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NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassell933-1945 Von Konrad Wiedernano 1. Zur Einführung Der folgende Beitrag ist der vorläufige Abschlussbericht zu den Ermittlungen, die ich im Winter 2008/09 zu illegalen Erwerbungen der Landesbibliothek Kassel in der NS-Zeit vorgenommen habe 1 . Das Thema Raubgut (1933-1945) schien für die Landesbibliothek völlig unproblematisch zu sein, da bei der Erstellung der Festschrift zum 400-jährigen Bestehen der Landesbibliothek (1580-1980) nach sehr umfangreichem Quellenstudium auch der Zeitabschnitt nach 1930 eine ein- gehende Darstellung gefunden hatte. Hinweise auf Erwerbungen durch Raub und ein Engagement des höheren Dienstes im Sinne des Nationalsozialismus fehlten darin. Als einzelne deutsche Bibliotheken anfingen, ihre NS-Geschichte aufzuarbeiten, glaubte man in der Kasseler Bibliothek, diese Aufgabe durch obige Festschrift schon zuverlässig erfüllt zu haben. Anlass dafür, sich erneut der Erwerbungsgeschichte der NS-Zeit zuzuwenden, war ein- allerdings glück- licherweise nur scheinbar- auf eine illegale Erwerbung des Jahres 1943 hin- weisender Herkunftseintrag in einer wertvollen Handschrift. Es war ein erschütterndes Erlebnis, schon nach kurzer Zeit des Quellenstudiums im Staats- archiv Marburg, wo sich die alten Bibliotheksakten befinden, die ersten Nach- weise für Erwerbung durch Raub vor sich zu haben. Eine solche Untersuchung kann sich natürlich nicht damit begnügen, die illegalen Erwerbungen als Tat- sache nachzuweisen. Sie müsste als weitere Schritte die Bücher im heutigen Bestand ermitteln und den Rechtsnachfolgern der Opfer, als den moralischen Eigentümern, unabhängig von den Bestimmungen des § 197 BGB die Rückgabe der Bücher anbieten. Eine solche Ermittlung erwies sich z. T. als prinzipiell un- möglich, da die entsprechenden detaillierten Erwerbungsunterlagen, in denen die Bücher identifizierbar aufgelistet werden, ebenso wie das Raubgut selbst durch alliierte Bombenangriffe verloren gegangen sind. Aber auch in denjenigen Fällen, in denen identifizierbare Titelangaben vorliegen, ist eine Ermittlung der Bücher zurzeit teilweise nicht möglich, da immer noch abertausende Bücher seit 1941 unkatalogisiert im Magazin stehen. Insofern Raubgut vom Inhalt her im katalogisierten Teil des Buchbestandes zu erwarten oder für diesen Bereich 1 Die Recherchen wurden besonders von folgenden Personen und Institutionen unter- stützt: Bundesarchiv Berlin (u. a. Heinz Fehlauer), Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Standesamt I Berlin, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Kloster Frauenberg Fulda, Stadt- archiv Hanau, Stadtarchiv Bad Hersfeld, Bundesgerichtshof Karlsruhe, Landeskirch- liches Archiv der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck, Stadtarchiv Kassel, Bundesarchiv Koblenz, Provinzial der Oblaten M. I. Mainz, Hessisches Staatsarchiv Mar- burg (u. a. Dr. Gerhard Menk), Stadtarchiv Offenbach, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (u. a. Dr. Diether Degreif, Dr. Volker Eichler). Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 59, 2009

NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassell933-1945

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NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassell933-1945

Von Konrad Wiedernano

1. Zur Einführung

Der folgende Beitrag ist der vorläufige Abschlussbericht zu den Ermittlungen, die ich im Winter 2008/09 zu illegalen Erwerbungen der Landesbibliothek Kassel in der NS-Zeit vorgenommen habe1. Das Thema Raubgut (1933-1945) schien für die Landesbibliothek völlig unproblematisch zu sein, da bei der Erstellung der Festschrift zum 400-jährigen Bestehen der Landesbibliothek (1580-1980) nach sehr umfangreichem Quellenstudium auch der Zeitabschnitt nach 1930 eine ein­gehende Darstellung gefunden hatte. Hinweise auf Erwerbungen durch Raub und ein Engagement des höheren Dienstes im Sinne des Nationalsozialismus fehlten darin. Als einzelne deutsche Bibliotheken anfingen, ihre NS-Geschichte aufzuarbeiten, glaubte man in der Kasseler Bibliothek, diese Aufgabe durch obige Festschrift schon zuverlässig erfüllt zu haben. Anlass dafür, sich erneut der Erwerbungsgeschichte der NS-Zeit zuzuwenden, war ein- allerdings glück­licherweise nur scheinbar- auf eine illegale Erwerbung des Jahres 1943 hin­weisender Herkunftseintrag in einer wertvollen Handschrift. Es war ein erschütterndes Erlebnis, schon nach kurzer Zeit des Quellenstudiums im Staats­archiv Marburg, wo sich die alten Bibliotheksakten befinden, die ersten Nach­weise für Erwerbung durch Raub vor sich zu haben. Eine solche Untersuchung kann sich natürlich nicht damit begnügen, die illegalen Erwerbungen als Tat­sache nachzuweisen. Sie müsste als weitere Schritte die Bücher im heutigen Bestand ermitteln und den Rechtsnachfolgern der Opfer, als den moralischen Eigentümern, unabhängig von den Bestimmungen des § 197 BGB die Rückgabe der Bücher anbieten. Eine solche Ermittlung erwies sich z. T. als prinzipiell un­möglich, da die entsprechenden detaillierten Erwerbungsunterlagen, in denen die Bücher identifizierbar aufgelistet werden, ebenso wie das Raubgut selbst durch alliierte Bombenangriffe verloren gegangen sind. Aber auch in denjenigen Fällen, in denen identifizierbare Titelangaben vorliegen, ist eine Ermittlung der Bücher zurzeit teilweise nicht möglich, da immer noch abertausende Bücher seit 1941 unkatalogisiert im Magazin stehen. Insofern Raubgut vom Inhalt her im katalogisierten Teil des Buchbestandes zu erwarten oder für diesen Bereich

1 Die Recherchen wurden besonders von folgenden Personen und Institutionen unter­stützt: Bundesarchiv Berlin (u. a. Heinz Fehlauer), Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Standesamt I Berlin, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Kloster Frauenberg Fulda, Stadt­archiv Hanau, Stadtarchiv Bad Hersfeld, Bundesgerichtshof Karlsruhe, Landeskirch­liches Archiv der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck, Stadtarchiv Kassel, Bundesarchiv Koblenz, Provinzial der Oblaten M. I. Mainz, Hessisches Staatsarchiv Mar­burg ( u. a. Dr. Gerhard Menk), Stadtarchiv Offenbach, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (u. a. Dr. Diether Degreif, Dr. Volker Eichler).

Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 59, 2009

g.jaeger
Schreibmaschinentext
In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte. - Bd. 59 (2009), S. [119] - 134

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nachgewiesen war, wurde versucht, das Raubgut im heutigen Bibliotheks­bestand zu ermitteln.

Der Bibliotheksdirektor Dr. Wilhelm Hopf wurde zum 31. März 1938 bzw. nach eigenen Angaben zum 31. März 1937 wegen Zugehörigkeit zu einer Loge zwangsweise in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Die Landesbibliothek Kas­sel hat danach, spätestens ab Frühjahr 1941, keine Gelegenheit ausgelassen, um sich auf nach rechtsstaatliehen Kriterien illegale Weise Bücher anzueignen. Wenn man den Abschnitt "Die Landesbibliothek zu Kassel 1930-1980" in der Festschrift "Ex Bibliotheca Cassellana"2liest, so findet man keine Hinweise auf NS-Raubgut oder besonderes nationalsozialistisches Engagement des höheren Dienstes. Umso mehr überrascht es, schnell aufillegale Erwerbungen zu stoßen, wenn man die Quellen in die Hand nimmt. Außerdem enthalten die Biographien des zwischen 1933 und 1945 beschäftigten höheren Dienstes teils ein ganz außerordentliches Engagement zu Gunstendes Nationalsozialismusa. Die Nach­forschungen werden erheblich dadurch erschwert, dass nicht nur der Buch­bestand, sondern auch die Verwaltungsakten sowohl bei der Bombardierung von 1941 als auch bei der von 1943 schwer in Mitleidenschaft gezogen wurden. Allein 1941 wurden ca. 75% des Aktenbestandes vernichtet. Während am 9. September 1941 circa 80 % von 400.000 Druckschriften den Bomben zum Opfer fielen, waren es am 22. Oktober 1943 in der als Außenstelle genutzten Gemäldegalerie weitere rund 30.000 Bände, worunter sich auch geraubte Bücher befanden.

