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2008 I Jahrgang 7 I Ausgabe 6 I www.interculture-journal.com online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien Herausgeber: Jürgen Bolten Stefanie Rathje Inhalt Stefan Strohschneider Über die Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation Christian Wille Fremder Alltag? Sabine Heiß Im dritten Raum Angelika Hennecke Brücken zwischen Interkultureller Kommunikation und Technik Pan Yaling Netzwerkbildung in China Soon-Im Kim et al. Interkulturelle Wirtschaftskommunikation zwischen Deutschland und Korea Über die Schwierigkeiten Interkultureller Kommunikation Räume - Netzwerke - Kooperationen

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2008

I Jahrgang 7 I Ausgabe 6 I www.interculture-journal.com

online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien

Herausgeber:Jürgen BoltenStefanie Rathje

Inhalt

Stefan StrohschneiderÜber die Schwierigkeiten

interkultureller Kommunikation

Christian WilleFremder Alltag?

Sabine HeißIm dritten Raum

Angelika HenneckeBrücken zwischen Interkultureller

Kommunikation und Technik

Pan YalingNetzwerkbildung in China

Soon-Im Kim et al.Interkulturelle

Wirtschaftskommunikationzwischen Deutschland und Korea

Über die SchwierigkeitenInterkultureller KommunikationRäume - Netzwerke - Kooperationen

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Herausgeber:Prof. Dr. Jürgen BoltenProf. Dr. Stefanie Rathje

Wissenschaftlicher Beirat:Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Ahrens (Würzburg)Prof. Dr. Manfred Bayer (Danzig)Prof. Dr. Klaus P. Hansen (Passau)Prof. Dr. Jürgen Henze (Berlin)Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth)Prof. Dr. Alois Moosmüller (München)Prof. Dr. Alexander Thomas (Regensburg)

Chefredaktion und Web-Realisierung:Mario Schulz

Editing:Kati Meyer

Fachgebiet:Interkulturelle WirtschaftskommunikationFriedrich-Schiller-Universität Jena

ISSN: 1610-7217www.interculture-journal.com

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Vorwort der Herausgeber

Über die Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation

Stefan Strohschneider

Fremder Alltag?

Christian Wille

Im dritten Raum

Sabine Heiß

Brücken zwischen Interkultureller Kommunikation und Technik

Angelika Hennecke

Netzwerkbildung in China

Pan Yaling

Interkulturelle Wirtschaftskommunikationzwischen Deutschland und Korea

Soon-Im Kim et al.

Inhalt

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Vorwort der Herausgeber

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Worin bestehen die Schwierigkeiten interkultureller Kommuni-kation? Dieser Frage stellen sich die in der aktuellen Ausgabe versammelten Autoren und Autorinnen in thematisch und re-gional unterschiedlichen Räumen, Netzwerken und Kooperatio-nen.

Stefan Strohschneider entwickelt für die Beantwortung der Fra-ge nach der Schwierigkeit interkultureller Kommunikation eine abwechslungs- und erkenntnisreiche „Reiseroute“. Dabei ent-wirft er in essayistischer Form eine geisteswissenschaftliche Landschaft, in der sich das Forschungsgebiet Interkulturelle Kommunikation verorten kann.

Christian Wille betrachtet in seinem Beitrag „Fremder Alltag“ die alltäglichen Herausforderungen von Grenzgängern in der Region SaarLorLux. Zur Beschreibung dieser Grenzregion zieht Wille das Modell der Transnationalen Sozialen Räume heran.

Sabine Heiß knüpft in ihrem Beitrag „Im dritten Raum“ an die Raummetapher an und fordert als Ergebnis einer von ihr durch-geführten Studie einen Perspektivwechsel in der Ausbildung im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, weg von Ansätzen kulturvergleichender Differenzbestimmung hin zur Analyse von Wirkungszusammenhängen.

Angelika Hennecke erweitert mir ihrem Beitrag „Brücken zwi-schen Interkultureller Kommunikation und Technik“ die Diskus-sion über Schwierigkeiten in der interkulturellen Kommunikati-on um den häufig vernachlässigten Aspekt der Technik und des Techniktransfers. Ihre Analyse beruht auf Ergebnissen eines For-schungsprojektes, das zwischen Wissenschaftlern mehrerer Eu-ropäischer Hochschulen und Universitäten durchgeführt wurde.

Der fünfte Beitrag von Yaling Pan führt uns nach China und setzt sich mit dem Aspekt der Netzwerkbildung auseinander. Pan weist nach, wie sich dieser Aspekt des sozialen Lebens auf die konfuzianische Lehre zurückführen lässt und noch heute die chinesische Gesellschaft prägt.

Der letzte Beitrag und gleichzeitig unser erster Artikel aus Korea von Soon-Im Kim, Suyean Yu, Miyeon Kim, Dury Chung und Chungi Min lenkt den Blick auf interkulturelle Schwierigkeiten im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Autoren diagnostizieren zwischen Koreanern und deutschen Expatriats in Korea eine Vielzahl kultureller Unterschiede, die zu Konflikten in der Zusammenarbeit führen können.

