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Adrian Plass Warum ich Jesus folge Das Glaubensbekenntnis des frommen Chaoten Aus dem Englischen von Christian Rendel

Nachfolge (ist nichts) für Feiglinge - 9783865066817

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Adrian Plass bringt auf den Punkt, warum er Christ ist und Jesus nachfolgen will. In dieser einmaligen Sonderausgabe sind drei seiner Bücher versammelt, die all das zum Ausdruck bringen, was ihm dabei wichtig ist. Verblüffende Bekenntnisse, mit Humor, Selbstironie, intimer Menschenkenntnis und sensibler Selbsteinschätzung gewürzt. Glauben, Fragen, Lachen - und neue Perspektiven entwickeln. Adrian Plass für Zweifler und andere gute Christen.

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Adrian PlassWarum ich Jesus folge

Das Glaubensbekenntnis des frommen Chaoten

Aus dem Englischenvon Christian Rendel

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4. Auflage 2006© Copyright der deutschsprachigen Ausgabe by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, MoersOriginaltitel: Why I follow Jesus© 2000 by Adrian PlassFirst published in Great Britain in 2000 by HarperCollinsReligiousSatz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

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Zu meinem Job gehört es, dass ich viele Menschen treffe

und ihnen zuhöre. Manchmal bin ich überwältigt davon,

wie viele Leute es gibt, die unablässig mit tiefen Verletzun-

gen und chronischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

Als einmal diese dunkle Wolke des Schmerzes weniger Licht

als je zuvor durchzulassen schien, schrieb ich das folgende

Gedicht. Stammte es aus einer anderen Zeit und Weltge-

gend und wäre es besser geschrieben, so hätte man es viel-

leicht einen Psalm nennen können.

Winteranbruch wie ein fahler Mond am Himmel,schert sich keinen Deut um das Geschick der Menschen,sieh, wie die Krähen, schwarzen Müllsackfetzen gleichhernieder schweben, um zu rauben, was sie finden,und es gibt nichts zu sprechen.Im Schlaf des Winters, da hörst du die traurigsten

Schreie,die kreisenden, kreischenden Möwenseelenvon Frau’n und Männern, die man vorzutreten lehrtebis an den Rand,doch als sie stürzten, merkten sie,dass sie nicht fliegen konnten.Es treibt dich in den Wahnsinn, sag ich dir,treibt dich hinaus zu langen Märschen am herzlosen

Meer,du weinst und wütest und beschwörst den Einzigen, der

es wahrhaftig weiß:Nun sag mir, sag mir, sag mir, sag warumso viele Herzen brechen.

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Dieses Buch ist jener besonderen Gruppe von Menschen ge-

widmet, die Gott, der Vater, so leidenschaftlich liebt – de-

nen, die ein gebrochenes Herz haben.

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Warum ich Jesus folge

Warum folge ich Jesus?

Es mag töricht sein, diese Frage zu stellen, denn ich habe

vor, sie auf diesen Seiten wahrheitsgemäß zu beantworten,

und wenngleich es zweifellos stimmt, dass die Wahrheit uns

frei machen kann, kann sie uns auch in ziemliche Schwierig-

keiten bringen. Wohlgemerkt, wenn ich wollte, könnte ich

diesen Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, indem ich eine

Antwort gebe, die völlig zufriedenstellend wäre für Leute,

die jene Risse, durch die das Leben für viele von uns ge-

wöhnlichen Gläubigen zu einem verschlungenen Irrgarten

wird, lieber zubetonieren möchten. Hier ist sie: Christus ist

für uns gestorben und auferstanden, und dieser Akt der Er-

lösung rettet uns vor der ewigen Trennung von Gott, wenn

wir unsere Sünden aufrichtig bereuen, uns taufen lassen und

an ihn glauben.

So, das wär’s. Ende des Buches. Das ist rein technisch

gesehen die Wahrheit des Evangeliums, eine Wahrheit, die

ich vor mehr als dreißig Jahren akzeptiert und befolgt habe,

und ich glaube daran – meistens. Was für eine bessere Moti-

vation könnte es geben? Natürlich keine, und doch verkör-

pert diese kahle Aussage allein noch nicht das Herz meiner

Motivation, Jesus zu folgen.

Sollte man nicht meinen, dass ich nach all diesen Jahren

die Quellen meines Glaubens erfolgreich identifiziert haben

könnte? Schließlich ist es eine ziemlich lange Zeit. Ich habe

mir mühsam mit dem Taschenrechner ausgerechnet, dass

ich wahrscheinlich an ungefähr 1.620 Gottesdiensten

zuzüglich einer ebenso großen Zahl Treffen während der

Woche teilgenommen habe. Das bedeutet, dass ich bei

3.250 verschiedenen Gelegenheiten mit der Bibel, dem

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Evangelium und meinen Mitchristen in Berührung gekom-

men bin – mindestens! Nicht gerechnet die Male, wo ich

zufällig im Fernsehen darauf gestoßen bin. Beängstigend,

nicht wahr? Da müsste mir doch mittlerweile alles klar

sein? Ich fürchte nein. Es dauert sehr lange, zu lernen, dass

man nichts weiß – oder zumindest sehr wenig.

Warum folge ich immer noch Jesus? Ich habe in der Wir-

re meiner Gefühle und Gedanken nachgegraben, um einen

ganzen Haufen Antworten für Sie zu Tage zu fördern, und

die erste, auf die ich zu sprechen kommen werde, ist, für

mich zumindest, eine der wichtigsten.

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1Ich folge Jesus,weil ...

.. . ich für immer mit mei-nen Freunden zusammen sein möchte

Ist ja gut und schön, aber es beantwortet nicht die nahelie-

gendste Frage, nicht wahr? Wer sind meine Freunde? Nun,

wenn ich mir diese Frage stelle, denke ich natürlich sofort

an meine Frau Bridget und an meine Familie sowie an jene

engen Freunde, die mich lieben und die ich liebe. Natürlich

möchte ich mit all den Leuten zusammen sein, die in mei-

nem Leben so wichtig sind, aber darüber hinaus gibt es

noch allerhand klarzulegen.

Wie wichtig dieser ganze Bereich Jesus ist, können Sie

sehen, wenn Sie die letzten Kapitel des Johannesevangeli-

ums lesen. Jesus hört sich fast wie eine Mutter an, die ihrer

Familie einzuhämmern versucht, dass irgendjemand die

Verantwortung dafür übernehmen muss, den Kanarienvogel

zu füttern, während sie weg ist, sonst wird er eingehen,

denn normalerweise ist sie es, die sich regelmäßig darum

kümmert. Immer wieder und wieder beschwört er die Jün-

ger, einander zu lieben. Wir sind seine Freunde, wenn wir

seine Gebote befolgen, und sein Gebot ist, dass wir einan-

der lieben. Und diese Liebe sollen wir, wie er sagt, nicht nur

denen entgegen bringen, die uns nahe stehen und zu unse-

rem kleinen Winkel des Reiches Gottes gehören, sondern zu

allen Christen in aller Welt.

Sein Beispiel steht uns vor Augen – der allmächtige Gott,

der bereitwillig Jesus sandte, damit er sich um unsere offe-

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nen Schnürsenkel kümmert. Zufällig verstehen Bridget und

ich einiges von offenen Schnürsenkeln. Die Gemeinde Jesu

erinnert uns oft an die Wanderungen, die wir mit Heimkin-

dern unternahmen, als wir noch als Sozialarbeiter in einem

Heim lebten.

