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Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2012/13 HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings. Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel Nehmen Sie Platz, Frau Asylbewerberin, oder: Flüchtlinge als politisches Subjekt. Autor_innen: Alena Reichmayr, Jannick Popelka

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Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Technische Universität Dresden Institut für Politikwissenschaft Wintersemester 2012/13 HS/Projektseminar: An den Grenzen des Rechts. Zur Politischen Theorie des Flüchtlings. Dozentin: Dr. Julia Schulze Wessel

Nehmen Sie Platz, Frau Asylbewerberin,

oder: Flüchtlinge als politisches Subjekt.

Autor_innen: Alena Reichmayr, Jannick Popelka

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1 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Einleitung 2

I. Politik und Polizei bei Jacques Rancière

II. Zum Platz der Asylbewerberin und der Geduldeten

III. Die politische Subjektivierung der Flüchtlinge

IV. Schlussbetrachtung

V. Literaturverzeichnis

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2 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Einleitung

Der Name des Seminars1 verweist bereits auf die prekäre Stellung der Flüchtlinge. Er impliziert eine

ausweglose Situation der Ohnmacht, der Bedrohung und Gefahr, der die Flüchtlinge schutzlos

ausgeliefert zu sein scheinen. In erster Linie sind sie Opfer. Sie sind schwach, hilflos, verlassen, bedroht

und deshalb auf den Schutz anderer angewiesen (vgl. Jobst 2012: 58). Es scheint, als seien sie ihrem

Schicksal ausgeliefert, unfähig ihren Status der Schutzlosigkeit aus eigener Kraft heraus zu überwinden.

Schlägt frau2 das entscheidende Kapitel „Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der

Menschenrechte“ aus Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ auf, so liest

sie eine erschreckende Darstellung der Flüchtlingsproblematik. Die Flüchtlinge sind rechtlose, vogelfreie

Schnorrer, die als unschuldig Bestrafte den Auswurf der Menschheit darstellen (vgl. Arendt 2011). Die

Liste könnte ohne Weiteres verlängert werden. In der gegenwärtigen Migrationsforschung wird die Figur

der Flüchtlinge zunächst stets als passive wahrgenommen.

Die Arbeit von Anna Jobst ist eine der wenigen, welche diskursanalytisch untersucht, wie unser Bild

der Flüchtlinge konstruiert und reproduziert wird: Sie kommt zum abschließenden Ergebnis, dass die

Narrative der etablierten Diskurse ein Bild der Schwäche und Schutzlosigkeit konstituieren. Es sind vor

allem die Flüchtlinge als passive Opfer, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben; als Objekte,

welchen beinahe jegliche Autonomie abgesprochen wird: „Sie sind fremd bestimmt und gesteuert, ein

Spielball der bösen Mächte, der europäischen Regierungen und ihrer Helfer, die ihnen ihre Subjektivität

rauben.“ (Jobst 2012: 58)

Die Frage, die sich uns stellt, ist, ob Flüchtlinge sich auch als politisches Subjekt verstehen lassen,

als politisches Subjekt, das sich seiner zugeschriebenen Passivität entzieht. Ziel dieser Arbeit ist es, den

Flüchtling aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten und so möglicherweise ein

emanzipatorisches Potenzial zu entdecken, welches sonst verborgen bleibt. Jacques Rancières politische

Theorie ist charakterisiert durch ein emanzipatorisches Politikverständnis, sodass es sich anbietet, seine

Überlegungen zum Ausgangspunkt dieser Arbeit zu machen. Was wird mit Rancière sichtbar, was in

einem großen Teil der Migrationsforschung verborgen bleibt? Dazu bedarf es zunächst einer

Auseinandersetzung mit seiner politischen Theorie, da diese mit den herkömmlichen Kategorien des

1 Folgende Arbeit ist im Rahmen des Projektseminars An den Grenzen des Rechts. Zur politischen Theorie des

Flüchtlings im Wintersemester 2012/13 an der TU Dresden entstanden. 2 Wir sind der Meinung oft genug Abhandlungen über den Bürger, den Wähler und Dinge, die man tun oder lassen

sollte, gelesen zu haben. Wir halten es für angebracht in dieser Arbeit den Spieß umzudrehen und nur die weiblichen Bezeichnungen zu verwenden. Ebenso wie der Anspruch erhoben wird, dass man für Mann und Frau steht, erheben wir den Anspruch mit frau und den weiblichen Bezeichnungen Mann und Frau und alles dazwischen zu bezeichnen. An manchen Stellen wird aus stilistischen Gründen die neutrale Form verwendet.

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3 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

alltäglichen Verständnisses von Politik bricht und bereits etablierte Begriffe mit unterschiedlichen

Extensionen verwendet. Nach vorangehender Begriffsklärung picken wir das Wesentliche seiner

politischen Theorie für unsere Argumentation heraus. Wir werden uns dabei auf diejenigen Aspekte

konzentrieren, die für die Beantwortung unserer Ausgangsfrage relevant sind. Was versteht Rancière

unter Politik? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit frau von einem politischen Prozess

sprechen kann? Wer ist das politische Subjekt und welche Bedeutung kommt ihm in diesem Prozess zu?

Im zweiten Teil der Arbeit wird die politische Theorie Rancières auf die in Deutschland lebenden

Asylbewerberinnen beziehungsweise Flüchtlinge angewendet. Gemäß der entschiedenen Trennung in

Polizei und Politik bei Rancière, wird zunächst das in Deutschland vorherrschende Bild der

Asylbewerberinnen und Geduldeten gezeichnet, das maßgeblich durch die ihnen auferlegte

Residenzpflicht bestimmt ist. Anschließend wird analysiert, ob und inwieweit der Protest der

Asylbewerberinnen gegen eben diese Residenzpflicht als eine politische Subjektivierung der Flüchtlinge

verstanden werden kann.

I. Politik und Polizei bei Jacques Rancière

Jacques Rancière unterscheidet zwischen Politik und Polizei, welche als zentrale Begriffe die

Grundlage seiner Politikkonzeption bilden. Mit dem Begriff der Polizei wird weder nur der Teil der

exekutiven Gewalt bezeichnet, der den Gesetzen des Staates zu ihrer Durchsetzung verhilft, noch ist er

mit dem gleichzusetzen, was gemeinhin der Staat genannt wird (vgl. Rancière 2002: 40). Die Polizei, wie

Jacques Rancière sie versteht, ist eine Fiktion, eine Einbildung, ein Gemachtes, die allerdings kein Wahres

mit einem Teppich überzieht, dieses Wahre dadurch verdeckt und entstellt; sondern eine vollständige

Besetzung einer Leere durch eine bestimmte Weise der Wahrnehmung der sozialen Umstände. Indem sie

zuallererst festlegt, was als wahrnehmbar gilt und was nicht, gibt die Polizei dem Sozialen seine Ordnung

und stellt die Interpretationsressourcen, um diese zu verstehen, bereit. Sie teilt den Menschen mit:

‚Außerhalb dessen, was ich wahrnehme, gibt es nichts!‘ So lautet die jahrtausendealte Parole, die die

Polizei von sich gibt. Das, was als wahrnehmbar gilt, wird in verschiedene Bereiche gegliedert. An erster

Stelle steht der Bereich der Öffentlichkeit in Abgrenzung zum lediglich Privaten, durch den die Tatsache

eines geteilten Gemeinsamen zwischen den Menschen belegt und diesem Gemeinsamen ein Ort gegeben

wird. Gleichzeitig wird die Bevölkerung durch die polizeiliche Wahrnehmung in gesellschaftliche Klassen

mit ihnen eigenen Eigenschaften eingeteilt (in die Klasse der Frauen, in die der Männer, in die Klasse der

Arbeitnehmer, in die der Arbeitgeber, in die Klasse der Christen, in die der Muslime usw.). „Im

polizeilichen Sinne ist eine Klasse eine Gruppierung von Menschen, denen ihre Herkunft oder ihre

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Tätigkeit ein besonderes Statut und einen besonderen Rang zuweisen“ (Rancière 2002: 95), und jede

erhält, dem Anteil des Nutzens entsprechend, den sie zum Gemeinwohl beiträgt, Rechte zur Teilhabe am

Gemeinsamen. So wird von dem Nutzen, den jede Klasse dem Gemeinwohl bringt, die Legitimität der

Verteilung und letztlich die Gerechtigkeit der Ordnung abgeleitet (vgl. Rancière 2002: 33). Je größer der

von der Polizei beigemessene Wert des Beitrags für das Gemeinsame ist, desto höher ist der Grad an

Teilhabe und Einfluss in der polizeilichen Ordnung. Die Polizei weist jedem Körper seinen Platz zu. Dieser

Platz beinhaltet eine polizeilich anerkannte Identifizierung, die seine Zugehörigkeit zu einer Klasse

begründet, und legt fest, an welchen Orten und zu welchen Zeiten bestimmte Funktionen, Tätigkeiten

und Seinsweisen wahrgenommen werden und andere nicht (vgl. Rancière 2006: 25f.).

