiten?«
Die nämliche Frage war auch mir durch den Kopf gegangen.
Wie, wenn jener taumelnde Rumpf voll mit internationalen
Fahrgästen gewesen wäre, deren jeden man gelehrt hatte (und
das ist der Horror daran!), ihm sei nach dem Tode die Ewige
Höllenqual so gut wie gewiß?
Und kaum fünfzig Jahre danach verstehen wir uns (die wir,
wie jedermann weiß, nur der verlängerte Arm unsrer Väter
sind) so wunderbar auf das Rammen und Reißen und In-den-
Grund-Bohren!
Doch in diesem Moment befiehlt uns Tim vom Kontrollstand
herab, sofort unsre aufblasbaren Schutzanzüge anzulegen und
auch ihm den seinen hinaufzureichen!
Eilig zwängen wir uns in die schweren Gummianzüge – die
Maschinisten sind schon soweit – und pumpen sie an den
Anschlüssen auf. Die G.P.O.-Inflatoren sind dreimal so dick
wie die »Flitzer« der Rennpiloten und reiben abscheulich unter
den Achseln. George übernimmt die Steuerung, während Tim
sich nahezu kugelrund aufblasen läßt. Stieße man ihn vom
Kommandostand an die Decke, er würde zurückprallen wie ein
Fußball. Indes, solches Ballspiel besorgt unsre »162« von sich
aus.
»Im Wachboot drehen sie durch – total übergeschnappt«,
schnauft der zurückkehrende Tim. »Sie warnen uns vor argen
Luftlöchern auf unsrem Kurs und wollen, daß wir über
Grönland ausweichen. Aber da will ich erst noch sie absaufen
sehen! Eineinviertel Stunden verschwenden wir da an die
lahme Ente dort unten, und jetzt will man von mir, daß ich mir
den Hintern am Nordpol erfriere! Was glauben denn die,
woraus ein Postfrachter gemacht ist? Aus Seidengummi
vielleicht? Gib ihnen durch, George, wir bleiben auf direktem
Kurs!«
George schnallt ihn auf dem Pilotensitz fest und schaltet
danach die Kontrolle ein. Tims linke Fußspitze ist überm
Gaspedal der Backbordmaschine, die linke Ferse über dem
Rückwärtsgang, und dementsprechend ist’s auch mit dem
anderen Fuß. Die Auftriebs-Stopper am Steuerrad sind mit den
Fingern der linken Hand zu bedienen. Rechts ist der
Schalthebel für die stillgelegte, aber betriebsbereite
Mittschiffsmaschine. Jetzt beugt sich der Kapitän in seinem
Gurt ganz nah an die Kolloidscheibe und hält Ausschau nach
vorn, das eine Ohr zum Hauptkommunikator geneigt.
Dergestalt ist er die personifizierte Kraft und auch Richtung
der »162«, auf jedes Ereignis gefaßt.
Das Küstenwachboot funkt seitenlang A.B.C.-Direktiven zur
Luftverkehrslage: Wir sollen sämtliche »losen Objekte«
festmachen, unsern Fleury-Strahl mit der Schutzklappe sichern
und »unter keinen Umständen versuchen, den Schnee von den
Leittürmen zu entfernen, ehe das Unwetter abflaut.« Auch
schwächere Fahrzeuge, teilt man uns mit, könnten bis an die
Grenze des Auftriebs hochkommen, so daß die Postfrachter
auch auf sie achten müssen. Die tieferen Strecken nach Westen
seien höchst unsicher »wegen häufiger Luftlöcher, Wirbel,
seitlicher Böen etc.«
Draußen im Dunkel macht sich noch keine Störung
bemerkbar. Einzige Vorwarnung ist ein elektrisches
Hautprickeln (ich komme mir vor, als klöppelte jemand
Spitzen auf mir) sowie eine nervliche Irritation, die der
schnatternde Hauptkommunikator beinah bis zur Hysterie
steigert.
Seit der Versenkung des Luftvagabunden sind wir auf 2500
m gestiegen, und unsre Turbinen verleihen uns eine
Geschwindigkeit von mehr als 210 Knoten, das sind an die 400
km/h.
Sehr fern nach Westen hinaus kündigt tief unten ein
länglicher Rotschimmer die Position des
Nordküstenwachbootes an.
Rund um sein Steigen und Fallen sind feurige Pünktchen zu
sehen – sie gleichen verirrten Planeten um eine unruhige
Sonne und sind hilflose Fahrzeuge, die sich an die Lichter des
Wachbootes halten. Kein Wunder, daß es seinen Platz nicht
verlassen konnte!
Jetzt warnt es uns, auf der Hut zu sein vor der Bugwelle eines
argen Luftwirbels, in den es (sein Leuchtfeuer zeigt es uns an)
soeben geraten ist.
Draußen die finstere Abgründigkeit füllt sich nach und nach
mit schwachleuchtenden Schwaden – mit bedrohlich sich
windenden Formen. Eine davon ballt sich zu einer
fahlflammenden Kugel, die, vor Begier zitternd, unsern
Vorbeiflug erwartet. Das monströse Gebilde hüpft durch die
Schwärze heran, setzt sich genau an unsrer Bugspitze fest,
rotiert dort ein paar Sekunden – und flitzt davon. Unser
sausender Bug geht nach unten, als wär’ dieser Ball aus Blei
statt aus Licht, sinkt weiter und fängt sich zu unruhig
stoßendem Flug durch das folgende Luftloch. Tims Finger am
Auftriebsregler spielen wahre Zahlenakkorde, denn er steuert
das Schiff nur mithilfe der Tanks abwechselnd nach oben und
abwärts in dieser unruhigen Luft. Alle drei Antriebsmaschinen
sind jetzt in Aktion, denn je rascher wir über so dünnes Eis
weg sind, desto besser für uns. Höher zu gehen, wagen wir
nicht. Der gesamte obere Hohlraum im Schiff ist geschwängert
mit graubleichen Kryptonschwaden, die durch die
Reibungshitze unserer Schiffshaut zu böser Entladung gebracht
werden könnten. Zwischen der Ober- und Untergrenze unserer
Flughöhe – also von 1500 bis 2000 m, wie uns das Wachboot
signalisiert – wäre ein Durchschlüpfen möglich, wenn… Unser
Bug ist in bläuliche Flammen gehüllt und senkt sich jetzt
gleich einem Schwert! Nicht einmal größte Erfahrung könnte
Schritt halten mit all den verschiedenen Luftströmungen. Jetzt
springt uns von vorn ein Luftwirbel an, und wir sausen 500
Meter nach unten, in einer Schräge (der Neigungsmesser und
mein gerüttelter Körper zeigen es an) von fünfunddreißig
Grad! Unsre Turbinen beginnen zu schrillen, die Propeller
können die dünne Luft nicht mehr fassen! Tim nimmt den
Auftrieb aus fünf Tanks gleichzeitig und jagt so das Schiff nur
mithilfe des Eigengewichts wie ein Geschoß durch den Wirbel
dahin, bis es, nach einem Sturzflug von 900 Metern, sich mit
einem Ruck an einer Aufwärtsbö fängt.
»Jetzt sind wir durch«, sagt George mir ins Ohr. »Unsre
Reibung bei solcher Schräge hat den Teufel aus dieser
höllischen Luft ausgetrieben! Gib auf den Seitenwind acht,
Tim, und halt uns auf Kurs!«
»Ich hab’ sie im Griff«, ist die Antwort. »Na, komm schon,
komm hoch, altes Mädchen!«
Und sie kommt – elegant kommt sie hoch, aber die seitlichen
Böen rütteln uns stoßweise nach rechts und nach links – wie
Flügelschläge von zornigen Engeln ist das! Wir werden aus
unsrer Flugrichtung gedrängt auf viererlei Weise gleichzeitig –
dann wieder auf Kurs gestoßen, doch nur, um uns gleich darauf
abgetrieben und in neue Wirbel gestürzt zu sehen! Und allzeit
das höhnische Licht des St. Elmsfeuers an unserm Bug, und
dazu dieses Schlingern, kopfüber von Spitze bis mittschiffs,
und das Knattern elektrisch geladener Luft von außen wie
innen, worein sich ein- oder zweimal das Prasseln von
Hagelschlag mischt – eines Hagels, der unten nie ankommen
wird. Wir müssen langsamer werden, sonst brechen wir noch
auseinander in diesem andauernden Auf und Ab!
»Luft, das ist pure Elastizität!« brüllt George jetzt durch das
Getöse. »Etwa so wie die Gegensee vor Fastnet Rock an der
Südspitze Irlands, nicht wahr?«
Damit wird er aber dem Element nicht ganz gerecht: sobald
man nämlich die Lüfte durchfährt, wenn sie dabei sind, ihre
elektrischen Ladungen auszutarieren; sobald man die
Rechnung der Götter zerstört, indem man stählerne Rümpfe
mit 200 Kilometern pro Stunde durchs bebend justierte,
elektrische Spannungsfeld jagt, darf man sich nicht beklagen,
wenn man eine grobe Abfuhr erleidet. Tim jedoch nimmt sie
hin mit steinerner Miene, beißt sich auf die Unterlippe, späht
hinaus in die zwanzig Meilen Schwärze vor uns und beachtet
kaum die knisternden Funken, die ihm bei jeder Drehung des
Steuers um die Handknöchel stieben. Hin und wieder schüttelt
er sich den Schweiß aus den Brauen, worauf George jedesmal
das Sicherheitsgitter zurückklappt und dem Kollegen mit
einem roten Taschentuch übers Gesicht wischt. Ich habe bisher
nicht geglaubt, daß ein Mensch so ausdauernd und gesammelt
eine halbstündige Hölle des ärgsten Sturms durchhalten könne.
Hin und her werden wir geworfen von den erwärmten oder
eiskalten Saugströmungen, hinaufgeschleudert bis an den
Kulminationspunkt des Aufruhrs, wieder hinuntergewirbelt
und von seitlichen Böen aus unserer Bahn gestoßen unterm
schwindelerregenden Taumel der Sterne und des betrunkenen
Monds! Ich höre das Rasseln und Klicken des
Mittschiffsmaschinengestänges, das dumpfe Rumoren der
Auftriebsmechanik und, lauter noch als das Sturmgeheul
draußen, das Kreischen des Bugruders, das sich an jede
Luftwelle preßt, die nur irgendwie Halt und Stütze verspricht.
Zuletzt unternehmen wir den Versuch, mit dem Bugruder und
dem Backbordpropeller im Schrägflug nach oben zu scheren,
und nur die genaueste Tankbalancierung bewahrt uns vor
einem Drall, wie ihn früher einmal die Gewehrprojektile
hatten.
»Wir müssen irgendwie trachten, uns luvwärts vom
Wachboot zu halten!« schreit George.
»Da gibt es kein Luv und kein Lee«, widerspreche ich, ganz
außer Atem an eine der Streben geklammert.
Und während wir dreihundert Meter absacken in einem
weiteren Luftloch – lacht dieser rothaarige Kerl! – Wirklich, er
lacht über mich in der Aufgeblasenheit seines Schutzoveralls!
»Schau!« sagt er. »Wir müssen ganz hoch hinauf, um
klarzukommen von diesen haltsuchenden Kähnen!«
Das Wachboot befindet sich jetzt unter uns, ein wenig
südwestlich, steigend und fallend inmitten seiner zerblasnen
Trabanten. Die Luft ist erfüllt von tanzenden Lichtern in
jedweder Höhe. Ich nehme an, daß die meisten von ihnen
versuchen, dem Wind mit dem Kopf zu begegnen. Da sie
jedoch keine Hydras sind, bringen sie es nicht fertig. Ein
Moghrabi-Boot mit den Tanks an der Unterseite ist bis an sein
Limit gestiegen, trifft dort keine bessern Bedingungen an,
sackt gleich darauf ab um hunderte Meter, gerät in einen
beträchtlichen Wirbel und wird aufs neue emporgeschleudert
gleich einem verwehten Blatt. Statt Gas wegzunehmen, geht es
nach achtern, prallt ab wie von einer Wand – und hätte beinahe
das Wachboot gerammt, dessen Sprache (wir hören es durch
den H.K.) von dementsprechender menschlicher Simplizität
ist.
»Wenn sie’s einfach in Ruhe abwarten würden – das wäre
gescheiter«, sagt George in einer Pause des Sturms, während
wir fledermausgleich über den anderen hängen. »Aber manche
Piloten meinen, sie müßten um jeden Preis weitersteuern, auch
wenn sie nicht genug Auftrieb haben. Was macht denn das
T.A.D.-Boot da drüben, Tim?«
»Spielt eine Art Katz-und-Maus-Spiel«, sagt Tim ungerührt.
Ein Trans-Asia-Direktliner ist an einen Durchschlupf geraten
und dreht nun auf volle Kraft. Aber am Ende des Schlupfes
gibt’s einen Luftwirbel, so daß unser T.A.D. weggeschnipst
wird wie eine Erbse vom Fingernagel, worauf er im Sturzflug
so plötzlich Fahrt wegnimmt, daß er sich fast überschlägt.
»Ich hoffe, jetzt hat er genug«, sagt Tim. »Bin nur froh, kein
Wachboot zu sein… Wie – ob ich Hilfe brauche?« Die
Küstenwache hat angefragt. »George, bestell doch dem Herrn
meine herzlichsten Grüße – herzlich, vergiß das nicht, George
– und sag ihm, ich brauch’ keine Hilfe. – Was will denn die
ekelhafte Sardinenbüchse vor uns? Wer ist denn das
überhaupt?«
»Ein Rimouski-Abschlepper, auf Auslug nach Arbeit.«
»Sehr freundlich von dem Rimouskischlepper. Doch dieser
Postfrachter muß gegenwärtig nicht abgeschleppt werden.«
»Die kommen überallhin, wo sie eine Bergungschance
wittern«, erläutert George. »Wir sagen ›Aasgeier‹ zu ihnen.«
Ein langschnäbeliges, stählern blinkendes Fahrzeug von 30 m
Länge hält sich kurze Zeit in Rufweite, die Taue schleppbereit
ausgerollt und mit einem Mann im offnen Kommandoturm. Er
raucht. Außerhalb dieses Aufruhrs der Lüfte, durch den wir
uns unsern Weg bahnen, schwebt sein Schiff in absoluter
Windstille. Ich sehe den Pfeifenrauch senkrecht aufsteigen, ehe
das Fahrzeug nach unten wegsackt, als fiele ein Stein in den
Schacht eines Brunnens.
Wir sind kaum erst vom Wachboot und seinen verstreuten
Begleitern klargekommen, als der Sturmwind sich so plötzlich
legt, wie er gekommen ist. Eine Sternschnuppe füllt den
nördlichen Himmel mit dem grünlichen Leuchten des
verdampfenden Meteoriten.
Darauf George: »Vielleicht hat das jetzt alle Spannungen
ausgebügelt!« Und noch während er’s sagt, legen sich alle
widrigen Winde. Ein Luftausgleich findet statt, die seitlichen
Böen ersterben zu langen und leichten Luftwellen, und die
Strecke vor uns glättet sich. Schon nach kaum drei Minuten
haben die um das Wachboot versammelten Schiffe ihre
Warnlichter eingefahren und befinden sich wieder auf Kurs.
»Was war das?« frage ich atemlos. Die Nervenbelastung hier
drinnen ist ebenso weg wie draußen das Knistern elektrischer
Ladung. Der voll aufgepumpte Schutzanzug wird mir zur
bleiernen Last.
»Das mag Gott allein wissen«, sagt trocken Kapitän George.
»Die Reibungshitze des Meteoriten hat alle unterschiedliche
Spannung zur Entladung gebracht. Ich hab’ dergleichen schon
einmal erlebt. – Puh – was bin ich erleichtert!«
Wir gehen von dreitausend Meter auf achtzehnhundert
hinunter und legen die schweißnassen Anzüge ab. Tim nimmt
den Antrieb weg und steigt auf die Plattform. Von hinten
kommt das Wachboot heran. Tim öffnet das Kolloidluk und
fährt sich über die Stirn. Draußen herrscht himmlische Stille.
»Hallo, Williams!« ruft er hinüber. »Einen Grad oder zwei
abgekommen von Ihrem Standort, was?«
»Schon möglich«, kommt es vom Wachboot zurück. »Hab’
ganz schön Gesellschaft gehabt heute abend!«
»Das hab’ ich bemerkt. Ganz hübsches Lüftchen, nicht
wahr?«
»Ich hab’ Sie gewarnt! Warum sind Sie nicht über Disko
ausgewichen! Die nach Osten gehenden Postfrachter haben’s
getan!«
»Ausweichen? Ich? Nur wenn ich so ein fliegendes
Polarsanatorium für Schwindsüchtige kommandiere! Unsereins
hat schon durchs Kolloidluk geblinzelt, da sind Sie noch in den
Windeln gelegen, mein Junge!«
»Ich wäre der letzte, das abzustreiten«, lenkt der
Wachbootskapitän ein. »Und wie Sie Ihr Schiff vorhin
durchgebracht haben – und ich kenn’ mich aus mit Verkehr bei
elektrischer Störung –, das war um eintausend Touren mehr,
als sogar ich je erlebt hab’!«
Tims Rücken strafft sich. Er ist merklich geschmeichelt ob
solcher Ölung. Kapitän George am Kommandostand zwinkert
mir zu und deutet dann auf das Bild eines sehr hübschen
Mädchens: Tim hat das Foto an die Halterung des Teleskops
überm Steuer geheftet.
Damit weiß ich Bescheid – jetzt ist alles klar!
Oben wird etwas vereinbart, wegen »zum Tee hereinschauen
am Freitag«, dann folgt noch ein kurzer Bericht über das
Schicksal des Wracks, und danach klettert Tim herunter, wobei
er von sich aus bemerkt: »Für so einen A.B.C.-Mann ist dieser
junge Williams eigentlich recht normal im Vergleich zu
etlichen dieser Hochspannungshengste… Übernimmst jetzt du,
George? Dann könnte ich mir die Backbordmaschine ansehen
– sie scheint mir ein wenig zu warm –, und danach zockeln wir
weiter.«
Das Wachboot brummt sorglos davon und nimmt seine
vorgeschriebene Position wieder ein. Und auf ihr wird es
bleiben – als offenes Observatorium, als Rettungsstation, als
Bergungsschlepper, als letzte Anlaufstelle mit
meteorologischem Dienst auf fünfhundert Kilometer im
Umkreis, bis am folgenden Mittwoch die Ablösung unter den
Sternen hereinschweben und seinen unruhigen Platz
einnehmen wird. Der schwarze Rumpf mit den Zwillings-
Leittürmen und den allzeit bereiten Fangtauen steht für all das,
was unsrem Planeten von jener einstigen kosmischen
Weltbehörde geblieben ist. Verantwortlich ist das Wachboot
einzig dem Aerial Board of Control – dem A.B.C. über den
Tim so wegwerfend redet. Doch kontrolliert jene zur Hälfte
gewählte, zur Hälfte ernannte Körperschaft aus mehreren
Dutzend Personen beider Geschlechter den gesamten Planeten.
»Transportation ist Zivilisation«, lautet unsre Devise.
Theoretisch haben wir freie Hand, sofern unser Tun das
Verkehrswesen einschließlich alles dessen, was es umfaßt,
nicht tangiert. Praktisch betrachtet, annulliert oder bestätigt der
A.B.C. alle internationalen Abkommen und findet dabei,
zufolge seines jüngsten Berichts, unsern geduldigen, trägen
und komischen kleinen Planeten nur allzu willfährig, ihm die
gesamte Last öffentlicher Verwaltung zu übertragen.
Ich diskutiere darüber mit Tim, der auf dem Kommandostand
Matetee schlürft, während George unsern Frachter über den
weißen Schaumstreifen der Banks in herrlichen
Neunzigkilometerkurven nach oben steuert. Der Schreiber des
Neigungsanzeigers bringt sie in ununterbrochener Linie aufs
Band.
Tim nimmt sich ein Stück davon vor und studiert die letzten
anderthalb Meter, auf welchen der Weg unsrer »162« durch
das Unwetter registriert ist.
»Seit fünf Jahren habe ich eine so wildgewordene
Fieberkurve nicht mehr gesehen«, meint er betreten.
Eines Postfrachters Fahrtschreiberkurven zeigen jeden
Flugmeter an. Die Bänder gehen dann zum A.B.C. werden dort
kollationiert und photographiert für die Ausbildung der
Kapitäne. Kopfschüttelnd betrachtet Tim die unumstößlichen
Zeichen.
»Hallo! Da gibt’s einen Absturz um vierhundertfünfzig Meter
bei fünfundachtzig Grad Neigung! Wir müssen ja fast einen
Kopfstand gemacht haben!«
»Was du nicht sagst«, versetzt George. »Mir war, als hätte
ich das im Moment mitgekriegt.«
George hat vielleicht nicht Kapitän Purnalls katzengewandte
Raschheit, doch ist er ein Künstler bis in die Spitzen seiner
breiten, kräftigen Finger, welche die Auftriebsmechanik
bedienen. Die herrlichen Flugkurven zeichnen sich fehlerlos
und ohne Schwankung aufs Band. Die vertikale Lichtspindel
des Wachboots liegt jetzt schon ostwärts weit hinter uns und
verschwindet unterm Geflimmer vorüberziehender Sterne.
Nach Westen hinaus, wo jetzt kein Planet mehr heraufsteigen
wird, erzeugt der dreifache Vertikalstrahl von Trinity Bay
einen langsam sich hebenden Leuchtnebel (wir befinden uns
noch auf der südlichen Route). So hat es den Anschein, als
wären wir hier das einzig ruhende Ding unterm
Himmelsgewölbe: in der Schwebe verharrend, bis uns die
Erdrotation unsre Landetürme in Sicht bringt.
Und alle sechzehn Sekunden dreht sich diese lautlose Uhr
unter uns um eine Meile weiter.
»Herrliche Nacht«, bemerkt Tim. »Bald sind wir auf
gleichem Niveau mit der Gebieterin unserer Uhr.«
»Sie kommt schon herauf hinter uns«, versetzt George über
die Schulter. »Aber noch bin ich westwärts der Nacht auf den
Fersen.«
Vor uns die Sterne verblassen ein wenig, als hätte, von uns
nicht bemerkt, sich unter sie eine zarte Dunstschicht gebreitet.
Aber das dumpfe Dröhnen der Luft an unsrer Rumpfhülle wird
nun zum freudigen Brausen.
»Das ist die Brise vor Aufgang«, sagt Tim. »Sie weht der
Sonne entgegen. So schaut doch – schaut doch einmal! Wie es
das Dunkel zurücktreibt an unserm Bug! Kommt einmal mit
zum Heck-Kolloid, dort gibt’s was zu sehen!«
Der Maschinenraum ist heiß und stickig. Noch schlafen die
Postleute in ihrer Kutsche, und auch der Sklave am Strahl ist
nahe daran, einzunicken. Tim schiebt das achterne Kolloid auf
und zeigt, wie die Krümmung der Erde – überm tiefpurpurnen
Meer – sich rändert mit dunstigem, fast unerträglichem Gold.