Vorneweg ging bei diesen denkwürdigen Wanderungen

unser Kollege Mike, ein Sportler mit mächtigen Schenkeln,

ohne jede Phantasie und mit richtiger Wanderausrüstung,

begleitet von seinem eifrigen Fanclub von Kindern, die alle

aussahen wie ein Werbespot für ein gesundes Frühstücks-

müsli.

Dann, im Mittelfeld, kam ich mit den intelligenten, aber

problembeladenen, leistungsverweigernden Brillenträgern

unter meinen Fittichen. Wir spekulierten stets spöttisch

über die poetische, philosophische und künstlerische Be-

deutung des Wanderns.

Und ganz hinten sah man Bridget, die den Dicken und

Langsamen zur Seite stand, und denen, deren Schuhe nie-

mals zu blieben, denen die Füße weh taten und die nicht da-

ran glaubten, es je schaffen zu können, und denen, die nur

mitgekommen waren, weil sie sich vor etwas anderem drü-

cken wollten, und sich nun wünschten, sie hätten lieber das

andere auf sich genommen, was immer es war, was sie hat-

ten umgehen wollen.

Wenn Sie so wollen, gingen die Triumphalisten voraus,

die Liberalen kamen im Mittelfeld und die Diener machten

den Schluss. Ich muss ehrlich sein und sagen, dass meine

Sympathien in jedem Fall den Dienern gehören. Sie wissen

ja, jede dieser Gruppen ärgert sich hin und wieder über die

anderen. Die Triumphalisten an der Spitze ärgern sich über

die Gruppe am Ende, weil sie alles aufhält, während sie

doch in noch schnellerem Tempo in noch größere Höhen

vordringen wollen; und sie ärgern sich über die Gruppe in

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der Mitte, weil die so unkonzentriert, abstrakt und irrele-

vant ist. Die Diener am Schluss ärgern sich über die Trium-

phalisten, weil sie einfach nicht warten wollen und offenbar

am liebsten ihre eigene kleine Gruppe bilden würden, und

sie ärgern sich über die Gruppe in der Mitte, weil sie so

vage und nutzlos zu sein scheint; und die Gruppe in der

Mitte ärgert sich über jeden und alles, was sie in eine so vul-

gär engagierte Position wie vorne oder hinten zu versetzen

droht. Könnten wir nur von Zeit zu Zeit die Position wech-

seln, so würden wir vielleicht erstaunliche Dinge entdecken

– nicht zuletzt, dass die Nachhut am Ende der Reise mehr

geleistet haben wird als alle anderen, falls sie es schafft, und

das wird wahrhaftig ein gewaltiger Triumph sein!

Genau wie diese Kinder sich immer untereinander kab-

belten und stritten, müssten viele von uns Christen ehrli-

cherweise wohl zugeben, dass sich unsere Feinde oft aus

dem Kreis unserer Freunde rekrutieren, aus der Gemeinde

selbst. In bestimmten Teilen der Welt, die ich besucht habe,

sind manche religiösen Gruppen näher daran, einander

Feinde zu sein als Freunde. Wo das so ist, täten wir gut da-

ran, uns zu erinnern, dass Jesus nicht nur darauf bestand,

dass wir unsere Freunde lieben, sondern ebenso auch unsere

Feinde.

Ich folge Jesus, weil ich mit meinen Freunden zusammen

sein möchte, und wenn ich im Himmel mit ihnen zusam-

men sein will, dann muss ich auch jetzt mit ihnen zusam-

men sein. Ich muss ihre Sünden und Fehler annehmen,

denn selbst wenn ich sie nicht mag, sind sie doch Freunde

eines gemeinsamen Freundes, und dieser Freund ist Jesus,

und er ist der Freund, mit dem ich vor allen anderen zusam-

men sein möchte. Unsere Gemeinde hier ist sein Leib. Liebe

ich ihn? Wie lange brauche ich noch, um endlich mein

Kreuz auf mich zu nehmen und zum Ort des Todes zu tra-

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gen, meine Rechte und meinen Groll und meine Hinterge-

danken in den Tod zu geben, um so, wenn es nötig ist, aus

der Gruppe heraustreten zu können, die mich anzieht, oder

aus der Stimmung, in der ich bin, oder aus dem Charakter-

zug, der mich gefangen halten will, und das sein kann, was

ich an dem Ort sein muss, wo ich am meisten gebraucht

werde?

Doch es ist nicht nur die Liebe zum Leib Christi auf Er-

den, die mich motiviert, ihm zu folgen. Es ist Jesus selbst.

Durch ein Wunder der Freundlichkeit Gottes selbst darf ich

ihn meinen Freund nennen. Mit ihm möchte ich wirklich

für immer zusammen sein.

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2Ich folge Jesus,weil ...

.. . ich nicht weiß, wo ich sonst hin soll, und über-haupt würde es mir sehr schwer fallen, damit aufzu-hören

Freunde von mir, die sich irrtümlich für Satiriker halten, äu-

ßern gern die Meinung, meine Hauptgründe, am Glauben

festzuhalten, seien praktischer und kommerzieller Natur.

Sie meinen, für jemanden, der davon lebt, dass er über den

christlichen Glauben schreibt und spricht, wäre es finanziel-

ler Selbstmord, wenn ich öffentlich meine Bekehrung zum

Atheismus oder zur Anbetung zweizehiger Frösche bekannt

geben würde. Wenn sie erst einmal richtig in Fahrt sind,

deuten diese angeblichen Freunde des Weiteren an, jedwede

Tugend, die ich an den Tag lege, basiere ausschließlich auf

dem Wissen, dass es ähnlich katastrophale Auswirkungen

auf meine Karriere hätte, wenn ich eine Affäre hätte oder ir-

gendeine andere schwerwiegende, sichtbare Sünde begehen

würde. (Diese letztere Theorie ist natürlich völliger Unsinn.

Wir haben doch alles schon erlebt, wie man das macht.

Nehmen wir zum Beispiel an, Sie sind ein christlicher Autor,

der eine Affäre hat. Okay, alles, was Sie tun müssen, ist,

nach einer Anstandspause Buße zu tun und dann eine ganze

Serie hilfreicher und lukrativer Bücher mit Titeln wie Gottsammelt Scherben auf, Neue Häuser aus alten Steinen und

Gott wird dir vergeben zu schreiben. Gar keine schlechte

Verdienstmöglichkeit im Grunde.)

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Natürlich ist das alles totaler Quatsch, obwohl ich mich

manchmal tatsächlich frage, ob Gott mich vielleicht in sei-

ner großen Weisheit, da er mich so gut kennt, tatsächlich

bewusst in eine Lage manövriert hat, in der mehrere tau-

send Leute alles, was ich anstelle, im Auge behalten können.

Wer weiß?

Nein, diese albernen negativen Gründe, bei Jesus zu

bleiben, sind nichtig, verglichen mit zwei ganz anderen Ar-

ten von Motivation, die zwar immer noch scheinbar negati-

ver Art, aber dennoch sehr wichtig sind.

