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Ohrerkrankung, Geschlechtsfunktion und Mutterschaft. Vorschlag zu einer Sammelforschung~). Von O. Alexander, Wien. DaB manche Ohrerkrankungen dutch Gescblechtsfunktion und Mut- terschaft nachteilig beeinflul3t werden kSnnen, ist eine Erfahrungstat- sache; bald handelt es sich um eine funktionelle, d. h. mehr oder weniger voriibergehende, bald um eine bleibende, d. h. organische Schiidigung. Wir stehen dieser Tatsache in prophylaktischer und therapeutischer Be- ziehung nicht ungertistet gegeniiber, dagegen bleibt in der Richtung der Diagnose bzw. ]l.tiologie noch viel zu wiinschen iibrig. In solchen F~llen kann sich die Diagnose nicht auf die Feststellung der Erkrankung be- schr~inken, sondern muB gleichzeitig auch den iitiologischen Zusammen- hang zwischen dem Auftreten (Manifestwerden) oder der Verschlechte- rung der Ohrerkrankung mit Geschlechtsfunktion und Mutterschaft klar bejahen oder ablehnen. Wir bediirfen dieser Kl~rung, um zu ein- wandfreien Grundsiitzen in Therapie und Prophylaxe dieser Ohrsch~idi- gungen zu gelangen, sind aber heute leider von einer derartig klaren Auf- fassung noch ziemlich weir entfernt. Gegenw/irtig fiillt es allerdings keinem Otologen ein, den iitiologischen Zusammenhang zwischen Ver- schlechterung des Ohrleidens und Geschlechtsfunktion und Mutterschaft abzulehnen oder gar auszuschlieBen. Kommt es abet darauf an, dab der betreffende Arzt einen einzelnen Fall dieser Art therapeutisch oder pro- phylaktisch zu beurteilen hat, so ergeben diagnostische Schwierigkeiten und Unldarheiten, auf Grund welcher je nach Temperament und grund- s~itzlicher geistiger Einstellung der eine Arzt therapeutisch und prophy- laktisch eingreifen, ein anderer sich davor zuriickziehen wird. Die Ur- sache fiir dieses so verschiedene Verhalten der Fach/irzte liegt in der Tat- sache, dab bisher jeder Arzt auf seine eigene Erfahrung angewiesen ist und auf das yon ibm selbst beobachtete Krankenmaterial beschr~inkt bleibt. In der Literatur sind verl~il31icheFiiUe nut in sehr geringem Aus- maB mitgeteilt, und die Deutung, die diese Ffille erfahren haben, sowie sonst vorliegende mehr allgemeine Mitteilungen sind nicht so zwingend, dab der vor einen bestimmten Fall gestellte Arzt seinen Weg vorgezeich- net findet. Der Komplex der Fragen bezieht sich auf beide Geschlechter, aus einem doppelten Grund jedoch in der Mehrzahl der F~ille auf das weib- liche Geschlecht. Erstlich wird durch die Geschlechtsfunktion der weib- 1) Vortrag, gehalten auf der 88, Versammlung d. Naturf, u. ~_rzte, Innsbruck, 21.--28. Sept. I924,

Ohrerkrankung, Geschlechtsfunktion und Mutterschaft. Vorschlag zu einer Sammelforschung

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Ohrerkrankung, Geschlechtsfunktion und Mutterschaft. Vorschlag zu einer Sammelforschung~).

Von O. Alexander, Wien.