Zusätzlich zu den Artikeln der neuen Ausgabe stellen wir Ihnen wieder eine Vielzahl aktuell rezensierter Bücher vor, die sie auf der Homepage des Journals unter dem Menüpunkt Rezensio-nen finden.

Vorwort der Herausgeber

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Vorwort der Herausgeber

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Die Herausgeber bedanken sich an dieser Stelle bei allen Auto-rinnen und Autoren und freuen sich auf zahlreiche weitere Bei-träge für zukünftige Ausgaben von interculture journal.

Stefanie Rathje (Berlin) und Jürgen Bolten (Jena) im Dezember 2008

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Abstract

Der folgende Aufsatz basiert auf der Antrittsvorlesung, die ich am 12. Februar 2008 vor der Philosophischen Fakultät der Fried-rich-Schiller-Universität Jena gehalten habe. Der Vortragsstil ist um der Lesbarkeit willen weitgehend beibehalten worden, der Text lediglich stilistisch geglättet und von üblichen Vortragsfor-meln befreit. Belege, Literaturhinweise und weiterführende Be-merkungen sind in Form von Endnoten angefügt.

Der Titel des Beitrags ist sehr allgemein und lässt wenig von sei-nen Inhalten erahnen – außer dass es wohl etwas mit eben die-sen Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation zu tun ha-ben dürfte. Die Ausführungen sind tatsächlich eine kleine Reise durch das weite Gebiet der interkulturellen Kommunikation wobei einige Zwischenhalte eingelegt werden, um verschiedene theoretische und konzeptuelle Grundfragen des Themas zu dis-kutieren.

Eine einschränkende Bemerkung allerdings ist noch notwendig: Das Gebiet der interkulturellen Kommunikation ist sehr weit1, es reicht von den Grenzbereichen fachsprachlicher Übersetzungs-wissenschaften über interkulturelle Aspekte der Publizistik und Journalistik, der Medienwissenschaften und des Marketing bis hin zur Analyse konkreter Interaktionsprozesse zwischen Men-schen verschiedener kultureller Herkünfte. Dieser letztgenannte Bereich – die Interaktion konkreter Menschen und die Schwie-rigkeiten, die sich dabei auf Grund kultureller Differenzen erge-ben können – steht im Zentrum der folgenden Ausführungen.

1. Zur Rolle der Sprache

Beginnen wir also unsere Reise – wie üblich zu Hause. Kürzlich überraschte mich mein zwölfjähriger Sohn Lukas mit der Be-merkung, er habe es wieder nicht gebarzt gekriegt, am Week-end mit seinen Homies zu chillen. – Da steht man zunächst rat-los, aber dann, in Kenntnis des Kontextes der Äußerung und angesichts des betrübten Gesichtsausdruckes des Kindes ahnt man doch, was gemeint sein könnte.

Die menschliche Fähigkeit, aus unvollständigen oder unver-ständlichen Äußerungen Bedeutungen zu konstruieren ist über-haupt sehr ausgeprägt. Der Sprachpsychologe Theo Herrmann versucht, diesen Konstruktionsprozess in einem Kommunikati-onsmodell theoretisch zu beschreiben.2 Demnach entwickelt ein Sprecher zunächst eine Sprechintention, er möchte jemandem einen Sachverhalt, eine Idee mitteilen. Dazu muss er Bedeutun-gen in kommunizierbare Zeichen übertragen, wozu er sich einer Menge ihm bekannter Bedeutungs-Zeichen-Zuordnungsregeln

Über die Schwier igkei -ten interkulturel ler Kommunikat ion

Stefan Strohschneider

Friedrich-Schiller-Universität Jena

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bedient. Der Adressat der Äußerung wiederum muss die Zei-chensequenz auf der Basis der ihm verfügbaren Zeichen-Bedeutungs-Zuordnungsregeln in eine Hypothese über den in-tendierten Sachverhalt, die mutmaßliche Idee des Sprechers umwandeln. Dieser Prozess kann auf allen Ebenen Störungen erfahren, die eine genaue Erfassung der ursprünglichen Sprech-intention verhindern. Im erwähnten Beispiel war mir schlicht unbekannt, dass es im Deutschen ein Verb „barzen“ gibt und ich musste – und konnte – mir eine Zeichen-Bedeutungs-Zuordnungsregel unter Zuhilfenahme des Kontextes erschlie-ßen.

Schwieriger wird es, wenn nicht der gemeinsame Zeichenvorrat das Problem ist, sondern die Zuordnungsregeln in die Irre füh-ren. Ich möchte das mit einem klassischen Beispiel illustrieren, das ich dem Buch „Fatal Words“ des Linguisten Steven Cushing entnehme3. Es handelt sich dabei um einen Trialog zwischen zwei spanisch sprechenden Piloten eines Verkehrsflugzeuges und dem zuständigen Fluglotsen. Das Flugzeug hatte einen Landeanflug verpasst und wegen zusätzlicher Umstände jetzt praktisch keinen Treibstoff mehr. Die Piloten sprechen unterein-ander spanisch, die Kommunikation zwischen dem Flugzeug und dem Lotsen findet auf Englisch statt. Spanische Äußerun-gen wurden ins deutsche übersetzt und englische englisch ge-lassen.