Die erste ist, dass ich nicht wüsste, wo ich sonst hin soll-

te. Simon Petrus, der Fischer am Haken Jesu, hat das im

sechsten Kapitel des Johannesevangeliums unübertroffen

ausgedrückt. Alle hatten sich über die außergewöhnliche

Behauptung Jesu aufgeregt, er sei Brot, das vom Himmel

herabgekommen sei, und wer von ihm esse, werde ewig le-

ben. Während viele seiner Jünger sich abwandten und mit

Brummen und Mosern deutlich machten, dass sie ihm nicht

länger nachfolgen wollten, wandte sich Jesus an seine ersten

zwölf Anhänger und fragte sie (in ziemlich kläglichem Ton,

wie ich mir immer vorstelle): „Ihr wollt doch nicht etwa

auch weggehen, oder?“

„Herr“, sagte der gute alte Simon Petrus, „wohin sollen

wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens; und wir ha-

ben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes.“

Und so ist es, nicht wahr? Wir spüren, dass Jesus die ein-

zigen verfügbaren Schlüssel zu einem wirklichen, tatsächli-

chen „Und sie lebten glücklich bis in alle Ewigkeit“ in der

Hand hält. Wir verlassen uns darauf, dass er die Antworten

auf jene Fragen kennt, die von dem Augenblick an, wo wir

entdecken, dass der Tod unausweichlich ist, wie Monster in

der Dunkelheit unseres Innern lauern. Wir spüren in den

Knochen, dass er allein dafür sorgen kann, dass die Erzäh-

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lung des Lebens einen Anfang, eine Mitte und ein befriedi-

gendes Ende hat. Er ist die Erklärung und Lösung des Rät-

sels, warum Männer und Frauen, wenn sie Dramen,

Romane und Geschichten genießen, eine Dimension tiefer

Sehnsucht nach der klaren und rationalen Vollständigkeit

erleben, die diese uralten menschlichen Beschäftigungen

kennzeichnet. All diese Wahrheiten, wenn wir sie vielleicht

auch manchmal nur undeutlich wahrnehmen, leuchten dem

verlorenen Kind in uns wie Leuchttürme und machen es

sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, etwas anderes zu

tun als dabei zu bleiben und abzuwarten, wohin er uns als

nächstes führen wird. Alle Wege außer diesem, wie gefähr-

lich lang und wie verlockend sie auch sein mögen, sind

letztlich Sackgassen.

Der zweite negative Grund, warum ich Jesus folge, ist,

dass ich keineswegs sicher bin, dass ich damit aufhören

könnte, selbst wenn ich wollte. Es gibt eine ganze Menge

Hinweise in der Bibel (schauen Sie sich einmal den Beginn

des zwölften Kapitels des Römerbriefes an), dass der Glau-

be ein Geschenk ist, das von Gott sozusagen in mich hinein-

gelegt wird. Er wird zu einem Teil von dem, was ich bin,

und ist nur sehr selten als eigener Gegenstand sichtbar, so

wie auch meine Nasenspitze etwas ist, das ich nur ganz gele-

gentlich zu sehen bekomme. Sicherlich sagt die Bibel auch,

dass manche Leute ihren Glauben ablegen werden, aber

wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem Sie vielleicht

auch Ihre Nase loswerden wollten, wenn Sie Ihr ganzes Le-

ben damit verbracht hätten, darauf zu schielen, anstatt sie

natürlich und unbewusst in Verbindung mit Ihren anderen

Sinnesorganen zu benutzen.

Selbst in Momenten, wo ich wirklich denke, dass ich

hart am Rand des Unglaubens oder der Desillusionierung

stehe, passiert irgendetwas, das alles wieder auf den Kopf

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stellt. Kennen Sie das, wenn Sie gerade einmal wieder ein

besonders schäbiges Verhalten in den Reihen der christli-

chen Gemeinde beobachten und schon drauf und dran sind,

sich angewidert von der ganzen Sache abzuwenden, und

plötzlich merken Sie, dass Jesus über Ihre Schulter hinweg

dasselbe Verhalten sieht und ebenso verzweifelt den Kopf

schüttelt wie Sie? Es ist gar nicht so einfach, einem ganzen

Glaubenssystem den Rücken zu kehren und trübsinnig da-

vonzutrotten, wenn sein Begründer ebenso trübsinnig ne-

ben Ihnen her trottet.

Irgendwo hörte ich, dass einmal in einem der Todeslager

des zweiten Weltkrieges die leidenden jüdischen Insassen

Gott vor Gericht stellten, weil er sie so furchtbar im Stich

gelassen hatte. Schließlich waren sie schon fast zu dem Ur-

teil gelangt, dass er sie nicht nur im Stich gelassen hatte,

sondern überhaupt nicht existierte. An diesem Punkt musste

das Procedere jedoch abrupt abgebrochen werden, weil es

Zeit für die Synagoge war. So ungefähr ist es auch, wenn

man beschließen will, Jesus nicht mehr nachzufolgen. Ich

kann vielleicht beschließen, dass ich keinen nasalen Apparat

besitze, aber diese meine Entscheidung wird keinerlei Aus-

wirkung auf die Existenz meiner Nase haben.

Vielleicht sind Glaube und Unglaube wie zwei Seiten

derselben Münze. Sie können die Münze umdrehen, aber

Sie können die Seite, die Sie gerade nicht anschauen, nicht

zum Verschwinden bringen. Es gab schon Zeiten in meinem

Leben, in denen ich für diese Tatsache äußerst dankbar war.

Wo sollte ich hin? Wie sollte ich aufhören? Ich habe kei-

ne Antworten auf diese Fragen.

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3Ich folge Jesus,weil ...

.. . er so gut im Judo ist

„Was?“

Das war die erste Reaktion eines Freundes, als ich ihm

den Titel dieses Abschnitts nannte. „Ich bin vielleicht nicht

der größte Bibelgelehrte der Welt“, fuhr er in ironietriefen-

dem Tonfall fort, „aber ich bin einigermaßen sicher, dass in

den Evangelien nichts davon erwähnt wird, Jesus habe seine

Feinde über die Schulter geworfen, selbst als die Soldaten

ihn aus dem Garten abholen kamen. Oder bin ich einer

krassen Fehlinterpretation irgendeiner entscheidenden klei-

nen Passage aufgesessen, die im griechischen Urtext ein

Wort enthält, das starke Konnotationen mit Kung-Fu auf-

weist?“

Nun, so meine ich das natürlich nicht. Mein Wörter-

buch sagt mir, dass die wörtliche Übersetzung des japani-

schen Wortes Jujutsu „sanfte Kunst“ lautet. Ein Aspekt die-

ser sanften Kunst ist die Art und Weise, wie ein geschickter

Anwender Gewicht, Tempo und Aggressivität eines Gegners

benutzen kann, um ihn abzuwehren. Und genau das ist es,

worin Jesus so gut war. Seine sanfte Kunst befähigte ihn,

das Gewicht der Vorurteile, des Zorns, der Bedürftigkeit,

der Einstellung oder des Verlangens andere Menschen zu

benutzen, um sie, oft zu ihrer Überraschung und Verwir-

rung, an Orte zu versetzen, wo er sie haben wollte, obwohl

sie selbst nie damit gerechnet hätten, sich dort wiederzufin-

den. Einige naheliegende Beispiele kommen mir in den

Sinn.