Dann steigt die Sonne herauf, und ihr durch das Kolloidluk
flutendes Licht macht unsre Lampen erblinden. Tim zieht ein
finstres Gesicht.
»Affen im Käfig«, murrt er vor sich hin. »Was sind wir schon
andres – nur Affen im Käfig! Sie ist doppelt so schnell wie
wir. Aber warte du nur ein paar Jahre, du strahlende Freundin,
und du wirst Augen machen! Dann tun wir es Josua gleich und
halten dich an!«
Ja, das ist unser Traum: den gesamten Erdball nach unsrem
Belieben zum biblischen Tal von Ajalon zu verwandeln.
Gegenwärtig vermögen wir nur, den Aufgang der Sonne in
diesen Breiten auf zweifache Dauer hinauszuschieben. Eines
Tages jedoch – und das sogar am Äquator – werden wir mit
der Sonne Schritt halten können!
Jetzt ist der Blick frei aufs Meer unter uns und damit auch auf
den dichten Verkehr, der darauf herrscht. Ein riesiges
Tauchfahrzeug stößt unter uns plötzlich ans Licht. Dann noch
eins – und noch eins, unterm saugenden Wallen des Wassers
hervor und mit wildbrodelnder, blasiger Spur vom
entweichenden Überdruck. Diese Tiefseefrachter kommen
nach langer Nacht zum Luftschöpfen herauf, und die träge
Fläche des Meeres sieht plötzlich aus, als wäre sie über und
über gesprenkelt mit schäumenden Pfauenaugen!
»Auch wir könnten jetzt etwas Luft schnappen«, läßt Tim
sich vernehmen, und sobald wir zurück am Kommandostand
sind, nimmt George die Fahrt weg, die Kolloidluken werden
geöffnet, und Frischluft streicht durch das Schiff. Es hat keine
Eile mit uns: die alten Verträge (sie sollen erst Ende des Jahres
auf neuesten Stand gebracht werden) geben uns zwölf Stunden
Zeit für einen Flug, den jeder Postfrachter schon in zehn
Stunden bewältigen kann. So frühstücken wir in den Armen
der östlichen Brise, die uns mit lässigen zwanzig Meilen
vorantreibt.
Um das Leben und auch den Tabak recht zu genießen, scheint
so ein sonniger Morgen, eine halbe Meile über der lockeren
Wolkenschicht des Atlantik, eigens geschaffen – besonders,
wenn ein überstandnes Unwetter die Nerven geklärt und
beruhigt hat. Und während wir noch mit der Überlegenheit
derer, denen die oberen Flughöhen eingeräumt sind, die
wachsende Luftverkehrsdichte besprechen, hören wir (und für
mich ist’s das erste Mal) den Morgengesang, der von einem
Spitalsschiff zu uns heraufdringt.
Noch durch die zerfaserten Wolken verdeckt, kommt es unter
uns durch, und wir haben das Singen noch vor dem
Auftauchen der Sänger im Ohr. »Oh, ihr göttlichen Winde«,
tönt’s mit unsichtbaren Stimmen, »segnet den Herrn! Singet
Ihm Lob und Preis in alle Ewigkeit!«
Wir nehmen die Mützen ab und stimmen mit ein. Und als
unser Schatten über die große, offene Deckplattform gleitet,
blicken die Menschen herauf und strecken im Singen die Arme
nach uns. Wir können die Ärzte und Schwestern ganz deutlich
erkennen, ja selbst die knopfbleichen Gesichter der Kranken in
ihren Betten. Langsam gleitet das Schiff unter uns weg, nach
Norden hinaus, und sein taunasser Rumpf schimmert blitzend
im Morgenlicht. Danach verschwindet es im Wolkenschatten –
aber das Singen geht weiter. Oh, ihr demütig Frommen, segnet
den Herrn! Singet Ihm Lob und Preis in Ewigkeit!
»Ein Spitalsschiff für Lungenkranke – sonst hätten sie nicht
das Benedicite gesungen. Und mit Standort in Grönland, man
sieht’s an den Schneeblenden über den Luken«, bemerkt
George abschließend. »Wahrscheinlich geht sie nach
Frederikshavn oder, für einen Monat, zu einer der
Gletscherheilstätten. Wäre sie nur ein Unfallsspital, so bliebe
sie in Position auf zweitausendfünfhundert Meter. Ja – es sind
Lungenkranke.«
»Eigentlich komisch, wie sehr doch die neuen Dinge den
alten gleichen! Ich habe gelesen«, sagt Tim, »daß die Wilden
ehedem ihre Kranken oder Verletzten hinauf auf die Höhen
geschafft haben, weil es dort weniger Bazillen gab. Wir
hingegen bringen sie für eine Weile hinauf in sterile
Luftschichten. Das Prinzip ist freilich dasselbe geblieben. Um
wieviel, sagen die Ärzte, ist unsre Lebenserwartung im
Durchschnitt verlängert?«
»Um dreißig Jahre«, sagt George augenzwinkernd. »Und die
verbringen wir jetzt wohl hier oben?«
»Gut, flattern wir weiter – so mach schon! Oder hindert dich
jemand daran?« lacht der Chefkapitän, während wir uns ins
Innre des Schiffes begeben.
Wir gehen ein gutes Stück höher, um uns den Küsten- und
Kontinentalverkehr vom Leib zu halten. Denn obwohl unsre
Route nicht sonderlich belebt ist, gibt’s doch auch auf ihr ein
fortwährendes Her und Hin. Wir begegnen Hudson-Bay-
Pelzhändlern auf ihrem Rückflug vom Großen Wildreservat.
Sie haben es eilig, von Bonavista mit ihren Zobel- und
Schwarzfuchsfellen den unersättlichen Markt zu beliefern. Wir
queren den Kurs von kleinen Keewatin-Linern mit ihrer
beengten Ladekapazität. Doch ihre Schiffskapitäne, die
zwischen Trepassy und Blanco kein Land zu Gesicht
bekommen, wissen genau, welches Gold sie von Westafrika
zurückbringen werden. Auch Kreuzer der Transasien-
Direktverbindung treffen wir an, welche die Welt längs des
fünfzehnten Längengrads mit gut siebzig Knoten umkreisen,
und weißlackierte Bananenfrachter der Firma Ackroy & Hunt
fliegen von Süden her unter uns durch, wobei die belüfteten
Rümpfe ein Pfeifgeräusch wie chinesische Drachen erzeugen.
Ihr Absatzgebiet liegt im Norden, zwischen den Heilstätten,
wo man inmitten von Kälte und Schnee den Bananen- und
Grapefruitgeruch spüren kann. Argentinische
Rindfleischfrachter kommen in Sicht, von plumper
Erscheinung, aber mit riesigen Laderäumen. Auch sie
versorgen die Gesundheitsstationen im Norden und fliegen die
zugefrorenen Häfen an, wo die Unterseefrachter nicht
auftauchen können.
Gelbbäuchige Erzkähne und Ungava-Öltanker ziehen träge
von Norden heran gleich unbeirrbaren Wildentenscharen. Es
steht nicht dafür, Erze und Öl auch nur um eine Meile weiter
zu »fliegen« als nötig. Doch ist der Seetransport in den
Packeisgebieten vor Nain oder Hebron dermaßen riskant, daß
diese Großfrachter lieber Direktkurs auf Halifax nehmen und
auf ihren Wegen die Lüfte verpesten. Sie sind die mächtigsten
aller Tramp-Fahrer, mit Ausnahme der Athabasca-
Getreidetransporter, die aber, seit der Weizen verschifft ist, auf
der Kehrseite unserer Erde, in Sibirien, Holz transportieren.
Wir halten uns an den St. Lorenzstrom (es ist erstaunlich, wie
sehr diese uralten Wasserstraßen uns Kinder der Lüfte noch
immer an sich ziehn) und folgen seinem vom Treibeis
durchsetzten, schwärzlichen Band bis hinunter zum »Park«,
den wir der Weisheit unserer Väter verdanken – aber die
Quebecstrecke ist ohnehin jedem bekannt.
Dann gehen wir tiefer, nehmen Kurs auf die Landetowers der
Heights, zwanzig Minuten vor uns, und bleiben dort schweben,
bis der Yokohama-Postfrachter seine Zwischenlandung
beendet und uns den Landeweg freigemacht hat. Merkwürdig
ist es, all die Festhalteklampen längs des eisigen Flußufers
beim An- oder Abflug der Boote in Aktion zu sehen. Soeben
verläßt ein nach Hamburg bestimmter Frachter Pont Levis, und
seine Besatzung, beim Einfahren der Plattformgeländer,
stimmt dazu »Elsinor« an – das älteste unserer Shanties. Ihr
kennt ja den Text:
Mother Rugen’s Teehaus bei den Balten –
Vierzig Paare tanzen dort was vor!
Bleib du an der Turbin’,
Denn ich muß rasch mal hin
Zum Tanz mit Ella Sweyn in Elsinor!
Und dann, beim beschwerlichen Schließen der Deckplatten:
Nor’-Nor’-Nor’-Nor’–
West von Surabaya zu den Balten –
Neunzig Knoten und nach Norden vor!
Mother Rugen ‘s Teehaus bei den Balten,
Und ein Tanz mit Ella Sweyn in Elsinor!
Die Halteklampen lösen sich – fast könnte man meinen, mit
einer Bewegung des Abscheus, als hätte das
schneeüberglitzerte Quebec so leichte und seiner nicht würdige
Liebhaber von sich gestoßen! Von den Heights erhalten wir
Landeerlaubnis: Tim wendet das Schiff, läßt es steigen – und
dann, wie bei liebevollem Empfang, tun die Arme des Towers
sich auf – oder vielleicht kommt es mir nur so vor, weil auf der
obersten Plattform eine kleine, vermummte Gestalt ihre Arme
gleichfalls gebreitet hält – zur Begrüßung des Vaters!
Schon zehn Sekunden danach rasselt die Kutsche mit ihren
Postbegleitern hinunter zum Einlaufcaisson. Das
Wartungskommando ersetzt nun die Maschinisten an den
stillgelegten Turbinen, und Tim, stolzgeschwellter denn je,
stellt mich jetzt jenem Mädchen vor, dessen Photographie
überm Pilotensitz hängt. »Übrigens«, sagt er zu ihr, als er
hinaus in das Sonnenlicht tritt, nun schon wieder ganz Zivilist
– »ich habe im Wachboot den jungen Williams gesehen und
ihn für Freitag zum Tee eingeladen.«
Warnlichter
Keine Änderungen der englischen Inlandbefeuerung bis
Wochenende 18. Dez.
PLANETARISCHE KÜSTENLICHTER. Mit Wochenende
18. Dez. Verde Schräglichtstrahl wechselt ab 1. nächsten
Monats zu Dreifachblinklicht – grün/weiß/grün –, statt
früherem Rotblinklicht. Warnlicht für Harmattanstürme
wird zu ständigem Vertikalstrahl (weiß) auf allen Oasen der
Trans-Sahara Ostnordost-Hauptrouten.
INVERCARGIL (Neuseeland) – Ab 1. nächsten Monats:
südlichstes Feuer (zweifach rot), zeigt weißen Strahl mit 45
Grad Neigung bei Annäherung südlicher Brecher.
Luftverkehr meidet betreffende Küste April bis Oktober.
TAFELBUCHT – Devil’s Peak Warnlicht nach Simonsberg
versetzt. Verkehr Tafelberg-Küste hält Mindesthöhe 150 m
über sämtlichen Lichtern von Three Anchor Bay.
Einschwenken erst hinter Ostschulter Devil’s Peak.
SANDHEADS-FEUER – Dreifach grün vertikal, markiert
neue Privatlandebühne für Bay- und Burmaverkehr
ausschließlich.
SNAEFELL JOKUL – weißes Blinkfeuer wintersüber
eingestellt.
PATAGONIEN – Kein Sommerfeuer südlich Pilar C. Betrifft
auch Staten Island und Port Stanley.
KAP NAVARIN – Vierfaches Nebelblitzlicht (weiß), in
Minutenintervall (neu).
OSTKAP – Nebelblitzlicht – einfach weiß mit Einzelzündung,
Dreißigsekunden-Intervall (neu).
MALAYISCHER ARCHIPEL – Befeuerung unverläßlich
wegen Vulkanausbrüchen. Direktkurs von Somerset nach
Singapore in größter Flughöhe.
Für den Ausschuß (Abt. Warnfeuer):
CATTERTHUN
ST. JUST
VAN HEDDER
Verluste
Für die Woche bis 18. Dez.
SABLE ISLAND LANDETOWERS – Grüner Frachter,
Nummer nicht erkennbar, heckaufwärts, Bugtank nach
Kollision aufgerissen, in 90 m Höhe am 15. Dez.
vorbeigetrieben. Wasserung abgewartet und versenkt durch
Küstenwachboot.
NEUFUNDLAND-BANKS – Postfrachter 162 meldet Halma-
Frachter (Fowey-St John’s) aufgegeben, weil
leckgeschlagen nach Unwetter 46°15’N. 50°15’W.
Besatzung geborgen von Planetliner Asteroid. Wasserung
abgewartet, versenkt durch Postfrachter am 14. Dez.
KERGUELEN-WACHBOOT meldet letztes Signal von
Cymena-Frachter. (Gayer, Tong-Huk & Co.) Nach
Wassereinbruch in Schneesturm südl. McDonald-Inseln
gesunken. Keine Wrackteile gesichtet. Adressen etc. der
Besatzung in jeder A.B.C.-Agentur.
FEZZAN – T.A.D.-Frachter Ulema Bodenberührung auf
Akakus-Kette während Harmattansturm. Bodenplatten
weggerissen. Besatzung bei Reparatur in Ghat, 13. Dez.
BISKAYA-WACHBOOT meldet Carduca (Valandingham-
Linie) leicht beschädigt in Westschlucht Point de Benasque.
Passagiere transferiert auf Andorra (selbe Linie).
Barcelona-Küstenwachboot birgt Frachter 12. Dez.
ASCENSION-WACHBOOT – Wrack unbekannten
Eilflugzeugs, Parden-Ruder, drahtverspannte Xylonit-
Tragflächen und Harliss-Antrieb, gesichtet und geborgen
7°20’S. 18°41’W. 15. Dez. Photos bei allen A.B.C.-
Agenturen.
Vermißt
Da auf Rundfragen letzter Woche bisher keine Antwort, gelten
folgende überfällige Fahrzeuge als vermißt:
Atlantis, W. 17630: Kanton – Valparaiso
Audhumla, W. 809: Stockholm-Odessa
Berenice, W. 2206: Riga – Wladiwostock
Draco, E. 446: Coventry – Puntas Arenas
Tontine, E. 3068: Kap Wrath – Ungava
Wu-Sung, E. 41776 Hankau – Lobitobucht
Neue Rundfrage (an alle Wachboote) wegen:
Jane Eyre,W. 6990: Port Rupert – Mexiko City
Santander,W. 5514: Wüste Gobi – Manila
V. Edmunsun, E. 9690: Kandahar – Fiume
Gesperrt wegen Behinderung und Nichteinhaltens der
Flughöhe
WALKÜRE (Eilflugzeug), Eigner A. J. Hartley, New York
(nach zweimaliger Verwarnung). GEISHA (Eilflugzeug),
Eigner S. van Cott, Philadelphia (nach zweimaliger
Verwarnung).
WUNDER VON PERU (Eilflugzeug), Eigner J. X. Peixoto,
Rio de Janeiro (nach zweimaliger Verwarnung).
Für den Ausschuß (Abt. Verkehr):
LAZAREFF
McKEOUGH
GOLDBLATT
Mit der Leichtigkeit des A.B.C.
1912
Der A.B.C. jene zur Hälfte gewählte, zur Hälfte ernannte
Körperschaft aus mehreren Dutzend Personen beider
Geschlechter, kontrolliert den gesamten Planeten.
»Transportation ist Zivilisation«, lautet unsre Devise.
Theoretisch haben wir freie Hand, sofern unser Tun das
Verkehrswesen einschließlich alles dessen, was es umfaßt,
nicht tangiert. Praktisch betrachtet, annulliert oder bestätigt
der A. B. C. alle internationalen Abkommen und findet dabei,
zufolge seines jüngsten Berichts, unsern geduldigen, trägen
und komischen kleinen Planeten nur allzu willfährig, ihm die
gesamte Last öffentlicher Verwaltung zu übertragen.
»Mit der Nachtpost«
Wäre es nicht an der Zeit, daß unser Planet einiges Interesse
aufbrächte für die Aktivitäten und Sitzungsberichte des A. B.
C. – des Aerial Board of Control∗? Zwar ist bekannt, daß die
Leichtigkeit heutiger Kommunikationen sowie das einstige
Fehlen jeder Privatsphäre alle Neugier innerhalb dieser
Menschheit ausgetilgt haben – doch fühle ich mich in meiner
Eigenschaft als offizieller Reporter des A.B.C. zu diesem
Berichte verpflichtet:
Am 26. August des Jahres 2065, vormittags 9 Uhr 30, wurde
der Ausschuß auf seiner Londoner Sitzung durch De Forest
informiert, daß der Distrikt Illinois-Nord sich in
widersetzlicher Absicht aus allen Systemen gelöst habe und bis
zur direkten Verwaltung durch den A. B. C. keine Verbindung
mehr aufnehmen wolle.
Jedweder Tower in Illinois-Nord, ob für Passagier- oder
Güterverkehr, sei außer Betrieb, erklärte De Forest. Im
gesamten Distrikt habe man Haupt- und Nebenbeleuchtung
sowie auch die Richtfeuer abgeschaltet. Das Hauptleitungsnetz
sei tot, der Durchzugsverkehr umgeleitet. All das ermangele
jeder Begründung, doch gebe es inoffizielle Informationen
∗ Luftüberwachungs-Ausschuß
vom Bürgermeister Chicagos, man beklage sich im Distrikt
über »Zusammenrottung und Einbrüche in die Privatsphäre«.
Nun spielt es hinsichtlich der Praxis ja keine Rolle, ob
Illinois-Nord dem Verkehrsnetz unsres Planeten weiterhin
angehört oder nicht. Geht es jedoch um die Politik, so erfordert
jede Beschwerde über Privatheitsgefährdung eine sofortige
Untersuchung, um Schlimmerem vorzubeugen.
Schon vormittags 9.45 waren De Forest, Dragomiroff
(Rußland), Takahira (Japan) und Pirolo (Italien) ermächtigt, in
Illinois nach dem Rechten zu sehen und alle Maßnahmen zur
Wiederaufnahme des Verkehrs einschließlich alles dessen, was
er umfaßt, einzuleiten. Um 10 Uhr war der Sitzungssaal leer,
und die vier Ausschußmitglieder sowie ich als Fünfter
befanden sich schon an Bord eines Fahrzeugs, das Pirolo
hartnäckig als »mein Patenkindchen« bezeichnet – kürzer
gesagt: an Bord der neuen Victor Pirolo. Unser Planet kennt
Victor Pirolo vor allem als jenen vornehmen Enthusiasten mit
grauem Haar, der in der Umgebung von Foggia damit befaßt
ist, aus spanischen und italienischen Sorten neue
Olivengewächse zu züchten. Doch gehört seine zweite
Vorliebe der Realisierung ausgefallner Ideen, deren durchaus
nicht geringste die Victor Pirolo sein dürfte. Sie und ein paar
Dutzend Schwesterschiffe der nämlichen Bauart verkörpern
Pirolos letzte Eingebungen. Sehr komfortabel ist sie ja nicht.
Ein A.B.C.-Schiff hebt nicht flachbahnig ab wie ein
Linientransporter, sondern steigt, wie die »Aeroplane« unsrer
Altvordern, raketenhaft auf und gewinnt vom Start weg mit
voller Geschwindigkeit seine Flughöhe. Deshalb saß ich
urplötzlich auf der massigen Leiblichkeit von Eustace Arnott,
des Befehlshabers der A. B. C.-Einsatzflotte. Man weiß nicht
sehr viel vom Bestehen solch einer Flotte auf unsrem Planeten
– auch nicht, daß sie, theoretisch, für Zwecke geschaffen
wurde, die man vordem als »Kriegsfall« bezeichnet hat. Erst
vor einer Woche, gelegentlich des Besuchs einer
Gletscherheilstätte hinter Godhavn∗, war ich Zeuge geworden,
wie ein paar Geschwader auf ihrem Übungsflug um den Pol
falsche Nordlicht-Effekte hervorriefen. Indes hätte ich mir
nicht träumen lassen, daß man dergleichen auch ernsthaft
einsetzen würde.
Während ich taumelnd bemüht war, einen Sitz auf dem Divan
des Kartenraums zu ergattern, wandte Arnott sich an De
Forest: »Wir sollten denen in Illinois eigentlich dankbar sein –
ohne sie wären wir nie dazu gekommen, die Flotte im
∗ Auf Disko, vor der Westküste Grönlands. Anm. d. Ü.
Großverband auszuprobieren. Ich habe Generalmobilmachung
befohlen und erwarte bis heute Abend zumindest zweihundert
Schiffe auf Angriffshöhe.«
»So hoch?« fragte De Forest.
»Natürlich, Sir. Außer Sicht – bis auf Abruf.«
Arnott lachte, als er sich über den transparenten Kartentisch
lehnte, über welchen die sommerblaue Atlantikkarte dahinglitt,
von Grad zu Grad in Entsprechung zu unserem Kurs. Unsre
Skala zeigte schon mehr als 500 Kilometer pro Stunde, und wir
befanden uns 700 Meter über den höchsten
Flugverkehrsstraßen.
»Wo liegt denn eigentlich euer Illinois-Distrikt?« wollte
Dragomiroff wissen. »Da kommt man so weit in der Welt
herum, sieht aber so gut wie gar nichts dabei! Ach ja – jetzt
fällt es mir wieder ein: in Nordamerika ist er!«
De Forest, dem es obliegt, sich um die äußeren Gebiete zu
kümmern, unterrichtete uns, es handle sich um die Gegend am
südlichen Michigan-Ufer, an einer Straße ohne spezielle
Bedeutung. Die Ausdehnung des Areals entspreche einer
halben Flugstunde, und es sei, bis auf kleinere Randbereiche,
so flach wie das Meer. Wie heutzutag alle ebenen Gebiete, war
es durch hochgezüchtete Wälder gegen alle
Privatheitsbedrohung geschützt – durch Anpflanzung
wachstumsbeschleunigter Tannen und Lärchen, die nur fünf
Jahre gebraucht hatten, um auf fünfzehn Meter Höhe zu
kommen. Bei einer Bevölkerung von knapp zwei Millionen,
hauptsächlich aus Florida und Kalifornien zugewandert, stütze
sich alles auf kleinere Farmen (ab 50 Hektar gelten sie in
Illinois schon als Farm), deren Besitzer sich während des
Winters in Chicago aufhielten, um dort Gesellschaft und
Unterhaltung zu finden. Sie seien, ergänzte De Forest, sehr
ruhige und freundliche Leute, wenngleich, wie in allen flachen
Gebieten, ein wenig anspruchsvoll in bezug auf Privatheit. Seit
siebenundzwanzig Jahren existiere zum Beispiel in Illinois
kein gedrucktes Nachrichtenblatt. Chicago argumentiere, daß
Rotationsmaschinen sich irgendeinmal zu Betreibern von
Privatheitsbeeinträchtigung auswachsen könnten, was unserm
Planeten den alten Erpressungs- und Massenterror
zurückbringen würde.
