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Die phänomenalen Illustrationen des Nachthim mels, die der Künstler und Astronom Étienne Léopold Trouvelot im 19. Jahrhundert schuf, zeigen eine auffallend moderne Sicht auf das Universum. Von Judith BenhamouHuet
KOSMISCHE KUNST
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Manche Lebenswege haben etwas sonderbar Zufälliges. Zum Beispiel der des Künstlers und AmateurEntomologen Étienne Léopold Trouvelot, geboren 1827 im Nordosten Frank reichs. Seine tiefe republi kanische Überzeugung sollte ihn nach dem Staats streich LouisNapoléon Bonapartes von 1851 ins Exil in die USA führen. 1855 ließ sich Trouvelot mit seiner Familie in Medford, Massachusetts, nieder. Läge diese Kleinstadt nicht so nah bei Boston mit seinem re nommierten HarvardCampus, die Laufbahn Trouvelots hätte einen ganz anderen Weg nehmen können.
In Boston ernährte Trouvelot seine Familie mit Porträtmalerei. Doch das war nicht alles: Als eifriger Naturbeobachter experi mentierte er in seinem Garten mit Seidenraupen. Er führte eine europäische Spezies ein, den Schwammspinner (Lymantria dispar). Doch als in einer Sturm nacht die Käfige fortgeweht wurden, entwichen die Insekten. Wie sich zeigte, waren sie extrem schäd lich – bis heute ist der Schwammspinner als eine der größten Be drohungen amerika ni scher Wälder bekannt. Trouvelot hatte die Behör den gewarnt, allerdings vergeblich. Jedenfalls scheint dieser Vor fall seine Lei den schaft für die Entomologie abgekühlt zu haben.
Eine neue, produktivere Passion folgte. In den frühen 1870er Jahren erlebte Trouvelot erstmals die berühmten Nordlichter oder Aurora Borealis. Er begann, mit einer Mischung aus Gefühlsüberschwang und Prä zision Ansichten des Himmels zu malen oder zu zeichnen, die Joseph Winlock, den Direktor des HarvardCollegeObservatoriums, auf ihn aufmerksam werden ließen. Winlock war begeistert und holte Trouvelot 1872 in sein Mitarbeiterteam. Drei Jahre später ermöglichte er ihm den Zugang zum 26ZollRefraktor des U.S. Naval Observatory. Trouvelots Ruf drang bis nach Frank reich (wo LouisNapoléon nun Geschichte war), und 1882 enga gierte ihn das renommierte Observatorium Meudon in Paris. Dort fertigte er zahlreiche weitere Himmelsdarstellungen an – insge samt hinterließ er etwa 7.000 Illustrationen.
2001 zeigte die New York Public Library eine Aus stellung, in der diese Zeichnungen Trouvelots aus dem 19. Jahr hun dert neben aktuellen NASAFotografien der gleichen Sujets hingen. Die Schau eröffnete mit einem Zitat der Astronomin Maria Mitchell (18181889): „Gerade in der Wissenschaft brauchen wir Fantasie. Stellt alles in Frage. Sie ist weder reine Mathematik noch reine Logik, sondern auch ein Stück weit Schönheit und Poesie.“ Zwei fellos geben Trouve lots Illustrationen ihr recht, denn der Künstler, dessen Neigungen ihn zur Wissen schaft geführt hatten, verlieh FO
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seinen Bildern eine grandiose, fast mystische Qualität. Trouvelots Kunst erinner te an die heute legendären Zeichnungen, die der französische Architekt ÉtienneLouis Boullée im 18. Jahrhundert schuf. Man könnte auch glauben, Trouvelot habe das Werk von Künst lern wie Odilon Redon (18401916) ge kannt, der mit seinen Bildern riesiger schwebender Augen die Surrea listen inspirierte. Was immer Trouvelot künst lerisch anregte – den Wert seines eigenen Schaf fens bestätigte ein Buch von 1881, in dem der Verlag Charles Scribner’s Sons 15 seiner astronomischen Skizzen für kostspielige 125 Dollar publizierte.
Die Ausstellung in der New York Public Library zeigte, dass Trouvelots Zeichnungen, kaum verwunderlich, die Präzision neuester wis senschaftlicher Fotografien nicht erreichen, bewies aber auch die Kraft des mensch lichen Ge nius, die Fantasie des Betrach ters an zu regen: wissenschaftliche Kälte versus kreative Subjektivität. Trouvelot selbst erklärte: „Mein Ziel ist es … die Himmelserscheinungen so dar zustellen, wie das geschulte Auge und ein er fah rener Zeichner sie durch die großen mo dernen Teleskope sieht … Genauigkeit im Detail mit der natürlichen
Eleganz und den feinen Um rissen zu verbinden, die den gezeichneten Objek ten eigen ist.“
Seine Worte liefern einen Hinweis auf den ganz eigenen Zauber der hier gezeigten Bilder. Trouvelots Zeichnungen besitzen in der Tat große Präzision, sind aber auch erfüllt von der kreativen Intention, mit der der menschliche Blick sich stets der Natur nähert: Der Mond wird zum Ge sicht, Wolken werden umgestaltet zu Fantasiegebilden. Leonardo da Vinci riet Künstlern, in Flecken an der Wand nach Landschaften oder Schlachtszenen zu suchen. Trouvelot tut das Glei che mit unserem Winkel des Kosmos. Weil das Mare Humorum von Menschenhand gezeich net wird, sehen wir es in einer Weise, die ein Foto nie erlauben würde. Ebenso gut könnten wir Spitze oder dekorativen Stuck anschauen. Seine Sonnenprotuberanzen könnten ohne weiteres Marmorierungen auf dem Inneneinband eines alten Buches sein.
Étienne Trouvelot starb 1895 in Meudon. Unsere wissen schaftlich avancierte Welt erwies dem Künstler, der mit seiner gefühlvollen Vision des Weltraums Pionierarbeit leistete, Referenz, als sie einem Mondkrater seinen Namen gab.
Trouvelot schrieb die Daten und Uhrzeiten der von ihm illustrierten astrono mi schen Ereignisse stets genau auf: die November-Meteore, wie sie der Künst ler in der
Nacht des 13. Novembers 1868 sah (S. 7); die Krater des „Mond mee res“ Mare Hu mo rum auf einer Studie von 1875 (S. 8); der Planet Jupiter am 1. November
1880 (S. 9); Saturn am 30. November 1874 (S. 10 und 11); totale Sonnen fins ter nis, Juli 1878 in Creston, Wyo-ming (unten); Aurora Bore-alis, 1. März 1872 (rechts)