Diese gesellschaftlichen Klassen treffen sich also im Bereich des Gemeinsamen als konstituierte

Partnerinnen, um dem Guten und Gerechten entsprechend das Gemeinwohl zu bestimmen. Die

Möglichkeit ungezählter Teile sowie auch die Möglichkeit von identifizierten Teilen mit anderen als von

der Polizei zugeschriebenen Funktionen, Tätigkeiten und Seinsweisen wird ausgeschlossen. Rancière

nennt dieses „System sinnlicher Evidenzen“ eine „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière, 2006: 25). Und

diese Aufteilung muss als zweifache verstanden werden: Auf der einen Seite befindet sich die Trennung

und Ausschließung, auf der anderen wiederum die Erlaubnis zur Teilhabe an den gemeinsamen

Angelegenheiten (vgl. Rancière 2008: 31). So liest frau bei Rancière:

„Eine Aufteilung des Sinnlichen ist die Art und Weise, nach der sich im Sinnlichen ein Verhältnis zwischen einem geteilten Gemeinsamen und die Einteilung exklusiver Anteile bestimmt. Diese Einteilung, die von ihrer sinnlichen Evidenz her die Einteilung der Anteile und Teile vorwegnimmt, setzt selber eine Aufteilung dessen, was sichtbar ist und was nicht, dessen, was sich vernehmen lässt und was nicht, voraus.“ (Rancière 2008: 31)

Die Polizei ist also eine das Gemeinsame der Menschen erzeugende sowie verwaltende Maschine, die

ihre Einzelteile selbst bestimmt, sie identifiziert, ihnen einen Wert beimisst, diese Werte zusammenzählt,

mit ihnen rechnet. Diese Zählung oder Rechnung beruht auf der These, dass die Summe aller Einzelteile

der Gesamtheit der Gesellschaft entspricht (vgl. Rancière 2002: 23). Es handelt sich bei der Polizei um

eine Rechenmaschine, die von der eigenen Rechnung behauptet exakt zu sein und diese durch die

Bestimmung dessen, was als wahrnehmbar gilt, schon immer legitimiert, als dem Gerechten und Guten

entsprechend darstellt. Nur ist sie nie exakt, denn die Ableitung des Gerechten vom Nützlichen enthält

„eine grundlegende Verrechnung“ (Rancière 2002: 18), eine „falsche Kontinuität“ (Rancière 2002: 33):

„Zwischen dem Nützlichen und dem Gerechten gibt es das Unmessbare des Unrechts, das allein die politische Gemeinschaft als Antagonismus der Teile der Gemeinschaft einsetzt, die nicht wirklich Teile des Gesellschaftskörpers sind.“ (Rancière 2002: 33)

Was kann dieses Unmessbare des Unrechts sein? Die Bedingung der Möglichkeit einer polizeilichen

Ordnung liegt in der Gleichheit zwischen Beliebigen (vgl. Rancière 2002: 42), wobei diese in jeder

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Ordnung wieder negiert werden muss. Für Rancière kann eine polizeiliche Ordnung nur existieren, wenn

einige befehlen und andere gehorchen. Die Herrschenden rechtfertigen ihren Anspruch zu herrschen mit

ihrer Überlegenheit gegenüber den Beherrschten, worauf auch immer diese gründen mag, und verneinen

die Möglichkeit einer Gleichheit. Dabei wird die Gleichheit verkannt, die notwendig ist, um den Befehl als

auch das Dem-Befehl-Gehorchen-Müssen zu verstehen (vgl. Rancière 2002: 45). Es ist eben diese

Gleichheit als leeres Eigentum, welche jedem Individuum als sprechendem Wesen zukommt, unabhängig

davon, ob sie ihm von der polizeilichen Ordnung zugesprochen wird oder nicht (vgl. Rancière 2002: 45)

und in deren Zurschaustellung dieses unmessbare Unrecht erscheint.

Allerdings ist nicht jede Darstellung einer Gleichheit dazu in der Lage, einen politischen Streit zu

erzeugen. Um dies zu verdeutlichen, führt Rancière die Revolte der Sklaven der Skythen als Beispiel an,

denen bei Geburt von ihren Herren die Augen ausgestochen werden, da sie diese für die Arbeiten, die sie

nur mit den Händen verrichten, nicht benötigen. Für die Zeit einer Generation wachsen die Kinder der

Sklaven mit unversehrten Augen heran, da die Skythenkrieger sich auf einem langen Feldzug befinden.

Diese Kinder können zwischen sich und den zurückgebliebenen Skythen keinen erkennbaren Unterschied

ausmachen, der ihre Unterlegenheit rechtfertigte. Als die Skythenkrieger zurückkehren, verbarrikadieren

die Sklaven das Lager, bewaffnen sich, um ihre Gleichheit mit den Kriegern darzustellen, und erwarten

die Anerkennung dieser. Nach einem ersten missglückten Angriff auf das von den Sklaven verteidigte

Lager besprechen sich die Krieger und beschließen, ihre Waffen niederzulegen, anstatt dessen mit

Peitschen in das Lager zu marschieren und so die Ungleichheit neu zu begründen. Den Sklaven bleibt

nichts anderes übrig, als sich erneut zu ergeben. Indem sie sich lediglich in ihrer Funktion als Krieger mit

den Skythen gleichsetzen, sind sie nicht dazu in der Lage aus dieser bewaffneten Gleichheit einen Streit

um das, was wahrgenommen wird und was nicht, sowie um dessen Aufteilung zu eröffnen (vgl. Rancière

2002: 36). Sie vermögen es nicht, sich als ,,sprechende Wesen zu konstituieren, die dieselben

Eigentümlichkeiten haben wie diejenigen, die sie ihnen absprechen“ (Rancière 2002: 36). Denn der

Gleichheit zwischen zwei beliebigen sprechenden Wesen ist nicht zwingend ein politisches Moment

inhärent:

„Die Gleichheit ist kein Gegebenes, das die Politik einer Anwendung zuführt, keine Wesenheit, die das Gesetz verkörpert, noch ein Ziel, das sie sich zu erreichen vornimmt. Sie ist nur eine Voraussetzung, die in den Praktiken, die sie ins Werk setzen, erkannt werden muss.“ (Rancière 2002: 44f.)3

Rancières emanzipatorischer Politikbegriff gründet auf einer Konzeption, welche die politische

3 Sie kann also nie ein zu erreichender Zustand sein, sondern verkehrt sich in dem Moment, in dem sie in die

polizeiliche Ordnung eingeschrieben wird, in ihren Gegensatz, nimmt eine neue Form der Ungleichheit an (vgl. Rancière 2002: 43).

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Subjektivierung betont, ohne dabei die polizeiliche Identität der Teile zu fixieren. Im Gegenteil, die

politische Subjektivierung bedeutet eine „Ent-Identifizierung“ (Rancière 2002: 48) von der polizeilich

gegebenen Identität, da politische Namen umstrittene Namen sind (vgl. Rancière 2011: 487). So schreibt

die Subjektivierung einen Namen des Subjekts als unterschieden von jeder polizeilichen Klasse ein,

erzeugt einen Bruch mit den Kategorien der Polizei. „Im politischen Sinne ist eine Klasse etwas ganz

anderes: ein Operator des Streits, ein Name, um die Ungezählten zu zählen, eine Subjektivierungsweise,

die sich über jede Wirklichkeit gesellschaftlicher Gruppen legt.“ (Rancière 2002: 95; Hervorhebung im

Original) Immer dann, wenn ein Teil der Bevölkerung, der keine polizeilich anerkannte Klasse mehr

darstellt und somit kein Recht auf Teilhabe am Gemeinsamen besitzt, Gebrauch von dieser leeren

Gleichheit macht, zeigt sich das Unrecht, das in der Ableitung des Gerechten vom Nützlichen nicht zu

messen ist. Dieser sich von seinem Platz erhebende Teil der Bevölkerung errichtet eine „Gemeinschaft als

politische Gemeinschaft, das heißt als geteilte, auf einem Unrecht gegründet“ (Rancière 2002: 24), nimmt

sich so einen Anteil am Gemeinsamen, der ihm von der polizeilichen Ordnung abgesprochen wird. Das

Aufzeigen dieses Unrechts bringt zwei getrennte Welten zusammen; richtet die eine Welt in der anderen

ein (vgl. Rancière 2008: 35). Der polizeilichen Ordnung wird eine künstliche Gemeinschaft hinzugefügt,

die nur für und durch den Konflikt existiert; eine ,,Gemeinschaft des Konflikts über das Dasein des

Gemeinsamen selbst zwischen dem, der Anteil hat, und dem, der anteillos ist“ (Rancière 2002: 47).

Dieses Recht auf Teilhabe am Gemeinsamen derjenigen, die kein Recht dazu besitzen, nennt

Rancière den „Anteil der Anteillosen“ (Rancière 2002: 24). Hier offenbart sich diese grundlegende

Verrechnung – die eher ein Messfehler als eine Verrechnung ist –, die nicht in der Lage ist, den

Unterschied einer jeden Klasse zu sich selbst zu messen (vgl. Rancière 2002: 31). Durch diese Einrichtung

eines Anteils der Anteillosen entsteht eine Bühne des Dissens, wird ein Streit über die symbolische

Ordnung der Gemeinschaft eröffnet, sowohl darüber, was sinnlich wahrnehmbar ist und was nicht, als

auch um dessen Aufteilung selbst. Es ist dieser Streit, durch welchen Politik überhaupt erst existieren

kann. Jedoch ist unter diesem Streit kein Interessen- oder Meinungskonflikt zwischen konstituierten

Partnern zu verstehen, welcher innerhalb der polizeilichen Ordnung durch kommunikative

Verfahrensmodi beigelegt werden könnte; sondern es handelt sich um einen Streit, „der sich auf die

Zählung der Teile bezieht, selbst noch bevor er sich auf ihre Rechte [auf Teilhabe] bezieht“ (Rancière

2002: 22). Das Spezifische der Politik besteht gerade darin, dass Ort, Gegenstand und Subjekt des Streits

nicht im Vorhinein festgelegt sind, sondern dass die Aufteilung des Sinnlichen selbst in Frage gestellt

wird.