»Das also ist Illinois heute«, sagte De Forest abschließend.
»In früheren Tagen gehörte es zu den Vorkämpfern dessen,
was man einstmals als Fortschritte bezeichnet hat, und
Chicago – «
»Chicago?« fragte Takahira. »Ist das nicht der kleine Ort, wo
Salati’s Statue des Brennenden Niggers steht? Eine sehr
schöne Arbeit – und alt!«
»Wann haben Sie die gesehen?« fragte De Forest sogleich.
»Sie wird ja nur einmal jährlich enthüllt!«
»Ich weiß – zu den Erntedankfestivitäten. Dabei ist es
gewesen«, sagte Takahira, und es schauderte ihn. »Und
außerdem hat man MacDonoughs Weise dazu gesungen.«
»Phüüh!« De Forest pfiff durch die Zähne. »Das habe ich
nicht gewußt! Hätten Sie mir das nur früher gesagt!
MacDonoughs Weise war ja zur Zeit ihrer Entstehung von
einigem Nutzen – doch für die Nachwelt ist sie eine höllische
Erbschaft!«
»Das ist ja alles nur Schutzinstinkt, liebe Freunde«, sagte
Pirolo und rollte dabei eine Zigarette. »Unser Planet hat seine
Dosis an Volksregierung schon hinter sich. Er leidet an
überkommener Platzangst. Er hat keine – also – er hat nichts
mehr übrig für den Massenauftrieb von Menschen.«
Der weißbärtige Russe beugte sich vor, um Pirolo Feuer zu
geben. »Das stimmt«, sagte er. »Unser Planet hat während des
letzten Jahrhunderts alles getan, um Übervölkerung zu
verhindern. Wie viele Menschen leben jetzt auf dieser Welt?
Wir hoffen, sechshundert Millionen, oder schätzungsweise
fünfhundert. Und wenn die Zählung im kommenden Jahr mehr
als vierhundertfünfzig ergibt, so freß ich persönlich die
überzähligen Babies. Wir haben ja die Geburtenrate
heruntergedrückt und auf ihren Tiefststand gebracht! Und zum
Allmächtigen sagen wir schon seit langem, ›Wir danken Dir,
Herr, aber Dein Spiel mit dem Leben paßt uns nicht mehr –
also machen wir da nicht mehr mit!‹«
»Jedenfalls«, widersprach Arnott fast ungehalten, »lebt
heutzutage der Mensch, im Durchschnitt gerechnet, ein volles
Jahrhundert!«
»Oh – dagegen ist nichts zu sagen! Ich bin reich – Sie sind
reich – wir alle sind reich und zufrieden, weil wir so wenige
sind und so lange leben. Was ich aber glaube, ist nur, daß der
Allmächtige sich erinnert, wie der Planet zu Zeiten der Massen
und Epidemien ausgesehn hat. Möglicherweise sendet Er uns
eine Prüfung! – Ist was, Pirolo?«
Der Italiener blinzelte in die Leere des Raums. »Kann sein«,
sagte er, »daß Er sie uns schon gesandt hat! Jedenfalls können
Sie diesen Planeten nicht überzeugen. Die alten Zeiten hängen
ihm nach, und – was wollen Sie dagegen tun?«
»Wir können die Welt nicht nochmals erschaffen, soviel steht
fest.« De Forest sah auf die langsam von West nach Ost über
den Tisch hingleitende Karte. »Um neun Uhr abends müßten
wir überm Zielgebiet sein. Danach ist an Schlaf wohl nicht
mehr zu denken.«
Auf diesen Hinweis trennten wir uns, und ich schlief, bis
mich Takahira zum Essen weckte. Für unsre kurzlebigen
Vorfahren reichten neun Stunden Schlafenszeit vollkommen
aus. Wir jedoch, bei um dreißig Jahre verlängertem Leben,
fühlen uns um unsre Nachtruhe betrogen, wenn wir von den
vierundzwanzig nicht volle elf Stunden zu schlafen vermögen.
Punkt zehn waren wir überm Michigansee. Am Westufer war
alles finster, nur ein schwacher Lichtschimmer markierte
Chicago, und ein einsames Ortungsfeuer – mit Richtstrahl nach
Norden – war steuerbords voraus bei Waukegan zu sehen.
Keine der Städte am See gab irgendein Lebenszeichen, und
landeinwärts, so weit der Blick reichte, lag’s wie eine Decke
aus Schwarz überm Flachland. Wir stießen nach unten und
glitten im Tiefflug durchs Dunkel, wobei wir von Landkreis zu
Landkreis Signale aussandten. Ab und zu sichteten wir den
schwachen Schein eines Hauslichts oder hörten den Lärm eines
ferngesteuerten Kultivators, doch insgesamt war ganz Illinois-
Nord eine einzige, tintige, scheinbar unbesiedelte Ödnis aus
hochgezüchteten Wäldern. Nur unsre beleuchtete Karte mit
ihrem Richtungsanzeiger, der von Landkreis zu Landkreis
mitwanderte, wies uns die jeweils erreichte Kursposition. Die
über den Hauptkommunikator ausgesandten Signale, so
dringlich und bittend, so überredend oder befehlend sie waren,
lösten keinerlei Antworten aus. Illinois hielt eisern fest an
seiner Abkapselung hinter den Wällen aus Wald, die man zum
Selbstschutz angelegt hatte.
»Das ist doch absurd!« rief schließlich De Forest. »Wie eine
Nachteule kommt man sich vor, die ein Getreidefeld absucht!
Ist das jetzt schon Bureau Creek? Landen Sie, Arnott, und
sehen Sie zu, daß wir uns dann jemand schnappen können!«
Wir strichen sehr tief über eine der hochgeforsteten
Waldbarrieren hinweg – eine fünfzehnjährige
Ahornanpflanzung, fast zwanzig Meter hoch –, setzten auf
einem privaten Wiesendock auf, vertäuten das Schiff mit
bordeigenen Landeklampen und eilten danach durch die
warme Nacht auf eine erhellte Veranda zu. Als wir uns aber
der Gartentür näherten, hätte ich schwören mögen, plötzlich in
knietiefem Schwimmsand zu stecken: es war fast nicht
möglich, in der prickelnden, saugenden, jede Bewegung
hemmenden Strömung voranzukommen! Schon nach wenigen
Schritten blieben wir stehen, wischten den Schweiß von der
Stirn und sahen uns hoffnungslos festgesetzt auf dem
trockenen, weichen Rasen, als steckten wir wirklich im Sumpf.
»Scheiße!« schrie Pirolo wütend. »Stromfalle – wir haben
Erdschluß! Und noch dazu mein System! Ich kenn’ dieses
Ziehen!«
»Schönen guten Abend, die Herren!« begrüßte uns eine
Mädchenstimme aus der Veranda. »Ach – entschuldigen Sie!
Der Sperrstrom ist eingeschaltet – gedulden Sie sich noch
einen Moment!«
Wir hörten den Schalter klicken – und stürzten beinah
vornüber, als der Strom um die Knie plötzlich weg war.
Das Mädchen lachte und ließ ihre Strickarbeit sinken. Ein
veraltetes Fernbedienungsgerät stand neben ihr, an dem sie von
Zeit zu Zeit drehte, und wir hörten aus einer halben Meile
Entfernung, über den Schutzwald hinweg, den Lärm des
gesteuerten Kultivators.
»Treten Sie ein und nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Ich
dirigiere hier bloß einen Pflug. Pa ist weg, in Chicago, weil –
Ach so! Dann waren das vorhin Ihre Signale!«
Sie hatte Arnotts Pilotenkleidung erkannt – und drehte den
Schalter auf volle Stromstärke!
Wir waren sofort festgenagelt und rangen nach Luft, als
steckten wir hüfttief im saugenden Schwimmsand, drei Meter
vor der Veranda!
»Wir wollen nur wissen, was in Illinois los ist«, meinte De
Forest gelassen.
»Wären Sie dann nicht besser gleich nach Chicago gegangen,
um dort nachzufragen?« erwiderte sie. »Hier ist alles in
Ordnung – wir stehen auf eigenen Füßen.«
»Wie sollen wir von hier weg, wenn Sie uns nicht gehen
lassen?« erkundigte sich De Forest, während Arnott schon
finster dreinsah. Luftflottenadmirale werden recht menschlich,
sobald ihre Würde verletzt ist.
»Bleiben Sie noch ein wenig, Sie haben ja keine Ahnung, wie
komisch Sie aussehn!« Sie stemmte die Hände gegen die
Hüften und lachte unbändig.
»Das soll Sie nicht weiter stören«, versetzte Arnott und ließ
die Signalpfeife schrillen. Von der Victor Pirolo kam über die
Wiese her Antwort.
»Nur ein einfach gesicherter Sperrstrom!« rief Arnott.
»Macht ihn aus – aber vorsichtig, bitte!«
Wir hörten den Knall einer berstenden Röhre – irgendwo im
Gebälk der Veranda sprang eine Sicherung aus ihrer Fassung
und schreckte ein Nest voller Vögel auf. Der Sperrstrom war
weg. Wir bückten uns, um uns die prickelnden Fußgelenke zu
reiben.
»Sowas von Unverschämtheit – wie kann man so grob sein!«
entrüstete sich die junge Dame.
»Für Spaßhaftigkeit bleibt uns leider nicht Zeit«, sagte
Arnott. »Wir müssen sofort nach Chicago. Und an Ihrer Stelle,
mein Fräulein, würde ich während der nächsten zwei Stunden
im Keller Schutz suchen und auch die Mamma mitnehmen!«
Damit schritt er drauflos und wir hinterher. Erbost wie er
war, knurrte er vor sich hin, und erst am Fuße der
Einstiegleiter kam ihm die Komik des Vorfalls so recht zu
Bewußtsein, und er brach in Gelächter aus.
»Der Kontrollausschuß hat sich in diesem Fall nicht
sonderlich ausgezeichnet – keine Rede von Geistesblitz!« sagte
De Forest und fuhr sich über die Augen. »Ich kann nur hoffen,
nicht ebenso blöd ausgesehen zu haben wie Sie, lieber Arnott!
Hallo – was ist denn jetzt wieder los? Kommt Pa von Chicago
nach Hause?«
Mit knatterndem Krach und Getöse wälzte sich um die
Waldbarriere ein ferngesteuerter Kultivator, alle fünf
Pflugscharen hoch in der Luft wie ein gefletschtes Gebiß, und
rollte funkensprühend direkt auf uns zu!
»Los, los, so macht schon!« schrie Arnott, während wir uns
durch die Einstiegsluke ins Innere zwängten.
»Laßt sie offen – nur ab und hinauf!«
Schon stieg die Victor Pirolo wie eine Luftblase hoch – und
jene lästerliche Maschine schoß mit hochgestellten
Pflugscharen gerade noch unter uns durch!
»Sowas von Fauchkatze – und was für niedliche Krallen sie
hat!« rief Arnott und klopfte den Staub von den Knien. »Wir
stellen ihr eine höfliche Frage – und da setzt sie uns erst unter
Strom und hetzt dann auch noch ihren Kultivator hinter uns
her!«
»Und wir reißen aus wie Schafleder«, ergänzte Dragomiroff.
»Wäre ich jünger um vierzig Jahre, so käm’ ich zurück und
nähme sie um den Hals – hoho!«
»Und ich«, rief Pirolo, »würde sie maulschellieren! Mein
schönes Schiff muß sich jagen lassen von so einem dreckigen
Pflug! Von einer – wie sagt man bei euch – gewöhnlichen
Landmaschine!«
»Ach – so ist das nun mal hier in Illinois«, versetzte De
Forest. »Man redet nicht nur von Privatheit – man verteidigt
sie auch! Und wo bleibt die versprochene Luftflotte, Arnott?
Wir müßten uns doch zur Wehr setzen können gegen so eine
Bauerndirne!«
Arnott zeigte zum nachtschwarzen Himmel.
»Dort oben – in Abwarteposition«, sagte er. »Soll ich sie
einsetzen, Sir?«
»Ach – die junge Dame ist das Theater nicht wert, glaube
ich«, versetzte De Forest. »Gehen Sie über Chicago –
vielleicht gibt es dort was zu sehen!«
Schon ein paar Minuten danach schwebten wir siebenhundert
Meter über einem langen und finsteren Bauwerk im Zentrum
der Kleinstadt.
»Es könnte das frühere Rathaus sein – natürlich, da steht ja
Salati’s Statue davor!« rief Takahira. »Doch was geht denn
dort unten vor sich – was machen sie denn mit dem Platz? Ich
habe geglaubt, daß er jetzt für Marktzwecke dient! Bitte, gehn
Sie ein wenig tiefer!«
Wir vernahmen den knatternden Lärm von
Straßenbelagsmaschinen des billigen Western-Typs, der Steine
und Bauschutt zu lavageripptem Glasfluß für grobe
Landstraßendecken verschmilzt. Je drei oder vier dieser
Straßenmaschinen arbeiteten an jeder Seite eines
Abbruchgevierts. Der aufgenommene Bauschutt wurde
zerkleinert, kam als weißglühend-zähflüssige Masse wieder
zum Vorschein und wurde von den Verteilerarmen mehr oder
minder flach aufgetragen. Fast ein Drittel des großen
Komplexes war schon auf diese Weise verarbeitet worden und
erlosch unter rötlichem Glosen vor unserm staunenden Blick.
»Es ist der Altmarkt«, sagte De Forest. »Aber niemand kann
Illinois daran hindern, eine Straße daraus zu machen. Der
Verkehr wird dadurch nicht berührt, wie ich sehe.«
»Pschscht!« machte Arnott und packte mich an der Schulter.
»So horcht doch! Sie singen! Warum singen sie denn?«
Wir gingen noch tiefer, bis wir die düsteren Menschenmassen
am Rande des glosenden Vierecks wahrnehmen konnten.
Zunächst hatte es den Anschein, als wollten sie bloß den
Lärm der Planierraupen übertönen. Dann aber wurden die
Worte verständlich – und waren der Text des verbotenen
Lieds, das jedermann kennt, aber keiner zu singen wagt: Pat
MacDonoughs Gesang aus den übervölkerten Tagen der
Seuche, jedes verrückte Wort bis zum Platzen geladen mit der
ererbten Erinnerung dieses Planeten an Schrecknis und Panik,
an Grausamkeit und an Angst! Und Chicago – das harmlos-
zufriedene, kleine Chicago – sang diese Worte jetzt lauthals zu
jener höllischen Weise, die wenige Generationen zuvor nichts
als Aufruhr, Wahnwitz und Pestilenz über die Welt gebracht
hatte!
»Es war Das Volk, das einstmals –
den Terror uns gebracht hat;
Es war Das Volk, das einstmals –
zur Höll’ die Welt gemacht hat!«
(Dann, nach einer Pause taktmäßigen Stampfens:)
»Die Welt zertrat den Terror.
Ihr Toten, stimmt mit ein:
Es war Das Volk von einstmals –
und wird nie wieder sein!«
Die Planierraupen stießen erbarmungslos vor gegen die
stürzenden Mauern, während das Lied stets von neuem
erklang, wieder und wieder, und das Krachen des stürzenden
Trümmerwerks übertönte.
De Forest sah finster drein: »Das paßt mir gar nicht«, sagte
er, »das ist ja ein Rückfall in längst vergangene Tage! Bald
wird es zu Mord und zu Totschlag kommen. Das beste, Arnott,
wird sein, sie auseinanderzujagen!«
»Ay, ay, Sir.« Arnott legte die Hand an die Kappe, und der
Rumpf der Victor Pirolo schwang hörbar mit bei dem
Kommando: »Die Strahler! Beide Wachboote Alarm! Licht!
Licht! Licht!«
»Ruhe bewahren!« flüsterte Takahira mir zu. »Die
Schutzbrillen bitte, Quartiermeister!«
»Schon da – schon zur Stelle!« sagte Pirolo von hinten und
stülpte mir zu meinem Schrecken eine Art Gummihelm über,
der mit schnappendem Laut meinen Kopf umschloß. Vor
meine Augen preßten sich dicke Schutzhüllen, so daß ich
urplötzlich in nachtschwarzer Finsternis stand.
»Zum Schutz vor der Blendung«, erläuterte er und schob
mich zum Kartenraumdivan. »Sie werden’s gleich merken!«
Noch während er sprach, gewahrte ich einen feinen Strahl
von nahezu unerträglicher Blendkraft, herab aus immenser
Höhe – einen vertikalen, gefrorenen Blitz, so dünn wie ein
Haar!
»Das kommt von unsern Flankensicherungsschiffen«, sagte
Arnott knapp neben mir. »Das eine steht über Galena – und
dort, nach Süden hinaus, ist das zweite, genau über Keithburg.
Hinter uns ist Vincennes, und vor uns im Norden liegt
Winthrop Woods.« Dann, zu De Forest: »Die Flotte ist in
Position, Sir, und wartet auf Ihre Befehle.«
»Nein doch! Nein!« schrie an meiner Seite Dragomiroff auf.
Ich spürte, wie sehr der bejahrte Mann zitterte. »Ich weiß
nicht, was alles Sie tun können – aber seien Sie gnädig! Ich
bitte Sie, haben Sie Mitleid mit dnen dort unten! Das ist ja
schrecklich – entsetzlich!«
»›Sticht die Frau das Hühnchen ab, Sinkt mit ihm die Welt
ins Grab‹«, zitierte Takahira. »Zu spät, jetzt noch Mitleid zu
haben!«
»Dann nehmt mir den Helm ab! Zieht mir den Helm vom
Kopf!« schrie Dragomiroff hysterisch.
Offenbar hatte Pirolo den Arm um ihn gelegt.
»Schscht«, sagte er. »Ich bin ja da, Iwan. Ist ja schon gut,
alter Freund!«
»Ich hätt’ unsrer Kleinen in Bureau City noch gern eine kurze
Vorwarnung gesandt«, sagte Arnott. »Zwar verdient sie es
nicht, aber wir sollten ihr noch zwei Minuten gönnen, damit sie
mit ihrer Mamma den Keller aufsuchen kann.«
In der äußersten Stille nach dem grollenden Blitz, der nach
Arnotts Signal von der außer Sicht befindlichen Flotte erfolgt
war, tönte MacDonoughs Lied schon schwächer herauf aus der
Stadt, über der wir nun auf Positionshöhe gingen. Dann aber
schlug ich die Hände vor meine Schutzlinsen, denn der
Himmel schien plötzlich zu bersten, und durch die
Einstiegsluken fiel unerträgliche Helle, als entstünden da neue
Sonnen!
»Zählen Sie nicht«, sagte Arnott zu mir, der ich ans Zählen
gar nicht gedacht hatte. »Zweihundertfünfzig Schiffe sind über
uns, in fünf Meilen Abstand. Volle Lichtstärke, bitte, für noch
zwölf Sekunden!«
So weit unsre Blicke reichten, schien das Firmament auf
weißglühenden Pfeilern zu stehen! Einer davon war auf das
glosende Viereck Chicagos gerichtet und wandelte es zu
Schwarz.
» Oh! Oh! Oh! Dürfen Menschen denn so etwas tun?« schrie
Dragomiroff auf und fiel quer über unsere Knie.
»Ein Glas Wasser, bitte«, befahl Takahira einer behelmten
Gestalt, die herzueilen wollte. »Es ist nur ein kleiner Anfall
von Schwäche.«
Die blendenden Lichter erloschen, und Finsternis stürzte
herein wie eine Lawine. Wir hörten Dragomiroffs Zähne gegen
den Glasrand schlagen.
Beruhigend sprach Pirolo auf ihn ein.
»Ist ja schon gut – alles guut«, wiederholte er. »Kommen Sie,
legen Sie sich erst mal hin – hier unten –, wir nehmen die
Maske herunter. Auf mein Wort, alter Freund, es ist alles in
Ordnung. Es sind nur die Standlichter von unsrer kleinen
Victor Pirolo – winzige Lichter! Sie kennen mich doch! Ich tue
den Leuten nichts Böses!«
»Entschuldigen Sie«, klagte Dragomiroff, »aber ich habe den
Tod – habe den Überwachungs-Ausschuß noch nie in Aktion
gesehen. Gehen wir jetzt hinunter? Verbrennen wir diese
Menschen bei lebendigem Leib – oder haben wir das schon
getan?«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Pirolo, und mir war’s, als wiegte
er ihn auf den Armen.
»Das ganze nochmal, Sir?« fragte Arnott, an De Forest
gewandt.
»Gönnen wir ihnen noch eine Minute«, versetzte De Forest.
»Ich glaube, sie haben es nötig.«
Wir warteten eine Minute, und MacDonoughs Kampflied,
zwar schwächer, aber noch immer voll Trotz, scholl aus dem
ungebrochnen Chicago herauf.
»Die sind ganz vernarrt in das Lied«, sagte De Forest. »Ich
glaube, jetzt ist’s an der Zeit, Arnott.«
»Jawohl, Sir«, bestätigte Arnott und tastete sich zum
Schaltbrett des Kommunikators.
Keine Lichthölle brach diesmal los, doch aus der sich
höhlenden Finsternis uns zu Häupten erscholl ein dermaßen
hirnzermürbender Laut, wie man ihn allenfalls im Delirium
hört: gezeitenhaft schwoll er heran, wie von jenseits aller
Gemarkung des Raumes!
»Das ist unser stärkster Sirenenton«, sagte Arnott. »Wir
werden jetzt ein wenig durchgerüttelt. Habe bisher noch nie
zweihundertfünfzig Sirenen gleichzeitig betätigt.« Er zog die
Schaltknöpfe und drehte den Kommunikator auf volle Stärke.
Zum andernmal zuckten die blendenden Strahlen hernieder,
vollführten gemessen und schreckenerregend ihren gestelzten
Tanz, schwangen mit jedem steifbeinigen Schritt an die vierzig
Meilen nach rechts und nach links, während sich aus der
Finsternis Laute gebaren – unmeßbar nach menschlichem Maß
–, die den Tanz dirigierten. Einzelne Töne – man wartete voller
Entsetzen auf sie – schnitten durch Mark und Bein, bis nach
weiteren drei Minuten alles Denken und Fühlen erloschen war,
und nur mehr unsägliche Schmerzempfindung zurückblieb.