Pilot zum Copilot: Sag Ihnen, dass wir einen Notfall haben.

Copilot zum Lotsen: We’re running out of fuel.

Pilot zum Copilot: Sag Ihnen, dass wir in einem Notfall sind.

Copilot zum Pilot: Ja, Señor, das habe ich gesagt.

Copilot zum Lotsen: We’ll try once again: We’re running out of fuel.

Pilot zum Copilot: Ich weiß nicht, was mit der Landebahn passiert ist. Ich hab’ sie nicht gesehen.

Copilot zum Pilot: Ich habe sie nicht gesehen.

Pilot zum Copilot: [Mach dem Lotsen klar, dass] wir keinen Treibstoff haben.

Copilot zum Lotsen: Climb and maintain 3000 and, ah, we’re running out of fuel, sir.

Lotsen zum Copilot: Is that fine with you and your fuel?

Copilot zum Lotsen: I guess so. Thank you very much.

(Unmittelbar danach geht der Treibstoff zu Ende und die Ma-schine stürzt ab; geschehen in New York am 25. 1. 1990).

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Hier liegt das Hauptproblem offensichtlich darin, dass es den Piloten nicht gelingt, die Tatsache, dass sie sich in einer Notlage befinden, in Zeichen zu übersetzen, die beim Fluglotsen eine entsprechende Vorstellung und die daraus sich ergebenden Handlungen auslösen. Statt dessen endet der Prozess in einem geradezu grotesken Missverständnis.

Noch schwieriger wird es, wenn wir uns der Ebene der Bedeu-tungen zuwenden. Abbildung 1 zeigt ein Bildnis der indischen Göttin Kali4. Kali ist im gesamten Hinduismus bekannt, eine be-sondere Bedeutung aber genießt sie bei den Hindus im ostindi-schen Bundesstaat Orissa, wo sie in der Regel so dargestellt wird wie hier: mit einem Fuß auf einer liegenden Männerfigur stehend. Kali erkennt man an drei Merkmalen: Den vielen Ar-men und Händen in denen sie verschiedene Waffen trägt, ihrem Gewand aus abgetrennten menschlichen Gliedmaßen und an der weit herausgestreckten Zunge. Um diese geht es mir.

Abb. 1: Bildnis der Göttin Kali (17. Jahrhundert).

Westliche Betrachter neigen dazu, diese Darstellung im Sinne eines radikalen Feminismus zu interpretieren. Für Oriya spre-chende Hindus ist die Bedeutung eine ganz andere und man nä-hert sich ihr, wenn man an den Ausdruck „sich auf die Lippen beißen“ denkt, auf Englisch „biting the tongue“ - die Zunge bei-

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ßen. Es geht um die Darstellung einer Emotion aus dem Kom-plex von Schuld und Scham, in der Landessprache Lajya. Lajya aber ist etwas sehr spezielles, was mit der Geschichte zu tun hat, die Hindus in Orissa mit dieser Darstellung verbinden.5 In straffer Erzählweise geht diese Geschichte etwa so:

Vor Zeiten lebte auf Erden der Büffelgott Mahisasura. Er war im Laufe der Zeit so wild und mächtig geworden, dass er von den Göttern einen Freibrief erzwingen konnte, einen Freibrief des Inhalts, dass er – wenn überhaupt – nur von einem weiblichen Wesen getötet werden kann. Mit diesem Freibrief in der Tasche wurde aus seiner Wildheit ein zerstörerisches Wüten, er verwü-stete Länder und tötete Menschen sonder Zahl. Bald dämmerte den Göttern, dass dieser Freibrief ein Fehler gewesen war und sie taten sich zusammen und schufen aus der Kraft ihrer Geister Durga, eine Kämpferin, die von jedem der Götter seine persön-liche Waffe erhielt. Durga wurde auf die Erde geschickt, sie suchte und fand Mahisasura und es entbrannte ein fürchterli-cher, drei Tage währender Kampf, aber es gelang Durga nicht, Mahisasura zu überwinden. Da kehrte Durga zu den Göttern zurück und diese – nunmehr etwas kleinlaut – gestanden ihr, dass sie vergessen hätten, ihr noch zu sagen, dass der Freibrief auch die Klausel enthielte, dass das weibliche Wesen, das Mahi-sasura nur töten könne, dabei nackt sein müsse. Da entbrannte Durga in fürchterlichem Zorn auf diese männliche Götterwelt. Sie kehrte zur Erde zurück, zog sich aus, erledigte Mahisasura, verwandelte sich in Kali und setzte nun in dieser Gestalt dessen mörderisches Werk fort. Jetzt hatten die Götter ein echtes Pro-blem, weil sie ja keine Waffen mehr hatten, um dem Wüten Kalis Einhalt zu gebieten. So sandten sie Shiva, Kalis Geliebten, zur Erde, um sie wieder zur Raison zu bringen. Shiva aber war ein ziemlich vergeistigter Typ, er hatte keine Lust auf Auseinan-dersetzungen, legte sich auf den Weg und schlief ein. Kali, blind vor Zorn, sah ihn nicht liegen, trampelte auf ihn drauf, merkte dann doch, dass sie fast ihren Geliebten zertreten hatte, er-wachte aus ihrer Raserei, sah, was sie angerichtet hatte – und biss sich auf die Zunge.