Aber wer kann dieses politische Subjekt sein? ,,Es ist die politische Beziehung,“ schreibt Rancière,

„die es erlaubt, das politische Subjekt zu denken, und nicht umgekehrt.“ (Rancière 2008: 7) Es sind

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diejenigen, denen durch die polizeiliche Identifizierung die Rechte abgesprochen werden, die sie sich aber

dennoch nehmen. Sie zeigen die Kluft auf zwischen den mit ihrer polizeilich bestimmten Identität

korrespondierenden Rechten und den Rechten, die sie nicht haben, welche ihnen aber der gleichheitlichen

Logik nach zustehen. Die politischen Subjekte sind demnach Subjekte, welche sich aus dem Unrecht

konstituieren, ihre Gleichheit demonstrieren und es so vermögen, diese eigentlich leere, nutzlose

Eigenschaft in eine politische Freiheit umzuwandeln. Diese Aussage impliziert, dass die Einrichtung der

Gleichheit, die Errichtung einer Bühne des Dissens nur von den Anteillosen selbst erfolgen kann; sie bleibt

wirkungslos, wenn diese Gleichheit nicht von den Individuen durch ihre Subjektivierung selbst erkannt

wird, sondern stellvertretend für sie eingefordert wird.

Was lässt sich aber unter dieser politischen Freiheit verstehen? Um das Spezifische dieser so

essentiellen politischen Freiheit verstehen zu können, verweist Rancière auf die Freiheit der Athener – des

Demos –, die allein aufgrund des Verbots der Versklavung der Schuldner durch die Gläubiger gegeben

war (Rancière 2002: 20). Der Demos ist die „undifferenzierte Masse derer, die keine positiven

Anspruchsrechte haben […], aber denen dennoch dieselbe Freiheit zuerkannt wird wie denen, die diese

Anrechte besitzen.“ (Rancière 2002: 21) Erst wenn diese undifferenzierte Masse die Freiheit als ihre

eigene Eigenschaft erklärt, die ihr gar nicht alleine gehört, kann sie diese Eigenschaft in einen positiven

Besitz umwandeln und sich so als Anteilhabende in die Gemeinschaft einschreiben: ,,Die antike Politik

beruhte einzig auf der Verrechnung dieses Demos, der Teil und Ganzes war, und von dieser Freiheit, die

nur ihm gehörte, indem sie allen gehörte.“4 (Rancière, 2002: 70)

Die Freiheit des Demos ist heute in Form der proklamierten Menschenrechte gegeben, jedoch sind

diese Menschenrechte als ebenso leere Eigenschaft wie einst die Freiheit der Athener zu begreifen. So

bringt Rancière das Paradox der Menschenrechte als „die Rechte derer, die nicht die Rechte haben, die

sie [aufgrund der Proklamation der Menschenrechte] haben, und zugleich die Rechte [durch ihre

Subjektivierung] haben, die sie nicht haben“, zum Ausdruck (Rancière 2011: 481). Es handelt sich hierbei

um „zwei Existenzformen der Rechte“ (Rancière 2011: 481). Auf der einen Seite stehen die in die

Gemeinschaft eingeschriebenen Rechte in geschriebener Form. Diese Einschreibung lässt die

Menschenrechte jedoch in ihrer abstrakten Form bestehen. Erst durch die Subjektivierung, d.h. wenn die

Träger dieser abstrakten Rechte dieser Einschreibung mit Situationen ihrer Negation begegnen, zeigt sich

4 Die deutsche Übersetzung ist nicht gut und verwirrend. Im französischen Original heißt es: „La politique antique

tenait au seul mécompte de ce démos qui est partie et tout, et de cette liberté qui n'appartient qu'à lui tout en appartenant à tous.“ (Rancière 1995: 89). Genauer ist folgende Übersetzung: „Die antike Politik hing einzig ab von der Verrechnung dieses Demos, der Teil und Ganzes ist, und [der Verrechnung] dieser Freiheit, die nur ihm anhängt, während sie allen anhängt.“ Mit der Verwendung der Verben „abhängen“ und „anhängen“ kommt die stilistische Feinheit Rancières, der jeweils Formen des französischen Verbs tenir à qc/qn benutzt, auch im Deutschen zum Ausdruck.

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die andere Existenzform dieser Rechte, in der sie einen Einsatz im Streit um das Gemeinsame darstellen,

ein Unrecht aufzeigen. „[S]ie verbinden die Welt, in der diese Rechte Gültigkeit haben, mit der Welt, in

der sie keine Gültigkeit haben.“ (Rancière 2011: 483f.) Politisch ist demnach der Ort der Begegnung der

zwei gegensätzlichen Logiken – der Gleichheitslogik und der polizeilichen Logik –, an dem der

Unterschied zwischen der ungleichmäßigen Verteilung der Individuen und der Gleichheit der sprechenden

Wesen hervortritt. Obwohl die gleichheitliche Logik der Politik gänzlich verschieden von der der Polizei

ist, bleibt sie immer an diese geknüpft.

Politik, wie Rancière sie denkt, ist zu begreifen als eine Unterbrechung der polizeilichen Logik – die

jedem Individuum, seiner gesellschaftlichen Klasse entsprechend, eine Identität, einen Platz gibt –, indem

sich eine neue Klasse bildet, die mit keiner der gesellschaftlichen Klassen identisch ist; sich von der

polizeilichen Identität, die die Anteillosigkeit am Gemeinsamen ausdrückt, „ent-identifiziert“ (Rancière

2002: 48), so diese Identität zum Gegenstand eines Streits macht und versucht sich als Anteil der

Anteillosen in das Gemeinsame einzuschreiben. Die Bedingung der Möglichkeit eines Streits ist ein

politisches Subjekt, welches die Polizei auffordert, ,,den Gegenstand zu sehen und das Argument zu

vernehmen, das zu sehen und zu hören [sie] ‚normalerweise‘ keinerlei Grund hat“ (Rancière 2008: 36);

ein politisches Subjekt, das der Polizei die eigene Vernünftigkeit vor Augen hält. Jedoch ist der

Widerstand jeder polizeilichen Ordnung gegen alternative Ordnungskonzepte – gegen eine alternative

Aufteilung des Sinnlichen, die der etablierten Ordnung widerspricht – grundsätzlich. Sie spricht den

Anteillosen ihren Anteil ab, leugnet deren Vernünftigkeit. Für sie bleiben die Demonstrationen nur

vernachlässigbares Geschrei und niederzuschlagende Revolte. Das Nicht-Hören(-Wollen) ist

charakteristisch für die Reaktion der Polizei auf die Forderungen des Anteils der Anteillosen. Sie hört

nicht, dass die Ausstellung der Anteillosen etwas zum Gemeinsamen beiträgt, dass die Anteillosen einen

vernünftigen Gesprächspartner darstellen. Diese Reaktion des Nicht-Hörens äußert sich in einem

Zurückstoßen auf den jeweiligen Platz, in einer unveränderten Wahrnehmung der Anteillosen in ihrer

bereits etablierten polizeilichen Identität. Das Verhalten der Polizisten wird von den Anteillosen nicht

einfach stillschweigend hingenommen, sondern sie versuchen ein weiteres Mal ihre Aussagen als

Aussagen rationaler sprechender Wesen darzustellen. Indem sie beginnen die Reaktion der Polizei zu

,,kommentieren“, machen sie deutlich, dass die Polizei sie als politisches Subjekt mit einem Recht zum

Streit weder erkennen kann noch will (vgl. Rancière 2002: 64ff.). Am Ende des Kommentars steht ein

‚Wir-Haben-Sie-Verstanden‘, das ausdrückt, dass ein Sie versucht ein Verhältnis zu einem Wir zu leugnen.

Durch dieses Wir-Verstehen stellen diejenigen, denen die Rechte auf Teilhabe abgesprochen werden, sich

erneut als vernünftige Gesprächspartner dar und zwingen die Polizei durch die drohende Gefahr des

Verlustes der eigenen Rationalität auf die Argumente der Anteillosen einzugehen, sie als ein politisches

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Subjekt wahrzunehmen (Rancière 2002: 66). Dies ist die Rationalität der Politik, wie Rancière sie versteht

und die er die Vernunft des Unvernehmens nennt.

Wir beenden die Betrachtung hier und wenden uns sowohl dem Platz der Asylbewerberinnen in

Deutschland als auch der Subjektivierung der Flüchtlinge zu.

II. Zum Platz der Asylbewerberin und der Geduldeten

Im folgenden Kapitel soll die polizeiliche Identifizierung der Asylbewerberin und der Geduldeten in

der Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet werden. Es sollen ihre Seinsweisen, Orte und

Tätigkeiten beleuchtet werden, kurz: welchen Platz sie zugeteilt bekommt. Dazu werden einerseits die

Gesetze und Verordnungen, denen Asylbewerberinnen und Geduldete in Deutschland unterworfen sind,

betrachtet; andererseits wird ein Blick auf die Äußerungen der Polizei geworfen. Daraus wird gefolgert,

welche Art der polizeilichen Wahrnehmung der Asylbewerberinnen und Geduldeten in Deutschland

vorherrscht.