Die illegalen Erwerbungen - beabsichtigte wie realisierte - sind durch ver­schiedene Quellen nachweisbar: - in der (allgemein gehaltenen) Betreffzeile der Brieftagebücher; - in den (allgemein gehaltenen) Lageberichten an den Oberpräsidenten; - in den (allgemein gehaltenen) Dienstreiseberichten und -abrechnungen; - in den pauschalen und in den detaillierten Rechnungen; - in dem Schriftwechsel mit den Lieferanten; - in den Akzessionsunter lagen. Lieferanten illegaler Erwerbungen waren:

diejenigen Abteilungen der Finanzämter, die das beschlagnahmte jüdische Vermögen verwalteten4;

2 Ex Bibliotheca Cassellana. 400 Jahre Landesbibliothek, 20.11.1580-20.11.1980, hrsg. von H.-J. KAHLFUSS, Kassel1980, 8. 23--Q3.

3 Die Quellen zu den damaligen Vorgängen befinden sich zum erheblichen Teil in der Landesbibliothek Kassel, Best. 223, des StAM, in der Handschriftenabteilung der Univer­sitätsbibliothek Kassel (2° Ms. Hass. 800) und in den Beständen des HHStAW.

4 Der Umgang mit jüdischem Vermögen war hinsichtlich der beweglichen Habe vor allem durch folgende Normen festgelegt worden: "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden. Vom 26. April1938", Reichsgesetzblatt 1938, Teil1, S. 414 f.; "Ver­ordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens. Vom 3. Dez. 1938", Reichsgesetzblatt 1938, Teil1, S. 1709-1712; Runderlass des Reichswirtschaftsministeriums vom 17.4.1939 zur "Mitnahme von Umzugsgut durch Auswanderer", Reichssteuerblatt 1939, S. 612--Q15; "Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung (Mitnahme von Umzugsgut bei der Auswanderung von Juden)", Runderlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erzie­hungund Volksbildungvom 15.5.1939,Az. Z II a 1786 (b), StAM, Best. 223, Nr. 119. Unab­hängig von einer eventuellen Auswanderung von Juden musste deren Besitz innerhalb

NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassel1933-1945

- Dienststellen des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR)5; die Reichstauschstelles; Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS, Hauptaußenstelle Kassel; das Polizeipräsidium Kassel; Dienststellen der NSDAP.

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Manche Vorgänge lassen sich an Hand mehrerer Quellen bis hin zu einzelnen Buchtiteln nachvollziehen, andere sind leider nur allgemein belegbar. Dies gilt nicht nur für von den damaligen Bibliothekaren angestrebte oder von mir vermutete Erwerbungen von Raubgut, sondern auch für sichere. Wenn damals die Landesbibliothek ein Buch erwarb, dann wurde der Titel dieses Buches mit dem Namen des Lieferanten in ein Akzessionsjournal eingetragen und eine indi­viduelle Akzessionsnummer vergeben. Diese Akzessionsnummer wurde in dem Buch neben dem Eigentumsstempel festgehalten und auf die Rechnung oder in der der Lieferung beigefügten Liste neben die Aufführung des Buches notiert. Danach bekam das Buch die Signatur, unter der es aufgestellt wurde. Die Lan­desbibliothek stellte die Bücher nach fünf Systemen auf, bei dreien davon war die Signatur identisch mit der Akzessionsnummer, bei den anderen Systemen waren Signatur und Akzessionsnummer verschieden.

Damit die Bibliothek heute ermitteln kann, was sich von dem Raubgut nach den Bombardierungen von 1941 und 1943 und den Diebstählen in den Aus­lagerungsorten noch im Bestand befindet, braucht sie genaueAngaben über die erworbenen Buchtitel. Allerdings sind nur von einem Teil der Erwerbungen die für eine Identifizierung notwendigen Angaben erhalten. Die Durchsicht der Korrespondenz mit Lieferanten der Landesbibliothek im Staatsarchiv Marburg und der Akzessionsverzeichnisse in der Universitätsbibliothek Kassel erbrachte folgendes Bild: Eine ganze Reihe der Listen der Buchhändler, Antiquare, des Oberfinanzpräsidiums Kassel und des Polizeipräsidiums Kassel ist verschollen. Die Tauschlisten der Reichstauschstelle wurden von der Landesbibliothek an diese zurückgeschickt und nur ein Teil der Akzessionsunterlagen ist erhalten geblieben.

Die Landesbibliothek stellte Monographien ab 1940 in folgenden Signaturen auf: 1. Signaturen mit dem Schema: Erwerbungsjahr (ab 1940) plus Formatangabe

durch die BuchstabenA, Bund C (2°, 4° und 8°) plus Numerus currens. Davon sind die Akzessionsjournale vorhanden.

2. Systematische Großgruppenaufstellung gekennzeichnet mit den Buchstaben A - Z. Eine Großgruppe wurde nur noch nach den Formaten unterteilt. Das

kurzer Zeit an sogenannte Devisenstellen gemeldet werden. Sachverständiger bei der Wertfestsetzung von Büchern aus jüdischem Eigentum war in Nordhessen der Direktor der Landesbibliothek Kassel. Zu diesem Vorgang der Enteignung der Juden vgl. S. MEINL, J. ZWILLING, Legalisierter Raub. Die Ausplünderung der Juden im Nationalsozialismus durch die Reichsfinanzverwaltung in Hessen (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer­Instituts 10), Frankfurt/M., New York 2004. Zur Devisenstelle Kassel vgl. S. 437-440.

5 Zum ERR vgl. P. M. MANASSE, Verschleppte Archive und Bibliotheken. Die Tätigkeit des Einsatzstabes Rosenberg während des Zweiten Weltkrieges, St. Ingbert 1997.

6 Zur Reichstauschstelle vgl. H. E. BöDEKER (Hrsg.), NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek, München 2008.

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weitere Ordnungsmerkmal war der Numerus currens. Diese Großgruppen­aufstellung dürfte die zeitlich spätere sein. Der sehr umfangreiche Bestand enthält sowohl Neuanschaffungen nach 1941, möglicherweise auch Einarbei­tungen von "Altbestand", als auch Reste von älteren, sonst verbrannten Sach­gruppen. Davon sind keine Akzessionsjournale vorhanden. Dieser Bestand ist nur teilweise katalogisiert.

3. Systematische Signaturen der Drucke zur Geschichte und Landeskunde von Hessen (Hassiaca). Dieser Bestand war fast vollständig verbrannt. Die Ersatzexemplare bekamen die alten Signaturen. Das Akzessionsjoumal ist vorhanden, enthält aber keine Signaturen.

4. Signaturen für Serien mit dem Schema: Buchstabe "S" für Serie plus For­matangabe durch die Buchstaben A, B und C plus Numerus currens. Die Akzessionsunterlagen hierzu sind in Form eines Kardex noch weitgehend erhalten. Leider sind sehr viele Herkunftsangaben durch die Formulierung "Altbestand" angegeben.

5. Die Periodica bekamen die Kennung "Z" für Zeitschrift, einen Zusatz A, B oder C für die unterschiedlichen Formate wie bei den Monographien und einen Numerus currens. Ein Akzessionsjournal ist nicht erhalten. Von einem Teil der Erwerbungen dieser Jahre sind noch signaturenunab­

hängige Akzessionsunterlagen erhalten. Die äußere Form der Akzessionsnum­mer ist das Erwerbungsjahr und ein Numerus currens7. Abertausende Akzes­sionsnummern wurden auf diese Weise doppelt vergeben. Sie unterscheiden sich nur bei der zweiten Serie durch den zusätzlichen Buchstaben "H" für Hassiaca. Nur ausnahmsweise wird hierin die spätere Signatur vermerkt.