Wir konnten noch hören und sehen, doch drohten uns fast
schon die Sinne zu schwinden. Jene zweihundertfünfzig Säulen
aus Licht waren in ständigem Wandel begriffen, formierten
sich neu, fächerten und vervielfachten, schmälerten und
verbreiterten sich, bänderten sich wellenhaft auf, zerstoben zu
tausend parallel verlaufenden Streifen, die gleich danach
ineinander verschmolzen zu wirbelnden, kreisenden
Lichträdern, eins in das andre verzahnt wie die alten
Maschinengetriebe vergangener Zeiten. Sie schossen hinauf
zum Zenit, um mit verdoppelter Wucht von dort
herniederzustürzen und die Qual zu erneuern, hielten inne im
letzten Moment, umzuckten wie irregeworden den Horizont –
und warfen mit ihrem Erlöschen zum hundertsten Mal eine
Finsternis über ganz Illinois, die noch erschreckender war als
das gleich hinterher wieder aufzuckende Licht! Doch
urplötzlich hatte der Horror aus Getöse und Licht sein Ende
gefunden, und wir vernahmen nur mehr ein ohrenzerreißendes
Klagegeheul, als striche ein feuchter Finger über den Rand
einer ungeheuren gläsernen Schüssel.
»Aha – meine neue Sirene«, sagte Pirolo. »Damit zersägen
Sie einen Eisberg, wenn Sie die richtige Tonhöhe finden! Und
das pfeift jetzt in ganzen Geschwadern! Wir jagen den Wind
durch verschließbare Bohrungen vorne im Bug.«
Ich war neben Dragomiroff zusammengebrochen, kaum
fähig, auch nur zu stöhnen, weil bei lebendigem Leibe den
Schrecken des Jüngsten Gerichts unterworfen! Und alle Engel
der Auferstehung riefen mich durchs Universum zurück, nackt,
unter Klängen der Sphärenmusik!
Dann sah ich De Forest mit der flachen Hand auf Arnotts
Helm einschlagen. Das Heulen erstarb zu einem
langgezogenen, kreischenden Ton, der gleich einem
tiefschwarzen Schatten an uns vorbeistrich und zu seinem
Ursprung über den Wolken entschwebte.
»Ich unterbrech’ einen Spezialisten höchst ungern, sobald er
aufgeht in seinem Geschäft«, sagte De Forest. »Aber seit
fünfzehn Sekunden bittet uns ganz Illinois, ein Ende zu
machen.«
»Wie jammerschade!« Arnott zog sich die Maske vom Kopf.
»Ich wollte uns einmal ordentlich dröhnen hören. Unser tiefes
C wirft sogar die Straßenpflasterung auf!«
»Das ist ja höllisch – infernalisch ist das!« schrie
Dragomiroff und begann laut zu schluchzen.
Ohne ihn anzusehen, versetzte Arnott:
»Es sind etliche tausend Volt mehr als beim alten
›Abschießen‹, aber ›höllisch‹ möchte ich nicht dazu sagen.
Was soll ich der Flotte durchgeben, Sir?«
»Geben Sie durch, wir sind sehr zufrieden und tief
beeindruckt. Ich glaube, man braucht dort oben nicht länger zu
warten. Unten ist jetzt alles finster, kein Funke zu sehen.« De
Forest zeigte hinunter. »Dort muß alles taub sein und blind!«
»Oh – das glaube ich nicht, Sir. Unsere Vorführung hat keine
zehn Minuten gedauert.«
»Unglaublich!« stieß Takahira hervor. »Mir kam es vor wie
die halbe Nacht! Was machen wir jetzt – gehn wir hinunter, die
Trümmer einsammeln?«
»Erst wollen wir eins darauf trinken«, versetzte Pirolo. »Der
Kontrollausschuß darf bei seinem Erscheinen nicht weinen
über sein eigenes Tun!«
»Ich bin wirklich ein Narr – ein alter Narr!« sagte
Dragomiroff kläglich. »Hab’ überhaupt nicht gewußt, was da
gespielt wird. Für mich ist das neu. In Kleinrußland verhandeln
wir erst noch mit solchen Leuten.«
Der Kontrollturm Chicago-Nord war unbeleuchtet, und so
sah sich Arnott gezwungen, das Schiff mit Hilfe der eigenen
Lichter in die Landeklampen zu steuern. Kaum waren die
Scheinwerfer an, da hörten wir auch schon vielstimmiges
Schreckensgejammer und flehentliches Bitten von unten.
»Beruhigt euch doch!« brüllte Arnott ins Dunkel. »Es kommt
nichts mehr nach, wir fangen nicht wieder an!« Wir fuhren die
Landetreppe aus, stiegen hinunter – und fanden uns knietief in
einer Vielzahl zu Boden gestreckter Menschen. Die einen
schrieen, sie seien blind, andre flehten uns an, nicht wieder mit
dem Gedröhn zu beginnen, die meisten jedoch verharrten flach
auf dem Boden, die Gesichter nach unten und die Hände oder
die Kappen gegen die Augen gepreßt.
Es war Pirolo, der schließlich die Initiative ergriff und uns
andern zu Hilfe kam. Er kletterte auf eine Planierungsmaschine
und richtete gestikulierend, als könnten die Menschen ihn
sehen, das Wort an dieses geschlagene Illinoisvolk.
»Ihr Schschwachköpfe!« hub er an. »Vor was habt ihr solche
Aangst? Ja, schon – morgen früh habt ihr rote und
schmerzende Augen. Ihr werdet aussehn, als hättet ihr zuviel
gesoffen, Männer wie Weiber – aber nicht lange, und ihr könnt
wieder sehen, so gut wie zuvor! Das sage euch ich – und ich
bin Pirolo! Victor Pirolo!«
Ein Beben durchlief die Menge, denn um Victor Pirolo aus
Foggia und sein Wissen um die Geheimnisse Gottes ranken
sich viele Legenden.
»Pirolo?« kam es mit schwankender Stimme zurück.
»Dann sagen Sie uns – war da noch was andres als Licht in
Ihren Kaskaden von vorhin?«
Von überallher aus dem Dunkel wiederholte sich jetzt diese
Frage.
Pirolo lachte.
»Nein!« rief er mit donnernder Stimme (warum haben
eigentlich so kleine Leute dermaßen gewaltige Stimmen?).
»Auf mein Wort, und auch auf das vom Kontrollausschuß, es
ist Licht gewesen – nur Licht und sonst nichts, ihr
Schschwachköpfe! Ist eure Geburtenrate nicht jetzt schon zu
klein? Ich muß irgendwann was erfinden, um sie zu steigern –
von Verminderung kann keine Rede mehr sein, nimmermehr!«
»Ist das wahr? – Und wir haben geglaubt – jemand hat uns
gesagt – «
Man konnte spüren, wie sich ringsum die Anspannung löste.
»Wie kann man denn nur so vernagelt sein!« schrie Pirolo.
»Ihr hättet ja bei uns rückfragen können – dann hätten wir’s
euch gesagt!«
»›Rückfragen können!‹« kam’s mit grollender Stimme
zurück. »Ihr hättet erst mal an unserem Ende des Drahtes sein
müssen!«
»Gottlob war ich das nicht«, sagte De Forest. »Es war schon
scheußlich genug hinter den Strahlern. Aber lassen wir das –
es ist ja vorbei! Gibt es hier jemand, mit dem ich verhandeln
kann? Ich bin De Forest – für den Kontrollausschuß!«
»Dann reden Sie erst mal mit mir – ich bin hier der
Bürgermeister«, versetzte der Mann mit der Baßstimme.
Eine große Gestalt erhob sich taumelnd vom Boden und
näherte sich unsicheren Schrittes dem breiten Rasenstreifen an
der Gartenumzäunung, wo wir uns hingesetzt hatten.
»Sieht aus, als wär’ ich der erste, der wieder auf seinen Füßen
steht – oder nicht?«
»Stimmt«, sagte De Forest und half ihm beim Niedersetzen.
»Hallo – Andy! Bist du es?« rief’s aus dem Dunkel.
»Entschuldigung«, sagte der Bürgermeister. »Das klingt ja
wie Bluthner, mein Polizeichef!«
»Ja, hier ist Bluthner – auch Mulligan und Keefe sind bei mir
– schon auf den Beinen!«
»Bring sie herauf zu uns, Bluth! Wir vier sind verantwortlich
für dieses Kuhdorf – was wir sagen, das gilt. Und was haben
Sie uns zu sagen, De Forest?«
»Noch nichts – im Moment«, versetzte De Forest, während
wir den schweratmenden, wankenden Männern Platz machten.
»Sie haben sich aus dem System gelöst. Also, was ist?«
»Der Steward soll uns was zu trinken herunterschicken«,
raunte Arnott der neben ihm stehenden Ordonnanz zu.
»Gut!« sagte der Bürgermeister und befeuchtete seine
trockenen Lippen. »Ich glaube, De Forest, wir können nun
damit rechnen, daß wir ab jetzt dem Kontrollausschuß
unmittelbar unterstehen?«
»Nicht, wenn es vermeidbar ist«, sagte De Forest und lachte.
»Der A.B.C. kümmert sich nur um den Verkehr auf diesem
Planeten.«
»Einschließlich alles dessen, was er umfaßt!« Die Großen
Vier, welche Chicago regierten, zitierten die Magna Charta im
Chor – wie in der Schule.
»Na gut – aber weiter«, winkte De Forest ab. »Worin besteht
überhaupt euer verrücktes Problem?«
»Zuviel an verdammter Demokratie«, sagte der
Bürgermeister und legte die Hand auf De Forests Knie.
»So? Ich habe geglaubt, Illinois hat seine Dosis bereits
abgekriegt!«
»Hat es ja auch. Eben deshalb geht’s hier so zu. Bluth, was
hast du getan mit unsern Häftlingen letzte Nacht?«
»Hinter Schloß und Riegel gesetzt, im Wasserturm, damit die
Weiber sie nicht massakrieren können«, versetzte der
Polizeichef. »Ich bin im Moment noch zu sehr geblendet,
aber – «
»Arnott, schicken Sie bitte ein paar Ihrer Männer los, und
lassen Sie die Arrestanten herschaffen«, befahl De Forest.
»Aber der Sperrstrom ist dreifach gesichert«, warnte der
Bürgermeister. »Sie müssen drei Sicherungen ausmachen!« Er
wandte sich wieder De Forest zu. Seine breite Figur war nur
ein Schatten im schwindenden Dunkel. »Ich möchte dem
Ausschuß bestimmt nicht noch mehr Arbeit machen. Bin
selber Verwaltungsbeamter, nur sind wir mit unseren Hörigen
nicht mehr zurechtgekommen. – Was das ist? – Nun, in jeder
größeren Stadt gibt es auch ein paar Männer und Frauen, die
glauben, ohne Gemeinschaft nicht leben zu können und
deshalb am liebsten aus Röhren trinken, von denen ihnen kein
Ende gehört. Sie verbringen das Jahr in Hotels oder
Mietwohnungen, weil ihnen das, wie sie sagen, allen Wirbel
erspart. Auf jeden Fall haben sie dadurch mehr Zeit, ihren
Nachbarn auf die Nerven zu fallen. Wir nennen sie hier nur
›die Hörigen‹. Außerdem sind sie anfällig für Tuberkulose.«
»So ist es«, sagte der Mann, den sie Mulligan nannten.
»Transportation ist Zivilisation. Demokratie bedeutet nur
Krankheit. Das hab’ ich durch Blutproben jederzeit
nachgewiesen.«
»Mulligan, unser Gesundheitsbevollmächtigter, ist nur von
einer Idee besessen«, erklärte der Bürgermeister und lachte.
»Aber es stimmt schon – die meisten dieser
Gemeinschaftshörigen haben sich nicht in der Hand. Sie
wollen einfach reden. Und fassen die Leute das Reden erst als
Beruf auf, so kann es zu allem möglichen kommen – so ist’s
doch, De Forest?«
»Zu allem – nur nicht zu den Fakten unseres Falles«,
versetzte De Forest, ebenfalls lachend.
»Zu denen komm’ ich sofort«, sagte der Bürgermeister.
»Unsere Hörigen sind, wie gesagt, ins Reden gekommen –
erst mal in ihren Häusern, später auf offener Straße – und
haben den Leuten erzählt, wie sie es anfangen sollten, ihre
eignen Affären zu regeln. (Sie können es so einem Hörigen
einfach nicht beibringen, die Finger von seines Nachbarn Seele
zu lassen!) Natürlich ist das schon eine Art Eingriff in die
Privatsphäre, aber hier in Chicago dulden wir alles noch eher,
als daß es zu Aufläufen kommt. Und weil solches Treiben
nicht sehr viel Beachtung fand, ließ ich es dabei bewenden.
Mein Fehler! Man hatte mich ja gewarnt, es werde zu Unruhen
kommen, aber in Illinois war es seit neunzehn Jahren weder zu
Kundgebungen noch zu Mord oder Totschlag gekommen.«
»Seit zweiundzwanzig, nicht neunzehn«, verbesserte der
Polizeichef.
»Kann sein. Jedenfalls haben wir nicht mehr an sowas
gedacht. Na, und vom Reden in ihren Häusern und dann schon
auf offener Straße gehn unsre Hörigen weiter und rufen zu
einer Massenkundgebung auf – dort drüben am Altmarkt.« Er
wies mit dem Kinn auf das Geviert, wo sich die verhüllte
Statue des »Brennen den Negers« am Abbruchgebäude gegen
den Schimmer des grauenden Morgens abhob. »Es gibt keinen
Grund, Kundgebungen zu verhindern, bis auf den Umstand,
daß es der Menschennatur widerspricht, sich
zusammenzurotten, und außerdem schadet es der Gesundheit.
Ich hätte ja an der Art und Weise, wie unsre Männer und
Weiber sich zu jener Kundgebung drängten, auf Anhieb
erkennen müssen, daß sich etwas zusammenbraute! Ein ganzes
Tausend war schon auf dem Marktplatz versammelt, und sie
berührten einander! In Tuchfühlung sind sie gestanden! Und
die Hörigen haben sich angestrengt und auf sie eingeredet,
während wir – «
»Worüber haben sie denn geredet?« erkundigte sich
Takahira.
»In erster Linie, wie miserabel die Stadt von uns verwaltet
werde. Aber das konnte uns Vieren nur angenehm sein – wir
standen ja auf der Tribüne –, weil wir uns ein paar gute
Mitarbeiter für die Stadtverwaltung erhofften. Sie wissen ja,
wie schwer es oft ist, effiziente Vollzugsbeamte zu finden!
Und selbst, wenn wir keine fänden, so ist es – so war es
erfreulich genug, überhaupt jemanden anzutreffen, der genug
Interesse bekundet, Ihre Arbeit herunterzumachen! Haben Sie
denn eine Ahnung, was es bedeutet, jahrein und jahraus nur
weiterzumachen, ohne auf andere Meinung zu stoßen?«
»Na – und ob!« sagte De Forest. »Mitunter würden wir bei
uns im Ausschuß liebend gern alles hinschmeißen, wenn uns
nur jemand hinauswerfen und unser Amt übernehmen wollte!«
»Aber es ist niemand da«, versetzte der Bürgermeister
bekümmert. »Glauben Sie mir, Sir, wir Vier haben uns in
Chicago Dinge geleistet – nur in der Hoffnung, die Leute zum
Widerspruch zu ermuntern –, Dinge, die sich kein Nero erlaubt
haben würde! Und was hören wir dann? ›Schon recht, Andy,
macht nur so weiter! Ist alles noch besser als Massenaufläufe!
Ich geh’ jetzt wieder auf meine Länder.‹ Sie können mit
Leuten nichts anfangen, denen es freisteht, ihre eigenen Wege
zu gehen, und die sich darüber hinaus nichts anderes wünschen
auf Gottes Erdboden! Es ist auf diesem Planeten niemand mehr
da, der etwas riskieren würde – und wär’ es auch nur ein
Fußtritt.«
»Dann ist vermutlich der Schuppen da drüben von selbst
eingestürzt?« fragte De Forest. Vor uns lag die nackte, noch
rauchende Brandruine, und wir hörten das Knacken und
Knistern der in sich zusammensackenden Schlackenberge.
»Ach – das ist nur zum Spaß! Doch davon später. Nun, wie
schon gesagt, unsere Hörigen haben die Kundgebung
abgehalten. Wir mußten den Platz recht bald unter Sperrstrom
setzen, um zu verhindern, daß sie erschlagen würden. Doch hat
das nicht dazu beigetragen, die Bevölkerung zu beruhigen.«
»Wie meinen Sie das?« warf ich ein.
»Wären Sie jemals im Sperrstrom gestanden, durch
Elektrizität an den Boden geklebt«, versetzte der
Bürgermeister, »so würden Sie wissen, wie ekelhaft das Gefühl
ist, festgehalten zu sein von einem Nichts, gegen das man nicht
ankämpfen kann. Nein, Sir: es ist ja ganz lustig, acht- oder
neunhundert Leute wie die Fliegen im Sirup strampeln und
lärmen zu sehen, während ein Rudel von Hörigen sicher und
außer Reichweite drauf und dran ist, sich mental und spirituell
in die Privatsphäre zu drängen. Und hinterher sind solche
Leute nicht mehr so leicht unter Kontrolle zu bringen!«
Pirolo lachte in sich hinein.
»Unsre Leute bekennen sich nur zu sich selbst – und sie
waren der Meinung, die Dinge gingen zu weit, ja unter die
Haut. Ich hab’ diese Hörigen gewarnt, aber die sind ja
geborene Stubenhocker: was ihnen nicht auf den Kopf fällt,
das sehen sie nicht. Sir, Sie werden es nicht für möglich halten,
aber die haben sich dazu verstiegen, von der ›Herrschaft des
Volkes‹ zu reden! Buchstäblich! Und sie haben uns
aufgefordert, zurückzukehren zu jener alten Wudu-Zauberei,
zu Wahlen mit papierenen Zetteln und hölzernen Kästen und
wortbesoffenen Wählern, Vordrucken und
Nachrichtenblättern! Und sie haben gesagt, sie selber
praktizierten das unter sich, in ihren Häusern, wenn’s um die
Wahl ihrer Mahlzeiten gehe, daheim wie in ihren Hotels!
Jawohl, Sir! Da standen sie aufrecht hinter Bluthners doppelter
Bodenstromsperre und haben in diesem herrlichen Jahr und an
dieser Stelle solche Sachen zu eigenverantwortlichen Männern
und Frauen gesagt! Und zum Schluß haben sie« – er dämpfte
nahezu ängstlich die Stimme – »auch noch von der Gesamtheit
des Volkes gesprochen. Bluthner mußte danach die ganze
Nacht wach bleiben und die Stromsperre kontrollieren, weil er
sich auf die eigenen Männer nicht mehr verlassen konnte.«
»Die Leute sind zu sehr aufgereizt worden«, sagte der
Polizeichef. »Aber wir konnten sie doch nicht auf Dauer unter
der Stromsperre halten! Also habe ich diese
Gemeinschaftskrakeeler wegen öffentlicher Unruhestiftung
samt und sonders verhaften und im Wasserturm festsetzen
lassen. Erst hinterher ließ ich den Dingen ihren Lauf. Ich
konnte nicht anders! Der ganze Distrikt glich einem
gezündeten Gasbehälter!«
»Die Nachricht war schon über sieben Landgrade verbreitet«,
ergänzte der Bürgermeister. »Und wenn erst einmal die
Privatsphäre auf dem Spiel steht, dann Gute Nacht für
Ordnung und Recht in ganz Illinois! Schon Donnerstag abends
hat man begonnen, alle Verkehrslichter zu löschen und die
Landetürme zu sperren. Und am Freitag haben sie den Verkehr
stillgelegt und verlangt, der Überwachungsausschuß solle den
Fall übernehmen. Danach wollten sie auch noch Chicago vom
Seeufer anderswohin verlegen – nur in Ansehung des ›Volks‹,
von dem die Hörigen gefaselt haben. Ich schlug ihnen vor, den
Altmarkt, auf dem die Massenkundgebung stattfand,
einschlacken zu lassen, und habe dann einen Hilferuf an euren
gesamten Ausschuß abgesandt. Das hat sie bis zu eurer
Ankunft zurückgehalten. Na und jetzt – könnt ihr zusehn, wie
ihr zurechtkommt mit dem Schlamassel.«
»Besteht irgendwelche Aussicht auf Beschwichtigung dieser
Leute?« fragte De Forest.
»Probieren Sie’s doch!« versetzte der Bürgermeister.
De Forest erhob seine Stimme vor der sich erholenden und
herzudrängenden Menge. Es war inzwischen taghell geworden.
»Glaubt ihr nicht, daß wir uns einigen könnten?« begann er.
Doch nur ein wütender Aufschrei antwortete ihm:
»Wir haben Schluß gemacht mit allen Versammlungen!
Schluß mit der Vergangenheit! Übernehmt uns in eure
Verwaltung! Fort mit den Gemeinschafts-Sklaven – befreit uns
von ihnen! Regiert uns direkt, oder wir bringen sie um! Nieder
mit allem, was ›Volk‹ heißt!«
Irgendwer stimmte MacDonoughs Gesang an. Doch schon
nach der ersten Zeile sandte die Victor Pirolo einen
gedämpften Warnton hernieder, und eine schon brüchige
Mauer am Rande des Altmarkts geriet ins Wanken und stürzte
über den Bergen aus Schlacke in sich zusammen. Regungslos,
ohne ein Wort, warteten alle, bis auch der letzte Staub sich
gesetzt und das Stahlgehäuse der Statue zu aschenem Grau
verfärbt hatte.
»Da sehen Sie es: Sie müssen uns übernehmen«, raunte der
Bürgermeister.
De Forest hob nur die Schultern.
»Sie reden daher, als ließe die Exekutivgewalt sich wie
Pferdestärken rein aus der Luft herab schalten! Könnt ihr denn
nicht mehr von euch aus zurechtkommen?« erwiderte er.
»Zurechtkommen, wie Sie es nennen, könnten wir schon. Nur
würde das gleich zu Beginn das Leben dieser paar Leute da
kosten.«
Der Bürgermeister wies über den Platz, wo Arnotts
Mannschaft soeben zehn oder zwölf stolpernde Männer und
Frauen an das Seeufer brachte und sie vor der Statue anhielt.
»Ich glaube«, sprach Takahira gedämpft, »jetzt wird es gleich
Ärger geben!«
Vor uns, aus der Menschenmenge, erhob sich ein Murren, als
wären da wilde Bestien versammelt.