Zunächst werden die Gesetze und Verordnungen betrachtet. In einem Seminar über die

Gastfreundschaft spricht Jacques Derrida von einem Gegensatz, einer „Antinomie“, die er charakterisiert

als „eine unauflösbare, nicht dialektisierbare Antinomie zwischen dem Gesetz der Gastfreundschaft“, das

die „unbedingte“ Gastfreundschaft ausdrückt und diese jedem absolut ohne Bedingung gewähren will;

„und den Gesetzen der Gastfreundschaft“, die die Ankommenden selektieren, ihnen bestimmte Pflichten

und Einschränkungen auferlegen (Derrida 2001: 60f.). Die Antinomie stellt sich folgendermaßen dar: „Das

Gesetz steht über den Gesetzen“, es muss als ein den Gesetzen inhärentes Prinzip gedacht werden,

welches die Gesetze der Gastfreundschaft anleitet, ihnen den Weg weist, selbst aber, da über den

Gesetzen stehend, „illegal“ (Derrida 2001: 61) ist. Das Gesetz der Gastfreundschaft selbst befiehlt nichts,

ist nicht im Modus des Imperativs formuliert und benötigt so die – faktisch formulierten, legalen –

Gesetze der Gastfreundschaft, um wirklich zu sein, um nicht eine bloße Illusion zu werden (Derrida 2001:

62). Gleichzeitig gefährden die Gesetze immer schon von Grund auf das Gesetz, denn sie müssen dazu

fähig sein „das unbedingte Gesetz der Gastfreundschaft“ zu bedingen (Derrida 2001: 62). Es besteht

zwischen ihnen also ein dialektischer Gegensatz, der nie spekulativ aufzuheben ist.

Die Gesetze der Gastfreundschaft, die das Asyl betreffen, haben in der Bundesrepublik Deutschland

ihren Anfang im Art. 16a Abs. I GG, in dem es da heißt: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Schon

ein erster, flüchtiger Blick in die direkt darunter folgenden Schranken zeigt, wie die Gesetze das Gesetz

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der Gastfreundschaft in Deutschland verspeisen, bis zu und über den Biss hinaus, der die Bezeichnung

Gastfreundschaft als Euphemismus erscheinen lässt. Wer in Deutschland Asyl genießt, gilt als staatlich

anerkannter Flüchtling. Bei allen anderen Ankommenden handelt es sich, sofern ihr Status als Flüchtling

nicht anerkannt wurde, im rechtlichen Sinne um Illegale, Geduldete5 – also Ausreisepflichtige, deren

Abschiebung aus verschiedenen Gründen nicht vollzogen werden kann – oder um Asylbewerberinnen,

deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossenen ist: „Nicht, wer aus seinem Land fliehen musste,

sondern nur, wer auch alle Kriterien der (restriktiven) Rechtsprechung erfüllt, soll sich ‚Flüchtling‘ nennen

dürfen.“ (Hohlfeld 2005: 21) Diese Kriterien sind nach herrschender Meinung der Rechtsprechung

erdrückend. Zunächst muss eine „objektive Verfolgungsgefahr“ bestehen, eine allein „subjektiv

begründete Furcht vor Verfolgung“ ist ungenügend (vgl. Hohlfeld 2005: 53). Die Asylbewerberin muss

aufgrund der Verfolgung von staatlichen (oder „staatsähnlichen“) Akteurinnen ihre Heimat verlassen

haben, was von Grund auf Bürgerkriegsflüchtlinge ausschließt. Die Gründe der Verfolgung müssen

„asylrelevante Persönlichkeitsmerkmale“ (Hohlfeld 2005: 53) der Asylbewerberin, wie etwa die religiöse

Überzeugung, die politische Meinung, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder sozialen

Gruppe etc., sein. Fluchtursachen, die eine ganze Bevölkerung betreffen, – z.B. (Bürger-)Kriege, Unruhen,

existenzbedrohende Missstände wie Hunger- und Naturkatastrophen – führen nicht zu einer

Anerkennung des Asylantrags, da nur die individuelle Verfolgung zum Genuss des Asyls berechtigt. Nur

eine „bestimmte Intensität“ der Verfolgung als auch eine mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“

drohende Verfolgung rechtfertigen das Asyl (Hohlfeld 2005: 53).6 „Kollektivverfolgungen“ begründen

kein Asyl, erst die sogenannte „Gruppenverfolgung, bei der nahezu jedes Mitglied einer bestimmten

Gruppe mit erheblicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten hat, ist asylrechtlich

relevant.“ (Hohlfeld 2005: 53) Sollten sich nach der Flucht Bedrohungen ergeben, die aufgrund von

politischer Aktivität im Exil entstanden sind – „selbst geschaffene Nachfluchtgründe“ (Hohlfeld 2005: 53)

–, rechtfertigen diese ebenfalls kein Asyl. Auch Wehrdienstverweigerinnen und Deserteurinnen können

sich nicht auf Art. 16a Abs. I berufen, denn jedem Staat steht sowohl das Recht zu, seine Bürgerinnen in

die Armee einzuberufen als auch Deserteurinnen zu verurteilen. Zuletzt darf ebenfalls keine alternative

Zufluchtsstätte im Heimatland gegeben sein (vgl. Hohlfeld 2005: 53).

Die „Entkernung des Asylrechts“ (Hohlfeld 2005: 50), wie Thomas Hohlfeld die umfassenden

5 Die „Duldung“ ist ebenfalls ein Rechtsbegriff, mit dem die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung

verbunden ist. Die Abschiebung kann z.B. aus humanitären Gründen oder dem gesundheitlichen Zustand der Geduldeten ausgesetzt werden. Thomas Hohlfeld stellt den Begriff der Duldung in die Nähe der Vogelfreiheit, denn Geduldete leben in Deutschland teilweise über Jahrzehnte ohne gesicherten Status (vgl. Hohlfeld 2005: 40f.).

6 In Extremfällen erreichen nicht einmal die Tötung des Ehemanns, mehrtägige Festnahmen, Körperverletzungen und mehrfache Vergewaltigung durch Wächter, wie im Fall einer Asylbewerberin aus Zaire, die erforderliche Intensität, um dem Asylantrag stattzugeben (vgl. Hohlfeld 2005: 55).

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Restriktionen nennt, veranlasste einen Experten des deutschen Asylrechts zur Aussage, die

Anforderungen seien „so hoch, dass sich ernsthaft die Frage stellen lässt, ob Juden unter diesen

Vorgaben in Deutschland vor 1943 oder im Warschauer Ghetto als verfolgt anzusehen gewesen wären“

(Renner 1999: 210). Die Aussicht auf Erfolg eines Antrags auf Asyl muss als extrem gering betrachtet

werden. Im Zuge der Dublin II-Verordnung kommt hinzu, dass es beinahe unmöglich geworden ist,

überhaupt in Deutschland Asyl zu beantragen und frau schon fast gezwungen ist „mit dem Fallschirm

über Deutschland“ (Förderverein The Voice 2007: 10) abzuspringen.

Was lässt sich aus diesen Restriktionen bezüglich der Identifizierung der Asylbewerberinnen

schließen, welcher Platz ist ihnen in der Polizei zugeteilt? Die Asylbewerberin wird von der Polizei als eine

unerwünschte Person wahrgenommen, die nur durch die Ausreizung der Großzügigkeit der

Bundesrepublik Deutschland – für die sie Dankbarkeit zeigen sollte – für kurze Zeit, vorübergehend

aufgenommen wird und am besten so schnell wie nur irgend möglich wieder verschwindet. So ist der

erste Mosaikstein der Weise des Seins der Asylbewerberinnen in Deutschland geartet. Diese

Wahrnehmung wird bei Betrachtung der Restriktionen, der die Asylbewerberinnen während der

Bearbeitung ihres Asylantrags und Geduldete in Deutschland unterworfen sind, verdeutlicht. Mit diesen

Restriktionen sollen offiziell die Sicherstellung der ständigen Erreichbarkeit zur

Verfahrensbeschleunigung, eine gleichmäßige Verteilung der Lasten auf Länder und Kommunen, eine

Vermeidung unerwünschter Konzentration von Asylbewerberinnen und Geduldeten und die Abschreckung

von missbräuchlich gestellten Asylanträgen bezweckt werden (vgl. Selders 2009: 48). Im Zentrum steht

hier die Residenzpflicht, die in § 56 Abs. I Asylverfahrensgesetz geregelt ist: „Die Aufenthaltsgestattung

ist räumlich auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme des

Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.“ Diese räumliche Aufenthaltsgestattung bezieht sich

nicht nur auf den Wohnsitz, sondern meint den Aufenthalt an sich (vgl. Selders 2009: 30). Der

Asylbewerberin und der Geduldeten ist es nicht gestattet diesen Bereich ohne Erlaubnis der zuständigen

Ausländerbehörde zu verlassen. Bis vor kurzem war die räumliche Beschränkung der

Aufenthaltsgestattung die der Grenze der einzelnen Landkreise. Seit 2010 haben mehrere Bundesländer

begonnen Lockerungen der Residenzpflicht vorzunehmen und die Aufenthaltsgestattung auf das

Bundesland zu erweitern. Gleichzeitig wurden die Ausschlussgründe für die erweiterte

Aufenthaltsbeschränkung restriktiver. Ausschlussgründe sind: Verdacht auf Terrorismus, unerlaubte

Verlegung des Wohnsitzes, begangene Straftaten, ein geplanter Abschiebungstermin sowie der Verstoß

gegen die Mitwirkungspflichten. Kay Wendel geht davon aus, dass „mit den Ausschlussgründen von den

Lockerungen […] der Radius der Bewegungsfreiheit nunmehr vom Verhalten der einzelnen abhängig

gemacht“ und die erneute „Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf ein bestimmtes Gebiet systematisch

Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte

12 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

als Druck- und Sanktionsmittel eingesetzt“ (Wendel 2013: 40) werden.