DaB manche Ohrerkrankungen dutch Gescblechtsfunktion und Mut- terschaft nachteilig beeinflul3t werden kSnnen, ist eine Erfahrungstat- sache; bald handelt es sich um eine funktionelle, d. h. mehr oder weniger voriibergehende, bald um eine bleibende, d. h. organische Schiidigung. Wir stehen dieser Tatsache in prophylaktischer und therapeutischer Be- ziehung nicht ungertistet gegeniiber, dagegen bleibt in der Richtung der Diagnose bzw. ]l.tiologie noch viel zu wiinschen iibrig. In solchen F~llen kann sich die Diagnose nicht auf die Feststellung der Erkrankung be- schr~inken, sondern muB gleichzeitig auch den iitiologischen Zusammen- hang zwischen dem Auftreten (Manifestwerden) oder der Verschlechte- rung der Ohrerkrankung mit Geschlechtsfunktion und Mutterschaft klar bejahen oder ablehnen. Wir bediirfen dieser Kl~rung, um zu ein- wandfreien Grundsiitzen in Therapie und Prophylaxe dieser Ohrsch~idi- gungen zu gelangen, sind aber heute leider von einer derartig klaren Auf- fassung noch ziemlich weir entfernt. Gegenw/irtig fiillt es allerdings keinem Otologen ein, den iitiologischen Zusammenhang zwischen Ver- schlechterung des Ohrleidens und Geschlechtsfunktion und Mutterschaft abzulehnen oder gar auszuschlieBen. Kommt es abet darauf an, dab der betreffende Arzt einen einzelnen Fall dieser Art therapeutisch oder pro- phylaktisch zu beurteilen hat, so ergeben diagnostische Schwierigkeiten und Unldarheiten, auf Grund welcher je nach Temperament und grund- s~itzlicher geistiger Einstellung der eine Arzt therapeutisch und prophy- laktisch eingreifen, ein anderer sich davor zuriickziehen wird. Die Ur- sache fiir dieses so verschiedene Verhalten der Fach/irzte liegt in der Tat- sache, dab bisher jeder Arzt auf seine eigene Erfahrung angewiesen ist und auf das yon ibm selbst beobachtete Krankenmaterial beschr~inkt bleibt. In der Literatur sind verl~il31iche FiiUe nut in sehr geringem Aus- maB mitgeteilt, und die Deutung, die diese Ffille erfahren haben, sowie sonst vorliegende mehr allgemeine Mitteilungen sind nicht so zwingend, dab der vor einen bestimmten Fall gestellte Arzt seinen Weg vorgezeich- net findet.

Der Komplex der Fragen bezieht sich auf beide Geschlechter, aus einem doppelten Grund jedoch in der Mehrzahl der F~ille auf das weib- liche Geschlecht. Erstlich wird durch die Geschlechtsfunktion der weib-

1) Vortrag, gehalten auf der 88, Versammlung d. Naturf, u. ~_rzte, Innsbruck, 21.--28. Sept. I924,

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liche K6rper physisch und psychisch mehr beeinfuBt als der m~tnnliche; alle Schiidigungen, die auf die Mutterschaft folgen, betieffen nur das weibliche Geschlecht. AnBerdem bef~illt aber diejenige Ohrerkrankung, die bier im Mittelpunkt des Interesses steht - - die Otos!derose - - das weibliche Geschlecht welt h~iufiger als das m~innliche.

Wollen wir ein richtiges Urteil in der ganzen Sache gewinnen, so dfirfen wir jedoch unsere Aufmerksamkeit nicht auf die Ohrerkrankun- gen allein besctu'~tnken. Die Otosklerose ist ein Beispiel einer heredit~ir- degenerativen, in ihren Grundlagen kongenitalen Frkrankung. Will man da s Schicksal, das dem mit dieser I~ankheit Behafteten aus Geschlechts- leben und Mutterschaft droht, klar erkennen, so muB mall untersuchen, in welcher Weise und in welchem Grade andere heredo-degenerative Krankheiten dureh Gesclflechtsleben und Mutterschaft eine Beeinflussung erfakren, Der maBgebendste Grund jedoch, aus welcllem wir den Zu- sammenhang mit anderen Krankheitsgebieten bei Beurteilung tier Frage der: Ohrsch~idigung durch dad Geschlechtsleben nicht verlieren dfirfen, liegt in der Auffindung der richtigen therapeutisehen und prophylak- tischen MaBnahmen. Soweit dieselben konservativer Natur sind, es sich also nur .urn hygienisehe Vorschriften oder interne Behandlung handelt, besteht natiirlich kein Hindernis, alles theoretisch als richtig Erkannte im Bereich tier Eheberatung auch am Kranken praktiseh anzuwenden, sei es auch nur, um ldinisch das eine oder andere zu erproben und Erfahrungsmaterial zu sammeln. Wollen wir jedoch welter gehen und zur Verhtitung yon SchSdigungen ohrkranker Frauen ein K o n z e p t i o n s v e r b o t , ein E h e v e r b o t oder gar die k i i n s t l i e h e U n t e r b r e c h u n g der S c h w a n g e r s c h a f t in Erw~tgung ziehen; so diirfen wir nie unterlassen, die Ohrerkrankung in bezug auf il~re in- dividuelle und soziale Bedeutung mit anderen Erkrankungen des K6rpers, bei welchen so weitgehende MaBnahmen gerechtfertigt erseheinen, zu ver- gleichen, fiir welche somit Eheverbot, Konzeptionsverbot und kiinst- licher Abortns indiziert erscheinen. Die Anzahl der von einem einzelnen ersch6pfend untersuchten und hinreichend lange beobachteten Fiille, welche die Beziehungen yon Ohrerkrankung zu Geschlectltsfunktion und Mutterschaft kl~tren k6nnten, kann nur verhiiltnism~Big klein sein. Es liegt in der Natur dieser prognostisch meist nicht giinstigen Ohraffektio- hen, dab der Arzt nach mehr oder weniger kurzer Zeit gewechselt wird und der Fall somit einer Dauerbeobachtung entgekt. Infolgedessen soll der Weg der Sammelforschung betreten werden, wonach jeder Facharzt seine hierher geh6rigen F~ille, die er der Mitteilung wert hglt, unter Wah- rung seines wissensehafflichen Eigentums einer Zentralstelle mitteilt. Die 6sterreichische Otologische Gesellschaft hat in den Herren H. N e u- m a n n , C. S t e i n und dem Vortragenden ein Komitee eingesetzt, das die Aufgabe hat, das einlaufende Material genau zu bearbeiten nnd in allen