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Als man die Frau, die beim Ehebruch erwischt worden

war, zu ihm brachte, weigerte sich Jesus, seine Zeit damit zu

vergeuden, mit den Pharisäern und Anwälten zu streiten,

die versuchten, ihn mit ihrer Frage nach der gesetzmäßigen

Bestrafung der Frau aufs Glatteis zu führen. Stattdessen lau-

tete seine Antwort, als sie schließlich kam, etwa so: „Ja! Ja,

natürlich muss sie gesteinigt werden, so will es das Gesetz.

Fangt gleich an. Los, steinigt sie. Einer von euch, der noch

nie gesündigt hat, trete jetzt gleich vor und werfe den ersten

Stein.“

Und schon hatte er, bildlich gesprochen, die ganze Schar

über die Schulter geworfen. Nicht ein Stein wurde gewor-

fen, und die Frau ging fort, um ihr Leben in Ordnung zu

bringen.

Diese Geschichte wird im Johannesevangelium berich-

tet, aber es gibt noch viele andere Beispiele göttlichen Jujut-sus quer durch alle vier Evangelien. Lesen Sie einmal im

zwanzigsten Kapitel des Lukasevangeliums nach, wie Jesus

den Hohepriestern und Ältesten antwortete, als sie seine

Autorität in Frage stellten, und ergötzen Sie sich an der Art,

wie er im zweiundzwanzigsten Kapitel des Matthäusevange-

liums der Frage nach den Steuern für den Kaiser begegnet.

Dieselbe sanfte Kunst wandte er auch in vielen seiner

Gleichnisse an. Die Geschichte vom barmherzigen Samari-

ter in Lukas 10 zum Beispiel nutzte unmittelbar die natürli-

chen Sympathien seiner Zuhörer und ihre schiere Freude an

Geschichten, um sie zu locken, sich ihre Frage „Wer ist mein

Nächster?“ selbst zu beantworten. Wie wir wissen, fiel diese

Antwort ganz anders aus, als sie es sich vorgestellt hatten.

Später im Neuen Testament können wir lesen, wie Pau-

lus sich ein Beispiel an seinem Meister nimmt. Als die neu-

gierigen Athener ihn im siebzehnten Kapitel der Apostelge-

schichte über den christlichen Glauben befragen und er vor

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einem heidnischen Altar steht, der „dem unbekannten

Gott“ gewidmet ist, kreischt er nicht „New Age! New

Age!“, wie es manche unserer modernen Geschwister wohl

tun würden. Stattdessen nutzt er die Worte auf diesem Altar

als Plattform oder Ausgangspunkt für seine Botschaft über

den einzigen wahren Gott. Auch Paulus war ziemlich gut im

Judo.

Was mich traurig macht, ist, dass es in unserer Zeit nur

noch so wenige Leute gibt, die sich in dieser Kunst üben.

Traurig macht mich das deshalb, weil es den Menschen viel

leichter fällt, zu Gott umzukehren, wenn ihnen erlaubt

wird, die Reise wenigstens auf einer vertrauten Straße zu

beginnen. Nur sehr wenige Leute reagieren geistlich positiv

darauf, wenn man sie einfach nur ausschimpft, und doch ist

es genau das, was wir oft tun, obwohl wir das Beispiel Jesu

vor Augen haben. Viele Christen hegen tatsächlich die Be-

fürchtung, ein kreatives Eingehen auf Nichtchristen sei eine

Art Mogelei. Doch so kommen sie bestenfalls zu jener blut-

leeren Art des Evangelisierens, die niemanden anzieht, aber

vielleicht viele abstößt.

Neulich zum Beispiel rief mich ein Bekannter namens

Robert an, um mich um einen Rat zu bitten. Er war gebeten

worden, sechs Beiträge geistlichen Inhalts zu schreiben, die

eine Woche lang täglich von seinem lokalen Radiosender

ausgestrahlt werden sollten. In der Anweisung seines Produ-

zenten hieß es, diese Gedanken für den Tag sollten kurz,

heiter und unterhaltsam sein; sie sollten mindestens einen

guten Gedanken klar zum Ausdruck bringen, und sie sollten

jeden religiösen Jargon, der für kirchenferne Zuhörer un-

verständlich sein könnte, meiden.

„Die Sache ist die“, sagte Robert, „ich habe die Texte ge-

schrieben, und ich glaube, sie sind ganz in Ordnung so, aber

ich wollte fragen, ob ich vielleicht vorbeikommen und sie

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dir vorlesen könnte, um zu hören, was du darüber denkst.

Du hast so etwas doch schon öfter gemacht, nicht wahr?“

Ich stimmte zu, wenn auch nicht ohne Zittern. Sicher,

im Laufe der Jahre hatte ich etliche ähnliche Beiträge ver-

fasst, aber ich hatte auch schon oft die Erfahrung gemacht,

dass Leute mich drängten, mich absolut offen zu den Din-

gen zu äußern, die sie geschrieben hatten, und dann ziem-

lich verkniffen, in Tränen aufgelöst oder ganz einfach sauer

waren, wenn ich sie beim Wort nahm.

„Und du bist wirklich sicher“, sagte ich kurz vor dem

Auflegen, „dass ich absolut ehrlich sein soll?“

„Lieber Himmel, natürlich!“, lachte Robert, als hätte ich

einen albernen Witz gemacht. „Deshalb komme ich doch zu

dir! Was hätte das sonst für einen Sinn?“

Als ich schließlich auflegte, beschwichtigte ich meine Be-

fürchtungen mit dem Gedanken daran, dass Robert ein in-

telligenter, sensibler Mensch war, der schon viel Schmerz

erlebt hatte. Das musste sich doch sicherlich in seinen Tex-

ten widerspiegeln?

Wie sich herausstellte, war das bei einigen davon auch

der Fall, doch einem der Texte schien es mir etwas an Judo-

Geschick zu mangeln. „Könnten wir uns den letzten Text

über das Lottospielen noch einmal vornehmen?“, fragte ich.

„Okay!“, nickte Robert.

„Also, in diesem Text sagst du, dies sei eine sehr materi-

alistische Zeit, und statt daran zu denken, wie sie eine Men-

ge Geld gewinnen können, sollten Leute über ihr geistliches

Leben nachdenken und erkennen, wie viel Jesus für sie ge-

tan hat. Im Grunde machst du ihnen sozusagen Vorwürfe,

weil sie Lotto spielen, oder?“

„Na ja, ich bin damit nicht einverstanden.“

„Aber meinst du nicht, du könntest eine etwas positivere

Route einschlagen, als einfach zu sagen, dass es schlecht ist

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– als die Träume der Leute so total und unbarmherzig abzu-