Interessant ist hier die Begründung der Verweigerung einer Verlassenserlaubnis zum Besuch einer

politischen Veranstaltung. Diese wird regelmäßig nicht erteilt, da sie zu selbst geschaffenen

Nachfluchtgründen führen könnte, die einen ungebetenen Effekt auf das Asylverfahren haben (vgl.

Selders 2009: 33); natürlich ungebeten für die BRD. Die Idee, Asylbewerberinnen und Geduldete könnten

für ihre Rechte in Deutschland und nicht nur gegen Unterdrückung im Heimatland demonstrieren,

erscheint abwegig, denn ihre Identifizierung hat nichts zum Gemeinsamen in Deutschland beizutragen.

Sollte eine Asylbewerberin ohne Verlassenserlaubnis, z.B. mit dem Zug, die räumliche Beschränkung

übertreten, wartet am Bahnhof schon die „niedere Polizei“ (Rancière 2002: 40), die sie einer Kontrolle

unterzieht.

Die Folge der Kontrolle ist eine doppelte. Einerseits wird die Asylbewerberin kriminalisiert, sie wird

für etwas bestraft, wofür keine andere eine Strafe erwarten muss. So wurden von der Einführung der

Residenzpflicht 1982 bis 2006 mehr als 160.000 Verurteilungen aufgrund von Verstößen gegen die

Residenzpflicht gefällt (vgl. Selders 2009: 101), wodurch das Bild der kriminellen Asylbewerberin

entsteht. Andererseits hat die Kontrolle Auswirkungen auf die deutsche Bevölkerung: Dadurch, dass an

öffentlichen Plätzen vor allem Menschen kontrolliert werden, deren Erscheinung nicht der stereotypischen

Deutschen entspricht, entsteht in der deutschen Gesellschaft ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den

Asylbewerberinnen, die zu Recht nicht die gleichen Rechte hätten (vgl. Selders 2009: 54). Die

Restriktionen sind also nicht nur der Ausdruck einer bestimmten polizeilichen Identifizierung, sondern sie

selbst bekräftigen diese noch.

An welchen Orten trifft man die Asylbewerberinnen an? Verbunden mit der Residenzpflicht ist die

zwingende Unterbringung der Asylbewerberinnen und Geduldeten in Sammelunterkünften (vgl. Selders

2009: 11). Ausnahmen bestehen, doch in der Regel ist es ihnen genauso wenig erlaubt eine eigene

Wohnung zu beziehen, wie sie das Recht auf Bewegungsfreiheit haben. Die Sammelunterkünfte liegen oft

an abgelegenen Orten, von denen sie nur erschwert Anschluss an die öffentlichen Verkehrsmittel erhalten

und so kaum in Kontakt mit der Gesellschaft kommen. Das Ziel dieser Maßnahme ist es, die

Asylbewerberinnen von der Bevölkerung zu trennen und unsichtbar zu machen (vgl. Selders 2009: 120).

Die Orte, an denen die Asylbewerberinnen und Geduldeten erscheinen, sind so in Deutschland kaum

wahrzunehmen.

Was sind ihre Tätigkeiten? Innerhalb des ersten Jahres nach ihrer Ankunft sind Asylbewerberinnen

und Geduldete nicht berechtigt, eine Arbeit aufzunehmen. Danach erhalten sie allerdings nur eine

Arbeitserlaubnis, wenn sie eine Arbeitsstelle in Aussicht haben, die keine andere Deutsche, EU-Bürgerin

oder eine Person mit einem anderen Aufenthaltstitel besetzen möchte, woraus sich regelmäßig ein

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13 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

faktisches Arbeitsverbot ergibt (vgl. Selders 2009: 11). Die Asylbewerberin arbeitet also nicht. Was macht

sie sonst? Nichts! Frau könnte beinah meinen, in der Wahrnehmung der Polizei bestehe ihre Tätigkeit in

nichts anderem als auf die Ablehnung ihres Asylantrags zu warten. Bis das Bundesverfassungsgericht

2012 § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylblG), der die Leistungen an Asylbewerberinnen und

Geduldete bestimmt hatte, kippte (vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10), mussten diese ihren Lebensunterhalt bis zu

vier Jahre nach Ankunft faktisch von etwa der Hälfte des Sozialhilfesatzes (davon ein Großteil

Sachleistungen und Gutscheine) bestreiten (vgl. Selders 2009: 11). Auch hier lässt sich der Rechtfertigung

die polizeiliche Wahrnehmungsweise entnehmen. In der Antwort der Bundesregierung auf eine

parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke zur sozialen Existenzsicherung nach dem AsylblG heißt

es zum gesenkten Unterhalt: „Die gegenüber den Leistungen nach dem SGB XII geringeren Leistungen im

AsylblG finden ihre Begründung […] im fehlenden sozialen Integrationsbedarf“ (Deutscher Bundestag

2008: 23) von Asylbewerberinnen und Geduldeten, wodurch die „Zumutbarkeit […] eines Ausschlusses

von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (Deutscher Bundestag 2008: 17) gegeben ist. Sie haben

keinen Anteil am Gemeinsamen, ihnen kann sogar zugemutet werden für volle vier Jahre von der

Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.

An den Gesetzen und Verordnungen wird auch innerhalb der Polizei, vor allem aus dem linken

Lager, Kritik geübt. Im Folgenden soll anhand der Debatte über den sogenannten Asylmissbrauch durch

Romnija aus Osteuropa beispielhaft7 gezeigt werden, wie auch diese Kritik nicht in der Lage ist, die

Asylbewerberinnen und Geduldeten als politisches Subjekt, das etwas zum Gemeinsamen beiträgt,

wahrzunehmen.

Seitdem die Möglichkeit der visafreien Einreise für Staatsangehörige einiger osteuropäischer

Staaten bestand, kam es zu einem erhöhten Aufkommen von Asylanträgen aus diesen Staaten. Es

dauerte nicht lange, bis von einem Missbrauch des deutschen Asylrechts gesprochen und Forderungen

gestellt wurden, die Leistungen für Asylbewerberinnen zu kürzen. So sprach sich der deutsche

Innenminister neben den Leistungskürzungen für ein schnelleres Asylverfahren aus, so dass „die

Unberechtigten schnell wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden“ (zitiert in: Der Tagesspiegel

Online, 13. 10. 2012) können. Ebenfalls forderte er, an die Asylbewerberinnen „strikt Sachleistungen statt

Bargeld [zu] verteilen“ (zitiert in: Der Tagesspiegel Online, 13. 10. 2012), um den Missbrauch des

Asylrechts zu verhindern. Auch der damalige Vorsitzende der Innenministerkonferenz war sich sicher: „Sie

wollen unberechtigt das Asylrecht der Bundesrepublik in Anspruch nehmen und damit das in Deutschland

7 Es ist uns bewusst, dass dies keine umfassende Analyse der Debatte um den mutmaßlichen Asylmissbrauch

darstellt.

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14 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

geltende Recht und politisch tatsächlich Verfolgte aus der ganzen Welt diskreditieren.“ (zitiert in: Die

Welt Online, 15. 10. 2012c) Diese Aussagen wurden von der Opposition zurückgewiesen und als

Demagogie und Verbreitung rassistischer Vorurteile bezeichnet (vgl. Die Welt Online, 25. 10. 2012). Das

Vermögen, sie als politisches Subjekt zu erkennen, kann aber auch dieser Kritik nicht entnommen werden:

Für den parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen, stellen die Romnija, die in der BRD um Asyl

bitten, „die Ärmsten der Ärmsten“ dar, „die kaum wissen, wie sie über den Winter kommen sollen“

(zitiert in: Die Welt Online, 25. 10. 2012). In die gleiche Kerbe schlägt die Kritik von

Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International sieht in den Asylbewerberinnen nur die

„Schutzbedürftigen“, die „unmenschlich behandelt werden“ (zitiert in: Die Welt Online, 25. 10. 2012).

Aus der einen Perspektive wird die Asylbewerberin also mit dem Missbrauch des Asylrechts identifiziert,

aus der anderen ist sie das Opfer von Diskriminierung im Heimatland, die den Schutz der Bundesrepublik

Deutschland benötigt. Beide Perspektiven sind nicht fähig, sie als ein politisches Subjekt zu begreifen.