Das ist der Moment, der in dem Gemälde dargestellt wird. Und dieses Gefühl: Über Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Bloßstel-lung in Zorn geraten zu sein, im Zorn Unrecht getan zu haben, gerade noch rechtzeitig das Allerschlimmste verhindert haben und sich reumütig wieder in das soziale Umfeld einzugliedern – das ist Lajya. Das im vorliegenden Zusammenhang Interessante daran ist, dass es sich hierbei um eine spezifisch weibliche Emo-tion handelt. Männliche Orissaner kennen den Begriff, wissen über Bild und Geschichte Bescheid, können das Gefühl aber nicht empfinden. Das Empfinden dazu haben nur die Orissane-rinnen. Ich könnte mich als deutscher Ethnologe oder Anthropo-loge so gut in die Sprache und Kultur Orissas einarbeiten, dass

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ich – von der Hautfarbe abgesehen – als perfekter Orissaner angesehen werde, ich bin als Mann prinzipiell nicht in der Lage, Auskunft darüber zu geben, wie sich Lajya anfühlt, ich kann die volle Bedeutung des Begriffs nicht rekonstruieren.

2. Über den Gegenstandsbereich der Interkulturellen Kommunikation

Es ist an dieser Stelle sinnvoll, die Darstellung konkreter Kom-munikationsprobleme kurz zu verlassen und einige grundsätzli-chere Überlegungen über den Gegenstandsbereich der Inter-kulturellen Kommunikation einzuflechten. Das erste kleine Bei-spiel handelte von einem Verständnisproblem zwischen dem Sprecher einer Jugendsprache und einem Erwachsenen. Ist das schon interkulturelle Kommunikation? Im zweiten Beispiel ging es um das Nichtverstehen zwischen Sprechern des Spanischen und des Englischen, obwohl sie einer gemeinsamen, sprachlich sehr eng regulierten Berufskultur entstammen. Ist das trotzdem interkulturelle Kommunikation? Das dritte Beispiel schließlich hat zwar die Glaubenswelt der Bewohner eines indischen Bun-desstaates zum Hintergrund, die eigentlichen Schwierigkeiten ergeben sich aber aus der prinzipiellen Unvereinbarkeit der Er-fahrungswelten von Männern und Frauen – ist das interkultu-rell? Was bitte ist der Gegenstandsbereich der interkulturellen Kommunikation?

Vom Schweizer Schriftsteller Franz Hohler gibt es eine wunder-bare Erzählung von einem Mann, der versucht, Ordnung in die Dinge seines häuslichen Alltags zu bringen.6 Bei einigen Sachen gelingt ihm das ganz gut. So gibt es zum Beispiel eine Schachtel für Befestigungsmaterial, in der er Bilderhaken und Reißzwec-ken sammelt. In einer anderen Schachtel verstaut er Verpac-kungsmaterial und in einem Kellerregal Dinge, die man zum Einmachen benötigt. So weit, so gut. Dann fallen ihm Gummi-ringe in die Hände. Erst legt er sie zum Verpackungsmaterial – aber nein, das stimmt ja nicht, da sind ja auch solche dabei, die man für Einweckgläser benötigt und solche, mit denen man die Flügel auf einem Modellflieger befestigt. Soll man die Gummi-ringe ihrem Einsatzzweck entsprechend auf verschiedene La-gerorte aufteilen? Das geht auch nicht, denn manchmal braucht man einen Gummiring einfach so – vielleicht für etwas ganz Neues, und wo sollte man dann suchen? Soll man vielleicht alle Gummiringe zusammen in eine eigene Schachtel legen? Auch falsch, denn dann fehlen einem die Gummiringe, wenn man zum Beispiel etwas verpacken möchte. Es geht nicht, es gibt keine befriedigende Lösung für die Gummiringe, man kann sie nirgends hin tun. Der Mann in Hohlers Erzählung wird über die-sem Problem verrückt.

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Ähnlich geht es einem, wenn man anfängt, über den Gegen-standsbereich und vor allem über die Grenzen interkultureller Kommunikation nachzudenken. In der breiteren Öffentlichkeit wird „interkulturelle Kommunikation“ häufig mit „internationa-ler Kommunikation“ gleichgesetzt, z.B. anlässlich von Verhand-lungen zwischen deutschen und chinesischen Wirt-schaftsführern. Der Begriff der Nation als Definiens für interkul-turelle Kommunikation ist auf den ersten Blick vielleicht ein-leuchtend, auf den zweiten aber schon nicht mehr. Man denke beispielsweise an die vielen Kommunikationsprobleme im Zu-sammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung, die es, da beide Staaten ganz offiziell Teil einer Nation, dann gar nicht hätte geben dürfen.7