Und in dem Moment, als die Sonne heraufstieg, und die
Menschen gewahrten, daß sie ja selber die Massenkundgebung
formierten, sahen wir, daß ein Schauder aus Schreck und aus
Widerwillen die Menge durchlief, ganz wie die Böen über die
stahlgraue Wasserfläche draußen am See. Wortlos und noch
halb geblendet, gerieten die Leute nur nach und nach in
Bewegung. Trotzdem, nach kaum einer Viertelstunde waren
die Massen – sie zählten zumindest dreitausend –
dahingeschmolzen wie Eis an sonnseitigen Traufen, und der
verbliebene Rest legt sich flach auf den Rasen, wodurch jede
Massenansammlung aufhört, eine solche zu sein.
»Die jetzt noch da sind, bedeuten Arbeit für uns«, sagte der
Bürgermeister zu Takahira. »Es sind gar nicht so wenige
Frauen darunter, die schon geboren haben. Ich habe kein gutes
Gefühl!«
Der Frühwind vom See her fuhr in die Wipfel der Bäume
ringsum und verhieß einen sehr warmen Tag. Die Sonne
spiegelte sich in der kanisterförmigen Hülle von Salad’s
Statue. In den Gärten begannen die Hähne zu krähen, und von
fern ertönte das Schließen der Türen, als die Menschen in ihre
Häuser heimkehrten.
»Ich fürchte, heut gibt’s keine Morgenzustellung«, sagte De
Forest. »Wir haben vergangene Nacht hierzulande die Dinge
ganz schön durcheinandergebracht!«
»Das spielt keine Rolle«, versetzte der Bürgermeister. »Wir
sind allesamt bevorratet auf sechs Monate. Bei uns setzt man
sich keinen Zufällen aus.«
Das tut heute niemand mehr, wenn man es recht überlegt.
Schon seit fast einem Menschenalter hat es in keinem Haus,
keiner Stadt eine Lebensmittelverknappung gegeben. Welches
Haus, welche Stadt auf unsrem Planeten hätte nicht auf ein
halbes Jahr vorgesorgt heutzutage? Wir gleichen den
Schiffbrüchigen aus alten Büchern, die, einmal dem Hungertod
preisgegeben, hinterher allzeit auf einen Vorrat an Zwieback
bedacht sind. Und, vor allem, wir trauen der
Massenversorgung nicht mehr – und auch keinem System, das
auf der Masse beruht!
De Forest wartete ab, bis die letzten Schritte verhallten.
Mittlerweile benahmen die Häftlinge unter der Statue sich
unruhig wie kleine Kinder: sie scharrten und stießen einander
herum und posierten recht unverschämt. Sie waren sämtlich
nur mittelgroß, keiner erreichte einsneunzig, und viele von
ihnen hatten schon graue Haare und die verhärmten,
verwüsteten Züge alter Porträts. Alle hielten sich eng
aneinandergedrängt, wogegen die übrige Menge auf
gebührenden Abstand bedacht war und aus blutunterlaufenen
Augen auf die Gefangenen starrte.
Und dann begann einer der Häftlinge plötzlich zu reden –
hielt eine Ansprache! Der Bürgermeister hatte nicht
übertrieben: unser Planet, so schien es, lag versklavt unterm
Stiefel des Luftüberwachungs-Ausschusses! Der Redner
beschwor uns, daß wir uns erheben, daß wir unsre Fesseln
zerbrechen sollten (die Metaphorik entstammte zur Gänze dem
Mittelalter). Jedes Ding des täglichen Lebens, einschließlich
der meisten Körperfunktionen, solle allwöchentlich, jeden
Monat und jedes Jahr den Beschlüssen all derer unterliegen,
die innerhalb eines gewissen Bereichs zeitweilig oder auf
Dauer ansässig wären, und zur Entscheidungsfindung müsse
hinkünftig jedermann seine eigenen Interessen hintanstellen:
denn erst einmal wären da Massenversammlungen
einzuberufen, zweitens Reden zu halten, und letztlich wäre
durch Ankreuzen papierener Zettel, die hinterher unter allerlei
mystischem Zeremoniell und eidlichem Ritual ausgezählt
werden sollten, das Resultat zu ermitteln! Aus solchen
Sonderbarkeiten, so versicherte uns der Redner, werde ganz
automatisch eine höhere, edlere und auch hellere Welt
hervorgehen, auf der Grundlage – er demonstrierte uns das mit
aller düsteren Luzidität des Verrückten – sakrosankter
Mehrheitsbeschlüsse gegen die Schurkerei einzelner.
Abschließend rief er noch Gott an, zum Zeugen seiner
persönlichen Integrität und Verdienstlichkeit. Als der
Wortschwall versiegt war, sah ich verwirrt auf Takahira, der
bedeutsam und feierlich nickte.
»Vollkommen korrekt«, sagte er. »Wie in den alten
Scharteken. Nichts hat er weggelassen – nicht einmal das
Gefasel vom Krieg.«
»Aber wie kann man mit solchem Gewäsch auch nur ein
Kind aus der Ruhe bringen? Und gar einen ganzen Distrikt?«
fragte ich.
»Oh – Sie sind noch zu jung«, sagte Dragomiroff. »Und
außerdem – Sie sind keine Mamma. Na bitte, sehn Sie doch
hin – auf die Mammas!«
Mehr als ein Dutzend Frauen, die noch geblieben waren,
hatten sich aus der Schar der schweigenden Männer gelöst und
bewegten sich langsam auf die Gefangenen zu. Es sah aus, als
umkreiste ein Wolfsrudel eine Herde von Moschusochsen,
hoch oben im Norden, heimlich, bevor es sich auf seine Beute
stürzt. Das blieb auch den Häftlingen nicht verborgen, und so
schlossen sie sich noch enger zusammen. Der Bürgermeister
bedeckte sekundenlang das Gesicht mit den Händen, und De
Forest, barhaupt wie er war, trat zwischen die Gruppe der
Häftlinge und die langsam und steif sich nähernden Frauen.
»Das alles ist ja recht interessant«, wandte er sich an den
Redner. »Aber der springende Punkt scheint zu sein, daß ihr
Kundgebungen macht und damit die Privatsphäre gefährdet.«
Jetzt trat eine Frau vor, um etwas zu sagen, doch das
beifällige Gemurmel der Männer, welche erkannten, daß De
Forest der Situation auf den Grund ging, hinderte sie daran.
»Jawohl, so ist es!« ertönte es von allen Seiten. »Wir haben
alle Verbindungen unterbrochen, weil die da
Massenkundgebungen machen und unsre Privatsphäre stören!
Das ist es – hier müssen Sie ansetzen! Fort mit den Leuten!
Jetzt ist der Kontrollausschuß dran!«
»Oh ja, jetzt ist der Kontrollausschuß dran«, sagte De Forest.
»Ich nehme, wenn ihres wollt, diese Massenaktivitäten formell
zur Kenntnis, doch die Beweisführung liegt bei den
Ausschußmitgliedern. Würde euch das genügen?«
Die näherkommenden Frauen hatten ihr Tempo verlangsamt
und ballten die unruhigen Hände immer wieder zu Fäusten.
»Gut – sehr gut sogar!« riefen die Männer. »Dann sind wir
zufrieden! Nur fort mit den Leuten – so rasch wie möglich!«
»Kommt jetzt zu uns herauf«, sagte De Forest zu den
Gefangenen. »Das Frühstück ist schon bereit!«
Aber die Häftlinge rührten sich nicht von der Stelle – waren
offenbar fest entschlossen, in Chicago zu bleiben und ihre
Kundgebungen fortzusetzen. Auch machten sie geltend, der
Vorschlag De Forests sei ein gröblicher Eingriff in die
Privatsphäre!
»Mein lieber Freund«, sagte Pirolo zum beredtesten ihrer
Anführer. »Jetzt aber rasch, wenn eure Massen, die ja immer
im Recht sind, euch nicht umbringen sollen!«
»Aber das wäre ja Mord«, versetzte der Mehrheitsverfechter.
Die allgemeinen Lachstürme, die sich daraufhin erhoben,
schienen der Krise ein Ende zu setzen.
Aus der Reihe der Frauen trat jetzt eine vor, herzlich lachend
wie alle andern, das kann ich bezeugen! Mit der einen Hand
schützte sie noch ihre Augen, die andere hatte sie an ihrer
Kehle.
»Ach – hier braucht niemand zu fürchten, daß man ihn
umbringen könnte!« rief sie.
»Nicht im geringsten«, sagte De Forest. »Aber glauben Sie
nicht, daß es jetzt, wo der Ausschuß den Fall übernimmt, für
Sie besser wäre, nach Hause zu gehen, während wir diese
Leute wegbringen?«
»Da werd’ ich schon lange daheim sein. Es war ja – es ist ein
recht mühsamer Tag.«
Hochaufgerichtet stand sie vor De Forest und überragte den
zwei Meter großen Mann ganz beträchtlich. Noch immer
lächelte sie, hielt aber wegen der blendenden Helle die Augen
geschlossen.
»Da haben Sie recht«, stimmte De Forest ihr bei. »Doch ich
fürchte, das Sonnenlicht ist noch zu stark für Ihre Augen. Wir
lassen das Schiff tiefergehen.«
Er winkte der Victor Pirolo, sich zwischen uns und die Sonne
zu schieben – und dabei die unruhig gewordnen Gefangenen
mit einer Stromschlinge zu sichern. Die unter Strom Gesetzten
erstarrten sofort, aber die Frau sprach weiter, mit sanfter und
leiser Stimme:
»Ich glaube nicht, daß ihr Männer es wahrhabt, wie
bedeutungsvoll diese – nun, diese Art Vorgänge für eine Frau
sind. Ich habe drei Kindern das Leben geschenkt, und wir
Frauen werden nicht zulassen, daß unsre Kinder der Masse
überantwortet werden! Das mag ein ererbter Instinkt sein.
Menschenansammlungen führen zu Unruhen. Sie bringen die
alten Zeiten zurück: Haß, Angst, Erpressung, Nötigung,
Öffentlichkeit, kurz ›Das Volk‹ – eben das, das und nur das!«
Sie zeigte dabei auf die Statue, und wieder begann die Menge
zu murren.
»Ja – wenn man die Leute gewähren ließe«, sagte De Forest.
»Indes, diese kleine Affäre – «
»Für uns Frauen ist es von großer Bedeutung, daß diese –
diese kleine Affäre nie wieder vorkommen kann. Natürlich,
›nie wieder‹, das sagt sich so leicht, doch rein gefühlsmäßig
wissen wir alle, wie wichtig es ist, jede Zusammenrottung
schon in ihrem Keim zu ersticken! Jene sklavischen
Kreaturen« – sie wies mit der Linken auf die Gruppe der
unterm Sperrstrom wie Seetang gezeitenhaft wankenden
Arrestanten –, »jene paar Leute haben ja Freunde und Frauen
und Kinder hier in der Stadt oder irgendwo draußen! Ihnen will
man ja gar nichts antun, nicht wahr! Schrecklich, nicht
auszudenken, einen Menschen nach fünf oder sechs
Jahrzehnten anständigen Lebens daraus zu vertreiben! Ich
selber bin vierzig, ich weiß Bescheid! Und doch hat man das
Bedürfnis, ein Exempel zu statuieren, denn kein Preis ist zu
hoch, wenn damit diese – wenn damit diesen Leuten und
allem, was zu ihnen gehört, ein Ende gemacht werden kann! –
Ist Ihnen überhaupt klar, wovon ich rede, und hätten Sie auch
noch die Güte, diese Statue da von Ihren Männern enthüllen zu
lassen? Der Anblick ist sehenswert!«
»Ich verstehe Sie wirklich vollkommen – doch glaube ich
nicht, daß irgendeiner der Anwesenden, noch ohne etwas im
Bauch zu haben, die Statue ansehen möchte – entschuldigen
Sie mich für einen Moment!« De Forest wandte sich ab und
rief das Schiff an: »Fangschlinge bereithalten, an Backbord,
bitte!« Und dann, mit einiger Schärfe, wieder zu seiner
Gesprächspartnerin: »Ein wenig Handlungsfreiheit könnten Sie
uns in dieser Sache schon lassen!«
»Aber natürlich! Ich danke Ihnen für Ihre Geduld – ich weiß,
meine Argumente sind töricht, aber ich – « Sie wandte sich
halb zur Seite und sprach mit veränderter Stimme: »Vielleicht
hilft das Ihnen bei der Entscheidung.«
Sie streckte den rechten Arm aus, ein Messer war in ihrer
Hand – doch bevor sie es an ihre Kehle oder auch Brust führen
konnte, wurde die Waffe den Fingern entwunden, flog aus dem
Schattenbereich des darüberschwebenden Schiffs und landete
fünfzig Meter entfernt zu Füßen der Statue, wo sie im
Sonnenlicht blitzte. Der gestreckte Arm blieb stocksteif in der
Luft, bis der nachlassende Sperrstrom eine langsame
Rückführung zum Körper erlaubte. Die übrigen Frauen wichen
zurück und verdrückten sich zwischen die Männer.
Pirolo rieb sich die Hände, und Takahira nickte beifällig.
»Das war sehr klug von Ihnen, De Forest«, sagte er
anerkennend.
»Welch herrliche Pose!« sprach Dragomiroff vor sich hin,
denn die erschrockene Frau war am Rande der Tränen.
»Warum haben Sie mich dran gehindert? Ich hätt’ es getan!«
schrie sie auf.
»Daran zweifle ich nicht«, versetzte De Forest. »Aber wir
können nicht zulassen, daß Sie Ihr Leben hingeben für diese
Leute. Ich hoffe, der Stromstoß hat Ihr Gelenk nicht verletzt –
es ist schwierig, solch eine Fangschlinge zu dirigieren. Im
übrigen glaube ich, daß Sie in bezug auf die Frauen und Kinder
dieser Personen rechthaben. Wir nehmen sie alle mit uns, wenn
Sie mir versprechen, keine Dummheiten mehr zu machen!«
»Ich versprech’s – ich verspreche es Ihnen.« Sie riß sich
gewaltsam zusammen. »Es ist für uns Frauen so wichtig! Wir
wissen, was es bedeutet – ich hab’ nur gedacht, wenn Sie noch
gesehen hätten, wie ernst es mir war – «
»Ich hab’ es gesehen – der Punkt geht an Sie. Vom Fleck weg
nehme ich jetzt all eure ›Hörigen‹ mit mir. Der Bürgermeister
stellt eine Liste von sämtlichen Freunden und
Familienmitgliedern hier in der Stadt und auch im Umland
zusammen und sendet mir dann die Betreffenden auf dem
Luftwege nach – noch vor heute abend!«
»Gewiß«, versetzte der Bürgermeister und stand auf. »Keefe,
könnten Sie nicht, wenn es geht, den Altmarkt vollständig
einebnen? Der jetzige Anblick ist nicht sehr schön, und für
Kundgebungen wird der Platz nicht mehr benötigt.«
»Wär’ es nicht besser, auch gleich die Statue verschwinden
zu lassen, Herr Bürgermeister?« fragte De Forest. »Ich stelle
den Kunstwert ja nicht in Frage – aber ich glaube, sie ist eine
Spur zu morbid!«
»Wird gemacht, Sir – hallo, Keefe! Machen Sie erst noch
Schluß mit dem Nigger, bevor Sie den Marktplatz verheizen!
Ich geh’ an den Kommunikator und verlautbare für den
Distrikt, daß der Ausschuß jetzt die Vollzugsgewalt hat.
Wollen Sie etwas Spezielles durchgeben, Sir?«
»Nichts. Wir können unsere Mannschaften nicht für
Hinterwäldler verzetteln. Machen Sie weiter wie bisher, doch
ab jetzt unter unserer Aufsicht. Arnott, nehmen Sie bitte Ihre
Gefangenen an Bord! Landen Sie unser Schiff bei offenen
Abflußluken. Wir warten inzwischen die Zerstörung des
Kunstwerkes ab.«
Die Häftlinge trotteten hinter Arnott einher, ununterbrochen
redend, doch ohne zu gestikulieren – der Sperrstrom hinderte
sie ja daran. Dann fuhren die Glattmacher an – je zwei zu
Seiten der Statue –, wie auf Befehl sahen die Zuschauer weg,
aber das wäre nicht nötig gewesen: Keefe drehte auf volle
Stärke, und das Ding schmolz samt seiner Hülle dahin! Ich sah
nur eine weißglühende Welle über den Sockel branden und
konnte vor dessen Zerstieben gerade noch seine Aufschrift
entziffern: »Zum Ewigen Gedenken der Rechtsprechung durch
Das Volk«. Die Menge sah es jubelnd mit an.
»Herzlichen Dank«, sagte De Forest. »Doch jetzt wird es Zeit
zum Frühstück, auch für Sie, nehm’ ich an. Leben Sie wohl,
Herr Bürgermeister! Würde mich freuen, Sie wiederzusehen,
doch hoffentlich nicht von Amts wegen in den kommenden
dreißig Jahren! Empfehle mich, Madam! Ach ja – man fällt
heutzutage gelegentlich seinen Nerven zum Opfer – ich spür’s
an mir selber. Leben Sie wohl, Herrschaften! Ab jetzt
unterstehen Sie dem tyrannischen Ausschuß, doch sollten Sie
je das Bedürfnis empfinden, Ihre Fesseln zu sprengen, so
geben Sie uns Bescheid! Das ganze freut uns nicht sehr. Alles
Gute!«
Inmitten des Abschiedsgeschreis begaben wir uns an Bord
und hörten zu steigen erst auf, als der Stimmenlärm nur mehr
ein Flüstern war. De Forest ließ sich auf das Sofa des
Kartenraums fallen und wischte den Schweiß von der Stirn.
»Nichts gegen Männer«, stieß er hervor und atmete auf.
»Doch diese Weiber sind teuflisch!«
»Und trotzdem«, erwiderte Pirolo munter, »hat sich die eine
umbringen wollen!«
»Ich weiß. Deshalb hab’ ich ja signalisiert, eine Fangschlinge
für sie bereitzuhalten. Ich muß mich dafür noch bei Ihnen
entschuldigen, Arnott! Es war keine Zeit, Sie zu warnen, und
Sie waren ja auch mit diesem Gesindel beschäftigt. Wer war’s
übrigens, der reagiert hat auf mein Signal? Wirklich, ein feines
Stück Arbeit!«
»Das ist Ilroy gewesen«, versetzte Arnott. »Nur war der
Stromimpuls etwas zu stark. Zwar ist es ein Kabinettstück,
einer Dame das Messer glatt aus den Fingern zu funken – aber
haben Sie nicht bemerkt, wie sie sich die Hand rieb? Ilroy hat
ihr die Finger verbrannt. Pfuscharbeit nenne ich sowas!«
»Es liegt mir fern, mich in Sachen der Borddisziplin zu
mischen – aber seien Sie nicht zu hart zu dem Burschen! Wenn
jene Frau sich umgebracht hätte, so wär’ es zu Mord und
Totschlag gekommen – kein Gemeinschaftshöriger im Bezirk
hätte es überlebt, einschließlich der gesamten Verwandtschaft,
und das noch vor Abend!«
»Genau darauf hatte sie’s angelegt«, bestätigte Takahira.
»Und weil unsre Flotte schon weg ist, hätten wir es nicht
verhindern können.«
»Ich mag ja blöd genug sein, in einen Sperrkreis zu laufen«,
widersprach Arnott. »Aber ich schicke die Flotte nicht weg,
bevor ich nicht sicher sein kann, daß der Wirbel vorbei ist. Die
Flotte steht noch immer bereit, und ich lasse sie in Position, bis
diese Hörigen abtransportiert sind aus dem Distrikt. Der letzte
kleine Zusammenrottungsversuch hatte Mord und Totschlag in
sich, liebe Freunde!«
»Das alles sind nur die Nerven – sonst nichts!« sagte Pirolo.
»Gegen Platzangst kann man nicht argumentieren.«
»Man hat nicht den Eindruck, als hätten die Leute bisher
schon viele Tote gesehn – oder doch?« frug Takahira.
»In meinem neunzigjährigen Leben habe ich keinen einzigen
Toten gesehn«, versetzte Dragomiroff, und es klang fast wie
eine Entschuldigung. »Das ist vielleicht auch der Grund,
weshalb ich – vergangene Nacht – «
Dergestalt stellte sich noch beim Frühstück heraus, daß
keiner von uns – mit Ausnahme von Pirolo und Arnott –
jemals eine Leiche gesehen oder dem Hinscheiden eines
Menschen beigewohnt hatte.
»Wir sind schon ein ulkiger Haufen – flattern da in der Luft
herum, um die Geschicke dieses Planeten zu leiten«, lachte De
Forest. »Jetzt, wo alles vorbei ist, kann ich’s ja sagen: meine
größte Befürchtung war, die Sache nicht ohne
Menschenverluste durchziehn zu können!«
»Bei mir war’s nicht anders«, bestätigte Arnott. »Aber es ist
kein Toter gemeldet, und ich habe überall nachgefragt. Was
wird jetzt aus den Passagieren? Ich habe sie mittlerweile
verpflegen lassen.«
»Wir sind da in einer Zwickmühle«, sagte De Forest gedehnt.
»Setzen wir sie an einem Ort ab, der uns nicht untersteht, so
werden seine Bewohner das zum Anlaß nehmen, alle
Verbindungen zu unterbrechen, ganz wie es in Illinois war,
und wir müssen den Fall übernehmen. Und setzen wir sie in
unserm Kontrollbereich ab, so bringt man sie um, kaum daß
wir fort sind.«
»Finden Sie?« sagte Pirolo nachdenklich. »Ich aber kann
garantieren, daß diese Leute nach einer gewissen Zeit ganz
friedlich aussterben werden. Wie steht’s denn mit ihrer
Geburtenrate?«
»Gehn Sie hinunter zu ihnen und fragen Sie sie!« sagte De
Forest.
»Wenn denen die Nerven durchgehn, so reißen sie mich in
Stücke«, versetzte der Denker aus Foggia.
»Glauben Sie wirklich? Also, was tun?«
»Öffnen wir doch die Bodenluken!« Takahira ballte die
Faust, den Daumen nach unten gestreckt.
»Doch wohl kaum – nach all der Mühe, die wir uns gemacht
haben, um sie zu retten«, sagte De Forest.
»Probieren Sie’s lieber mit London«, schlug Arnott vor.
»Dort könnten Sie sogar den Teufel loslassen – und man würde
ihn höchstens zum Essen einladen!«
»Mann! Sie bringen mich da auf eine Idee! Vincent –
natürlich, Vincent!« De Forest stellte den Hauptkommunikator
so ein, daß wir mithören konnten, und schon nach wenigen
Minuten füllte die mächtige, klangvolle Stimme von Leopold
Vincent den Raum – die Stimme des Mannes, der schon seit
dreißig Jahren ganz London mit ausgesuchtesten
Unterhaltungsprogrammen versorgt. Wir grinsten
erwartungsvoll, als säßen wir in einer Loge der »Vereinigten
Bühnen«, um einer Premiere beizuwohnen.