Innerhalb des Untersuchungszeitraums wurde in der Landesbibliothek ein Teil der Erwerbungsnachweise auf Kardices mit Karteikarten in DIN-A-5-For­mat umgestellt. Ein Kardex hatte damals allerdings zum Teil eine andere Anlage als heute. Er verzeichnete in den erhalten gebliebenen Exemplaren Erwerbun­gen wie irr den alten Akzessionsjournalen nach der Reihenfolge der Erwerbung. Jede Sendung eines Lieferanten hatte dabei eine eigene Nummer. Die für diese Untersuchung interessanten Kardices sind der Kardex V ("Ankauf von Privat­bibliotheken zu Pauschalpreisen u. a. 1942-") und der Kardex VI ("Bammel­erwerbungen, Ankauf von Nachlässen, Privatbibliotheken u. a. "). Beide sind erhalten, verzeichnen aber in der Regel die Erwerbungen leider gerade nicht im Einzelnen, sondern nur summarisch.

2. Die Erwerbungen

Die Reichstauschstelle verteilte sowohllegales Eigentum der angeschlossenen Bibliotheken, anderer staatlicher Einrichtungen und Angebote von Antiquaria­ten als auch Raubgut. Die sehr häufigen Sendungen der Reichstauschstelle wer­den in den Brieftagebüchern nur mit dem Namen der Lieferantin und z. B. der Bezeichnung "Dublettenpäcken" sowie einer laufenden Nummer aufgeführt. In den erhalten gebliebenen Erwerbungsjoumalen wird dann allerdings die Liefe­rantin zusammen mit dem Titel vermerkt. Wegen der großen Unsicherheit,

7 Z. B. "1942.1" oder parallel dazu "H[assiaca] 1942.1".

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welche der Lieferungen rechtsstaatlich legal und welche illegal waren, wurden diese Erwerbungen bisher nicht als Raubgut erfasst. Nur bei wenigen Lieferan­ten (Privatpersonen) kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie nur rechtsstaatlich einwandfreies Material geliefert haben. Der Umstand des Ver­triebes von Raubgut war den Bibliothekaren der Landesbibliothek nicht nur bekannt, die Lieferung von Raubgut wurde erbeten, wie folgende Beispiele zeigen:

Am 5. April 1941 forderte Dr. Israel den Sicherheitsdienst auf, der Landes­bibliothek aus katholischem Eigentum und anderen Quellen Bücher zukommen zu lassen. In einem Rundschreiben der Reichstauschstelle vom 5. November 1941 berichtete diese von beschlagnahmten und von ihr zu verteilenden Büchern aus Lothringen.

"Aufgrund eines Erlasses des Chefs der Zivilverwaltung in Lothringen vom 14. Februar 1941 hat Dr. Reker von der Stadtbibliothek Metz, als Beauftragter für wissenschaftliche Bibliotheken in Lothringen und Sondertreuhänder für beschlag­nahmtes Schrifttum Lothringens mit der Reichstauschstelle über die Verwertung des in Lothringen beschlagnahmten wissenschaftlichen Büchermaterials eine Ver­einbarung[. .. ] getroffen"B.

In einem Brief von Dr. Israel an Bock vom 18. November 1941 erwähnte er, "daß die Antiquariate Scheffel in Frankfurt und Edelmann in Nürnberg [. .. ]das frühere jüdische Antiquariat Josef Baer & Co. in Frankfurt a. M. aufgekauft hätten und daß in dessen Beständen auch viele Hassiaca seien"9. Die Landesbib­liothek ließ sich diese Erwerbung durch einen Briefvon M. Edelmann vom 1. No­vember 1941 bestätigen1o. In der Folge lieferte die Firma Edelmann oft anti­quarische Bücher an die Landesbibliothek Kassel. In einem Brief vom 30. Okto­ber 1942 schrieb Dr. Hopf an die Reichstauschstelle: "Die bei Amelung liegende Sammlung neufranzösischer Literatur stammt aus der Beschlagnahme einer Buchhandlung". Diese Erwerbung wurde aus bibliothekarischenGründen abge­lehntn.

Vom 6. bis 9. Januar 1943 war Dr. Baldewein auf Dienstreise in Berlin. Besprechungen waren u. a. im Reichssicherheitshauptamt (Amt VII Bibliothek) und "im Einsatzstab [Reichsleiter] Rosenberg betr. Dublettenabgabe"12. Der Oberpräsident in Kassel hatte aufBitten der Landesbibliothek den ERR ersucht, für deren Wiederaufbau Bücher zu besorgen13. Vom 12. bis 19. Februar 1943 war Dr. Baldewein auf Dienstreise zur "Durchsicht des zum Verkauf stehenden Antiquariatslagers der Fa. in Zwangsverw. Moorthamer Freres in Brüssel, Rue Zereso 15"14. Mit Datum vom 9. Juni 1943, Brieftagebuchnummer 226, schickte die Landesbibliothek an die Elwertsche Buchhandlung in Marburg eine "Liste der Werke, die der Bibliotheksrat Dr. Baldewein bei seinem Besuch in Brüssel

s StAM, Best. 223, Nr. 117. 9 Ebd.

1o Ebd. u Ebd., Nr. 176. 12 Ebd., Nr. 250. 13 BöDEKER (wie Anm. 6), S. 81. 14 StAM, Best. 223, Nr. 250.

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aus dem Antiquariatslager Moorthamer als für die L. B. Kassel erwünscht bezeichnet hat"15. In einem Brief vom 7. Juli 1943, Brieftagebuchnummer 302, fragte die Reichstauschstelle nach, "ob Katalogmaterial aus Frankreich jetzt durchgearbeitet werden kann"16.

Im Folgenden werden alle Vorgänge, die auf Raubgut hinweisen, chronolo­gisch aufgelistet. Dabei wird in der Regel nur die aussagekräftigste Quelle aufgeführt:

28. Mai bis 19. September 1934: Es ist fraglich, ob die Übernahme der ca. 4.500 Drucke der Bibliothek der links von der SPD angesiedelten, sozialistischen Philosophisch-Politischen Akademie des Göttinger Philosophen Leonard Nelson, die sich in dem Landerziehungsheim Walkemühle bei Melsungen befand, noch als rechtsstaatlich korrekt bezeichnet werden kann. Die Landesbibliothek setzte sich gegen die Universitätsbibliotheken Marburg und Göttingen, die ebenfalls die Bibliothek Walkemühle übernehmen wollten, durch. Die um den 7. Novem­ber 1934 noch zusätzlich in einer Kammer entdeckten "(circa 20 Centner) schrift­liches Material- Drucksachen und lose Schriftstücke" (Akten, Sitzungsnieder­schriften, Vorträge) wurden nicht in die Landesbibliothek, sondern zur Zentrale des Sicherheitsdienstes nach Berlin gebracht17. Der letzte Eintrag in ein Akzes­sionsjournal für ein Buch aus der Bibliothek Walkemühle war 1941. Keines der in einem Akzessionsjoumal mit Signatur eingetragenen Bücher ist heute noch vorhanden.

5. April 1941: Dr. Israel, damals stellvertretender Direktor, schrieb an den Führer des SD-Abschnittes Kassel, SS-Sturmbannführer Waldemar Klingel­höfer:

,,Auf Grund einer Besprechung zwischen Herrn Direktor des Coudres und den Herren Landesoberverwaltungsrat Sommer und SS-Sturmbannführer Klingelhöfer bitte ich, aus den Klosterbibliotheken zu Fulda und Hünfeld die sog. Hassiaca nach der von Herrn Dr. Baldewein zu treffenden Auswahl der Landesbibliothek zu überweisen. Gleichzeitig erlaube ich mir, auch generell die Bitte auszusprechen, anfallende Literatur, die für die Landesbibliothek von Bedeutung ist, jeweils überweisen zu wollen"18.