Auch die Idee, „Sprache“ als Kriterium zu verwenden, resultiert in gravierenden Problemen. Auf der einen Seite ist es klar, dass Kommunikation schwierig wird, wenn der gemeinsame Zei-chenvorrat begrenzt ist. Auf der anderen Seite kann es, erstens, zwischen Menschen des gleichen Sprachraumes erhebliche kul-turelle Differenzen geben – man denke etwa an die riesigen englischen oder spanischen Sprachräume – und außerdem kann man, zweitens, zeigen, dass eine gemeinsame Sprache unter bestimmten Bedingungen die Wahrscheinlichkeit für Missver-ständnisse erhöht, wenn nämlich die Sorgfalt nachlässt, mit der Zeichensequenzen dekodiert werden: Ich glaube zu verstehen, was der andere sagt, passe nicht richtig auf, überhöre wesentli-che Nuancen - und missverstehe, was er meint.8

Wäre vielleicht der Beruf ein brauchbarer Kandidat?9 Schließlich weiß jeder, dass sich Ingenieure und Betriebswirte nicht verste-hen und dass niemand so prächtig aneinander vorbei reden kann wie Psychologen und Soziologen. Aber auch das kann es nicht sein. Im „Spiegel“ vom 21. Januar 2008 wurde beispiels-weise von einem Kampf der Kulturen berichtet, der anlässlich der Übernahme der Mehrheit am Volkswagenkonzern durch Porsche entbrannt sei. Offenbar können sogar Autobauer aus Stuttgart-Zuffenhausen und solche aus Wolfsburg – gleiche Na-tion, gleiche Sprache, gleicher Beruf – aus kulturellen Gründen in Kampf geraten!

Man kommt so nicht weiter. Organisation, Generation, Ge-schlecht oder Gruppenzugehörigkeit taugen ebenso wenig wie die genannten Konzepte dazu, interkulturelle Kommunikation von intrakultureller Kommunikation kategorial sauber zu tren-nen. Manche Wissenschaftler gehen deshalb den umgedrehten Weg, den zu den größeren Konzepten. So gibt es Versuche, geographische Raumbegriffe als Ordnungsprinzipien zu ver-wenden. Hier baut man auf ehrwürdigen anthropologischen Traditionen – man denke an Margaret Mead und Ruth Benedict oder auch an den Historiker Johannes Scherr10 – die aber in Zei-

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ten von Migration und Mobilität an Überzeugungskraft einge-büsst haben. Bleibt schließlich noch die Religion als einheits-stiftende kulturelle Größe. Samuel Huntington hat sie mit sei-nem Aufsehen erregenden Buch über den „Clash of Cultures“11 in diesem Zusammenhang wieder ins Gespräch gebracht – der interkulturellen Kommunikation hat er damit weder theoretisch noch praktisch weitergeholfen. Ich werde diesen Aspekt etwas später nochmals aufgreifen.

Es geht einem mit der interkulturellen Kommunikation wie Hoh-lers Mann mit den Gummiringen: es gibt keine verlässlichen ka-tegorialen Zuordnungen und Grenzen. In einem solchen Fall bleibt einem nur die Pragmatik: Interkulturelle Kommunikation findet dann statt, wenn Menschen miteinander interagieren, deren Handeln nicht nur durch ihre jeweiligen Idiosynkrasien determiniert ist, sondern auch durch ihren erfahrungsweltlichen Kontext, den sie zwar mit anderen Menschen teilen, der sie in bestimmten Aspekten systematisch von ihrem Gegenüber un-terscheidet. Welche Aspekte diese sind, welche Erfahrungswelt jeweils gemeint ist, welcher Kulturbegriff jeweils verwendet wird, muss dann aber auch dazu gesagt werden12. So gesehen kann eine Auseinandersetzung zwischen einem deutschen Chir-urgen und einem deutschen Anästhesisten in einem bestimm-ten Kontext ebenso interkulturelle Kommunikation sein wie das Gespräch zwischen zwei Diplomaten verfeindeter Nationen13.

3. Denkprozesse und ihre Rolle in der interkulturellen Kommunikation

Ich möchte nun die abstrakte Ebene verlassen und mich wieder den konkreten Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation zuwenden. Ich sprach im ersten Teil meiner Vorlesung von Schwierigkeiten, die mit „Sprache“ im weiteren Sinne zu tun haben. Interkulturelle Kommunikation kann aber auch durch unterschiedliche Denkgewohnheiten erschwert werden. Was ist damit gemeint? Als Denken bezeichnet man die Organisation elementarer kognitiver Prozesse zum Zwecke der Erreichung eines bestimmten Ziels. Wir haben damit drei relevante Bestim-mungsstücke des Denkens: Die elementaren kognitiven Prozes-se, die Organisation derselben und die Ziele14. Was die elemen-taren kognitiven Prozesse anbelangt, so teile ich mit der Mehr-heit der Kognitionswissenschaftler die Ansicht, dass diese uni-versell sind, sich also nicht systematisch zwischen kulturellen oder meinetwegen auch ethnischen Gruppen unterscheiden15. Unterschiedliche Zielvorstellungen werden hier nicht behan-delt16, denn verschiedene Formen der Organisation kognitiver Prozesse sind interessanter, weil sie sich in der interkulturellen Kommunikation oft auf recht subtile Weise bemerkbar machen:

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Eine großes deutsches Unternehmen, das auf der ganzen Welt Kraftwerke errichtet, hat eine „schnelle Eingreiftruppe“ aufge-baut – eine Gruppe von spezialisierten Ingenieuren, die im Falle der Havarie eines Kraftwerkes dorthin geflogen wird, um das Kraftwerk so schnell wie möglich wieder ans Netz zu bringen. Diese Gruppe besteht aus deutschen und US-amerikanischen Ingenieuren und nach Jahren der Zusammenarbeit hat sich dort folgende Arbeitsteilung entwickelt: Sobald dieses Team am Ort eines havarierten Kraftwerks ankommt, begeben sich die deut-schen Ingenieure in die Anlage, um Ausmaß und Ursache des Schadens zu erforschen. Die amerikanischen Kollegen beziehen solange das Hotel. Sobald die Schadensanalyse abgeschlossen ist, stoßen die Amerikaner dazu und schicken nunmehr die deutschen Ingenieure mit den Worten „Now you guys get out of here, we’ll fix it!“ ins Hotel zum Schlafen.

Es scheint in diesem Fall also so zu sein, dass die Form des Den-kens, die für die analytische Durchdringung eines komplexen Problems notwendig ist, von den deutschen Ingenieuren besser beherrscht wird. Ein Denken dagegen, das Mittel und Wege ersinnt, um ein definiertes Ziel schnellstmöglich zu erreichen, scheint eher den US-amerikanischen Ingenieuren zu liegen.

Man kann derartige Unterschiede auch systematisch erforschen. So haben wir beispielsweise Führungskräfte aus verschiedenen kulturellen Kontexten dabei beobachtet, wie sie mit einem be-stimmten betriebswirtschaftlich angelegten computersimulier-ten Planspiel umgehen. Stellen Sie sich also beispielsweise vor, Sie erhielten einen Brief von einem Rechtsanwalt, der sie dar-über informiert, dass sie irgendwo in Malaysia eine Textilmanu-faktur geerbt haben. Die Firma war im Besitz eines Großonkels von Ihnen, der, vor Jahrzehnten ausgewandert, von der Familie längst vergessen worden war und Sie sind nun der einzige Erbe. Sie fliegen nach Malaysia und finden die Manufaktur und auch in einer Art Buchhaltung eine Fülle von Zahlen und Fakten, die allerdings offenbar ohne klares System zusammengeschludert sind. Falls Sie dieses Erbe genießen wollen, müssen Sie, so die Bedingung des Großonkels, die Firma erstmal persönlich wieder „auf Vordermann“ bringen17.

Wie gehen Sie an diese Aufgabe heran? Deutsche Betriebswirte aus einem bestimmten industriellen Segment ähneln sich in ih-rem Vorgehen sehr stark: Sie arbeiten analytisch-deduktiv. Sie analysieren das vorhandene Zahlenmaterial, versuchen die Lüc-ken zu schließen, holen zusätzliche Informationen ein und stre-ben insgesamt danach, Struktur in das Chaos zu bringen. Das fordert unendlich viel Mühe und Konzentration, das dauert ewig – erlaubt es den Betriebswirten aber dann, mit gezielten, oft recht drastischen Entscheidungen den Neuaufbau der Ma-nufaktur in die Wege zu leiten.

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Auch indische Betriebswirte aus einem bestimmten industriellen Segment ähneln sich in ihrer Vorgehensweise, die sich allerdings von der ihrer deutschen Kollegen deutlich unterscheidet: Sie werfen meist nur einen kurzen Blick auf den Zahlensalat und fangen statt dessen damit an, etwas zu tun: Hier eine kleine Veränderung, dort ein rascher Impuls, hier probiert man mal dieses aus, dort jenes. Nichts davon ist wirklich geplant, aber nichts davon ist auch wirklich riskant. Statt dessen achten diese Betriebswirte sehr genau auf die Rückmeldungen und versu-chen durch andauernde sanfte Anpassungen, das weitere Schicksal dieser Manufaktur in die richtige Richtung zu lenken. Wenn man auch dafür ein Schlagwort verwenden will, so könn-te man dieses Vorgehen als induktiv-feedbackorientiert be-zeichnen – oder umgangssprachlich: sie beherrschen die Kunst des Durchwurstelns18.

Es ist offensichtlich, dass derartige Unterschiede bei der Organi-sation von Denkprozessen zu heftigen Irritationen in der kon-kreten Zusammenarbeit führen können. Die sogenannte Mana-gement-Literatur ist voll von Fallgeschichten über Mergers, Fu-sionen und interkulturelle Projektteams19, die gar nicht so sehr an irgendwelchen Sprachproblemen, sondern an den mit Denk-gewohnheiten verbundenen Schwierigkeiten gescheitert sind.

Ich bin selbst einmal beim Versuch eines Mergers gescheitert, wobei aber noch ein anderer Aspekt des Denkens eine ent-scheidende Rolle spielte: Vor Jahren, noch als recht junger Wis-senschaftler, wollte ich gemeinsam mit einem indischen Kolle-gen ein Buch über ein uns beide interessierendes Thema schrei-ben. Wir hatten uns drei Tage reserviert, um uns über die ge-naue Thematik, Konzeption und wesentliche Inhalte zu einigen. Als deutscher Wissenschaftler bereitete ich diese Klausur selbst-verständlich vor und erarbeitete ein siebenseitiges Exposé wel-ches, ausgehend von einer Klärung der zentralen Begriffe, den verschiedenen Verästelungen unseres Themas nachspüren woll-te. Mein indischer Kollege erzählte Geschichten. Jedes mal wenn ich anfing „Lass uns doch mal die Begriffe klären, mit de-nen wir arbeiten wollen!“ erzählte er noch eine Geschichte, die natürlich irgendwie mit dem Thema zusammenhing, aber die Klarheit meines Denkens keineswegs beförderte.