kanzeln?“

„Nun .. .“

„Warum spielen Leute Lotto?“

„Um reich zu werden.“

„Nun, so kann man es sehen. Man könnte aber auch sa-

gen, dass sie sich danach sehnen, dass in ihrem Leben etwas

ganz Wunderbares passiert.“

„Ja, aber Geld ist nicht –“

„Langsam, langsam! So weit sind wir noch nicht. Sie

wollen, dass in ihrem Leben etwas Wunderbares geschieht,

etwas, wodurch sich alles verändert. Wenn Jesus in ihr Le-

ben käme, dann wäre das etwas Wunderbares, wodurch sich

alles verändern würde, stimmt’s?“

„Richtig, und deshalb –“

„Also haben sie eigentlich das richtige Verlangen, nur

vielleicht nach den falschen Dingen – einverstanden?“

„Ja, vielleicht, aber es ist doch das Verlangen nach Geld,

das falsch ist. Das muss ich ausdrücken.“

„Robert, hast du schon einmal über die Tatsache nachge-

dacht, dass Jesus mehr als einmal Reichtum als Lohn für die

Nachfolge angeboten hat?“

Robert rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum

und schüttelte den Kopf. „Hat er nicht. Er hat gesagt, es sei

ziemlich unmöglich für einen reichen Mann, in den Him-

mel zu kommen.“

„Und was, sagte er, sollen wir im Himmel sammeln?“

„Na ja, Schätze, aber damit meinte er kein Geld, er

sprach von –“

„Langsam, langsam! So weit sind wir noch nicht. Er ap-

pellierte an den menschlichen Zug, der reich sein möchte,

oder? Er sagt uns, dass es okay ist, reich zu sein, solange wir

begreifen, was die wichtigste Währung von allen ist. Rich-

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tig? Und wenn wir in den Himmel kommen und durch die

göttliche Shopping-Zone bummeln, welche Währung wird

das sein? Was wird auf dem Bündel himmlischer Banknoten

stehen, die uns die Bankschalter-Engel aus dem Konto aus-

gezahlt haben, das wir während unseres Erdenlebens ange-

spart haben?“

„Liebe?“

„Genau! Die Währung des Himmels ist Liebe, und wenn

Jesus in unser Leben kommt, werden wir plötzlich zu Erben

eines Vermögens, das wir in der Ewigkeit ausgeben werden.

Vielleicht sollten wir zu den Lottospielern lieber sagen: ,Pri-

ma! Ihr habt genau die richtigen geistlichen Instinkte. Ihr

wollt eine echte, bedeutende Veränderung in eurem Leben,

und ihr wollt reich sein. Was ihr noch nicht verstanden

habt, ist, dass ihr beides bekommen könnt, ohne eine müde

Mark einzusetzen, und das bei erheblich besseren Gewinn-

chancen.‘ Wie findest du das, Robert? Denkst du, dass man

so an die Sache herangehen könnte?“

Ich sah ihn hoffnungsvoll an. Er erwiderte meinen Blick

wie eine Landratte, die auf einem fadenscheinigen Floß

durch einen schweren Sturm treibt. „Also, ich, äh, ich glau-

be, ich lasse es lieber so, wie es ist.“

Das warf mich um, aber darum geht’s ja schließlich beim

Judo, nicht wahr?

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4Ich folge Jesus,weil ...

.. . er freundlich zu Leuten ist, die tief verletzt worden sind

Lassen Sie mich Ihnen nun von einem der wichtigsten Din-

ge erzählen, die mir je passiert sind. Ich hoffe, dass es Ihnen

etwas Besonderes sagen wird und dass Sie dadurch viel-

leicht etwas mehr von der Barmherzigkeit Gottes begreifen

und, was viel weniger wichtig ist, vielleicht auch mich etwas

besser verstehen werden.

Dieses Erlebnis hatte ich in den frühen Morgenstunden

auf dem British-Airways-Flug BA 2028, als unsere Maschi-

ne auf dem Weg von der aserbeidschanischen Hauptstadt

Baku zum Flughafen Gatwick in England durch den dunk-

len Himmel über Europa dröhnte.

Ich war sowieso schon innerlich sehr bewegt. In Baku

unterrichtete mein ältester Sohn Matthew englische Kon-

versation an einer privaten Sprachschule. Als ich dort im

Flugzeug saß, erinnerte ich mich an jenen unglaublichen

Moment, als ich den kleinen Matthew zum ersten Mal gese-

hen und mir selbst zugeflüstert hatte, dass mir damit viel-

leicht zum ersten Mal ein Spielzeug geschenkt wurde, das

eine echte Chance hatte, nicht kaputt gemacht zu werden.

Und jetzt, kurz vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag,

hatte ich ihn eine Woche lang besucht und eine Stadt voller

faszinierender Extreme erkundet.

Aserbeidschan, noch bis vor kurzem Teil der Sowjetuni-

on, ist ein islamisches Land, dessen Umrisse – sehr passen-

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derweise, wenn man seine Lage im Osten der Türkei be-

denkt – an einen Adler erinnert, der von Westen nach Osten

fliegt. Um die Jahrhundertwende war es eines der großen

ölproduzierenden Länder, und vielleicht wird es das wieder

sein, wenn das schwarze Gold wieder zu fließen beginnt.

Einstweilen jedoch scheinen die Sowjets das Land ausge-

saugt zu haben und dann wieder verschwunden zu sein, und

zurück blieb ein Volk, das vielleicht den Willen, die Mög-

lichkeiten und die Mittel verloren hat, sich einen erträgli-

chen Lebensstandard zu sichern. An jeder Straße und in je-

der Gasse sah ich Stände, an denen entweder billige

Plastikartikel, Ersatzteile für die unter den miserablen Stra-

ßen leidenden Autos oder Schuhreparaturen feilgeboten

wurden, unverzichtbar wegen der ebenso unebenen und

verwahrlosten Bürgersteige. Mehrmals begegnete ich älte-

ren Leuten, die resigniert neben alten, verstaubten Perso-

nenwaagen saßen, offenbar in der Hoffnung, dass der eine

oder andere Passant vielleicht plötzlich den unwiderstehli-

chen Drang verspüren würde, gegen Bezahlung sein Ge-

wicht zu erfahren. Manche Straßenstände, die oft, aber kei-

neswegs immer von Kindern beaufsichtigt wurden, waren

nicht mehr als Kartons, auf denen zwei oder drei Flaschen

eines mit Kohlensäure versetzten Orangengetränks mit un-

gewissem Alter standen. Die Straßen waren voll von Taxis,

hauptsächlich in Russland produzierten Ladas. Es waren so

viele, dass schwer ersichtlich war, wer denn die potenziellen

Fahrgäste sein sollten, wenn nicht andere Taxifahrer-Kolle-

gen, deren Fahrzeuge auf der Strecke geblieben waren. Es

war alles ziemlich deprimierend gewesen.

Andererseits konnten manche Aspekte der aserbeidscha-

nischen Kultur schon Neid erwecken. Ich bin Kindern be-

gegnet, die zusammen im Dunkeln nach Hause gingen,

ohne sich vor irgendwelchen Angriffen zu fürchten, und die

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meisten Frauen, mit denen ich sprach, fühlten sich auf den

meisten Straßen zu jeder Tages- und Nachtzeit ebenso si-

cher. Arbeitslosengeld gibt es in Aserbeidschan nicht, und

die Alterspension beträgt nur rund acht Euro im Monat,

aber dafür werden die Alten dort nicht vernachlässigt, im

Stich gelassen oder in die Fremdbetreuung abgeschoben. Sie

haben bis zum Tod einen Platz in ihren Familien. Ich fand

die Leute in Aserbeidschan sehr gastfreundlich und gern be-

reit, das Wenige, das sie hatten, zu teilen.