Das Polizeipräsidium Kassel schickte am 6. Mai 1941 der Landesbibliothek eine "Liste französischer Bücher aus Beutegut". Am 10. Mai 1941 sandte Dr. Israel die Liste zurück19. Da die Akten des Polizeipräsidiums Kassel im letzten

15 Ebd., Nr. 280. 16 Ebd. 17 Ebd., Nr. 32. 18 Ebd., Nr. 38. Zur Verfolgung der katholischen Einrichtungen vgl. z. B. A. MERTENS,

Himmlers Klostersturm. Der Angriff auf katholische Einrichtungen im Zweiten Weltkrieg und die Wiedergutmachung nach 1945 (Veröff. der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Forschungen 108), Paderborn 2006. Zur Geschichte des Klosters Frauenberg vgl. M. WERNER, Das Franziskanerkloster Frauenberg im "Dritten Reich". Verfolgung und Auf­lösung 1933-1945, Hünfeld [1999]. Zur Geschichte des Ursulinenklosters in Fritzlar vgl. A. FRONECK-KRAMER, Animus: der Geist, der Sinn, der Mut, das Herz. Geschichte des Ursulinenklosters Fritzlar von 1711-2006, Kassel 2007.

19 StAM, Best. 223, Nr. 278.

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Kriegsjahr ausgelagert wurden und seitdem verschollen sind, liegt diese Liste nicht mehr vor2o.

Vom 9. bis 11. März 1942 reiste Dr. Baldewein zum Oblatenkloster nach Hün­feld und zum Franziskanerkloster Frauenberg nach Fulda, um Bücher für die Landesbibliothek zu selektieren. Dabei musste er in Hünfeld feststellen, dass am 2. März "die Bibliothek samt Inventar auf Veranlassung des Reichssicherheits­hauptamtes zu Gunsten der Bibliothek der Hohen Schule [der NSDAP] nach Berlin abtransportiert worden sei". Er unterband bei dieser Gelegenheit in Fulda eine Raubaktion von etwa 350 Bänden Fuldensien durch Dr. Theele zu Gunsten des Heimatbundes Fulda, damit der Beuteanteil der Landesbibliothek nicht ge­schmälert wurde. Dr. Theele war nicht nur Direktor der Landesbibliothek Fulda und Leiter der Erwerbungsabteilung der Landesbibliothek Kassel, sondern auch Vereinsbibliothekar des Heimatbundes Fulda. Auch andere Einrichtungen, wie das Reichssicherheitshauptamt, die Gauleitung Kassel, die Kreisleitung Fulda oder die Schulungsbibliothek Wien, hatten sich schon Beutegut ausgesucht. Dr. Baldeweirr schloss den Bericht mit dem Satz: "Wenn auch die Bibliothek des Frauenbergklosters naturgernäss hauptsächlich Werke theologischen Jnhaltes enthält, ist doch mit Rücksicht auf den relativ hohen Wert des Bestandes eine Überführung in die Landesbibliothek wünschenswert". Kennzeichnend für seine Einstellung zum katholischen Glauben war die Charakterisierung der Erbau­ungsliteratur als Literatur von "absoluter inhaltlicher Wertlosigkeit"21. Am 17. Oktober 1945 wurde ein Fehlbestand von 2.524 Büchern festgestellt. 310 Bände waren am 12. November 1941 nach Berlin zum Reichssicherheitshauptamt und zum Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg abtransportiert worden, wohin die anderen gebracht wurden, ist unbekannt22. Es kann nicht ausgeschlossen wer­den, dass zumindest ein Teil dieser Bücher in die Landesbibliothek Kassel gelangte. Der Nachweis eines solchen Abtransportes konnte noch nicht geführt werden. Die Liste der bei der Revision 1945 vermissten Bücher wurde von dem Franziskanerkloster Fulda der Universitätsbibliothek Kassel im März 2009 zur Verfügung gestellt. Ebenfalls nach Kassel abtransportiert wurde einige Wochen nach dem 3. Juli 1941 auch die Bibliothek der Ursulinen in Fritzlar23. Dr. Baldeweirr schrieb in seinem Briefvom 25. Februar 1947:

"An die Leiterin des Priv. Realgymnasiums für Mädchen Ursulinen Fritzlar [. .. ]. Nachdem es gelungen war, die Klosterbibliothek der Ursulinen in Fritzlar, deren grösster Teil zur Einstampfung vorgesehen war, vor diesem Schicksal zu bewahren, wurden auf Weisung des Oberpräsidenten bis zu dessen Entscheidung über das endgültige Schicksal der Bibliothek die Bücher ungeordnet in das zweitobersten [!] Geschoss des Zwehrener 'lbrmes verbracht, wo sie mit der Zerstörung des oberen Turmteiles durch Bombenangriff zugrunde gingen"24.

Eine Liste dieser Bücher konnte nicht ermittelt werden.

20 0. MÜLLER (Bearb.), Bestand 175. Polizeipräsidium Kassel (Preussische Polizei-direktion für den Stadtkreis Kassel): 1868-1937 (1945), Marburg 1964, S. XIII.

21 Dienstreisebericht von Dr. Baldewein, UB LMB, 2° Ms. Hass. 800. 22 WERNER (wie Anm. 18), S. 122 f. 23 Vgl. FRONECK-KRAMER (wie Anm. 18), S. 79. 24 StAM, Best. 223, Nr. 183.

126 Konrad Wiedemann

Dr. Theele, der Leiter der Erwerbungsabteilung, schrieb am 8. Juni 1942 an die Bücherei des Oberfinanzpräsidiums Kassel. Mit Bezug auf die "angebotenen Bücher aus jüdischem Besitz übernehmen wir die von dort bezw. anderen Stellen nicht ausgewählten Stücke zum Pauschalpreis von 500.- RM [. .. ]. Gleichzeitig bitten wir uns auch künftig vom Zugang ähnlicher Bestände alsbald zu unter­richten, damit wir uns sofort mit der Prüfung befassen können"25. Eine Liste dieser Bücher konnte noch nicht ermittelt werden26.

Am 28. Juli 1942lieferte der Sicherheitsdienst, Hauptaußenstelle Kassel, 106 Werke, von denen circa 64 nicht spezifisch nationalsozialistisch sind27. Ein Teil der Bücher ist nicht in den Katalogen nachweisbar, was wohl auf Verluste durch die Bombardierung von 1943 zurückzuführen ist. 24 dieser 64 Bücher sind mit den oben genannten Akzessionsnummern nachweisbar, davon drei mit genauem Eigentümereintrag von zwei Personen. Bei beiden Personen handelte es sich weder um Juden noch um Personen, bei denen eine politische Verfolgung be­kannt ist.

Am 29. Juli 1942 bot in einem Brief das Staatsarchiv Düsseldorf der Landes­bibliothek Kassel 3.200 Werke aus einem Kloster an. Mit Datum vom 4. August 1942 erfolgte die Antwort "Übernahme eines Bücherbestandes durch die L. B. Kassel"2s. Es handelte sich um die am 29. Juli 1941 von der Gestapo geraubte, ursprünglich zum Einstampfen vorgesehene Bibliothek des Jesuitenhauses, Marlenstraße 2, in Düsseldorf. Allerdings untersagte der Oberpräsident der Rheinprovinz in Koblenz die Übernahme dieser Bibliothek29.

4. Oktober 1942: Brief der Thea Elisabeth Haevernich aus Posen an die Lan­desbibliothek "Bibliothek aus polnischem Privatbesitz gesehen, wenn Interesse an die Geh. Staatspolizei in Hohensalza zu Hd. Herrn [Kriminalkommissar] Buede [. .. ]wenden". Die Landesbibliothek schrieb sofort an die Gestapo Hohen­salza3o.

13. Januar 1943: Das Finanzamt Eisenach schickte der Landesbibliothek aus "Juden vermögen" fünf Bücher:

"1 Auszug aus dem Duplicat Steuer-Kataster der Stadt Schmalkaiden aus dem · Jahre 1866, 1 Spezial-Hypotheken-Protokoll der Stadt Schmalkaiden aus dem Jahr

1840, 1 Band Sammlungen von Gesetzen für Kurhessen für die Jahre 1823 bis 1826, 1 Band Gudensberg - Schloß und Stadt und Die Grafschaft Maden Geschichtlich dargestellt von Dr. Hugo Brunner und 1 Band Zeit- und Kultur-Geschichte der Stadt Münden bis auf die Gegenwart[. .. ]".

Alle Titel wurden mit Akzessionsnummern versehenal. Die beiden erstge­nannten Akten sind mit passender Akzessionsnummer ohne Hinweis auf einen Vorbesitzer noch vorhanden, der dritte und vierte Titel sind mit dieser Akzes-

25 Ebd., Nr. 117. 26 Ein Großteil der Akten der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidiums Kassel befindet

sich im HHStAW, Abt. 519, ein weiterer Teil im Stadtarchiv Kassel, Best. S 3. 27 V gl. das Akzessionsjournal der Hessischen Abteilung H. 1942.1783-1859. 28 StAM, Best. 223, Nr. 279. 29 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Düsseldorf, Akte BR 2.094, Nr. 35. 3o StAM, Best. 223, Nr. 280. 31 Ebd., Nr. 176.

NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassel1933-1945 127

sionsnummer nicht mehr vorhanden. Der fünfte Titel ist mit passender Akzes­sionsnummer als Raubgut nachweisbar, enthält aber keinen Hinweis auf den Vorbesitzer.

12. bis 19. Februar 1943: Dr. Baldewein war mit Genehmigung des Ober­präsidiums in Brüssel wegen "Durchsicht des zum Verkauf stehenden Antiqua­riatslagers der Firma in Zwangsverwaltung Moorthamer Freres in Brüssel, Rue Zereso"32. Mit Datum vom 9. Juni 1943 schickte die Landesbibliothek dem Anti­quariat Elwert in Marburg eine Wunschliste von Büchern aus diesem Anti­quariat33. Auf Veranlassung der Landesbibliothek Kassel untersuchte Herr Braun von der Buchhandlung Elwert Ende Mai 1943 das Antiquariatslager. In einem Brief vom 16. Juni 1943 lehnte er den Erwerb für die eigene Firma aus wirtschaftlichen Erwägungen ab, bot dafür der Landesbibliothek aus dem Angebot anderer belgiseher Antiquare eine zweiseitige Liste mit Rara an34. Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, dass Bücher aus dem Antiquariat Moort­hamer in die Landesbibliothek gelangt sind.

6. Mai 1943: Die NSDAP schickte der Landesbibliothek ein von dieser ange­nommenes Angebot von "Judenbeständen" zu, "alte Jahrgänge des Kasseler Tageblattes, Reichsverordnungsblätter des Jahres 1627 [!]-70, 1813-1842, alte Reichsgesetzblätter 1880-1933, 2 alte Lexika, Ausgabe 1887 und 1882"35. Die Landesbibliothek hat kein Original des Kasseler Tageblattes mehr, der zweite Titel ist bibliographisch nicht ermittelbar und die Ausgabe des Reichsgesetz­blattes der Landesbibliothek enthält keinen Hinweis auf eine jüdische Prove­nienz, dagegen viele Eigentumsstempel aus kommunalem Vorbesitz. Die Lexika sind nicht identifizierbar.

15. Mai 1943: Rechnung des Finanzamtes Kassel über "303 Bde. Bücher aus jüdischem Besitz" für 4 70 RM36. Eine Liste dieser Bücher konnte noch nicht ermittelt werden.

21. Juni 1943: Die Landesbibliothek kauft über Vermittlung der Stadtbiblio­thek FrankfurtJM. beim Finanzamt Frankfurt, Verwertungsstelle für jüdisches Vermögen, für 2.000 RM das Werk LaFontaine, Jean de: Fahles choisies. [lll.: J.B. Oudry.] T. 1-4. Paris 1755-59. 2°37. Das Werk ist verschollen.

16. Juli 1943: Dr. Karl Brethauer vom Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, Hauptarbeitsgruppe Frankreich, schickte an die Landesbibliothek "18 hessische Bücher [ ... ], die aus in Paris beschlagnahmten Beständen aus ehemaligem Besitz jüdischer Emigranten aus Deutschland stammen"3s. Die Bücher sind im Akzes­sionsjournal der Hessischen Abteilung nachweisbar. Viele wurden gleich zu den Dubletten gestellt und sind verschollen, vielleicht verbrannt39.

32 Ebd., Nr. 250. 33 Ebd., Nr. 2SO. 34 Ebd., Nr. 10S. 35 Ebd., Nr. 117. 36 Ebd., Nr. 24S. 37 Ebd., Nr. 10S. 38 Ebd., Nr. 176. 39 Als Raubgut sind ohne Eigentümerangabe nachweisbar UB LMB so H. top. 222 und

so H. gen. 93.

128 Konrad Wiedemann

19. Oktober 1943: Die Preußische Staatsbibliothek in Berlin verkaufte der Landesbibliothek "240 Bände französische Kupferwerke" für 12.000 RM. Dazu ist vermerkt: "am Friedrichs Platz verbrannt"4o.

Auch nach 1945 gelangte die Landesbibliothek noch in umfangreichem Maße in den Besitz von Raubgut der Nationalsozialisten, diesmal aber legal. Zwischen 1949 und 1954 wurden zahlreiche Bücher aus dem Archival Depot Offenbach der USA eingearbeitet. Dieses Depot war die Drehscheibe für die Rückgabe von circa vier Millionen von den Nationalsozialisten geraubten und in der amerikanischen Zone sichergestellten Büchem41. Diese wurden der Landesbibliothek Kassel von der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt übersandt. Von dort teilte Frau Dr. Binder in ihrem Brief vom 2. Dezember 1948 mit: ~uf Anordnung des Hes­sischen Staatsministeriums, das die im Offenbacher Archival Depot vorhan­denen Restbestände durch die Militärregierung erhalten hat, übersenden wir Ihnen in Kürze eine größere Anzahl verlagsneuer Werke in jeweils einem Exem­plar zur Einreihung in die Bestände Ihrer Bibliothek"42. Legal war auch der Ver­such, ab 1940 Bücher wieder zu besorgen, die während der französischen Besat­zungszeit 1807-1813 von Franzosen aus dem Bestand der Landesbibliothek Kassel gestohlen oder geraubt worden waren. Der diesbezügliche umfangreiche Schriftverkehr befand sich in einer eigenen Akte, die verschollen ist.

Es ist ausgesprochen schwierig, das listenmäßig nicht aufgeführte Raubgut in den Beständen zu ermitteln, da sich von der Erwerbung der Bücher aus dem Bestand der Buchstabensignaturen A- Z kein Erwerbungsjournal erhalten hat. Das sind insgesamt etwa 27.000 Bände. Erschwerend kommt hinzu, dass dieser Bestand noch nicht vollständig katalogisiert ist. Wäre dieser Bestand katalo­gisiert und könnte man in den Akten der Devisenstelle des Finanzamtes Kassel im Staatsarchiv Wiesbaden die Listen beschlagnahmten jüdischen (Buch-)Besit­zes finden, so wäre auch zu ermitteln, was nach den Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges noch an Raubgut vorhanden ist. Eine noch zeitaufwen­digere Aufgabe bestünde darin, anschließend die Rechtsnachfolger der Opfer zu ermitteln. Das Verhältnis zwischen dem aktuellen Wert der Bücher und dem erforderlichen Personaleinsatz stimmt nachdenklich.

3. Die Verantwortlichen

Die Verantwortung für die Verwaltung einer Bibliothek trägt der höhere Dienst. Das waren zwischen 1933 und 1945 Dr. jur. Hermann Baldewein, Dr. jur. Hans-Peter (alias Jean-Pierre) DesCoudres, Dr. phil. Walter Grothe, Dr. phil. Wilhelm Hopf, Dr. phil. Friedrich Israel, Dr. phil. Gustav Struck und Dr. phil.

40 Kardex VI, Akten der Universitätsbibliothek Kassel. 41 Zum Offenbach Archival Depot vgl. Festschrift aus Anlass des einjährigen Beste­

hens: Offenbach Archival Depot, Offices of Military Government Greater Hesse, Econo­mics Division März 1946- März 1947 [Offenbach 1947]; H. KEILER, Offenbach Archival Depot, Office of Military Government, Land Greater Hesse. Sammlung und Restitution des vom Einsatzstab Rosenberg geraubten Kulturgutes ab 1946 in Offenbach, Gießen 1993; L. I. POSTE, The development ofUnited States protection oflibraries and archives in Europe during World War II, Chicago (lll.) 1958, S. 333-395.

42 StAM, Best. 223, Nr. 109.

NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassel1933-1945 129

Joseph Theele. Bis auf Dr. Hopf waren alle NSDAP-Mitglieder. Der Anteil von NSDAP-Mitgliedem aus der Zeit vor oder kurz nach dem 23. März 1933 (Ermächtigungsgesetz) unter ihnen ist tief beindruckend.