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m6glichen Eilizelheiten, in welchen es verliil31iche Angaben entil~ilt, zu verwerten. Die ]~insendung des Materials wird erbeten an die Ohr-, Nasen- ulid Hals-Klinik der Wiener Universit~t, Wien IX, Alserstral3e 4, an die Ohrenabteilung der Allgemeilieli Poliklinik, IX, Mariannengasse IO, oder an die Ohrenabteilung des Rothschild-Spitals in Wien, XVIII, W~hringer Giirtel 97.

Wit mtissen uns jedoch vor Augen halten, dab die numerische Ver- gr6Berung unseres Materials nut dann eineli Vorteil mit sich bringt, welin die neu hinzugekommenen F~ille qualitativ eiliwandffei beurteilt sind. Es ist keineswegs zu erwarten, dab jeder einzellie Fall in allen Teil- gebieten des uns iliteressierenden Fragekomplexes verwertet werdenkann; wir werden zufrieden seili, welin wir aus ibm ffir einzelne Punkte, jedoeh dort eine verl~Bliehe Aufkl~irung sch6pfen k61inen. Es ist daher notwen- dig, dab bei jedem einzelneli Fall alles Uiisichere und UiivollstSndige als belanglos beiseite gelassen wird und der Fall nur so welt Verwelidung filidet, als er vollkommen verl~iBliche Angabeli bietet. Am wertvollsten werdeli.nattirlich diejenigen Berichte sein, die sich auf otiatriseh voll- st~ndig untersuchte und lange Zeit voli ein und demselben Arzt beob- achtete KrankheitsfXlle beziehen. Aber auch andere Mitteilungen k6nnen fiir die eine oder andere Teilfrage einen wertvollen Behelf bilden. In jedem einzelneli Fall muB beriicksiehtigt werden, ob uliter dem Ein- fiuB yon Geschleehtsfunktion oder Muttersehaft a) ein bis dahin gesundes Ohr erkralikt ist oder b) eine bereits bestehende Ohraffektioli eine Ver- schlechterung erfahreli hat. In bezug auf die letztere ist eilie Verschlech- terung des Ohrleidens ohne und eine solche mit Beeiliflussung des Alt- gemeinbefindens zu uliterseheiden. Eiidlich sind die FSlle mit Ver- schlechterung des Ohrleidens his zu lebensbedroheliden Zust;~tnden be- sonders zusammenzufasseli. Ftir die Sammelforsehung kommen die Otosklerose, die ehr0nisch progressive Innenohratrophie, die akute und die chronische Mittelohreiterung, die Lues, die Tuberkulose und die Neo- plasmen des Ohres und eine Reihe yon Erkrankuligen des guBeren Ohres in Betracht. Bei der Otosklerose ist ganz besonders auf die richtige Dia- gnose zu achteli. Manche Autoren meinen, dab bei Otosklerose dutch Gravidit~it und/vluttersehaft eine Verschleehterung unbedingt eintreten mfisse, wonach diese Verschlechterung ffir die Otosklerose geradezu als charakteristisch anzusehen sei und das Niehtauftreten eilier Verschlech- terung durch Gravidit/it und Mutterschaft in diesem Falle gegen die Richtigkeit der Diagnose Otosklerose spreehe. Dies ist aber falsch. Ich verffige selber fiber eine allerdings kleine Anzahl genau untersuehter und sehr lange beobaehteter Ftille voli typischer Otosklerose, die sogar aus wiederholten Gravidit~iten und Mntterschaften ohne eder ohne wescntliche Verschlechterulig ihles Ohrleidens hervorgegangen silid.