»Wir haben da was für Sie aufgelesen«, begann De Forest die
Unterredung.
»Das hört man gern, alter Freund. Wenn es nur alt genug ist!
Nichts geht über die alten Klamotten, wenn’s ums Geschäft
geht! Haben Sie London, Chatham und Dover gesehn, in Earls
Court? Nein? Mir war aber so, als hätte ich Sie dort bemerkt.
Immense Sache! Ich habe dafür alte Dampfloks originalgetreu
nachbauen lassen, auch die Schienen dazu – und alles von
Hand! Sogar stofftapezierte Sitze in den Waggons! Immense
Sache! Noch die Fahrkarten waren aus echtem Papier – und
dazu Polly Milton.«
»Wie – Polly Milton tritt wieder auf?« rief Arnott begeistert.
»Reservieren Sie mir zwei Logen für die morgige
Abendvorstellung! Was singt sie denn jetzt, die Gute?«
»Die alten Nummern, wie bisher. Nichts läßt sich damit
vergleichen. Hört euch das einmal an, liebe Freunde!« Und
Vincent hub an, mit aller Verschnörkelung zu intonieren:
»›O grausame Lichter von London,
Wär’ unseren Thränen zu traun,
Wir würden euch all’ drin ertränken,
Ihr Lichter von London Town!‹
– Und hinterher flennen sie alle!«
»Seht ihr?« sagte Pirolo mit entsprechender Handbewegung.
»Die Leute von damals wurden beim Anblick der Massen zu
Tränen gerührt! Sie wußten zwar nicht, warum – aber sie
haben geweint. Wir Heutigen wissen es, aber weinen nicht
mehr, außer, der alte und fette, geriebene Vincent zieht uns
dafür das Geld aus der Tasche!«
»Sie haben’s nötig, mich alt zu nennen!« rief Vincent
erheitert. »Ich bin ein Wohltäter der Öffentlichkeit – ich sorge
dafür, daß die Leute schön brav sind und einig.«
»Und ich bin De Forest, vom Ausschuß«, sagte De Forest
beißend, »und will einen Handel abschließen mit Ihnen. Wie
schon gesagt, ich habe da ein paar Leute kassiert, in Chicago.«
»Nichts zu machen! Chicago, das ist ja – «
»So hören Sie doch! Die sind einmalig – finden nicht
ihresgleichen!«
»Bauen die etwa Häuser aus Ziegeln in Ihrem Beisein – na?
Das wär’ ein Bezugspunkt zu früher!«
»Es ist eine unberührte, primitive Gemeinschaft mit
sämtlichen alten Ideen.«
»Mit Nähmaschinen und Tanz unterm Maibaum, mit Kochen
auf Leuchtgasrechauds, mit Streichhölzern zum
Pfeifenanzünden und mit Pferdegespannen? Das hat Gerolstein
schon letztes Jahr ausprobiert. Es war ein kompletter
Versager!«
De Forest blendete ihn wütend aus und beschrieb ihm dann in
den höchsten Tönen unsere Tätigkeit während der letzten
vierundzwanzig Stunden.
»Und sie machen’s in aller Öffentlichkeit«, sagte er
abschließend. »Nichts kann sie abhalten davon. Je öffentlicher,
desto besser. Stundenlang können sie reden – genauso wie Sie!
So, jetzt sind wieder Sie dran!«
»Sie wollen mir wirklich erzählen, die wissen noch, wie man
wählt?« fragte Vincent erstaunt. »Die können das spielen?«
»Was heißt da ›spielen‹? Sie leben es auch! Und erst ihre
Gesichter! Sowas hat man noch nicht gesehen! Jedes Gesicht
ein zerfurchter Vulkan! Neid, Haß und Bosheit, ganz offen zur
Schau getragen. Und herrlich flexible Stimmen. Und außerdem
können sie weinen!«
»Laut? Und vor Publikum?«
»Das garantiere ich Ihnen! Kein Funke Schamgefühl, nichts
von Zurückhaltung in dem gesamten Verein! Es ist die Chance
Ihres Lebens!«
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, die hätten auch ihre
Wahlrequisiten dabei – den gesamten Stimmzettelzirkus, samt
Wahlurnen und dergleichen?«
»Verdammt noch mal, nein! Ich bin doch kein
Lastentransporter. Wenden Sie sich doch direkt an Chicago, an
dessen Bürgermeister – der läßt Ihnen alles zugehen, was Sie
verlangen. Also, wie ist es?«
»Einen Moment noch: hat man in Chicago die Leute
umbringen wollen? Das würde sich großartig machen auf
unsern Kommunikatoren!«
»Ja. Wir haben sie mit genauer Not vor dem heulenden Mob
gerettet – wenn Sie wissen, was Mob bedeutet.«
»Keine Ahnung«, bekannte der Große Vincent.
»Na gut, die Leute werden es Ihnen persönlich erklären. Die
können ja stundenlang Reden halten.«
»Wieviele sind’s denn im ganzen?«
»Wenn wir erst alle herübergeflogen haben – so um die
hundert, einschließlich der Kinder. Die Alte Welt en miniature.
Können Sie sich jetzt ein Bild machen?«
»Hmm – ja. Aber wenn es ein Durchfaller wird, geht er auf
meine Spesen, bedenken Sie das, alter Freund!«
»Die können auf offener Straße die alten Kriegslieder singen,
sich an Worten besaufen und sich zusammenrotten. Sie
brechen auf echte, altmodische Weise in die Privatsphäre ein –
und den Wahlschwindel machen sie jedesmal neu, bei jeder
Frage, die man ihnen stellt.«
»Was nicht noch alles!« spottete Vincent.
»Sie ungläubiger Thomas! Ich habe ein Dutzend von ihnen an
Bord! Ich verbinde Sie jetzt direkt – probieren Sie es doch
selber!«
Er dreht den Schalter, und wir hörten zu. Sofort begannen
zumindest fünf unsrer Passagiere im untern Verdeck, sich bei
Vincent zu beschweren: man habe sie aus dem Schoß der
Familie gerissen, allen Besitzes beraubt, ihnen beim Essen
nicht einmal Fingerschalen gegeben, und sie in diesen
stinkenden Kerker geworfen!
»Aber das ist doch – « rief Arnott entgeistert. »Die lügen
euch ja das Blaue vom Himmel! Es stinkt nicht in meinem
unteren Deck, und die Fingerschalen hab’ ich mit eigenen
Augen gesehen!«
»In Kleinrußland redet mein Volk mitunter auch solches
Zeug«, sagte Dragomiroff. »Aber wir unterhandeln mit ihnen –
wir bringen niemanden um. Nein, sowas tun wir nicht – nie
und nimmer!«
»Aber es ist nicht wahr, was die sagen«, beharrte Arnott.
»Was soll man mit Leuten anfangen, die sich nicht an die
Tatsachen halten? Die sind ja nicht ganz bei Trost!«
»Schscht!« machte Pirolo, die Hand ans Ohr haltend. »Es ist
gar nicht so lange her, da hat man noch überall auf diesem
Planeten gelogen.«
Dann hörten wir Vincents einschmeichelnde Worte.
Ob die Herrschaften, fragte er, ihre Anschuldigungen auch
öffentlich vorbringen würden – vor ganz großem Publikum?
Wenn er, Vincent, ihnen Gelegenheit böte, gelobten sie hoch
und heilig, so würde dieser Planet widerhallen von all dem
Unrecht, das man ihnen angetan habe. Ihr Lebensziel sei es –
ein Mann und zwei Frauen fielen einander ins Wort –, die Welt
neu zu ordnen. Und, so komisch es klingt, es war das auch
Vincents Idealvorstellung gewesen. Er bot ihnen eine Arena
an, worin sie alles darlegen und am Beispiel des eigenen
Lebens diesen Planeten auf ein gehobnes Niveau bringen
könnten. Und er fand viele Worte zum Thema eines
moralischen Aufschwungs unsrer sinnlosen Zivilisation durch
die Vorführung einer intakten, der alten Lebensweise
verpflichteten Gruppe von Menschen!
Ob sie sich wohl, fragte er, dazu verstehen könnten,
zumindest drei Monate lang unter seinen Auspizien und an
einem Ort namens Earls Court, den er nicht ganz zu Unrecht
als eines der geistigen Zentren dieses Planeten bezeichnete –
ob sie sich wohl zur Veredelung dieser Menschheit als
Missionare betätigen wollten? Darauf bedankten sie sich und
ersuchten (wir vernahmen ganz deutlich sein hochzufriedenes,
heimliches Lachen) um etwas Bedenkzeit, um den Vorschlag
erwägen und darüber abstimmen zu können. Die Wahl erfolgte
sehr feierlich durch Abzählen der Köpfe – jeder Kopf eine
Stimme – und fiel zu Vincents Zufriedenheit aus. Sein
Angebot war akzeptiert, und man wählte danach zwei
Dankesredner – den einen nannten sie »Antragsteller«, den
andern »Antragsbefürworter«.
Danach schaltete Vincent herüber zu uns, mit vor
Dankbarkeit bebender Stimme:
»Ich hab’ sie herumgekriegt. Habt ihr diese Reden gehört?
Das ist echt, ist Natur, liebe Freunde! Sowas läßt sich nicht
künstlich erzwingen! Und das Wählen ging ihnen so leicht von
der Hand wie das Lügen! Ich habe bisher noch nie eine Truppe
geborener Lügner gehabt! Gott segne euch, Freunde! Und
vergeßt nicht: ab heute steht ihr auf der Liste für
Dauerfreikarten, wann und wo immer, ein jeder von euch! Ah
– Gerolstein wird zerplatzen vor Neid!«
»So glauben Sie, daß diese Leute mitmachen werden?« fragte
De Forest.
»Mitmachen? Unsre gesamte Kleinstadt wird den Verstand
verlieren! Ich arrangiere eine Reihe von Stücken aus den
vergangenen Zeiten, und diese Leute werden euch mit ihren
Stimmen zum Lachen und Weinen bringen! Bei Gott, liebe
Freunde, ich frag’ euch, wo sie nur all ihr Elend herhaben
mögen auf dieser besten aller Welten? Ich mach’ ein
historisches Schaustück über den Anfang der Welt, und
Mosenthal soll die Musik dazu schreiben! Ich werde – «
»Sehen Sie zu, ein Dorf aufzutreiben, noch vor heute abend!
Wir treffen einander am Westlandeturm Nr. 15«, sagte De
Forest. »Und vergessen Sie nicht, der Rest trifft schon morgen
hier ein!«
»Nur her damit«, sagte Vincent begeistert. »Sie machen sich
keinen Begriff, wie schwierig es heutzutag auch für mich ist,
etwas zu finden, das dem Publikum unter seine verwünschte,
iridiumharte Haut geht! Aber jetzt hab’ ich es doch noch
geschafft! Leben Sie wohl!«
»Na gut«, meinte De Forest, als wir genug gelacht hatten.
»Würde in London irgendein Mensch sich auf Korruptheit
verstehen, so hätte ich Vincent und Gerolstein ausgespielt
gegeneinander und meine Gefangenen zum Höchstpreis
verschachert! Wie aber die Dinge nun einmal liegen, werd’ ich
heute abend bloß als ihr Rechtsberater fungieren, beim
Abschluß ihrer Verträge. Sie werden mir ohnehin keine Ämter
aufdrängen.«
»Ab jetzt«, sagte Takahira, »ist es natürlich ein Unding,
Mitglieder von Leopold Vincents neuer Theatergesellschaft
hinter Gittern zu halten! Also Stühle her für die Damen, wenn
ich bitten darf, Arnott!«
»Da leg’ ich mich lieber schlafen«, sagte De Forest. »Ich
kann heute keine Weiber mehr sehen!« Damit verschwand er.
Sobald unsre Passagiere befreit und nochmals verköstigt
waren (die Fingerschalen kamen diesmal als erstes), bekannten
sie frei, was sie von uns und dem Kontrollausschuß hielten.
Und wir wunderten uns nicht weniger als Vincent, wie sie es
fertigbrachten, soviel Gift und Galle zu speien, soviel Unruhe
aus diesem gottgewollt guten und friedlichen Leben zu ziehen!
Sie tobten und zürnten, schlugen zornrot um sich, bis ihnen die
Nerven versagten, sie brüllten sich heiser bis zur
Stimmlosigkeit – und erneuerten dann ihre sinnlosen,
unverschämten Attacken.
»Aber begreift ihr denn nicht«, sagte Pirolo nachdrücklich zu
einer der kreischenden Frauen, »ihr wäret umgebracht worden,
wenn wir euch in Chicago gelassen hätten!«
»Nein, wären wir nicht! Es war eure Pflicht, unser Leben zu
schützen!«
»Dann hätten wir eine Unmenge anderer Leute umbringen
müssen!«
»Das spielt keine Rolle. Wir haben die Wahrheit verkündet.
Ihr könnt uns nicht aufhalten. Und in London verhalten wir uns
nicht anders – dann werdet ihr Augen machen!«
»Das könnt ihr schon jetzt – schaut mal da hinunter!« sagte
Pirolo und öffnete eine der unteren Lukenklappen.
Soeben senkten wir uns auf unsere kleine Stadt London mit
ihren drei Millionen Einwohnern, locker verteilt innerhalb
ihres Außenrings von Hauptverkehrsfeuern – jenen acht
unbeweglichen Strahlkegeln bei Chatham, Tonbridge, Redhill,
Dorking, Woking, St. Albans, Chipping Ongar und Southend.
Leopold Vincents neuengagierte Truppe spähte aus schmalen
und bleichen Gesichtern hinab in die Stille und auf die riesige
Fläche mit den vereinzelten Häusern.
Und dann fingen etliche an, laut zu weinen, unverschämt laut
– doch ohne die mindeste Scheu: ungeniert, schamlos wie
immer!
Drahtlose Botschaft
»Komische Sache, dieses Marconigeschäft, nicht?« frug Mr.
Shaynor und hustete heftig. »Angeblich macht’s keinen
Unterschied, wie es hereinkommt – ob durch Gewitter, ob über
Berge hinweg oder sonst irgendwie. Wenn das stimmt, so
werden wir’s wissen, bevor’s wieder Tag ist!«
»Natürlich stimmt es«, erwiderte ich und trat hinter das Pult.
»Wo ist denn der alte Mr. Cashell?«
»Er hat sich niedergelegt mit seiner Grippe. Hat gesagt, Sie
würden wahrscheinlich hereinschaun.«
»Und sein Neffe?«
»Ist drinnen, gleich nebenan. Hat mir erzählt, bei den letzten
Versuchen, als sie die Antenne auf dem Dach eines hiesigen
großen Hotels installiert haben, sei durch die Batterien die
gesamte Wasserversorgung unter Spannung geraten, und die
Damen hätten beim Baden Elektroschocks abgekriegt in ihren
Wannen.«
»Davon hab’ ich überhaupt nichts gehört.«
»Hätte vielleicht das Hotel es bekanntmachen sollen? Eben
jetzt sind sie dabei – soviel Mr. Cashell mir mitgeteilt hat –,
von hier aus mit Poole in Verbindung zu treten, mit noch viel
stärkeren Batterien als damals auf dem Hoteldach. Aber er ist
ja der Neffe des Hausherrn (und auch die Presse berichtet
darüber) – da spielt’s keine Rolle, wenn hier im Haus etwas
elektrisiert wird. Möchten Sie zusehn?«
»Aber gern! Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Gehen Sie
denn nicht schlafen?«
»An Samstagen schließen wir erst um zehn Uhr. Überdies
geht auch die Grippe um in der Stadt, da kommen bis morgen
noch ein Dutzend Rezepte herein. Normalerweise schlaf ich
gleich hier im Fauteuil – es ist wärmer, als jedesmal aus den
Federn zu müssen. Ganz schön kalt heute, nicht?«
»Draußen ist Frost. Tut mir leid, daß sich Ihr Husten
verschlimmert hat!«
»Vielen Dank, ‘ne Erkältung macht mir nicht allzuviel aus.
Nur dieser Wind – er geht mir durch Mark und Bein.« Ein
weiterer Hustenkrampf schüttelte ihn – und eine alte Dame trat
ein und wollte Chininlösung haben. »Chinin in Flaschen ist
ausverkauft«, sprach geschäftsmäßig Mr. Shaynor. »Aber
wenn Sie sich zwei Minuten gedulden, so mach’ ich es für Sie
fertig, gnädige Frau!«
Seit einiger Zeit war ich Stammkunde hier, und aus der
Bekanntschaft mit dem Geschäftsführer war mittlerweile etwas
wie Freundschaft geworden. Aber es war Mr. Cashell gewesen,
der mir Zweck und Einfluß der Apothekerkammer dargelegt
hatte, seinerzeit, als einem Fachkollegen bei einem meiner
Rezepte ein Fehler passiert war, den er durch faule Ausreden
kaschieren gewollt. Und als dann solches Vertuschen offenbar
wurde, hatte er allerlei Briefe geschrieben.
»Ein Schandfleck für unsern Beruf!« hatte der dürre,
sanftblickende Mann erbittert gerufen, als ich ihm den Fall
erzählte. »Sie könnten unserem Stand keinen besseren Dienst
erweisen, als sich an die Kammer zu wenden!«
Nun, das tat ich denn auch, freilich ohne zu wissen, welche
Geister ich damit wachrufen würde. Die zogen ein
Einbekenntnis nach sich, das wie durch nachtlange Folter
erzwungen wirkte und meinen Respekt vor der Kammer nicht
minder vertiefte wie meine Hochachtung vor Mr. Cashell,
diesem tüchtigen Fachmann, der seinem Beruf alle Ehre
machte. Bevor Mr. Shaynor aus dem Norden
hierhergekommen, waren die Angestellten durchaus nicht einer
Meinung mit Mr. Cashell gewesen. »Die Leute begreifen es
nicht«, so behauptete er, »daß der Arzneihersteller zu allererst
Medizinmann ist. Von ihm hängt der Ruf des behandelnden
Arztes ab. Der ist ihm buchstäblich in die Hände gegeben,
mein Lieber!«
Mr. Shaynors Art war vielleicht nicht so höflich und glatt wie
nebenan im italienischen Kaufhaus, aber er kannte und liebte
sein Apothekergeschäft bis ins kleinste Detail. Zu seiner
Entspannung schien ihm die Geschichte des Drogen- oder
Arzneiwesens voll zu genügen – dazu bedurfte es keiner
Reisen. Indes, die Entdeckung und Zubereitung der Drogen,
ihre Verpackung und ihr Export führten ihn bis ans Ende der
Welt, und in diesem Punkte, zusammen mit der
Pharmazeutischen Formelsammlung und dem verläßlichen
Buch von Nicholas Culpepper, waren wir einer Meinung. Auch
wurde mir nach und nach etliches von Mr. Shaynors Anfängen
und Aspirationen klar – seine Mutter war Lehrerin gewesen in
einer nördlichen Grafschaft, sein rothaariger Vater, ein kleiner
Fuhrwerksund Pferdeverleiher in Kirby Moors, war früh
verstorben, noch in Mr. Shaynors Kindertagen. Auch hörte ich
von seinen Prüfungen und wie sie von Mal zu Mal schwieriger
wurden, von seinem Traum, einen Laden in London zu haben,
von seinem Haß auf die Genossenschaftsläden, welche die
Preise verdarben, und schließlich – als Interessantestes – vom
Verhältnis zu seinen Kunden.
»Man kommt schon mit ihnen zurecht«, erklärte er mir, »und
zwar durch peinlich genaue Bedienung und durch
Zuvorkommenheit, ohne das eigene Denken dabei
abzuschalten. Ich habe im ganzen heurigen Herbst Christies
Neue Heilpflanzenkunde von A bis Z durchgeackert, und da
muß man sich schon gehörig hineinknien, glauben Sie mir!
Und solange es nicht um Rezepte geht, behalte ich gut und
gern eine halbe Seite im Kopf und verkaufe dabei noch
zweimal den Schaufensterinhalt – und die Rechnung stimmt
auf den Groschen genau! Und was die Verschreibungen angeht
– das klappt, im großen und ganzen, fast schon im Schlaf!«
Ich war damals aus privaten Gründen äußerst interessiert an
den in England noch neuen Marconi-Experimenten, und Mr.
Cashell, in seiner sprichwörtlichen Rücksicht, hatte mich, wie
schon erwähnt, zu sich ins Haus geladen, als dort sein Neffe,
welcher Elektriker war, eine Funkstation für den Fernempfang
installierte.
Die alte Dame mit ihrer Arznei war gegangen, und Mr.
Shaynor und ich stampften auf dem gekachelten Boden herum
im Bestreben, uns warmzuhalten. Der Laden im Licht seiner
vielen Lampen ähnelte einem Pariser Juwelengeschäft, denn
Mr. Cashell glaubte fest an das komplette Ritual seiner
Profession: drei prächtige Glaskrüge, rot, grün und blau – von
der Art, für die Rosamund sich von ihren Schuhen getrennt hat
–, funkelten in dem breiten, spiegelverglasten Schaufenster,
und die Luft im Lokal roch nach Dürrkräutern, Kodakfilmen,
Hartgummi, Zahnpulver, Mandelcreme und Parfümbeutelchen.
Mr. Shaynor schürte das Feuer im Ofen der Apotheke, und wir
lutschten Cayennepastillen und Mentholhustenbonbons.
Draußen, im beißenden Ostwind, lag die Straße wie
ausgestorben, und die wenigen Passanten waren vermummt bis
an die zusammengekniffenen Augen. Vor dem benachbarten
italienischen Laden hing an Haken buntfarbenes Federvieh und
etliches Wildbret und schlug im Winde beständig gegen den
linken Rand unseres Schaufensterrahmens.
»Die sollten das Viehzeug lieber hineinbringen bei diesem
Sturm, statt es da draußen zerbeuteln zu lassen«, meinte Mr.
Shaynor. »Das ist ja, um aus der Haut zu fahren! Sehen Sie nur
dieses Hasenvieh! Der Wind bläst ihm ja noch das Fell vom
Kadaver!«
Ich sah, wie die Bauchbehaarung des totgeschossenen Tiers
sich im Wind streifig teilte und die bläuliche Haut offenlegte.
»So eine Kälte!« rief Mr. Shaynor, und es schüttelte ihn.
»Unvorstellbar, jetzt noch ins Freie zu müssen! Oh – da
kommt ja der junge Mr. Cashell!«
Die Tür zum Nebenraum der Apotheke ging auf, und ein
energisch aussehender, spitzbärtiger Mann trat heraus, rieb
sich die Hände und sagte:
»Shaynor, ich brauche ein Stück Stanniol. – Guten Abend,
die Herren! Mein Onkel hat mir schon gesagt, daß Sie
möglicherweise hereinschauen würden.« Damit meinte er
mich, der ich schon ansetzte zu meiner ersten der hundert
Fragen, die mir auf den Lippen brannten.
»Ich habe jetzt alles beisammen und fertig«, versetzte er nur.