Dr. Baldewein43 arbeitete in der Landesbibliothek vom 1. Oktober 1939 bis zum 31. Juli 1945. Ab dem 13. April1942 war er stellvertretender Direktor. Er war NSDAP-Mitglied seit dem 1. November 1931, Mitgliedsnummer 698.145. Baldewein war engagiert im Besorgen von Raubgut. Auf Dienstreisen zu einem Groß-Antiquariat unter Zwangsverwaltung in Brüssel und zu Klosterbiblio­theken in Hünfeld und Fulda selektierte er Bücher für die Landesbibliothek. Bei seiner Dienstreise nach Berlin vom 6. bis 9. Januar 1943 besprach er im Reichs­sicherheitshauptamt, Amt VII (Bibliothek) mit seinen SD-Kollegen und im Ein­satzstab Reichsleiter Rosenberg die von der Landesbibliothek und dem Ober­präsidenten Kassel angestrebte Versorgung der Landesbibliothek mit Raubgut. Die Tätigkeit von Baldewein im Sicherheitsdienst des Reichsführers SS war innerhalb der Bibliothek bekannt. Seine SS-Personalakte, Sip.-Nr. 314.808, gibt anlässlich seines Heiratsgesuchs an: "SS-Einheit: Reichssicherheitshauptamt". Leider sind keine Akten darüber bekannt, auf welche Zielgruppe(n) er angesetzt war. Ob dies seinem zweiten Studium, Theologie, gemäß die Bekennende Kirche war, kann aktenmäßig zurzeit nicht belegt werden. Im BestandS 3 Nr. 254 des Stadtarchivs Kassel hat sich im Ordner "Freimaurer" des SD-Unterabschnitts Kassel mit Datum vom 15. Mai 1941 eine Denunziation von Baldewein erhalten. Die Schriftstücke in der Parteikorrespondenz Iisten auf, wie sich Baldewein in der "Kampfzeit" in Westfalen für die NSDAP eingesetzt, u. a. als Straßenzellen­leiter, und sich nach der Machtergreifung um eine Stelle in der Parleiorganisa­tion bemüht hat. Nach seiner Entlassung aus dem Bibliotheksdienst lebte er zu­nächst in Ottrau bei seinen Schwiegereltern und beschloss, sich in die evan­gelische Kirche abzusetzen. Vielleicht hatte er davon erfahren, dass vor der

43 Ex bibliotheca (wie Anm. 2), S. 95; H.-0. WEBER, Landesbibliothek Kassel1938, in: P. VonoSEK (Hrsg.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 16), Wiesbaden 1989, S. 369-373. StAM, Best. 223, Nr. 183, Personalakte der Bibliothek; HHStAW, Abt. 504 Nr. 11.851 (3 Bde.), Bericht "Über die Tätigkeit des Direktors" von Dr. Israel in der Personalakte von Dr. DesCoudres. BAB, NSDAP-Gaukartei; Best. Rasse- und Siedlungshauptamt-SS, Sippenakte, Kartei­karte zur rassischen Untersuchung, Schreiben vom 23.5.1942, Seiten 314808 vom 10.5. 1942; Best. Parteikorrespondenz. Eine Entnazifizierungsakte zu Dr. Haldewein fehlt im für Hessen zuständigen HHStAW, im für die Britische Zone zuständigen BAK und im für Nordrhein-Westfalen zuständigen Landesarchiv in Düsseldorf. Da die Kirchen für die Entnazifizierung eigene Kammern und Ausschüsse hatten, könnte eine derartige Akte in Nordrhein-Westfalen vorhanden gewesen sein. Die von der westfälischen evangelischen Landeskirche durchgeführten Entnazifizierungsverfahren sind hinsichtlich des geringen Engagements und einiger weniger tatsächlich verhängter, z. T. zeitweiser Strafen ein erschütterndes Zeugnis billigender Hinnahme der Kontinuität von Pfarrern der Deut­schen Christen in kirchlichen Ämtern. Der Vertuschung der nationalsozialistischen Bio­graphien war es zudem sehr förderlich, dass die Entnazifizierungsunterlagen nach Been­digung der kirchlichen Verfahren entweder vernichtet oder vielleicht auch versteckt wurden, vgl. J. KAMPMANN, Von der altpreußischen Provinzial- zur westfälischen Landes­kirche (1945-1953). Die Verselbständigung und Neuordnung der Evangelischen Kirche Westfalens (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 14), Bielefeld 1998, S. 540-575.

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Aufnahme der kirchlichen Entnazifizierungsausschüsse Anfang August 1946 die Entnazifizierungsverfahren in der evangelischen Kirche von Westfalen "mit Abwehr, Verschleppung und selbst Widersetzlichkeit" betrieben wurden. Er wurde von der Kirchenprovinz Westfalen ins Lehrvikariat übernommen. Mit Datum vom 10. Januar 1946 bestätigte das Konsistorium in Münster dem Lan­deskirchenamt Kassel den Erhalt der Personalakte. Am 7. Dezember 194 7 wurde er ordiniert und anschließend Pfarrer in Minden, Soest und Aplerbeck I Dort­mund.

Dr. DesCoudres« war Direktor der Landesbibliothek vom 1. April 1939 bis zur Kapitulation 1945. Er war NSDAP-Mitglied seit dem 1. November 1930, Mit­gliedsnummer 365.078. Vom 1. März 1932 bis zum Oktober 1933 war er SA­Angehöriger, angeblich nur als Bewerber. Seit dem 1. oder 15. April1935 war er Mitglied der SS, SS-Nr. 257.628. Am 1. Juli 1935 schrieb er in seinem Lebens­lauf:

"In der völkischen Jugendbewegung 1922 ,Knappenschaft' Kassel. Nach deren Verbot nach der Rathenaubeseitigung 1924 ,Balmung', dort Leiter der Abt. V. für Politik und Presse. [ ... ] 1932 unter dem Decknamen ,A. v. Poncet' SA Mann, wegen des Verbotes als preuss. Beamter (Gerichtsreferendar) Mitglied der NSDAP zu sein. Jugendschriftenreferent der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums und Verbindungsmann zur Reichsjugendführung. Oktober 1933: Landesstellenlei­ter in Sachsen der genannten Reichsstelle, mit dieser seit April 1934 beim Beauf­tragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschau­lichen Überwachung der NSDAP. Seit November 1933 ehrenamtlicher Gutachter des Polizeipräsidiums Leipzig in Schrifttumsfragen politischer und kultureller Art. Seit 6.9.1934 Unterabteilungsleiter bei der Gauleitung Sachsen (Gauschulungs­amt) mit der gesamten Schrifttumsüberwachung beauftragt. Seit 24. April1935 von der SS übernommen als Bibliotheks- und Schulungsleiter an der Reichsführer­schule SS Burg Wewelsburg, als solcher Verbindungsmann zur Reichsstelle zur För­derung des deutschen Schrifttums in Berlin".

Als er zum Bibliotheksdirektor der Landesbibliothek ernannt wurde, geschah dies gegen alle Grundsätze für die Einstellung und Beförderung von Beamten. DesCoudres war noch nicht einmal Assessor gewesen. Seine Förderer waren der Landeshauptmann der Provinz Hessen-Nassau, der SS-Oberführer Wilhelm Traupel und der Ministerialrat im Reichserziehungsministerium, SS-Haupt­sturmführer (1938) Dr. Rudolf Kummer. Er selbst führte dagegen seine Ernen­nung auf den SA-Gruppenführer und Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nas­sau, Prinz Philipp von Hessen, zurück. Seine Qualifikation für die Tätigkeit als Direktor erwarb er sich als Leiter der kleinen SS-Bibliothek auf der Wewelsburg,

« Ex bibliotheca (wie Anm. 2), S. 95; A. HABERMANN, Lexikon deutscher wissenschaft­licher Bibliothekare, 1925-1980, Frankfurt/M. 1985, S. 55 f.; M. MooRS, "Die SS als geistiger Stosstrupp"? Dr. Hans-Peter des Coudres, Schulungsleiter der "SS-Schule Haus Wewelsburg" 1935-1939, in: J. E. SCHULTE (Hrsg.), Die SS, Himmlerund die Wewelsburg (Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg 7), Faderborn 2009, S. 180-195, G. SIMON, Chronologie Coudres, Jean-Pierre des, http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ ChrCoudres.pdf; HHStW, Abt. 504 Nr. 11.851 (3 Bde.), Personalakte zum hessischen Bibliotheksdienst; Bundesgerichtshof, Sign. V C 44, Personalakte; BA Koblenz, Sign. Z 42 VII/4. 776, Spruchkammerakte mit Kopien der SS-Personalakten.