Matthews Apartment, das er mit zwei anderen Lehrern

teilte, befand sich im zweiten Stock eines Hauses, das ein-

mal eine geradezu palastartige Privatresidenz gewesen sein

muss. Baku war voll von solchen Überbleibseln einer ver-

gangenen Zeit, herrlich verzierten Gebäuden, die man so

sehr hat verfallen und verrotten lassen, dass die dreckigen

Treppenhäuser und Hinterhöfe den Kulissen für OliverTwist glichen oder jenen alten Fotos aus den Armenvierteln

des viktorianischen London. Wie ich hörte, waren Ratten

ein ziemliches Problem in Baku.

Ich blieb etwas unter einer Woche bei Matthew, genoss

wie immer in vollen Zügen seine Gesellschaft und freute

mich besonders darüber zu sehen, wie er in einer so fremd-

artigen Umgebung so gut seinen Mann stand. Manches an

der Kindheit meines ältesten Sohnes, besonders die Zeit

meiner Krankheit vor mehr als einem Jahrzehnt, war alles

andere als einfach für ihn, und deshalb tat es gut, zu sehen,

wie die Gegenwart die Vergangenheit auszulöschen begann.

Als mein Aufenthalt zu Ende ging, fiel es mir schwer,

Matthew zurückzulassen, nicht jedoch den Flughafen von

Baku, sicherlich einen der deprimierendsten Orte der Erde,

der mich stark an eine besonders billig gemachte Kulisse aus

der alten Fernsehserie Mit Schirm, Charme und Melone er-

innerte.

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Als ich im Flugzeug saß und mich innerlich auf die mehr

als fünfstündige Reise einstellte, dachte ich an die Men-

schen von Aserbeidschan und an Matthew, an den Rest mei-

ner Familie, mit dem ich bald wieder vereint sein würde,

und an die verschiedenen Herausforderungen, die mich zu

Hause erwarteten. Ich spürte, wie ich ganz langsam in mei-

ne allzu vertraute Stimmung aus Selbstzweifeln und Verza-

gen glitt. Es gibt Zeiten, und dazu gehörte auch dieser Mo-

ment des Übergangs, in denen Glaube und Hoffnung leere

Worte sind und all meine Bezugspunkte und Maßstäbe

schwammig werden und aus meiner Reichweite davon-

schweben. Mancher von Ihnen weiß, was ich meine, wenn

ich sage, dass ich beinahe erschauerte vor der Komplexität

und Undurchschaubarkeit des schieren Lebendigseins, und

aus einer tiefen Furcht vor irgendetwas tief in meinem In-

nern, das ich nicht benennen konnte (oder wollte), aus

Angst davor, seine Existenz anzuerkennen.

Seltsamerweise waren diese beunruhigenden Momente

oft das Vorspiel zu einer wichtigen Lektion über Gott; viel-

leicht deshalb, weil es leichter ist, ein leeres Gefäß zu füllen

als ein volles – ich weiß es nicht. Bei dieser Gelegenheit je-

doch gab es keine unmittelbaren Anzeichen einer solchen

Lektion, denn es ging mir schon bald wieder besser.

Es ist doch erstaunlich und ein wenig deprimierend,

nicht wahr, wie leicht das Servieren einer Mahlzeit und ei-

ner kleinen Flasche Wein solche düsteren Grübeleien vorü-

bergehend zerstreuen können. Darüber hinaus erfuhr ich zu

meiner großen Freude, dass zur Unterhaltung der Fluggäste

Good Will Hunting gezeigt werden sollte, ein Film, der in

jenem Jahr mit einem reichen Oscar-Segen bedacht worden

war. Ich hatte diesen Film schon lange sehen wollen. Jetzt

hatte ich endlich die Gelegenheit. Als die Vorführung be-

gann, bedeckte ich mit beiden Händen die Kopfhörer über

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meinen Ohren, um Nebengeräusche abzuschirmen, und

setzte mich bequem zurecht, um mich für eine oder zwei

Stunden gut unterhalten zu lassen.

Good Will Hunting handelt von Will, einem jungen

Mann, der zwar auf dem Gebiet der Mathematik bis zur

Genialität begabt ist, auf Grund traumatischer Erlebnisse in

seiner Kindheit jedoch in seinen praktischen persönlichen

und sozialen Beziehungen unter einem schweren Handikap

leidet. Der erste Hoffnungsschimmer kommt durch seine

Begegnung mit einem unkonventionellen Therapeuten, ge-

spielt von Robin Williams, der seinem Patienten nach einer

Reihe von Sitzungen, durch die er immer mehr Zugang zu

ihm gefunden hat, einen Ordner mit den Einzelheiten über

seine problematische Vergangenheit hinhält und einfach

sagt: „Es ist nicht deine Schuld.“ Der junge Mann weicht

zurück, unfähig, eine solche Aussage zu verarbeiten, doch

der Therapeut bleibt beharrlich, bis Will nach der vierten

oder fünften Wiederholung dieses Satzes zum ersten Mal

zusammenbricht und sich an der Schulter des Therapeuten

ausweint.

Ich weinte auch. Eimerweise. Eigentlich ziemlich pein-

lich.

Um wen ich weinte?

Nun, zum einen weinte ich um die Heimkinder, mit de-

nen ich früher arbeitete. Mit vielen von ihnen hatte ich den-

selben Prozess durchlaufen und ihnen so deutlich wie mög-

lich zu verstehen gegeben: „Manche Dinge sind zweifellos

deine Schuld, und dafür musst du die Verantwortung über-

nehmen, doch diese Dinge hier, die Dinge, auf die du kei-

nen Einfluss hattest, die Dinge, die in dir einen Wirbelwind

aus Furcht und Zorn und Schuldgefühlen erzeugen, wann

immer sie an die Oberfläche deines Bewusstseins steigen –

die sind nicht deine Schuld, und das waren sie auch nie. Es

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ist Zeit, das zu akzeptieren und nach vorn zu schauen.“

Manchmal hatte ich sogar vor dem Schlafengehen mit ih-

nen in ihren Akten geblättert, besonders dann, wenn sie

kurz davor waren, zu Pflegeeltern zu kommen oder adop-

tiert zu werden. Für viele von ihnen war das eine Offenba-

rung. In solchen Momenten durfte ich Zeuge großer Tap-

ferkeit und vieler Tränen werden.

Ich weinte um Matthew, den ich stets sehr geliebt und

geschätzt hatte, der aber dennoch seine eigenen handfesten

Dämonen auszutreiben hatte, Dämonen, deren Gegenwart

ganz sicher nicht seine Schuld ist; und ich wünschte mir, ich

könnte zurückfliegen, um ihm dabei zu helfen, auch wenn

er inzwischen sehr gut allein zurecht zu kommen scheint.

Ein bisschen weinte ich um die Leute von Aserbeid-

schan, die offenbar immer von diesem oder jenem benutzt

oder missbraucht werden, und besonders um die Kinder,

die sich mit verwirrenden Veränderungen im historischen

und politischen Ethos ihres Landes auseinandersetzen müs-

sen, dem man die dritthöchste Korruptionsrate unter allen

Ländern der Welt nachsagt. Sie haben zur Zeit so wenig,

und dieser Mangel und die Verwirrung, die viele empfinden

müssen, ist nicht ihre Schuld.