»Wir müssen noch warten, bis Poole sich meldet.
Entschuldigen Sie, ich muß wieder weg. Sie können ja
jederzeit zu mir hinein – aber ich darf meine Apparatur jetzt
nicht sich selbst überlassen. Das Stanniol, bitte – und vielen
Dank!«
Während unseres Gesprächs war ein Mädchen – offenbar
keine Kundin – hereingekommen, und Mr. Shaynors Miene
und Haltung änderten sich sogleich. Vertraulich beugte die
Eingetretene sich über den Ladentisch.
»Aber ich kann doch jetzt nicht«, flüsterte Mr. Shaynor
betreten. Seine Wangen liefen rot an, er zitterte wie ein
betäubter Nachtfalter. »Ich kann jetzt unmöglich weg! Bin ja
ganz allein hier.«
»Woher denn! Und wer ist das} Er soll dich auf eine halbe
Stunde vertreten! Ein erfrischender Rundgang tut dir ganz gut!
Also, John – komm schon!«
»Aber er ist ja nicht – «
»Mir doch egal! Ich will, daß du mitkommst. Nur einmal
rund um St. Agnes. Und wenn du jetzt nicht auf der Stelle – «
Er trat zu mir in das Halbdunkel hinterm Verkaufspult und
fing an, umständlich herumzureden, eine befreundete Dame…
»Aber gewiß doch«, fiel sie ihm ins Wort. Und dann, zu mir
gewendet, »Sie passen jetzt eine halbe Stunde hier auf – mir
zuliebe, das werden Sie doch?« Ihre Stimme war äußerst
sympathisch und klangvoll.
»In Ordnung, mach’ ich«, versicherte ich. »Sie aber, Mr.
Shaynor, sollten sich erst noch warm anziehn!«
»Oh, die frische Luft wird mir guttun. Wir gehn ja nur um die
Kirche herum.« Als die beiden ins Freie traten, hustete er ganz
erbärmlich. Ich kümmerte mich um das Feuer und machte
ausgiebig Gebrauch von Mr. Cashells Kohlenvorrat.
Allmählich wurde es wärmer im Laden. Sodann hielt ich
Nachschau in den zahllosen Schubladen, die mit gläsernen
Griffen die Wände säumten, kostete etliche nicht ganz geheure
Arzneien und mischte mithilfe von Cardamonkörnern,
pulverisiertem Ingwer und Chloroform, mit Alkohol verdünnt,
ein neues, verrücktes Getränk zusammen, von dem ich ein
Glasvoll dem jungen, im Hinterzimmer beschäftigten Cashell
hinüberbrachte. Er lachte hellauf, als ich ihm sagte, Mr.
Shaynor sei ausgegangen – ließ aber dabei eine dünne
Drahtspule nicht aus den Augen und hatte kein weiteres Wort
für meine Verwirrtheit inmitten all der Batterien und Drähte.
Nach und nach verstummte der Straßenverkehr, das Rauschen
der See wurde vom Strand her vernehmbar – und dann erst
erklärte er mir kurz und bündig das Funktionieren der ringsum
auf Tischen und auf dem Fußboden verteilten Apparatur.
»Für wann erwarten Sie, daß Poole sich meldet?« fragte ich,
während ich meinen Likör aus einem Meßglase nippte.
»Um Mitternacht, wenn alles klappt. Wir haben unsre
Empfangsantenne draußen am Hausdach fixiert. Ich würde
Ihnen nicht raten, heut nacht einen Wasserhahn anzufassen
oder dergleichen. Wir haben das Ganze an der Steigleitung
geerdet, und so ist alles Wasser elektrisiert.« Und dann
wiederholte er die Geschichte von der Aufregung unter den
Damen im Hotel seiner ersten Installation.
»Aber was hat es in Wahrheit damit auf sich?« fragte ich.
»Wissen Sie, Elektrizität – das ist wirklich nicht mein Gebiet!«
»Ach – wenn Sie das wüßten, wären Sie um ein gutes Stück
klüger als alle andern. Es ist, was es ist – wir sagen dazu
Elektrizität, aber der Zauber, die Manifestierung, die
Hertzschen Wellen – werden erst dadurch aktiv: wir nennen es
den Kohärer.« Er hob ein Glasröhrchen an, nicht viel dicker als
ein Thermometer, worin sich in ganz engem Abstand zwei
winzige Silberkontakte befanden und zwischen ihnen ein
Hauch metallischen Staubes. »Das ist es«, sprach er so stolz,
als hätte er dieses Wunder erfunden. »An diesem Ding wird
die Kraft offenbar, welcher Art immer sie sein mag – und wird
aktiv, über den Raum und weite Distanzen.«
In diesem Moment kam Mr. Shaynor zurück. Er war allein,
stand auf dem Fußabstreifer und hustete sich schier das Herz
aus dem Leib.
»Geschieht Ihnen ganz recht für Ihre Blödheit!« rief der
junge Cashell. Ihn ärgerte ja diese Störung genauso wie mich.
»Egal – wir haben die ganze Nacht noch vor uns, um das
Wunder zu sehen.«
Shaynor klammerte sich ans Verkaufspult und hielt das
Taschentuch gegen die Lippen gepreßt. Als er es vom Mund
nahm, sah ich zwei hellrote Flecken darauf.
»Ich – ich hab’ nur ‘nen rauhen Hals – kommt von den
Zigaretten«, erklärte er krächzend. »Vielleicht hilft mir eine
Kubebe.«
»Nehmen Sie lieber das. Ich hab’ es zusammengebraut,
während Sie weg waren.« Damit reichte ich ihm die Mixtur.
»Es macht mich doch nicht betrunken? Ich nehme sonst
nichts, außer Tee. – Bei Gott! Das tut gut und beruhigt!«
Er stellte das leere Glas ab und begann wieder zu husten.
»Brr! So eine Kälte da draußen. Nicht mal im Grab liegen
möcht’ man in so einer Nacht! Haben Sie schon einmal einen
Raucherhusten gehabt?« Verstohlen sah er sein Taschentuch
an – und steckte es weg.
»Oh ja, mitunter«, antwortete ich und überlegte im stillen,
welchen Schreck ich empfinden würde, sollte ich jemals so
rote Alarmzeichen vor meiner Nase haben. Der junge Cashell
bei seinen Batterien deutete mit einem Räuspern an, daß er
seine wissenschaftlichen Darlegungen fortsetzen wolle, doch
ich gedachte noch immer des Mädchens mit der volltönenden
Stimme und dem schöngeschnittenen Mund, auf deren Befehl
ich mich um den Laden gekümmert hatte. Und mir fiel
plötzlich auf, daß da eine Ähnlichkeit war zwischen ihr und
dem suggestiven Mundwasserplakat im Schaufenster, dessen
Lockung im roten Reflexlicht des Glaskrugs nahezu unsittlich
wirkte. Und als ich mich wandte, gewahrte ich, daß Mr.
Shaynor gleichfalls das goldgerahmte Plakat anstarrte, und
erkannte rein instinktiv, daß er in dem flammenden Ding eine
Art Heiligtum sah. »Was nehmen Sie denn gegen Ihre – gegen
den Husten?« fragte ich ihn.
»Nun – auf meiner Seite des Ladentischs hält man nicht viel
von Patentmedizinen. Wir haben da Asthmazigaretten und
Hustenpastillen. Doch wenn ich aufrichtig sein soll und Ihnen
der Weihrauchgeruch nichts ausmacht, so sind mir Blaudett’s
Kathedralpastillen am liebsten, obwohl ich nicht römisch-
katholisch bin.«
»Na, dann probieren wir sie!« Ich hatte bisher noch niemals
in einer Apotheke gekramt und machte es deshalb sehr
gründlich. Schließlich förderten wir die Pastillen ans Licht –
braune Zäpfchen aus Benzoegummi – und entzündeten sie
unter Shaynors Mundwasserplakat. Der bläuliche Rauch stieg
in dünnen Spiralen empor.
»Aller Eigenbedarf aus dem Laden«, erläuterte Mr. Shaynor
auf meine Frage, »geht natürlich auf eigene Rechnung. Na ja –
die Lagerhaltung in unserm Geschäft ist nicht viel anders als
beim Juwelier, mehr kann ich dazu nicht sagen. Immerhin hat
man das Zeug« – und er wies auf die Zäpfchenschachtel – »ja
zum Großhandelspreis.« Offenbar war die Beweihräucherung
jenes so fröhlich die Zähne bleckenden, siebenfarbigen
Mundwassermädchens ein ständiges Ritual, das er sich was
kosten ließ.
»Wann sperren wir eigentlich zu?«
»Wir lassen die ganze Nacht offen. Der Alte – Mr. Cashell –
verläßt sich lieber aufs Licht als auf Läden und
Vorlegeschlösser. Außerdem ist’s ein Geschäft. Wenn es Ihnen
nichts ausmacht, bleib’ ich ganz einfach hier sitzen, neben dem
Ofen, und schreib’ einen Brief. Ihre drahtlose Elektrizität ist
nicht mein Fall.«
Drinnen der junge Cashell machte sich räuspernd bemerkbar,
und Shaynor ließ sich in seinen Lehnsessel fallen, über den er,
gleich einer Tischdecke, einen schwarzrotgelben Überwurf
gebreitet hatte. Ich suchte zwischen all den
Patentmedizinbroschüren nach etwas zum Lesen, fand aber
nichts, und machte mich deshalb nochmals an die Zubereitung
meines Gesöffs. Vorm italienischen Laden nahm man das
Wildbret vom Haken und sperrte zu. Von der anderen
Straßenseite reflektierten die blanken Rolläden das Gaslicht in
kalten, verschwommenen Flecken, das aufgetrocknete
Straßenpflaster schien unter den Stößen des grimmigen Winds
sich mit einer Gänsehaut zu überziehen, und lange bevor er
vorbeikam, vernahmen wir schon den sich nähernden
Polizisten, der sich durch Armschlagen warmhalten wollte.
Hier drinnen lagen der Kardamon- und Chloroformgeruch im
Widerstreit mit den Düften von Seife, Parfüm und allerlei
Drogen. Die Beleuchtung am unteren Schaufensterrahmen vor
den bauchigen Rosamundkrügen warf drei monströse Streifen
aus Rot, Blau und Grün zu uns herein, deren Farben sich
kaleidoskopartig brachen an den facettierten
Schubladengriffen, den geschliffnen Parfümflacons und den
blanken Siphonflaschenverschlüssen. Das gab auf dem
weißgekachelten Boden ein prachtvolles Farbengemisch,
welches sich in den silbrigen Nickelbeschlägen des
Verkaufspultes spiegelte und die hochglanzpolierten
Mahagonipaneele marmorierte mit zahllos-porphyrnen und
malachitenen Flecken. Mr. Shaynor zog eine Lade heraus und
entnahm ihr, bevor er zu schreiben begann, einen dünnen Pack
Briefe. Von meinem Ofenplatz aus sah ich den welligen Rand
des Papiers und auch dessen protziges Monogramm an den
Ecken – ja, sogar noch den leichten Chypreduft nahm ich
wahr. Nach jeder weiteren Seite sah er verklärt auf die
Mundwasserdame im Fenster. Den Überwurf hatte er um die
Schultern gelegt und glich nun im Wechselspiele des Lichts
mehr denn je einem betäubten Nachtfalter – einem
Bärenspinner vielleicht, wie mir einfiel.
Er kuvertierte sein Schreiben, frankierte den Umschlag
mechanisch und steif – und legte ihn in die Lade zurück. Erst
jetzt wurde mir die Stille der schlafenden Großstadt bewußt –
eine Stille, die noch das gleichmäßig schwebende Brausen der
Brecher am Strand untermalte –, eine dichte, summende Stille
aus bettwarmem Leben, das nur auf Abruf zur Ruhe gelegt ist
– und unwillkürlich bewegte ich mich in dem glitzernden
Laden so lautlos, als befände ich mich in einem
Krankenzimmer. Der junge Cashell nebenan war mit seinen
Drähten beschäftigt, die elektrischen Funken knackten und
knisterten wie überdehnte Gelenke. Von oben vernahm ich ein
eiliges Öffnen und Schließen der Tür und das Husten seines zu
Bett gegangenen Onkels.
»Da«, sagte ich, als das Getränk warm genug war, »probieren
Sie’s, Mr. Shaynor!«
Er drehte sich mit einem Ruck im Sessel herum und streckte
die Hand nach dem Glas. Die Mixtur war sattrot wie Portwein,
und sie moussierte.
»Das sieht aus«, sprach er plötzlich, »wie – ich meine die
Bläschen – als würde da eine Perlenschnur glänzen – oder
vielmehr, wie die Perlenkette am Hals der jungen Dame da
drüben.« Abermals wandte er sich dem Plakat zu, auf dem
jenes Weib im taubengrauen Korsett sich vorm Zähneputzen
all ihre Perlen umgehängt hatte.
»Gar nicht so schlecht, was?« fragte ich.
»Wie sagten Sie?«
Er starrte mich an, und während ich hinsah, erstarb das
Verstehen in den weitoffnen Augen. Der Körper verlor seine
Steifheit, sackte im Lehnstuhl zusammen, das Kinn sank ihm
auf die Brust, die Hände erschlafften und hingen herab, und so
verblieb er: offenen Blicks und vollkommen reglos.
»Ich fürchte, ich hab’ Mr. Shaynor die Suppe versalzen!«
Damit reichte ich dem jungen Cashell das frischgebraute
Getränk. »Vielleicht war’s das Chloroform!«
»Ach – der ist schon in Ordnung.« Der spitzbärtige Mann sah
mitfühlend nach nebenan. »Schwindsüchtige sind rasch
hinüber, oft bei nur ganz schwacher Dosierung. Es ist die
körperliche Erschöpfung… Es wundert mich nicht, ja ich
möchte sagen, das Zeug tut ihm sogar gut – eine vortreffliche
Mischung!« Damit trank er das Glas genießerisch leer. »Ja –
wir waren gerade – bevor er hereingeschneit kam – bei diesem
kleinen Röhrchen, dem sogenannten Kohärer. Das bißchen
Staub darin, das sind Nickelfeilspäne. Und die Hertzschen
Wellen, die der Sender ausstrahlt, durch queren die Leere und
kommen herein – verstehn Sie –, und diese kleinen Partikel
verbinden sich untereinander – wir sagen, sie kohärieren –,
solange der Strom sie durchläuft. Dabei muß man wissen, es ist
Induktionsstrom. Es gibt vielerlei Induktion – «
»Ja – aber was ist Induktion?«
»Das ist laienhaft schwer auszudrücken. Aber der langen
Rede kurzer Sinn ist, daß der elektrische Strom, durch einen
Draht geleitet, einen starken Magnetismus hervorruft, so daß
bei Parallelführung eines zweiten Drahtes innerhalb solchen
Magnetfelds, wie wir es nennen – also, mit einem Wort, auch
dieser zweite Draht wird elektrisch geladen.«
»Nur so, von sich aus?«
»Von sich aus.«
»Also, wenn ich es richtig verstehe: Meilen entfernt, in
Poole, oder wo immer – «
»Noch zehn Jahre, und an jedem beliebigen Ort.«
»… haben Sie einen elektrisch geladenen Draht – «
»Geladen mit Hertzschen Wellen, welche vibrieren – sagen
wir, zweihundertdreißigmillionenmal pro Sekunde.« Mr.
Cashell beschrieb mit dem Finger eine rasche
Wellenbewegung.
»Nun gut – ein elektrisch geladener Draht strahlt also in
Poole diese Schwingungen aus. Und Ihr in die Luft
ausgefahrener Draht – auf diesem Haus da – wird auf
mysteriöse Weise gleichfalls mit diesen von Poole
ausgestrahlten Wellen geladen – «
»Sie könnten ebensowohl von anderswo kommen – zufällig
diesmal aus Poole.«
»Und diese Wellen betätigen dann den Kohärer? Wie einen
gewöhnlichen Morse-Empfänger im Telegraphenbureau?«
»Aber nein! Eben dies ist der Punkt, wo so viele sich irren!
Die Hertzschen Wellen sind viel zu schwach. Sie können einen
so großen und schweren Morse-Empfänger gar nicht in
Tätigkeit setzen, sondern bloß diesen Staub kohärieren – und
während er kohäriert (für einen Punkt nur ganz kurz, für einen
Strich etwas länger), kann der Strom aus dieser Batterie, der
Empfängerbatterie« – er legte die Hand auf das Ding – »den
Morseschreiber durchlaufen und die Punkte und Striche
ausdrucken. Ich will es noch deutlicher sagen: kennen Sie sich
mit dem Dampfbetrieb aus?«
»Nur wenig – aber fahren Sie fort!«
»Sehen Sie, der Kohärer, das ist wie ein Dampfventil. Jedes
Kind ist imstande, solch ein Ventil aufzudrehn und die
Maschinerie in Betrieb zu setzen – eine Drehung der Hand läßt
den Betriebsdampf einströmen, nicht? Nun ist aber diese
Empfängerbatterie, welche die Morsezeichen ermöglicht, so
etwas wie der Betriebsdampf. Der Kohärer fungiert als Ventil,
das man nur aufzudrehn braucht. Und somit ist die Hertzsche
Welle die Kinderhand, die es betätigt.«
»Jetzt hab ich’s begriffen – aber das grenzt ja an Wunder!«
»Ganz recht – es ist wunderbar! Und bedenken Sie noch, wir
stehen damit erst am Anfang! Zehn Jahre später, und es wird
nichts mehr geben, das wir nicht verwirklichen könnten! So
lange möcht’ ich noch leben – du lieber Gott, wie gern ich das
noch erleben möchte, auch die ganze Entwicklungsarbeit!« Er
warf einen Blick durch die Tür nach nebenan, auf den leise
atmenden Shaynor im Lehnstuhl. »Armer Kerl! Und wünscht
sich so sehr, mit Fanny Brand beisammen zu sein.«
»Fanny – wer?« fragte ich. Irgendwie kam mir der Name
bekannt vor – hatte zu tun mit einem blutfleckigen
Taschentuch und dem Begriff »arteriell«.
»Fanny Brand – das Mädchen, für die Sie auf den Laden
aufgepaßt haben!« Er lachte. »Mehr weiß ich nicht über ihre
Person und kann auch ums Leben nicht das in ihr sehen, was
Shaynor in ihr zu sehen vermeint – oder auch sie in ihm.«
»Wirklich? Sie können nicht sehen, was er an ihr findet?«
»Ach – das, was Sie meinen, schon! Ein großes und festes
Stück Weib ist sie, alles in allem! Das wird auch der Grund
sein, daß er so verrückt nach ihr ist. Aber sie paßt nicht zu ihm.
Na – das spielt sowieso keine Rolle. Mein Onkel sagt immer,
daß Shaynor das neue Jahr nicht mehr erlebt. Jedenfalls hat Ihr
Gesöff ihm zum Schlafen verholfen.« Der junge Cashell
konnte Shaynors Gesicht nicht erkennen, weil es abgewandt
war, in Richtung auf das Plakat.
Ich schürte das Feuer im Ofen, denn im Zimmer wurde es
kälter, und brannte ein weiteres Zäpfchen an. Mr. Shaynor in
seinem Lehnstuhl verharrte noch immer bewegungslos und
starrte mit weitoffnen, glanzlosen Augen durch mich hindurch
oder über mich weg wie ein totgeschossener Hase.
»In Poole haben sie Verspätung«, sagte der junge Cashell, als
ich zurückkam. »Ich werd’ sie jetzt rufen.«
Er drückte im Halbdunkel auf eine Taste, und unter
prasselndem Knistern entstand eine Funkenbrücke zwischen
zwei Draht-Enden – wahre Garben von Funken!
»Großartig, nicht? Das ist die Kraft – unsre nicht näher
bekannte Kraft, die nur darauf aus ist, losgelassen zu werden«,
sagte der junge Cashell. »Da geht sie hin – zack-zack-zack –,
hinaus in den Raum! Ich komm’ über diese Unbegreiflichkeit
nie hinweg, so oft ich auf Senden schalte – daß da Wellen
hinausstrahlen in die Leere! ›T. R.‹ – das ist unser Rufzeichen.
Die Antwort von Poole müßte ›L. L. L.‹ sein.«
Wir warteten ab – zwei, drei, fünf Minuten. In der Stille, zu
der auch das ferne Brausen der See gehörte, vernahm ich vom
Dach her das Scharren der Antennenverspannung im Wind.
»Poole ist noch nicht auf Empfang. Ich bleib’ dran und rufe
Sie, wenn es soweit ist.«
Ich begab mich wieder in den Laden hinüber und stellte mein
Glas unbedacht laut auf eine der Marmorplatten. Das Geräusch
riß Shaynor aus seinem Schlummer – er sprang auf und starrte
von neuem auf das Plakat, wo die junge Dame im Rotlicht des
Glaskrugs ihre Perlen so einfältig grinsend zur Schau trug.
Unaufhörlich bewegten sich seine Lippen. Ich trat näher, um
besser zu hören:∗ »And threw – and threw – and threw«,
wiederholte er, und sein Gesicht war gespannt wie in
unaussprechlicher Pein.
Erstaunt trat ich noch etwas näher hinzu – und erst jetzt fand
er Worte und äußerte sie klar und deutlich:
And threw warm gules on Madeleine’s young breast
(Und warf ein warmes Rot auf Madeleines junge Brüste.)
Die Verstörtheit wich von seiner Miene, er trat leise an seinen
vorigen Platz und rieb sich die Hände.
Mir war noch nie aufgefallen, obwohl wir schon öfter zum
Zeitvertreib über Lektüre und literarische Vergleiche diskutiert
hatten, daß Mr. Shaynor jemals Keats gelesen haben oder gar
∗ Die von Keats inspirierten oder auch originalen Zitate sind auf deutsch nicht immer nachvollziehbar und im folgenden nur interlinear übersetzt. Anm. d. Ü.
imstande sein könnte, ihn so präzis zu zitieren. Nun war da
freilich jener Kirchenfenster-Effekt auf dem üppigen Busen
des Hochglanzplakats, der bei einiger Phantasie jene
Gedichtzeile in Mr. Shaynor ausgelöst haben mochte – wie
etwa ein schäbiger Farbdruck sein unvergleichbares Vorbild in
uns heraufrufen kann. Die Nacht, mein Gebräu und die
Verlassenheit hier im Laden bewirkten jetzt ganz offenbar, daß
Mr. Shaynor zum Dichter wurde! Er setzte sich wieder hin und
begann eilig zu schreiben auf seinem verschmierten Notizblatt.