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der geplanten Reichsführerschule SS, sowie mit Publikationen über "Das verbotene Schrifttum und die wissenschaftlichen Bibliotheken" (1935) und "Die Schutzstaffel als geistiger Stoßtrupp" (1936). Die Grundgedanken aus dieser programmatischen Verherrlichung der SS tauchen 1939 auch in seiner Antritts­rede als Direktor auf: "Denn jedes gute Buch, wie jede Bibliothek als dessen Arsenal, besitzt Rüstungscharakter im Sinne unserer Weltanschauung. Beides besteht nicht um seiner selbst willen, sondern soll in jedem Falle sein: Aufruf undAnsporn zur Tat". Seit dem Kriegsbeginn fieberte er dem militärischen Ein­satz entgegen. Vom 18. September 1939 bis zur Kapitulation 1945 war er im mili­tärischen Einsatz und beendete den Krieg im Rang eines SS-Sturmbannführers. Während der Heimaturlaube nahm er die Funktion der Bibliotheksleitung wahr. In seinen SS-Personalakten wird er als "Überzeugter Nationalsozialist, vorbild­licher SS-Führer" beschrieben. Er war von Mai bis Anfang Juli 1945 ameri­kanischer und von November 1945 bis zum 2. März 1948 britischer Kriegs­gefangener. Im Spruchkammerverfahren vom 22. Juli 1948 wurde er zu einer Geldstrafe von 5.000 DM wegen Zugehörigkeit zur SS verurteilt. Die Geldstrafe galt als durch die Kriegsgefangenschaft verbüßt. Einer seiner Entlastungszeu­gen war Dr. Baldewein. Es gelang DesCoudres trotzseiner NS- und SS-Vergan­genheit vom 18. November 1950 bis zum 31. März 1952 Bibliothekar in der Bibliothek des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe zu werden. An dem Umstand, dass auf seiner Ernennungsurkunde zum Bibliotheksdirektor der SS-Dienstgrad später überklebt worden war, kann es nicht allein gelegen haben. Sein Arbeits­vertrag wurde nicht mehr verlängert, da seine oben aufgeführte NS-Gesinnung aus den Akten bekannt war. Ab dem 1. April 1952 wurde er Mitarbeiter, ab dem 1. Mai 1953 bis zu seinem Ruhestand am 31. Januar 1972 Leiter der Bibliothek des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Privatrecht in Tübingen (später Hamburg). Bis zum 30. Juni 1972 war er noch als dessen Berater tätig.

Dr. Grothe45 arbeitete in der Landesbibliothek vom 1. September 1925 bis Ende März 1939. Er war NSDAP-Mitglied seit dem 1. November 1931, Mitglieds­nummer 720.528. Er war vom Februar 1933 bis Oktober 1934 Mitglied der SA, in der er vom Frühjahr bis Oktober 1934 den Dienstgrad eines Oberscharführers innehatte. In seiner Kasseler Zeit war er von 1935 bis 1938 auch Gauschrift-

45 Ex bibliotheca (wie Anm. 2), S. 94; Handbuch für den Gau Kurhessen der N.S.D.A.P., Kassel 1934; WEBER (wie Anm. 43), S. 369-373. Mit zahlreichen Hinweisen auf Archiv­material vgl. E. ADUNKA, Der Raub der Bücher. Plünderungen in der NS-Zeit und Restitu­tion nach 1945 (Bibliothek des Raubes 9), Wien 2002, S. 15-65; A. HEUSS, Kunst- und Kul­turgutraub. Eine vergleichende Studie zur Besatzungspolitik der Nationalsozialisten in Frankreich und der Sowjetunion, Heidelberg 2000, S. 102-134; M. KÜHN-LUDEWIG, Johan­nes Pohl (1904-1960). Judaist und Bibliothekar im Dienste Rosenbergs. Eine biographi­sche Dokumentation (Lautenius. Kleine Historische Reihe 10), Hannover 2000, S. 121 f., 142, passim; G. STIEBER, Die Bibliothek der "Hohen Schule des Nationalsozialismus" in Tanzenberg, in: Carinthia 185, 1995, S. 343-362; W. d. VRIES, Sonderstab Musik. Organi­sierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45, Köln 1998, passim; HHStAW, Abt. 520 Kas­sel-Zentral Nr. 283, Spruchkammerakte; BAB, NSDAP-Gaukartei. Eine Person von der herausragenden kriminellen Energie Dr. Grothes verdient eine detaillierte biographische Darstellung.

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turnsbeauftragter bei der Gauleitung Kurhessen der NSDAP, ab 1937 als Haupt­stellenleiter im Gaustab und Leiter der Dienststelle Schrifttum im Reichspropa­gandaamt Kurhessen. Vom 1. Mai 1933 bis zum 1. Februar 1936 war er Leiter der Staatlichen Büchereibeschaffungsstelle für den Regierungsbezirk Kassel. In diesem Zusammenhang war er Autor zahlreicher Beiträge in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Hessischer Bücherwart". Das in der Spruchkam­merakte zitierte ausführliche Zeugnis vom 24. März 1939 hob hervor, "ihm gebühre der Verdienst im Gau Kurhessen eine ungesunde Doppelentwicklung von Volks- und Parteibüchereien verhindert zu haben". Unter Grothes Leitung wurden die Volksbüchereien zu Parteibüchereien und damit zu Instrumenten nationalsozialistischer Propaganda. Die in der Spruchkammerakte erwähnte Mitwirkung an verantwortlicher Stelle "bei den durchgeführten Säuberungs­aktionen im Jahr 1933" bezieht sich wohl auf Bücher. Max Köhler, Gaudienst­stellenleiter der Abteilung Volksbildung und Freund von Dr. Struck, beschrieb treffend die von Grothe erreichte Leistung und Aufgabe des "Hessischen Bücher­warts":

"Die Unterdrückung arteigener Blutwerte und die Vergiftung mit artfremden Ab­lagerungen war das Verbrechen der Vergangenheit im Ablauf von mehr als 100 Jahren am deutschen Schrifttum. Seine fortlaufende Säuberung und Reinhaltung mit artverbundenen Werten sowie sein ungehemmter lebendiger Kreislauf bis in die kleinste Zelle des Volksorganismus ist eine der hohen Aufgaben am kulturellen Neubau des nationalsozialistischen Volksstaates"46.

Grothe erschien oft in seiner Uniform eines Gauschulungsleiters im Dienst. Es reichte aus, wenn ein Lieferant einen Brief nicht mit "Heil Hitler" unter­schrieben hatte, ihn als Juden zu verdächtigen und als Geschäftspartner auszu­schließen. Vom 1. April 1938 bis zum Dienstantritt von Dr. DesCoudres am 1. April 1939 war er mit der Leitung der Landesbibliothek beauftragt. Ab dem 16. Mai 193947 begann seine Karriere mit der Abordnung nach Berlin zur Reichs­leitung der NSDAP. Er wurde wohl im Mai 1939 mit dem Aufbau der Bibliothek der Hohen Schule, der geplanten Universität der NSDAP, beauftragt. Am 26. Juni 1940 wurde er Leiter, 1941 Direktor der Bibliothek der Hohen Schule und übte diese Funktion bis zur Kapitulation 1945 aus. Diese Bibliothek wurde 1945 von der britischen Armee in Kärnten sichergestellt, wohin sie wegen der Bom­benangriffe auf Berlin gebracht worden war - ab 1942 nach Annenheim bei Viilach und ab 1944 zum Olivetaner-Kloster Tanzenberg. Fast alle der circa 500.000 Bände waren geraubt. Grothe beteiligte sich persönlich an Raubzügen vor allem in Paris, Brüssel und Amsterdam. Dabei wurde er zumindest in Paris von Dr. Struck begleitet. Grothe erhielt für die Entdeckung der versteckten Sammlung von Edouard de Rothschild in Paris 1943 das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse. Grothe war als führender Mitarbeiter des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg einer der Haupttäter der größten Rauborganisation für Kulturgüter der Menschheitsgeschichte. Vom 1. August 1945 bis zum 31. Juli 1948 wurde er in Kärnten bei der Rückgabe des Raubgutes eingesetzt und dann nach Deutsch-