Die Asylbewerberinnen und Geduldeten werden also als unerwünschte Personen identifiziert. Ihre

Orte sind kaum wahrzunehmen, beinahe unsichtbar, ihre Tätigkeiten sind inexistent und nicht mal die

Notwendigkeit ihrer – in unserer Gesellschaft doch so zwanghaft vorgebeteten – gesellschaftlichen

Inklusion ist gegeben. Treten sie doch in Erscheinung, dann als Kriminelle, die, anstatt sich für ihre

großzügige Aufnahme dankbar zu zeigen, das Asylrecht missbrauchen. Die Residenzpflicht in Verbindung

mit Kontrollen der niederen Polizei lässt die Identität der Asylbewerberinnen und Geduldeten als der

Identität der Deutschen unterlegen erscheinen. In der humaneren Version der Polizei werden sie als

diskriminierte Opfer, die den Schutz des Asyls benötigen, wahrgenommen. Der ihnen zugewiesene Platz

liegt jenseits vom Gemeinsamen. Sie haben absolut keinen Anteil an den gemeinsamen Angelegenheiten,

sie sollen nichts beitragen, ihre vorübergehende Anwesenheit ist allein der Ausdruck eines „rein

individuelle[n] Leben[s], das nichts überträgt, außer das Leben selbst, reduziert auf seine

Reproduktionsfähigkeit.“ (Rancière 2002: 35)

III. Die politische Subjektivierung der Flüchtlinge

Wenn den Flüchtlingen in der polizeilichen Ordnung die Identität der passiven Asylbewerberin

zugeschrieben wird, welche Konsequenzen hat dann der erfolgte Protest der Flüchtlinge gegen die

polizeiliche Logik, d.h. der Protest gegen jene ihnen von der Polizei zugeteilten Orte, Tätigkeiten und

Seinsweisen, also gegen ihren Platz? Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, ob und inwieweit

der Protest gegen die Residenzpflicht als eine Subjektivierung der Flüchtlinge im Sinne Rancières

verstanden werden kann. Um die Frage angemessen beantworten zu können, erweist es sich als

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15 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

unabdingbar, von vornherein zwischen Selbstwahrnehmung der Flüchtlinge und polizeilicher

Fremdzuschreibung zu differenzieren. Es werden daher ausschließlich Quellen herangezogen, welche von

den betroffenen Flüchtlingen selbst verfasst wurden, beziehungsweise Interviews, in denen die

Flüchtlinge selbst zu Wort kommen.

Zunächst ein kurzer Überblick der Chronologie des Protestes: Der Protest nahm seinen Anfang im

Jahr 2000 auf dem Flüchtlingskongress in Jena. Auf diesem von der Karawane für die Rechte der

Flüchtlinge und MigrantInnen organisierten Kongress wurde ein Ad-hoc-Komitee des zivilen Ungehorsams

gegen die restriktiven Gesetze des Asylverfahrens gebildet. Das Ergebnis dieses Kongresses war die

Jenaer Resolution: der Beschluss der teilnehmenden Flüchtlinge in Zukunft bewusst und konsequent

gegen das Gesetz der Residenzpflicht zu verstoßen. Jedoch wurde sich nicht nur darauf geeinigt, von nun

an weder um Erlaubnis zum Verlassen des ihnen zugewiesenen Landkreises zu bitten noch irgendwelchen

Strafen und Auflagen nachzukommen; darüber hinaus sah dieser Beschluss unter anderem verschiedene

Aktionen des zivilen Ungehorsams vor, ,,um die Notlage der Flüchtlinge in die Öffentlichkeit zu bringen“

(Förderverein The Voice 2007: 6). Die geplanten Aktionen des zivilen Ungehorsams sollten unverzüglich

mit dem Ende des Kongresses einsetzen und in einem entschiedenen Marsch der Flüchtlinge auf Berlin

gipfeln, wobei der genaue Zeitpunkt noch offen gelassen wurde. Die teilnehmenden Flüchtlinge setzten

daraufhin die genannten Willenserklärungen in Taten um, jedoch blieben diese weitgehend unbemerkt,

wurden von der breiten Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Erst Anfang des Jahres 2012 erreichte der

Protest eine neue Intensität und Dimension. Motiviert durch den Suizid des iranischen Flüchtlings

Mohammed Rahsepar in einem Würzburger Flüchtlingslager, kam es zu einem von Flüchtlingen selbst

organisierten monatelangen Protestcamp in der Würzburger Innenstadt, gefolgt von Protesten in neun

anderen Städten im gesamten Bundesgebiet (vgl. Refugee Tent Action)8. Immer wieder traten Flüchtlinge

in den Hungerstreik oder nähten sich die Lippen zu, um auf die ,,unmenschlichen Lebensbedingungen“,

denen sie ausgesetzt sind, aufmerksam zu machen. Am 8. September 2012 wurde dann der schon auf

dem Jenaer Flüchtlingskongress gefasste Beschluss realisiert: ein 600 Kilometer langer Fußmarsch von

Würzburg nach Berlin.

Neben der Boykottierung der Sammelunterkünfte war der bewusste Verstoß gegen geltendes

Recht, indem mehrere Ländergrenzen unbefugt übertreten wurden, eine weitere Form des zivilen

Ungehorsams. Unter der programmatischen Parole ,,Refugee Protestmarch - We will rise!“ zogen die

Flüchtlinge zu Fuß nach Berlin, um ihre zentralen Forderungen nach einer Abschaffung der

Flüchtlingslager und der Residenzpflicht sowie einem Abschiebestopp zu den Verantwortlichen in Berlin

8 Die Chronologie des Protests gegen die Residenzpflicht ist der Internetseite www.refugeetentaction.net, die die

zentrale Plattform zur Organisation des Protestes ist, entnommen.

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16 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

zu tragen. Auf dem Weg dorthin schlossen sich immer mehr Flüchtlinge sowie zahlreiche andere

Unterstützerinnen den Protestierenden an. Nach knapp einem Monat in Berlin angekommen, mündete

der Marsch in zwei Protestcamps an zentralen Plätzen der Stadt: das Protest-Camp am Oranienplatz in

Kreuzberg sowie das am Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor, von wo aus der Protest gemeinsam

fortgeführt werden sollte. Es gab zahlreiche Demonstrationen, Kundgebungen und Vorträge, um

öffentlichkeitswirksam auf den Protest aufmerksam zu machen. Um gegen die Abschiebepraxis zu

protestieren, besetzten einige Flüchtlingsaktivistinnen sogar kurzweilig die nigerianische Botschaft. Am

Pariser Platz traten die Protestierenden immer wieder in Hungerstreiks, welche teilweise unterbrochen,

immer wieder fortgesetzt wurden, da trotz der erfolgten Gespräche mit den Repräsentantinnen der Polizei

nicht den Erwartungen der Protestierenden gemäß auf ihre Forderungen eingegangen wurde. Der Protest

am Brandenburger Tor wurde vorübergehend ausgesetzt. In Kreuzberg genehmigte der Bezirk die

dauerhafte Nutzung des Oranienplatzes als Protestcamp. Zudem dient eine besetzte Kreuzberger Schule

den Flüchtlingen als wärmende Unterkunft (vgl. Refugee Tent Action 2012).

Der Protest der Flüchtlinge gegen die Residenzpflicht im Kontext des Protestes gegen die

Restriktionen, welche ihnen durch die zahlreichen Gesetze und Verordnungen auferlegt sind, dauert

weiter an. Ein abschließendes Ergebnis konnte bislang nicht erzielt werden. Unabhängig davon, ob bisher

konkrete Ergebnisse vorliegen, stellt sich die Frage, inwieweit anhand dieses Protestes eine

Subjektivierung der Flüchtlinge zu erkennen ist.

Das Besondere und Neue an diesem Protest ist, dass es sich um eine Bewegung handelt, in der die

Betroffenen sich selbst organisieren. Der gesamte Protest – von der Verabschiedung der Jenaer

Resolution über die Realisierung des Protestmarsches bis zur Koordination der gegenwärtigen Aktionen –

ist charakterisiert durch die Organisation der von der Residenzpflicht betroffenen Flüchtlinge selbst. Dazu

heißt es in einer veröffentlichten Stellungnahme der Flüchtlinge:

,,Diese Bewegung und dieser politische Kampf sind absolut eigenständig und unabhängig von Ideologien, von Organisationen und Parteien. Dies ist eine pluralistische Bewegung, organisiert von Geflüchteten selbst mit unterschiedlichen politischen Anschauungen und auch Differenzen. [...] Dies ist eine Bewegung von Geflüchteten für Geflüchtete.“ (Refugee Tent Action 2012a)

Zwar erhalten sie Hilfe und Unterstützung durch ehemalige Flüchtlinge, Aktivistinnen und

Flüchtlingsorganisationen, jedoch werden die wichtigsten strategischen und taktischen Entscheidungen

von den Flüchtlingen selbst getroffen und umgesetzt, steht keine Organisation als Initiatorin hinter dem

Protest.

Mit dem Protest hat eine Ent-Identifizierung stattgefunden: Die Asylsuchende hat sich einen neuen

Namen gegeben – ,,Wir Flüchtlinge“ (Refugee Tent Action 2012b) – einen Namen, dessen Bedeutung und

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17 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Intention dem polizeilich zugeschriebenen Platz der Asylbewerberin widerspricht. Auch in der

polizeilichen Ordnung gibt es die Identität der Flüchtlinge, allerdings ist es nur die Identität derjenigen,

welche von der Polizei als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Der neue Name der Flüchtlinge ist

weitreichender. Der Name bezeichnet eine Klasse, die keine gesellschaftliche Klasse mehr ist. Es ist der

Name für all jene, deren Asylantrag sich noch in Bearbeitung befindet, und für diejenigen, welche einen

vorübergehenden Status als Geduldete besitzen. Aber er ist es auch für jene, die noch keinen Asylantrag

gestellt haben oder deren Antrag abgelehnt wurde und die nun in der Illegalität leben – kurz: Es ist der

Name für all jene, die vorübergehend oder dauerhaft in Deutschland leben wollen, aber (noch) keine

staatlich anerkannte Berechtigung dazu besitzen.