Ich weinte sogar ein bisschen um mich selbst und um

den Rest meiner Familie, deren Leben manchmal durch den

undefinierbaren Schatten, der mich seit meiner Kindheit be-

drückt, unverdientermaßen verdunkelt wird.

Schließlich, und das ist mir wichtig, weil ich glaube, dass

Gott möchte, dass ich das weitergebe, wohin immer ich

gehe, weinte ich um die vielen Glieder der christlichen Ge-

meinde, die man nur über den Zorn und die Vergeltung und

die Unbeugsamkeit Gottes belehrt hatte. Ich weinte um all

die Männer, Frauen und Kinder, die nie richtig verstanden

haben, dass Jesus, der Herr der Schöpfung, der zu Recht

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Buße von allen verlangt, die zum Vater heimkehren möch-

ten, mit tiefer Barmherzigkeit auf alle diejenigen sieht, die

in ihrem Leben mit uralten Wunden zu kämpfen haben. Ih-

nen legt er sanft die Hand auf die Schulter und sagt: „Ich

weiß, was sie dir angetan haben, ich weiß, wie sie dir weh

getan und dir das Gefühl gegeben haben, schuldig und

wertlos zu sein. Ich weiß, wie dir immer wieder die Vergan-

genheit in der Kehle hochsteigt, um dir den Lebensatem zu

rauben, und ich weiß auch, dass das nicht deine Schuld ist.

Bitte, lass mich dir das noch einmal sagen – es ist nicht

deine Schuld.“

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5Ich folge Jesus,weil ...

.. . man das darf, auch wenn man in praktischen Dingen, mit Technik im Allgemeinen und Compu-tern im Besonderen völlig hilflos ist

Ich bin voller Bewunderung und größter Anerkennung für

alle, die praktisch und technisch begabt sind. Alle Achtung,

sage ich. Alle Macht ihren Ellbogen oder Fingerspitzen oder

was auch immer. Die Sache ist nur die, dass die technische

Revolution an mir völlig vorbeigegangen ist, und ich bin

nur froh, dass Gebete nach wie vor nicht über das Internet

laufen. Sicher, inzwischen komme ich mit meinem Compu-

ter soweit zurecht, dass ich darauf schreiben kann (was ich

in diesem Moment auf ziemlich umständliche Weise tue),

aber er ist trotzdem immer noch viel cleverer als ich. Has-

sen Sie das auch so wie ich, wenn Sie etwas geschrieben ha-

ben und dann ein Kästchen auf dem Bildschirm erscheint, in

dem Sie gefragt werden: „WOLLEN SIE DAS WIRKLICH

SPEICHERN?“

Ähnlich furchteinflößend finde ich den Geldautomaten

an einer der Banken in unserem Städtchen Hailsham. Nach-

dem er einen aufgefordert hat, die Geheimnummer und den

Betrag, den man abheben möchte, einzugeben, lautet die

letzte Frage: „MIT ODER OHNE ERINNERUNG?“ In die-

sem Zusammenhang bedeutet das Wort „Bestätigung“ ver-

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mutlich so viel wie „Beleg“ oder „Quittung“, aber ich ent-

scheide mich immer für „OHNE ERINNERUNG“, denn ich

fürchte, sonst könnte die Maschine einen Zettel ausdru-

cken, auf dem etwa stünde:

Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie Ihr Geld in einem

ziemlich beunruhigenden Tempo verbrauchen? Sie ha-

ben fünfzig Pfund angefordert, aber an Ihrer Stelle wür-

de ich lieber dreißig nehmen. Sie wissen ja, wenn Sie es

in der Tasche haben, geben Sie es auch aus, und nächsten

Monat stehen einige Ausgaben an. Denken Sie doch die-

ses eine Mal nach! Geld wächst nicht auf Bäumen, wis-

sen Sie .. .

Von den meisten praktischen Aufgaben (erst seit kurzem

weiß ich, dass man mit einem Bohrhammer keine Nägel

einschlagen kann), jeglichen Maschinen und allen Aspekten

der Technik fühle ich mich völlig überfordert. Vor einiger

Zeit zum Beispiel legte ich mir eines jener Geräte zu, die an-

geblich Telefon, Fax und Anrufbeantworter in einem sein

sollen.

Meine naive Hoffnung war, dass diese unglaubliche Er-

findung mir das Leben viel leichter machen würde. Und

theoretisch hätte das doch auch so sein müssen, oder?

Schließlich benötige ich diese drei Funktionen regelmäßig.

Der Text auf der Schachtel schien zu verheißen, dass mein

neues Spielzeug so ziemlich alles für mich erledigen würde –

außer mir morgens vor der Arbeit meine Rühreier mit

Speck zu braten. Ermutigend fand ich auch, dass eines jener

benutzerfreundlichen Handbücher beilag, die angeblich

auch den begriffsstutzigsten Laien befähigen, seine Neuan-

schaffung erfolgreich für die tägliche Anwendung zu pro-

grammieren.

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Nun ja, aber was die Verfasser dieser idiotensicheren

Veröffentlichung mit Abschnittsüberschriften in fetter

schwarzer Schrift und kleinen Cartoonmännchen, die lä-

chelnd auf die wichtigsten Punkte deuteten, einfach nicht

berücksichtigt haben, ist die Tatsache, dass ich das gewöhn-

liche, altmodische Idiotentum auf neue, schwindelerregen-

de Höhen geführt habe. Wie die Verfasser so ziemlich jeder

anderen leicht verständlichen Anleitung, die ich je gelesen

habe, hatten diese wohlmeinenden Zeitgenossen die Nei-

gung, plötzliche, wilde Sprünge zwischen einem Stein im

Bach und einem anderen, unvorstellbar fernen anderen zu

vollführen und mich hilflos in der Mitte dazwischen ertrin-

ken zu lassen.

Eines Tages werde ich ein spezielles Anleitungsbuch für

alle Hohlköpfe wie mich schreiben – das heißt, vorausge-

setzt, mein Computer ist so nett, mir das zu gestatten. Ich

kann Ihnen versprechen, dass es nicht nur benutzerfreund-

lich, sondern geradezu benutzerliebevoll sein wird. Es wird

Kapitel enthalten über Themen wie: Wie kocht man ein Ei,

wie wechselt man eine Sicherung aus und wie stellt man ein

Regal auf, das tatsächlich in der Lage ist, Gegenstände auf-

zunehmen. Diese Anweisungen werden ihre Leser sanft an

den zitternden, unkundigen Händen nehmen und sie wie

kleine Kinder in neue Welten des Selbstvertrauens und des

Erfolgs führen. Der Abschnitt über das Auswechseln eines

Reifens an Ihrem Auto zum Beispiel wird folgendermaßen

beginnen:

1. Trinken Sie eine Tasse Tee (siehe Erstes Kapitel: Tee zu-

bereiten).

2. Lesen Sie dieses Kapitel.

3. Trinken Sie noch eine Tasse Tee.

4. Geben Sie den Gedanken auf, den Reifen zu wechseln.

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5. Kommen Sie zu dem Schluss, dass Sie es eigentlich gleich

tun könnten, da Sie nichts Besseres zu tun haben.

6. Trinken Sie noch eine Tasse Tee.

7. Schlendern Sie gemächlich nach draußen und stellen Sie

sich vor Ihren Wagen (in der Werde-gleich-überrollt-ist-

mir-aber-egal-Position). Legen Sie ein lässiges Verhalten

an den Tag. Falls das Auto nur den leisesten Verdacht

schöpft, dass Sie etwas damit vorhaben, wird es ein-

schnappen und schmollen.