Die Lippen zitterten ihm noch immer. Leise schloß ich die Tür
nach nebenan und trat knapp hinter ihn. Er schien das gar nicht
zu merken – nahm seine Umgebung nicht wahr. Ich blickte
ihm über die Schulter und entzifferte zwischen halb
hingeworfenen Wörtern, zwischen Satzanfängen und
unleserlichem Gekritzel: –
– Very cold it was. Very cold
The bare – the hare – the hare –
The birds –
(Es war sehr kalt. Sehr kalt / Dem Hasen – Hasen – Hasen –
/ Den Vögeln – )
Dann hob er plötzlich den Kopf, sah stirnrunzelnd auf die
leeren Läden der Geflügelhandlung, dort, wo sie den Rand
unsres Schaufensters überragten. Und dann folgte die deutlich
lesbare Zeile: –
The hare, in spite of fur, was very cold.
(Dem Hasen war, trotz seinem Fell, sehr kalt.)
Jetzt wandte der Kopf sich mechanisch wieder nach rechts, zu
dem Plakat, vor welchem Blaudetts Kathedralpastillen noch
immer zum Himmel stanken. Irgendwas vor sich
hinbrummend, schrieb er weiter: –
Incense in a censer –
Before her darling picture framed in gold –
Maiden’s picture – angel’s portrait –
(Weihrauch aus einem Faß – / vor ihrem süßen Bildnis,
goldgerahmt – / Jungfräulich – engelhaft – )
»Schscht!« ließ sich Cashell behutsam von drüben vernehmen,
als wären dort Geister zugegen. »Da kommt etwas durch, von
irgendwoher – aber Poole ist es nicht!« Ich hörte das
Funkengeknister, als er auf Senden umschaltete. Auch im Kopf
begann’s mir zu knistern – doch waren es wohl nur die Haare
darauf. Und gleich danach hörte ich mich heiser flüstern: »Mr.
Cashell – auch hier herüben kommt etwas durch – bleiben Sie
drüben, bis ich Sie rufe!«
»Aber ich habe geglaubt, Sie wollten sich dieses Wunderding
ansehen – Sir!« Das ›Sir‹ hatte recht indigniert geklungen.
»Lassen Sie mich, und bleiben Sie drüben, bis ich Sie rufe!
Und seien Sie still!«
Ich beobachtete angestrengt – wartete ab. Unter der
blaugeäderten Hand- der dürren Hand eines Schwindsüchtigen
– kam jetzt deutlich und ohne Streichung zum Vorschein: –
And my weak spirit fails
To think how the dead must freeze –
und mit zitternder Hand schrieb er weiter –
Beneath the churchyard mould.
(Und mein matter Geist nicht fähig / Auszudenken, wie’s
die Toten frieren muß – / Unter des Kirchhofs Erde)
Damit hielt er inne, legte die Feder zur Seite und lehnte sich
wieder zurück.
Für einen Augenblick – der für mich eine halbe Ewigkeit war
– drehte sich der Verkaufsraum vor meinem Blick wie ein
irisierender Wirbel, durch welchen ich leidenschaftslos meiner
eigenen Seele zusah, wie sie sich wehrte gegen übermächtige
Angst. Dann stieg mir der Zigarettengeruch aus Mr. Shaynors
Anzug in die Nase, und ich vernahm seinen rasselnden Atem –
mir war er wie Trompetengeschmetter! Ich verharrte noch
immer auf meinem Beobachtungsposten wie auf dem
Schießstand vorm nächsten Schuß auf die Scheibe, halb
vorgebeugt, die Hände gegen die Knie, die Augen ganz nahe
am schwarzrotundgelben Überwurf um seine Schultern.
Aufmunternd raunte ich vor mich hin – offenbar zu meinem
anderen Ich –, in getragenen Sätzen, wie sie nur im Traume
gesprochen werden.
»Hat er Keats wirklich gelesen – so beweist das noch nichts.
Und wenn nicht – gleiche Ursachen müssen zu gleichen
Wirkungen führen! Das ist unumstößlich. Sei du lieber froh,
daß du ›St. Agnes Eve‹ auswendig kannst, auch ohne das Buch!
Und weil im gegebenen Fall Fanny Brand, welche die
Schlüsselfigur dieses Rätsels zu sein scheint, im großen und
ganzen für Fanny Brawne stehen könnte; ferner im Hinblick
auf das hellrote, arterielle Blut auf dem Taschentuch, über das
du dir eben vorhin Gedanken gemacht hast im Laden; und auch
noch miteingerechnet den Effekt der professionellen
Umgebung, ihrer beinah perfekten Duplizität∗ – so ist das
Ergebnis nur logisch und unausweichlich. Ebenso
unausweichlich wie Induktion.«
Doch meine andere Seelenhälfte wollte sich noch nicht
zufriedengeben: sie hatte sich in einen winzigen,
unangemessenen Winkel zurückgezogen – in immenser
Entfernung.
Indes, alsbald war ich wieder bei mir. Meine Hände
umklammerten immer noch meine Knie, und meine Augen
hefteten sich auf das Blatt vor Mr. Shaynor. Wie Träumende
das Zerbersten des Erdreichs und das Auferstehen der Toten
hinnehmen und es sich erklären mit dem Tagrest aus
Abendgebet oder Einmaleinshersagen, so akzeptierte auch ich
alle Fakten, derer ich ansichtig werden sollte, wie immer sie
sich darstellen mochten – ja, hatte auch schon eine faßbare,
glaubhafte Theorie, mit der sich das alles begründen ließ. Ich
∗ Auch John Keats (1795-1821) war Drogist und starb an der Schwindsucht.
Anm. d. U.
war jenen Fakten sogar schon voraus und eilte vor ihnen her,
mit solcher Sicherheit nahm ich an, daß meine Theorie auf sie
passen werde. Was ich heute noch von ihr weiß, sind die
hochtrabenden Worte: ›Hat er Keats wirklich gelesen, so ist es
das Chloroform; wenn aber nicht, so ist es der nämliche
Krankheitserreger, die Hertzsche Frequenz der Tuberkulose,
plus Fanny Brand und dem Status des gleichen Berufes, was
im Verein mit dem unterbewußten Denken, wie es der Welt ja
bekannt ist, hier einen temporär induzierten Keats herauf
geschwemmt hat!‹
Jetzt machte Shaynor sich wieder ans Werk, strich aus und
schrieb weiter – alles so rasch wie bisher. Zwei, drei
unbeschriebene Blätter schob er zur Seite. Dann schrieb er
wieder – und sprach dabei leise mit: –
The little smoke of a candle that goes out.
(Der dünne Rauch einer Kerze, die erlischt.)
»Nein«, brummte er. »Little smoke – little smoke – little smoke.
Und weiter?« Er schob das Kinn vor, in Richtung des Plakats,
wo jetzt die letzte von Blaudett’s Kathedralpastillen
verrauchte. »Aha!« Und dann, merklich erleichtert: –
The little smoke that dies in moonlight cold.
(Der dünne Rauch, der stirbt im kalten Mondlicht.)
Es lag auf der Hand – er war fixiert durch die
vorangegangenen Reime, denn er schrieb »gold – cold –
mould« wieder und wieder hin – zu vielen Malen. Neuerlich
blickte er nach dem Plakat, auf der Suche nach Inspiration –
und schrieb unverweilt, ohne Streichung, die Zeile auf, die er
als erste gesprochen: –
And threw warm gules on Madeleine’s young breast.
Wie ich mich des Originals entsann, stand dort »fair« (schön)
– ein abgedroschener Ausdruck – und nicht
»young«, und so nickte ich beifällig, ohne es recht zu wollen
und wiewohl ich wußte, daß sein Versuch, die originale Zeile
»its little smoke in pallid moonlight died« (Ihr dünner Rauch
erstarb im fahlen Mondlicht) zu reproduzieren,
danebengegangen war.
Es folgten ohne Unterbrechung zehn oder fünfzehn Zeilen
nüchterner Prosa – ein Bekenntnis der nackten Seele, wie sie
sich körperlich nach der Geliebten sehne – unkeusch im Sinne
von dem, was wir Unkeuschheit nennen, auch unerquicklich,
aber überaus menschlich. Es war dies, so schien mir in jener
Umgebung und um jene Stunde, der Rohstoff, aus dem Keats
die sechs-, die sieben- und achtundzwanzigste Strophe seines
Gedichtes geformt hat. Ich empfand keine Scham, bei solcher
Enthüllung zugegen zu sein, und auch meine Angst war mit
dem Rauch der Pastille dahin.
»Das ist es«, murmelte ich. »Das ist der Entwurf! Mach
weiter – und setz es um, Mann – so setz es schon um!«
Neuerlich fing Mr. Shaynor mit Versifizierungen an, in denen
»loveliness« sich auf »her empty dress« (Anmutsfülle – leeren
Kleides Hülle) reimte. Er nahm eine Falte der weichen,
gemusterten Decke, legte sie über die Hand, strich liebkosend
darüber hin, dachte nach, murmelte irgendwas, brachte
Wortfetzen zu Papier, die ich nicht entziffern konnte, schloß
schläfrig die Augen – und ließ das Zeug kopfschüttelnd fallen.
Ich aber war ratlos, weil ich damals (anders als heute) noch
nicht begriff, wie sehr diese rot, schwarz und gelb gemusterte
Decke seinen Träumen Farbe verlieh.
Ein paar Minuten danach schob er die Feder beiseite, stützte
das Kinn in die Hand und besah nachdenklich und wachen
Blicks seinen Laden. Er ließ den Überwurf fallen, erhob sich,
trat zu den Schubladenreihen und las laut die Bezeichnungen
auf deren Schildchen. Auf seinem Rückweg nahm er Christies
Neue Heilpflanzenkunde sowie den alten Culpepper, den ich
ihm geschenkt hatte, vom Pult, schlug beide auf, legte die
Bücher nebeneinander und las wie ein Buchhalter,
leidenschaftslos, zunächst in dem einen, dann in dem anderen
Band, die Feder hinter dem Ohr.
»Welches himmlische Wunder mag denn jetzt kommen?«
fragte ich mich.
»Manna – Manna – Manna«, sprach er zuletzt und zog die
Brauen zusammen. »Das ist’s, was ich wollte! Gut! Also los!
Gut, gut! Mein Gott, ist das gut!« Und mit erhobener Stimme
sprach er fehlerlos vor sich hin, ohne zu zögern:
Candied apple, quince and plum and gourd,
And jellies smoother than the creamy curd,
And lucent syrups tinct with cinnamon,
Manna and dates in Argosy transferred
From Fez; and spiced dainties, every one
From silken Samarcand to cedared Lebanon.
(Kandierter Apfel, Quitte, Pflaum’ und Kürbis, / Gelees
auch, weicher noch als dicker Rahm, / Und klarer Sirup,
cinnamongefärbt, / Manna und Datteln, übers Meer
gebracht / Aus Fes; würzige Leckereien, jede von / Schön-
Samarkand bis Zedern-Libanon).
Er sprach es zum zweitenmal, ersetzte aber das »smoother« der
zweiten Zeile durch »blander« (milder), schrieb es in einem
Zug und ohne Streichungen nieder, wobei er diesmal (meinem
gespannten Blick entging keine Silbe), seinen scheußlichen
zweiten Einfall durch »soother« (linder) ersetzte, so daß unter
seiner Hand nun alles hervorkam, wie es gedruckt steht im
Buch – ganz so wie im Buch!
Ein heulender Windstoß fuhr die Straße entlang, gefolgt vom
Prasseln eines Regengusses.
Nachdem Mr. Shaynor eine Weile still vor sich hingelächelt –
mit gutem Recht, wie mir schien –, begann er aufs neue zu
schreiben, wobei er das jeweils letzte Blatt über die Schulter
warf: –
The sharp rain falling on the window-pane,
Rattling sleet – the wind-blown sleet.
(Der scharfe Regen an den Fensterscheiben,
Das Hagelprasseln – windgepeitschter Hagel.)
Danach wieder Prosa: »Es ist sehr kalt am Morgen, wenn der
Wind Regen und Hagel mit sich bringt. Ich hörte draußen den
Hagel an der Fensterscheibe und habe an dich gedacht, du
meine Geliebte. Ich denke ja unablässig an dich. Ich wünsch’
mir, wir könnten weglaufen wie zwei Verliebte, hinaus in den
Sturm, und jenes Häuschen über der Küste bewohnen, an das
wir schon immer gedacht haben, du meine einzig Geliebte.
Dort könnten wir sitzen und durch unsre Fenster aufs Meer
hinabsehen. Ein Märchenland wär’ das, nur uns zu eigen – ein
Märchen am Meer – ein Märchen am Meer…«
Er hielt inne – hob lauschend den Kopf. Das gleichmäßig
schwebende Tosen des Ärmelkanals längs der Küste, das uns
so lange Gesellschaft geleistet, war plötzlich umgeschlagen –
war lauter und höher geworden zufolge der stärkeren Brandung
beim Wechsel der Ebbe zur Flut. Als hätte da eine Armee
plötzlich den Schritt gewechselt, so neu klang nun das
Pulsieren der See und füllte unser Gehör, bis wir uns daran
gewöhnt hatten und es nicht länger wahrnahmen.
A fairyland for you and me
Across the foam – beyond…
A magic foam, a perilous sea.
(Ein Märchenland für dich und mich / Hinter der See – dort
drüben…/ Ein Zaubermeer, der Fährnis voll.)
Abermals knurrte er vor sich hin, dachte angestrengt nach und
nagte an der Unterlippe. Die Kehle wurde mir trocken, doch
wagte ich keinen Schluck, sie zu befeuchten, denn ich wollte
den Zauber nicht brechen, der ihn näher und näher an jene
Flutmarke führte, die nur zwei Adamssöhne jemals erreicht
haben. Bedenken wir doch, daß unter all den Millionen Zeilen,
die jemals geschrieben wurden, es nur fünfe gibt – fünf ganz
kurze Zeilen – von denen man sagen kann: »Sie sind die pure
Magie. Sie sind die reine Vision. Alles andre ist bloß Poesie.«
Und Mr. Shaynor war zweien davon schon auf der Spur!
Ich schwor mir, daß keinerlei unbewußter Gedanke von mir
Einfluß ausüben solle auf diese so blindlings agierende Seele,
und hielt mich verzweifelt an die restlichen drei, die ich
unausgesetzt wiederholte:
A savage spot as holy and enchanted
As e’er beneath a waning moon was haunted
By woman wailing for her demon lover.
(Ein finstrer Ort – so weihevoll und zaubrisch / Wie je nur
einer unterm Schwindmond heimgesucht ward / von
Weiberklag’ um den Gespensterbuhlen.)
Doch obwohl ich mein Hirn dadurch abgelenkt glaubte, hing
ich mit all meinen Sinnen an den Schriftzügen dieser
verdorrten, knochigen Hand, deren Finger braunfleckig waren
von Chemikalien und Zigaretten.
Our windows fronting on the dangerous foam,
(Unsre Fenster, hinaus aufs gefahrvolle Meer,)
(das schrieb er nach langen, unschlüssigen Versuchen), und
dann –
Our open casements facing desolate seas Forlorn –
forlorn –
(Unsre offnen Fenster vor trostloser See / Verlassen –
hoffnungsleer –)
Aufs neue wurde sein Ausdruck bekümmert und bänglich vor
Unvermögen, wie schon zuvor, als jene Macht ihn erstmals
überkommen hatte. Diesmal jedoch war die Seelenqual
zehnmal so stark. Wie im Thermometer die Quecksilbersäule,
stieg sie zusehends an – machte ihm das Gesicht von innen
erstrahlen, bis ich schon glaubte, die sichtbar gepeinigte Seele
nackt aus ihm fahren zu sehn in unerträglicher Qual. Ein
Schweißtropfen sickerte mir von der Stirn längs der Nase
herab und benetzte mir den Handrücken.
Our windows facing on the desolate seas
And pearly foam of magic fairyland –
(Die Fenster vor der trostlos öden See / Und Perlengischt
aus Zaubermärchenland – )
»Noch nicht – noch nicht«, murmelte er. »Nur einen Moment
noch. Bitte, nur einen Moment, und ich hab’ es – «
Our magic windows fronting on the sea,
The dangerous foam of desolate seas…
For aye.
(Die Zauberfenster blicken auf das Meer, / Das wüste
Schäumen hoffnungsloser Wogen… / Auf ewiglich.)
Es schüttelte ihn am ganzen Körper – vom Innersten her. Dann
hob er die Arme, sprang auf und stieß dabei den Lehnstuhl
über die glatten Fliesen zurück, so daß er gegen die
Schubladen schlug und polternd umstürzte. Ganz automatisch
bückte ich mich, um ihn wieder aufzustellen.
Als ich mich aufrichtete, gähnte Mr. Shaynor und streckte
sich voll Behagen.
»Ich bin wohl ein wenig eingenickt«, sagte er. »Wie konnte
ich nur diesen Stuhl umwerfen? Was ist denn – Sie sehen ja
aus, als ob – «
»Ihr Sessel hat mich erschreckt«, sagte ich. »Es kam so
unerwartet in dieser Stille.«
Der junge Cashell hinter geschlossener Tür bewahrte
beleidigte Ruhe.
»Ich muß wohl geträumt haben«, vermutete Mr. Shaynor.
»Wahrscheinlich«, bestätigte ich. »Weil Sie sagen, ›geträumt‹
– ich – ich habe Sie schreiben sehen – eben vorhin – «
Betreten errötete er.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie jemals etwas von der Hand
eines gewissen Keats gelesen haben?«
»Ach – ich hab’ nicht viel Zeit, um Gedichte zu lesen – kann
auch nicht sagen, daß ich mit dem Namen etwas verbinde. Ein
populärer Schriftsteller?«
»So halbwegs. Ich dachte, Sie müßten ihn kennen, weil er ja
der einzige Dichter ist, der auch Drogist war. Er ist eher das,
was man einen Poeten für Liebende nennt.«
»Tatsächlich? Den muß ich mir anschaun. Und worüber hat
er geschrieben?«
»Über sehr vieles. Hier wäre ein Musterbeispiel, das auch Sie
interessieren wird.«
Und ich rezitierte vom Fleck weg die Verse, die er kaum
zehn Minuten zuvor zweimal gesprochen und dann sofort zu
Papier gebracht hatte.
»Aha! Aus der Zeile mit der Tinktur und dem Sirup erkennt
jedermann, daß ihr Verfasser Drogist gewesen sein muß. Ein
sehr schöner Tribut, der da unserm Beruf gezollt ist.«
»Ich weiß ja nicht«, sagte der junge Cashell in eisiger
Höflichkeit durch die spaltbreit geöffnete Tür, »ob Sie an
unsern banalen Experimenten noch interessiert sind. Sollte dies
aber der Fall sein – «
Ich zog ihn beiseite und raunte ihm zu: »Shaynor schien in
eine Art Bewußtseinsstörung zu fallen, als ich vorhin gesagt
habe, Sie sollen still sein. Ich wollte Sie, auch auf die Gefahr
hin, unhöflich zu wirken, nicht von den Apparaten wegholen,
wo doch der Ruf hereinkommen soll – ist das klar?«
»Bewilligt – fraglos bewilligt«, sprach er verbindlich. »Ich
fand es nur komisch im ersten Moment. Also deshalb hat er
den Stuhl umgeworfen?«
»Ich habe doch hoffentlich nichts versäumt?«
»Da muß ich Sie leider enttäuschen – aber noch ist es Zeit für
das Ende eines recht kuriosen Verkehrs. Mr. Shaynor, auch Sie
können kommen! Hören Sie zu – ich lese ab.«
Der Morseempfänger tickte wahnsinnig rasch. Mr. Cashell
übersetzte die Zeichen: »›K.K.V. Signale unverständlich.‹«
Pause. »›M.M.V. – M.M.V. – Signale unverständlich. Gehen
vor Anker Sandown Bay. Überprüfen Apparatur morgen.‹
Wissen Sie, was das heißt? Zwei Panzerkreuzer vor der Isle of
Wight suchen Verbindung mit Marconisignalen. Keiner kann
sich verständlich machen, aber unser Empfänger nimmt ihre
Funksprüche auf! Die ganze Zeit geht das schon so. Ich wollte,
Ihr hättet es mithören können!«
»Es grenzt an ein Wunder!« erwiderte ich. »Sie meinen also,
wir hören hier mit, wie die Schiffe vor Portsmouth miteinander
zu sprechen versuchen – und wir hören sie ab, über das halbe
südliche England hinweg?«
»So ist es. Die Sender sind ja intakt, nur die Empfänger sind
nicht abgestimmt, übermitteln nur dann und wann einen Punkt
oder Strich. Funksalat eben.«
»Und wie kommt es zu sowas?«
»Das weiß nur Gott – und morgen vielleicht auch die
Wissenschaft. Möglicherweise klappt’s nicht mit der
Induktion. Vielleicht arbeiten die Empfänger nicht auf der
genauen Sendefrequenz. Nur ein Wort dann und wann – eben
genug, um verrückt zu werden darüber.«
Abermals fing es zu ticken an.
»Da beklagt sich der eine schon wieder. Horch: ›entmutigend
– hoffnungslos‹. Klingt wirklich bemitleidenswert. Wart ihr
jemals zugegen bei einer Seance – einem spiritistischen Zirkel?
Es erinnert daran – ab und zu. Nur Andeutungen, lose Enden
von irgendwoher – aus dem Nichts. Gelegentlich mal ein Wort
– und alles nur für die Katz.«
»Diese Medien sind samt und sonders Betrüger und
Schwindler«, meldete sich Mr. Shaynor zu Wort. Er stand in
der Tür und zündete sich eine Asthmazigarette an. »Sie
machen es nur aus Geldgier. Ich hab’ es erlebt.«
»Da ist Poole – also doch! Und glasklar! ›L.L.L.‹ Jetzt geht’s
endlich los!« Mr. Cashell betätigte freudestrahlend die
Schaltknöpfe. »Irgendwas, das Sie durchgeben möchten?«
»Nein – lieber nicht«, sagte ich. »Ich geh’ jetzt nach Hause,
zu Bett. Bin etwas müde.«
Zu dieser Ausgabe
insel taschenbuch 1368 Rudyard Kipling, Mit der Nachtpost
Mit der Nachtpost. S. 9. Originaltitel: With the Night Mail. Erstveröffentlichung in: Mc Clure’s Magazine, New York, November 1905. Mit der Leichtigkeit des A.B.C. S. 50. Originaltitel: As Easy as A.B.C. (1912). Erstveröffentlichung in: Family Magazine (Sunday Newspaper Supplement), London, 25. Februar und 12. März 1912. Drahtlose Botschaft. S. 100. Originaltitel: Wireless. Erstveröffentlichung in: Scribner’s Magazine, London, August 1902. Friedrich Polakovics hat diese drei Erzählungen für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Umschlagabbildung: Illustration von Hans und Botho von Römer: Zweimotoriger „Albatros“-Doppeldecker L 73 (1926). Aus: Wolfgang Lochner, Als die Luftfahrt noch ein Abenteuer war. Bild: Hans und Botho von Römer. Bruckmann Verlag, München o. J. Foto: Deutsches Museum München.