46 H.l/2 (1935), S. [1]. 47 Laut Jb. der deutschen Bibliotheken 31, 1940, S. 137, ab 1.4.1939.

NS-Raubgut in der Landesbibliothek Kassel 1933-1945 133

land (Kassel) abgeschoben. Sein Entlastungszeuge hinsichtlich der Tätigkeit für den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg im Spruchkammerverfahren am 28. Juni 1949 war Dr. Gerhard Wunder, ein anderer Haupttäter im Einsatzstab. Grothe wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 100 DM verurteilt. Der Richter zitierte in der Urteilsbegründung eine Stellungnahme des Täters selbst, in der dieser seine Haltung zum Nationalsozialismus und die damit verbundenen Hoff­nungen auf eine politische Wiedergeburt eines machtvollen deutschen Staates beschrieb: "Die Enttäuschung eines Idealisten ist die härteste Strafe, die einem ehrlich ringenden Menschen auferlegt werden kann. [. .. ] Den anderen ist aber die Hoffnung auf eine Wiedergeburt des Menschen zusammengebrochen, ein ganzer Lebensinhalt, häufig verbunden mit einem Lebenswerk". Bis zum Ende der 1950er Jahre versuchte Grothe, den bis dahin noch nicht an Nazi-Opfer zurückgegebenen Teil der Bibliothek Tanzenberg für den deutschen Staat zu sichern. Er setzte sich 1961 nach Agra ins Tessin (Ticino, Schweiz) ab. Wieder­holte Anfragen an die Gemeindeverwaltung zu Grothe wurden nicht beant­wortet.

Dr. Hopf48 arbeitete in der Landesbibliothek vom 1. Oktober 1912 bis zum 31. März 1938. Vom 1. April 1921 bis zur zwangsweisen Versetzung in den Ruhe­stand war er Direktor der Landesbibliothek, danach wurde er als Angestellter für besondere Aufgaben weiterbeschäftigt49. Hopf war Vorsitzender der Loge "Zur Freundschaft" in Kassel gewesen. Ab dem 15. September 1944 bis zu seiner Pensionierung war er mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Direktors beauftragt. Er war kein NSDAP-Mitglied, sondern vor 1933 sogar Landesvor­sitzender der liberalen Deutschen Volkspartei gewesen. In den Akten fand sich kein Hinweis auf Beteiligung an irgendeinem Bücherraub. Die von Dr. Grothe in dessen Spruchkammerverfahren kolportierte Willensbekundung von Dr. Hopf, so lange er Direktor der Landesbibliothek sei, würde keine Hakenkreuzfahne über der Bibliothek wehen, ließ sich nach der Machtergreifung nicht mehr umsetzen.

Dr. Israel5o, der Handschriftenbibliothekar, arbeitete in der Landesbibliothek vom 1. Juli 1922 bis zum 31. Oktober 1948. Ab 1940 war er zeitweise stellver­tretender Direktor. Er war Mitglied der NSDAP seit dem 1. Mai 1937, Mitglieds­nummer 5.396. 739. Er galt zwar 1945 als Mitläufer, doch schon vor der Bom­bardierung von 1941 hatte er sich um Raubgut aus katholischen Klöstern bemüht.

Dr. Struck51 arbeitete in der Landesbibliothek ab dem 1. November 1921. Ab dem 1. November 1933 war er Direktor der Stadtbibliothek Lübeck, ab dem

48 Ex bibliotheca (wie Anm. 2), S. 91 f., 208; HABERMANN (wie Anm. 44), S. 135 f.; HHStAW, Abt. 520 I K-St, Nr. NB H 92, Spruchkammerakte.

49 Nach dem Eintrag im Jb. d. deutschen Bibliotheken 29, 1938, S. 115, war dies am 31.3.1938, nach seinenAngaben in der Spruchkammerakte am 31.3.1937.

50 Ex bibliotheca (wieAnm. 2), S. 93 f., 208 f.; HABERMANN (wieAnm. 44), S. 140; BAB, NSDAP-Zentralkartei; NSDAP-Gaukartei.

51 Ex bibliotheca (wie Anm. 2), S. 93, 235 ff.; HABERMANN (wie Anm. 44), S. 342 f.; HHStAW, Abt. 504 Nr. 10.249, Personalakte; Abt. 520 BW Nr. 6.109, Spruchkammerakte; BAB, NSDAP-Gaukartei.

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1. August 1940 Direktor der Landesbibliothek Wiesbaden. Er war NSDAP­Mitgliedseit dem 1. Mai 1933, Mitgliedsnummer 1.847.769. In der Begründung des Spruchkammerurteils vom 11. März 1948 wurden seine Tätigkeiten für die NSDAP aufgelistet: Neben dem Amt eines Kreisschulungsredners war er "Fach­referent in der ,Abteilung für Volksbildung' (Kulturpolitisches Amt der NSDAP) und ,Mitarbeiter am kulturellen Neuaufbau des dritten Reiches'. Außerdem war er Schrifttumsreferent". Im Zug seiner Versetzung nach Lübeck schrieb er an den Landeshauptmann von N assau,

"daß er Kreisbeauftragter der Partei für das gesamte Schrifttum [Kreisstellenleiter der Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums] war. [. .. ],daß er 1933 von der Partei auf Grund seiner in mehr als 10-jähriger publizistischer Tätigkeit hervorgetretenen klaren weltanschaulichen und charakterlichen Haltung sofort nach seinem Eintritt von dem damaligen Leiter der kulturpolitischen Abteilung des Gaues (Max Köhler) als NS-Fachreferent (Musik, allgemeine Theaterfragen, Schrifttum und Büchereiwesen) berufen[. .. ] wurde".

In der Personalakte fände sich die "Mitteilung der Gauleitung Schleswig­Holstein, daß der Betroffene der NSV. angehöre und Gaufachreferent für Musik, Schrifttum und Büchereiwesen sei. Seit 1935 war er Kreisschrifttumsbeauf­tragter im Kreisschulungsamt Lübeck". In einem Gutachten der NSDAP I Gau­leitung Kurhessen für die Oberschulbehörde in Lübeck vom 20. September 1933 wurde Struck von Max Köhler attestiert, dass er von "absolut völkischer Charak­terfestigkeit" sei. In der Stadtbibliothek Lübeck sorgte er für die Aussonderung des von den Nationalsozialisten unerwünschten Schrifttums. Vom 3. Januar bis 9. Juli 1941 und vom 8. August bis 1. Oktober 1944 wurde er auf Veranlassung von Dr. Grothe für die Mitarbeit im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (Aufbau der Zentralbibliothek der Hohen Schule) zunächst für den Einsatz in Paris, dann in der Auslagerungsstelle Annenheim bei Viilach beurlaubt. In dem Entlastungs­schreiben von Dr. Grothe - selbst ein Hauptverantwortlicher des Einsatzstabes - für das Spruchkammergericht behauptete dieser, die Aufgabe von Dr. Struck sei es gewesen "die auf öffentlichen Bibliotheken, vor allem der Nationalbiblio­thek Paris vorhandenen Handschriftenbestände auf Handschriften zu überprü­fen, die für das Sammelgebiet der Zentralbibliothek bedeutsam schienen". Struck wurde zu einer Geldstrafe von 1.000 RM verurteilt. Er wurde am 16. Juli 1945 entlassen, nachdem bekannt wurde, dass er in der Landesbibliothek Wies­baden vorhandenes Raubgut nicht an die Militärregierung gemeldet hatte.

Dr. Theelesz, hauptamtlich Direktor der Landesbibliothek Fulda, war von 1942 bis zu seinem Tod am 19. Februar 1944 Leiter der Erwerbungsabteilung der Landesbibliothek. In dieser Funktion war er ab diesem Zeitpunkt über jede Beschaffung von Raubgut informiert und verantwortlich. Er war Mitglied der NSDAP seit dem 1. Mai 1937, Mitgliedsnummer 5.398.803. Er bat nicht nur die Devisenstelle des Finanzamtes Kassel um Lieferung jüdischen Raubgutes, er beteiligte sich persönlich an einem Raubversuch in dem Franziskanerkloster in Fulda.