8. Jetzt wird’s zum ersten Mal knifflig. Sehen Sie diese vier

großen runden Dinger, eins an jeder Ecke Ihres Autos?

Das sind die Räder. Eins davon funktioniert nicht rich-

tig, weil das Gummiding namens Reifen, das außen he-

rumläuft, nicht mit Luft gefüllt ist. Wir werden jetzt das

ganze Rad abnehmen und stattdessen ein anderes an-

bringen. Glauben Sie in Ihrem tiefsten Herzen, dass et-

was Derartiges möglich sein könnte?

9. Gehen Sie wieder hinein und trinken Sie noch eine Tasse

Tee. Wiederholen Sie noch einmal, was Sie bisher ge-

lernt haben, und dann werden wir wieder hinaus gehen,

und ich werde Ihnen erklären, wie Sie herausfinden,

welches Rad dasjenige ist, das ausgewechselt werden

muss .. .

In normalen Anleitungsbüchern würden technisch gehandi-

kapte Leute wie ich schon lange vor diesem Punkt die An-

weisung erhalten haben, den „Seitenflansch im Verhältnis

zum inneren Winkel des äußeren Randes zu invertieren“,

oder irgendeine andere ähnlich sinnlose Aufforderung. Da

wir keine Ahnung davon haben, was ein Flansch oder ein

äußerer Rand ist und wo wir ihn finden, hätten wir schon

längst aufgegeben und wären wieder hineingegangen, um

eine Tasse Tee zu trinken und die Zeitung zu lesen. Ich

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glaube, mein Anleitungsbuch wird weggehen wie warme

Semmeln, meinen Sie nicht? Wenn ich’s recht bedenke, soll-

te ich vielleicht auch ein Kapitel übers Semmelnbacken ein-

fügen. Erstens, machen Sie die Küche ausfindig .. .

Wie auch immer, die Ergebnisse meines Versuchs, meine

Telefon-Fax-Anrufbeantworter-Kombi richtig zum Laufen

zu bringen, waren, gelinde gesagt, enttäuschend. Freunde,

die auf einen kleinen Schwatz anriefen, wurden von einer

furchteinflößenden Grabesstimme aufgefordert, auf eine

Taste zu drücken, die sie nicht hatten, um eine Prozedur

einzuleiten, von der sie noch nie gehört hatten; Leute, die

versuchten, mir etwas zu faxen, wurden gebeten, nach ei-

nem „langen Ton“, der nie tatsächlich übermittelt wurde,

eine Nachricht zu hinterlassen; und solche, die versuchten,

eine Nachricht zu hinterlassen, wurden zur Zielscheibe ei-

ner Serie von Belehrungen, die sie unter anderem darüber

unterrichteten, dass sie eine illegale Aktion begangen und

sich einer Strafverfolgung ausgesetzt hätten. Ein Fachmann,

den ich von der Telefonzelle am Ende unserer Straße aus

anrief, untersuchte die ganze Situation und fand den

schwerwiegenden Fehler in meinem System auf Anhieb.

Mich. Es wurde von einem Idioten betrieben.

Mit all diesen neuen Armbanduhren des Weltraumzeital-

ters bin ich auch nie zurechtgekommen. Mit steigendem

Frust zu versuchen, mit einem stumpfen Bleistift winzige

Knöpfe in der richtigen, unvorstellbar komplexen Reihen-

folge zu betätigen, und das bei schlechtem Licht, wenn man

gerade seine Brille verlegt hat, erscheint mir als ein über-

schätzter Zeitvertreib. Ich habe es einige Male versucht und

bin daran gescheitert. Wenn Sie für eine Weile in dem

Chaos meines Arbeitszimmers säßen, könnten Sie in unre-

gelmäßigen Abständen abgelegte Digitaluhren aus den ver-

schiedensten Verstecken überholte oder falsch eingestellte

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Erinnerungssignale piepsen hören, wie kleine elektronische

Frösche in einem Sumpf aus Heftern und Pappordnern und

unbeantworteten Briefen. Ich bekomme sie nie zu Gesicht,

und verstehen werde ich sie bestimmt niemals, aber ich

muss zugeben, dass mir ihre Gegenwart ein stilles Vergnü-

gen bereitet, besonders morgens. Der Dämmerungschor der

verlorenen Digitaluhren ist zu einem Teil meines Lebens ge-

worden.

Meine Tochter kommt gut mit dem modernen Krims-

krams zurecht, was ja auch gut ist, aber eines Tages, als sie

etwa zehn war, kam sie mit einem gewöhnlichen Pappkar-

ton an und fragte, ob wir daraus eine Kutsche für Honey,

unseren Pflege-Hamster, machen könnten. Die Götter des

Chaos haben ihre helle Freude, wenn ich mich mit Kleb-

stoff, Schere und Pappe zu schaffen mache. Eine Gemein-

samkeit zwischen Katy und mir ist unser niederschmettern-

der Mangel an Talent auf diesem Gebiet, aber wir lieben es,

zusammen ein völliges Chaos anzurichten, indem wir fie-

berhaft versuchen, etwas zu machen. Isambard Kingdom

Brunel mag ja stolz gewesen sein, als er seine Clifton-

Hängebrücke vollendet hatte (fahren Sie hin und schauen

Sie sie sich an, wenn Sie noch nie in jenem Teil Bristols wa-

ren), aber wohl kaum stolzer als Katy und ich auf unsere

klebrige, instabile, wackelige Ansammlung von Klorollen-

pappen und Teilen von Cornflakes-Packungen waren. Wirhatten sie gemeinsam gemacht. Honey brachte es fertig, uns

durch Mimik und Gestik ihre Absicht kund zu tun, das

Haus zu verlassen, falls wir sie zwingen sollten, in dieses

Gefährt zu steigen, und ich kann es ihr nicht verdenken,

aber es rollte immerhin ein wenig, und wir fanden es herr-

lich.

Warum wohl hat Gott sich nicht diese Zeit der über-

legenen Technik für den Besuch seines Sohnes ausgesucht?

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Die meisten Leute sind nicht so wie ich, wenn es um diese

Dinge geht. Die globalen Kommunikationssysteme des

zwanzigsten Jahrhunderts wären doch bestimmt viel besser

geeignet, als die Botschaft mühselig von einer Person zur

nächsten weiterzugeben, oder? Offenbar nicht. Aber warumnicht? Vielleicht deshalb, weil es im Christentum schon im-

mer gerade um diese Kommunikation von Person zu Person

ging. Es ging dabei schon immer darum, dass Einzelne et-

was Besonderes sind. Durch Kontakt von Mensch zu

Mensch kommen mehr Leute zum christlichen Glauben als

auf jede andere Weise. Es musste so anfangen. Und trotz al-

ler gegenteiligen Anstrengungen von manchen, die sich

Christen nennen, hat das Christentum überlebt. Wenn es

auch instabil, wackelig, handgemacht und ständig repara-

turbedürftig sein mag, rollt es doch immer noch auf seiner

Straße entlang – und wir, als der Leib Jesu auf Erden, haben

es gemeinsam gemacht.