Hier besteht ein weiterer Unterschied, welcher durch die polizeiliche Identität der Flüchtlinge nicht

erfasst werden kann: Es gibt nicht den Flüchtling, daher können und wollen die Flüchtlinge auch keine

Forderungen nach allgemeiner Naturalisierung erheben; einige von ihnen erheben nicht einmal mehr den

Anspruch, eingebürgert zu werden. Wenngleich sie sich aus verschiedenen Gründen gezwungen sehen,

vorübergehend ihre Heimat zu verlassen, impliziert das nicht, dass sie nicht ihre nationale Identität

beibehalten wollen. Die Lösung ihrer Probleme sehen sie daher nicht in der deutschen Staatsbürgerschaft,

sondern in der Anerkennung ihres Flüchtlingsstatus. Sie verkünden, dass

,,die Trennung von Menschen in ,Ausländer_innen‘ und ,Inländer_innen‘, in ,Bürger_innen‘ und ,Nicht-Bürger_innen ‘ nach wie vor das Herzstück des politischen Handelns der Politiker_innen bildet. Deshalb sind ihre inhaltlosen Parolen von Gerechtigkeit und Freiheit in internationalen Versammlungen für uns unerträglich anzuhören.“ (Refugee Tent Action 2012c)

Es wird deutlich, dass die Forderungen der Flüchtlinge nicht auf bloße Verteilungskonflikte

zurückzuführen sind, welche innerhalb der etablierten polizeilichen Ordnung beigelegt werden könnten.

Die Forderungen implizieren ein neues Verständnis der Flüchtlinge selbst, welches die polizeiliche

Ordnung unterbricht. Die protestierenden Flüchtlinge schreiben einen Namen als unterschieden von

jedem identifizierten Teil der Gemeinschaft ein, welcher zugleich ein neues Selbstverständnis impliziert.

Jedoch handelt es sich nicht lediglich um eine bloß gewünschte, willkürlich gewählte Identität. Das neue

Selbstverständnis kommt in ihren Äußerungen und Handlungen zum Ausdruck, nimmt durch diese

Handlungen Gestalt an. Durch den Protestmarsch und die weiteren Aktionen des zivilen Ungehorsams

konstituieren sich die Flüchtlinge als aktives Subjekt, als Subjekt, welches die polizeiliche Ordnung mit

einer alternativen Aufteilung des Sinnlichen konfrontiert. Mit dem Verstoß gegen die Residenzpflicht

erheben die Flüchtlinge sich von ihrem Platz, sie agieren an Orten, an welchen sie sich laut polizeilicher

Ordnung nicht aufzuhalten haben; sie üben neue Tätigkeiten aus, indem sie sich Repräsentantinnen

geben und Arbeitsgruppen zur Organisation und Koordinierung des Protestes bilden; sie arbeiten, obwohl

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18 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

für sie faktisch ein Arbeitsverbot gilt. Die Flüchtlinge fügen sich nicht länger in die Rolle der passiven

Asylbewerberinnen, von denen Dankbarkeit und Demut erwartet wird. Sie verhalten sich nicht länger

passiv, sondern kämpfen aktiv für die Anerkennung ihrer Forderungen:

,,Wir brachten alles, was wir hatten in einem sechsmonatigen Kampf auf die Straße, um dies zu veranschaulichen. Auf die Straße, weil dies der Ort ist, an dem sich unterdrückte Körper zusammenschließen um sich Freiheit und Gerechtigkeit selbst wieder anzueignen, denn Politik gehört den Menschen selbst und nicht Politiker_innen.“ (Refugee Tent Action 2012c)

Es wird deutlich, dass frau den Protest als eine Subjektivierung betrachten kann. Die

Asylbewerberin, die in der polizeilichen Ordnung keinen Anteil am Gemeinsamen hat, die kein Recht auf

Teilhabe besitzt, der von vornherein die Fähigkeit abgesprochen wird, etwas zum Gemeinwohl

beizusteuern, hat sich einen neuen Namen gegeben und so einen Raum eröffnet, in dem sich jede dazu

zählen kann, die von der polizeilichen Ordnung bisher nicht gezählt wurde. Die Flüchtlinge, als politisches

Subjekt, haben den Rechtsanspruch des Streits, welcher ihnen als Trägerinnen der abstrakten

Menschenrechte zukommt, wahrgenommen, indem sie einen Dissens gegen den Entzug von Rechten

geschaffen haben, dem sie ausgesetzt sind. In einem offenen Brief an das deutsche Bundesparlament

klagen sie an: ,,Die gegenwärtige Situation ist eine klare Verletzung grundlegender Menschenrechte: Das

fundamentale Recht der Flüchtlinge als Menschen, die das Recht auf Freiheit und Bewegung haben.“

(Förderverein The Voice 2007: 8) Sie haben sich das Recht auf Bewegungsfreiheit genommen, das Recht

auf Meinungsfreiheit, das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit – alles Rechte, die ihnen

faktisch durch die Gesetze der Asyl- und Migrationspolitik verwehrt bleiben beziehungsweise stark

eingeschränkt sind. Indem die Flüchtlinge, als politisches Subjekt, bewusst diese Gesetze gebrochen

haben, haben sie sich von den ihnen zugeteilten Plätzen entfernt; sie haben gesprochen, obwohl sie nicht

zu sprechen haben – kurz: Sie haben an etwas teilgenommen, woran sie keinen Anteil hatten.

Wenn Rancière sagt, dass die politische Tätigkeit jene sei, welche die polizeilichen Funktionen

verkehre; welche sehen lasse, was keinen Ort hatte gesehen zu werden, einen Diskurs als Rede verstehen

lasse, welcher vorher nur als Lärm vernommen wurde (vgl. Rancière 2002: 41), dann wird evident, dass

der gesamte Protest der Flüchtlinge gegen die Residenzpflicht als politischer Prozess zu verstehen ist, als

Politik, welche die polizeiliche Ordnung unterbricht, indem ein Streit über die Aufteilung des Sinnlichen

selbst eröffnet wurde. Der polizeilichen Ordnung wird eine alternative Ordnung gegenübergestellt – eine

Ordnung, in welcher die Flüchtlinge Anteil am Gemeinsamen haben. Der Streit konstruiert eine paradoxe

Welt, macht die Existenz der einen Welt in der anderen sichtbar, sodass der durch seinen umstrittenen

Prozess bekannt gewordene Flüchtling Cornelius Yufanyi sich fragt:

,,Wie konnte es passieren, dass ich, Cornelius Yufanyi, [...] in zwei unterschiedlichen Welten leben konnte – in der Welt mit psychischer Folter und Qualen und in einer Welt mit Zukunft – beides in einem demokratischen

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19 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Land mit Grundrechten wie Deutschland.“ (Förderverein The Voice 2007: 19)

Den Flüchtlingen gelingt es die polizeiliche Ordnung zu unterbrechen, ihre Kontingenz zu entlarven,

indem sie von außen eine Voraussetzung einbringen – eine Voraussetzung, die der polizeilichen Logik

widerspricht: die Gleichheit. Indem sie sagen: ,,[W]ir werden keine Gesetze respektieren, die uns nicht als

Menschen respektieren“ (Refugee Aent Action 2012c), erkennen sie ihre Gleichheit als sprechende Wesen

mit jedem anderen beliebigen sprechenden Wesen – ihre Gleichheit mit der deutschen Gesellschaft. Sie

sind bestrebt diese Gleichheit durch das Aufzeigen ihres Unrechts in die vorherrschende Ungleichheit

einzuschreiben. Dazu der Flüchtling Osaren Igbinoba:

,,Wir führen eine Kampagne für Bewegungsfreiheit, aber das ist keine Kampagne nur für unsere Rechte, es ist auch eine für die deutsche Gesellschaft […]. Wir betteln nicht darum, von einem Landkreis in den anderen zu dürfen, denn man kann nicht darum bitten, sich frei bewegen zu dürfen. Das wäre, als würde man darum bitten, geboren zu werden. Das Recht auf Bewegungsfreiheit ist etwas Natürliches. Wir sind keine Bittsteller, sondern wir wollen erreichen, dass in Deutschland begriffen wird: das ist keine offene Gesellschaft.“ (Selders 2009: 130)

Das Argument, welches für Rancière den Beweis liefert, dass die Plebejer als politisches Subjekt

verstanden werden müssen, lautet: da sie sich als sprechende Wesen präsentieren, ,,mit einer Sprache

begabt, die nicht einfach Bedürfnisse, Leiden und Zorn ausdrückt, sondern Intelligenz beweist.“ (Rancière

2002: 36) Ebendieses Argument trifft auch auf die protestierenden Flüchtlinge zu, welche in der

Konsequenz auch als politisches Subjekt verstanden werden müssen. Mit dem Verweis auf ihre Gleichheit

mit jedem Beliebigen gelingt es den Flüchtlingen argumentativ darzulegen, dass es sich nicht lediglich um

ein vages Gefühl des Schmerzes handelt, sondern um eine Ungerechtigkeit, die sie nicht länger

hinzunehmen bereit sind.