Das Buch ist nie geschrieben worden und das Exposé verstaubt heute noch in irgendeinem Ordner.20 Warum ist dieser Versuch einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit gescheitert? Ich glaube, es hat etwas mit meiner damals völlig unreflektierten Neigung zum Denken in Allgemeinbegriffen zu tun. Allgemein-begriffe sind hochabstrakte Schemata, die eine Vielzahl realer Phänomene im Hinblick auf ihre Erscheinungsformen und ihre Beziehungen zu anderen Aspekten der Realität zusammenfas-

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sen. Die Definition von Denken, die ich Ihnen zu Beginn dieser Etappe gegeben habe, war ein typisches Beispiel.

Mittlerweile weiß ich, dass die Neigung zum Denken in Allge-meinbegriffen zu einem bestimmten intellektuellen Stil gehört, der besonders in Deutschland gepflegt wird. Dieser Stil erklärt unter anderem die großen Erfolge der deutschen Philosophie und Mathematik und es gibt eine faszinierende Debatte dar-über, woher diese Neigung zum Denken in Allgemeinbegriffen kommt, inwieweit sie etwa mit unserer spezifischen Anwen-dung der Grundlagen des römischen Rechts zu tun haben könn-te. Ich will diese Debatte hier nicht nachzeichnen, sondern nur betonen, dass es auch andere intellektuelle Stile gibt. Stile, die z.B. das Denken in Metaphern und Analogien sowie die Benut-zung relativer Begriffe und kompartmentalisierter Theorien bei weitem vorziehen21. Mein indischer Kollege etwa liebte die spe-zifische Unschärfe der in einer Geschichte verpackten Metapher und hielt diese für viel spannender als – und für genauso wis-senschaftlich! wie – ständige Begriffsklaubereien.

4. Über den Ort Interkultureller Kommunikation

Unreflektierte Denkgewohnheiten können also ebenfalls eine Ursache für das Scheitern interkultureller Kommunikation dar-stellen. Um nun zur Diskussion über den richtigen Ort für die Interkulturelle Kommunikation (mit großem I) überzuleiten, greife ich noch einmal auf Hohlers Geschichte über den Mann mit den Gummiringen zurück: Es ist vermutlich deutlich ge-worden, dass diese Geschichte hier als Gleichnis benutzt wird. Es geht ja der Interkulturellen Kommunikation wie den Gummi-ringen: Man braucht sie, aber man weiß nicht, wohin damit. Diese Antrittsvorlesung betrifft eine Professur mit der Denomi-nation „Interkulturelle Kommunikation“, sie wird gehalten von einem gelernten Psychologen an einer Philosophischen Fakultät. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Warum ordnet man die In-terkulturelle Kommunikation nicht den Wirtschaftswissenschaf-ten zu oder den Sozial- und Verhaltenswissenschaften oder meinetwegen auch den Erziehungswissenschaften, der Publizi-stik oder irgend einer der heute so beliebten „Area Studies“? Jede dieser Zuordnungen hätte ihre Berechtigung, in jedem die-ser Felder beschäftigen sich Wissenschaftler mit Problemen der interkulturellen Kommunikation, aus jedem dieser Fächer emp-fängt die Interkulturelle Kommunikation Anregungen. An ande-ren Hochschulen schlagen sich diese Beziehungen ja durchaus in entsprechenden fakultären Zuordnungen nieder.

Was spricht also dafür, die Philosophische Fakultät als die an-gemessene Heimat Interkultureller Kommunikation anzusehen? Ich denke, es gibt ein Haupt- und ein Nebenargument, das diese

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Zuordnung rechtfertigt. Das Hauptargument bezieht sich auf die Tatsache, dass sich die Fächer einer philosophischen Fakultät mit den Grundfragen der conditio humana beschäftigen; es sind Fächer, die keine wohlfeilen Problemlösungen anbieten, son-dern die Grundlagen für dauerhafte Problemlösungen schaffen. Die Beschäftigung, der Umgang mit dem Fremden ist eines der Grundprobleme des menschlichen Daseins und es ist deswegen notwendig, Interkulturelle Kommunikation nicht als schnelllebi-gen Modetrends unterworfene Anwendungswissenschaft zu konzipieren, sondern als Querschnittsdisziplin, die für inter-kulturelle Problemlösungen notwendigen historischen, anthro-pologischen, psychologischen, philosophischen und philologi-schen Grundlagen reflektiert. Um mein Gleichnis ein letztes Mal zu strapazieren: Die Gummiringe gehören dorthin, wo man all die Dinge aufbewahrt, die man braucht, um für Notfälle gerü-stet zu sein. Sie gehören eben weder zum Verpackungsmaterial, noch zu den Dingen zum Einmachen, noch in eine eigene Schachtel, sondern dorthin, wo die Zange liegt, der Draht, der Spannungsprüfer und die Taschenlampe.