,,Wir wenden uns gegen die diskriminierende Politik der Bundesrepublik Deutschland, die uns ein menschenwürdiges Leben in diesem Land verweigert. Wir sehen keine weitere politische Möglichkeit, als in den unbegrenzten Hungerstreik zu treten, um der deutschen Politik vor Augen zu führen, zu welchen Konsequenzen ihre Gesetze führen.“ (Refugee Tent Action 2012d)

In der Aktualisierung ihrer Menschenrechte haben sich die Flüchtlinge subjektiviert. Als politisches

Subjekt haben sie sich im Aufzeigen und Bearbeiten ihres Unrechts konstituiert und so eine Bühne des

Dissens errichtet, auf der die gegensätzlichen Logiken miteinander konfrontiert wurden. Der Streit um die

Bedeutung der Identität des Flüchtlings besteht weiter fort. Es fand keine Einschreibung der Flüchtlinge in

die polizeiliche Ordnung statt, da bisher keine der beiden Logiken sich gegen die andere durchzusetzen

vermochte.

Die Polizisten halten nach wie vor an der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung fest, auch wenn

dies einen enormen bürokratischen Aufwand zur Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Bestimmungen

erfordert. Die seit dem Flüchtlingskongress in Jena von einigen Flüchtlingen durchgeführten Aktionen des

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20 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

zivilen Ungehorsams wurden allesamt strafrechtlich verfolgt. Flüchtlinge, welche sich über Landesgrenzen

hinwegsetzten, sahen sich polizeilichen Kontrollen ausgesetzt und mussten sich immer wieder vor Gericht

für ihre Handlungen verantworten. Ihre neue Identität wurde verkannt. Sie wurden weiterhin als

Asylbewerberinnen wahrgenommen, denn als Flüchtlinge setzten sie sich nicht unbefugt über

Landesgrenzen hinweg. Einige gingen daraufhin in Berufung.

Es gab vereinzelt Verfahren, die bis vor das Bundesverfassungsgericht sowie den Europäischen

Gerichtshof für Menschenrechte gebracht wurden. Jedoch wurde ihre Klage, dass die Residenzpflicht

unvereinbar mit dem Grundgesetz sei sowie gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

verstoße, immer wieder zurückgewiesen. So sieht beispielsweise das Urteil des EUGMR aus dem Jahr

2007 die Residenzpflicht als durchaus vereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention an (vgl.

Selders 2009: 45). Den Flüchtlingen wurde weiterhin das Recht auf Bewegungsfreiheit abgesprochen; die

praxisrelevante Ahndung der Verstöße gegen die Aufenthaltsbeschränkung mit Geld- oder

Freiheitsstrafen erhielt ihren Segen von den obersten Instanzen. Eine Ausnahme bilden die im Zuge des

Protestmarsches erfolgten Verletzungen geltenden Rechts, welche von der Polizei im Großen und Ganzen

nicht weiter verfolgt wurden. Jedoch impliziert das nicht, dass die neue Identität der Flüchtlinge, welche

einen Anspruch auf Teilhabe begründet, von der Polizei letztendlich anerkannt wurde. Vielmehr wurde

aufgrund der medialen Aufmerksamkeit, die dieser Protestmarsch auf sich zog, auf eine Strafverfolgung

verzichtet. Auch das weitere Vorgehen der Ordnungsbehörden impliziert eine unveränderte

Wahrnehmung der Flüchtlinge als Asylbewerberinnen.

Hier tritt die Rationalität des Unvermögens zu Tage. Die Reaktion der Polizei – das Unvermögen die

neue Identität der Flüchtlinge wahrzunehmen und anzuerkennen – wird von den Flüchtlingen

kommentiert: ,,Wir hegen keine Hoffnung, von euch Politiker_innen, von euren geschlossenen Augen und

tauben Ohren gesehen oder gehört zu werden“ (Refugee Tent Action 2012c) und wird in den

entsprechenden Handlungen der Polizisten immer wieder von Neuem bestätigt. So wurde es den

Protestierenden am Brandenburger Tor verboten, Zelte aufzustellen. Frau nahm ihnen bei Minusgraden

Schlafsäcke, Isomatten, wärmende Decken, Regenschirme und Wärmflaschen ab, um sie zu zwingen,

freiwillig den Protest zu beenden. Davon unbeirrt, traten die protestierenden Flüchtlinge in den

Hungerstreik, welcher unterbrochen wurde, als sich die Bundesintegrationsbeauftragte als Repräsentantin

der polizeilichen Ordnung letztlich doch dazu bereitfand, mit den Protestierenden Gespräche zu führen.

Den Flüchtlingen wurde versichert, dass auf ihre Forderungen eingegangen werde, dass frau die

etablierten Gesetze und Verfahren der Asylpolitik überdenken müsse. Jedoch wurde immer wieder auf die

Notwendigkeit der Regulierung von Flüchtlingsströmen verwiesen und an dem Verständnis von Asyl als

karitativem, großzügigem Gewähren festgehalten.

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21 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Die Gespräche waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt, denn, um auf die Forderungen

eingehen zu können, müssen diese Forderungen in ihrem Kontext verstanden werden – und dies ist bisher

nicht passiert. Es wurde nicht begriffen, dass es sich bei diesem Protest um mehr handelt als nur einen

Aufschrei, welcher mit leeren Versprechungen besänftigt werden könnte. Die Flüchtlinge haben von

Anfang an diese Reaktion der Polizei antizipiert und kommentiert. Nichtsdestotrotz verkünden sie

zuversichtlich: ,,Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, aber

zuletzt siegst du.“ (Refugee Tent Action 2012e) Sie präsentieren sich immer wieder von Neuem als

sprechende Wesen, deren Streik einen Logos ausdrückt, welchen die Polizei nicht länger ignorieren kann:

,,Jetzt sind sie [die Politikerinnen] gezwungen, uns ernst zu nehmen.“ (zitiert in: taz Online, 2.11.2012)

Sie verkünden, sie werden solange bleiben, bis sie in ihrer Identität als Flüchtlinge Gehör finden (vgl. Der

Freitag Online, 9.11.2012); bis begriffen wird, dass es sich bei den Flüchtlingen um ein politisches Subjekt

handelt, die ihr Recht auf Teilhabe am Gemeinsamen einfordern und nicht nachgeben werden, bis ihre

neue Identität mit all ihren Implikationen von der Polizei anerkannt wird; welche nicht aufgeben werden,

bis eine Neuordnung der Polizei erfolgt ist.

Ob und wie dieser Streit beendet wird, steht in den Sternen. Fest steht nur, dass es den Flüchtlingen

gelungen ist, sich zu subjektivieren, sich als aktives Subjekt zu konstituieren, das sich aus der ihm

aufgezwungenen Passivität befreit hat.

IV. Schlussbetrachtung

Im ersten Kapitel wurde beschrieben, was Politik für Jacques Rancière bedeutet: Sie ist ein Prozess,

an dessen Anfang eine Bewegung steht, die, sollte ihr Name auch einer gesellschaftlichen Klassifizierung

entsprechen, mit keinem Teil der Polizei übereinstimmt. Die Klasse, die keine gesellschaftliche mehr ist,

versucht sich von ihrer polizeilich gegebenen Identifizierung zu lösen und subjektiviert sich, indem sie an

Orten auftritt, an denen sie nichts zu suchen hat, Tätigkeiten ausübt, die nicht ihre Tätigkeiten sind, einen

Anteil besitzt, den sie nicht hat. Indem sie sich von ihrem Platz entfernt, wird ein Raum eröffnet, in dem

die Vernunft des Unvernehmens wirkt. Die Klasse ist bestrebt im Streit mit der Polizei, ihre un/eigene

Gleichheit in eine politische Freiheit umzuwandeln und so eine alternative Aufteilung des Sinnlichen mit

einer neuen polizeilich anerkannten Identität zu positionieren, sich in in die Ordnung einzuschreiben. Am

Ende des Prozesses ist das politische Subjekt verschwunden. Ent-Identifizierung, Subjektivierung,

Unvernehmen im Streit, Re-Identifizierung: Das ist die Reihenfolge des politischen Prozess bei Rancière.

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22 Die Grenzen der Menschenrechte Flüchtlinge als politisches Subjekt / Alena Reichmayr, Jannick Popelka

Allerdings macht nicht die Einschreibung der Bewegung in die polizeiliche Ordnung für Rancière den

Streit zu einem politischen Streit. Es ist der Akt der Unterbrechung der polizeilichen Logik, so dass Politik

nie allein vom Resultat her gedacht werden kann.

Was passiert aber bei Erfolg der Bewegung innerhalb der Polizei? Sie verändert sich mit jeder

Einschreibung. In ihr wirkt eine alternative Weise der Wahrnehmung der sozialen Umstände. Bei der

Einschreibung der Proletarierinnen änderte sich die Wahrnehmung des Arbeitsplatzes: Er war nicht mehr

der private Ort, an dem allein ein Verhältnis zwischen der Arbeitgeberin und der Arbeitnehmerin bestand,

sondern er wurde zu einem öffentlichen Ort. Bei der Einschreibung der Frauen wandelte sich das Bild der

Frau, die nicht mehr als an den Herd gebunden, auf die Reproduktion beschränkt wahrgenommen wurde.

Bei den Flüchtlingen ist es noch nicht zu dieser Einschreibung in die und Umformung der Polizei

gekommen. Sie werden weiterhin als die Asylbewerberinnen, deren Anwesenheit allein schon

problematisch ist, identifiziert. Es bleibt die Frage, die hier nicht den Rahmen ihrer Antwort finden kann:

Welche Veränderungen der Polizei bringt eine Einschreibung der Flüchtlinge mit sich?

Verwendete Literatur

• Arendt, Hannah, 2011: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus,

totale Herrschaft. München/Zürich.

Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte

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