Mein Nebenargument für die fakultäre Zuordnung ist eher pragmatischer Natur. Jacques Derrida beschreibt die ideale Uni-versität als Institution, die die Wahrheit zum Beruf macht; als Institution, die öffentlich erklärt und gelobt, ihrer uneinge-schränkten Verpflichtung gegenüber der Wahrheit nachzu-kommen. Die reale Universität dagegen, so meint er, gibt sich preis und verkauft sich, sie wird zur „Geisel von Fachbereichen […], auf die sich die Investitionen konzentrieren, die ein der akademischen Welt fremdes Kapital für rentabel hält.“22 Inter-kulturelle Kommunikation wird enorm stark nachgefragt, als Studienfach wie als Dienstleistung. Damit ist sie in Gefahr, kor-rumpiert zu werden. Um der Gefahr der Vereinnahmung durch außerakademische Interessen zu entgehen, um sich auf ihre querschnittlichen Aufgaben konzentrieren zu können, bedarf sie des Schutzes. Es ist meine Hoffnung, dass die Philosophische Fakultät in diesem Zusammenhang ein besseres Korrektiv dar-stellt, als dies andere Fakultäten leisten können.

5. Weltanschauung, das Bedürfnis nach Bestimmtheit und interkulturelle Kommunikation

Unter dieser Überschrift geht es um eine dritte und vielleicht besonders kritische Klasse von Ursachen für die Schwierigkeiten der interkulturellen Kommunikation. Ich hatte ja oben bereits angekündigt, auf die Bedeutung von Weltanschauungen für die interkulturelle Kommunikation eingehen zu wollen und in die-sem Zusammenhang auch Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“ kritisch zu beleuchten. Huntington kon-

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struiert Großräume, deren kulturelle Homogenität sich aus ihren gemeinsamen religiösen Grundlagen ergibt. Geschichte, so meint er, lässt sich verstehen als Folge von Auseinandersetzun-gen zwischen solchen religiös geprägten kulturellen Großräu-men und er prognostiziert uns allen eine Zukunft, die durch den Kampf zwischen unserer abendländisch-christlichen und der arabisch-islamischen Kultur geprägt werde.

Der Islam und das Abendland, religiöser Fanatismus und inter-kulturelle Kommunikation – das sind in der Tat brennend aktuel-le Themen, die uns fast täglich aus den Zeitungsseiten entge-genspringen und auf denen das Böse – oder doch zumindest das Unverständliche – in der Regel bei „den Anderen“ gesehen wird. Man könnte in der Aufregung um Al Kaida, Taliban und Gotteskrieger glatt vergessen, dass auch unsere eigene Ge-schichte ganz erstaunliche fundamentalistische Episoden kennt. Eines der - meiner Ansicht nach - faszinierendsten Beispiele für die Dynamik weltanschaulicher Auseinandersetzungen ist das Täuferreich von Münster in den Jahren 1534 und 1535. Lassen Sie mich kurz die Geschichte dieses Reiches nachzeichnen:23

Die Reformation führte keineswegs geradlinig zu dem, was wir heute als Protestantismus kennen. Vielmehr bildete sich eine Vielzahl von größeren und kleineren Gruppierungen, die sich zwar in ihrer Ablehnung der römischen Kirche einig waren, an-sonsten aber recht widersprüchliche religiöse und soziale Posi-tionen vertraten. Einer der theologischen Streitpunkte war die Taufe. Eine Bewegung, die wir heute zusammenfassend als „die Wiedertäufer“ bezeichnen, war der Ansicht, dass die Taufe nur dann gültig sei, wenn man sich in Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und unter Kenntnisnahme aller Konsequenzen für Chri-stus entscheide. Die Wiedertäufer lehnten – und lehnen – daher die Kindstaufe ab und praktizierten die Erwachsenentaufe.

Aus verschiedenen Gründen fanden diese Wiedertäufer – oder einfacher: die Täufer – in Niederdeutschland und den Nieder-landen besonders viel Resonanz und einer ihrer wichtigsten Pre-diger, Jan Matthys, erklärte 1533, dass die Zeit der Trübsal nunmehr vorbei sei, dass Christus bald auf die Erde zurückkehre und dass die Stadt Münster als das Neue Jerusalem ausersehen sei, wo selbst alle wahren Christen die Ankunft des Herrn vorbe-reiten sollten. Demzufolge kam es ab Anfang 1534 zu einem starken Zustrom von Täufern nach Münster.

Wo liegt das Problem? ist man heute geneigt zu fragen. Dann sollen die, die das wollen, sich eben ein zweites Mal taufen las-sen, dann hat die liebe Seele ihre Ruh’! Leider war es so einfach nicht. Das Problem ist, dass aus der Sicht eines Täufers alle Nicht-Täufer keine Christen sind, weil die Kindstaufe ja ungülti-ge Scharlatanerie ist. Ein wahrer Christ, wenn er in Christo leben will, darf sich aber nicht mit Nicht-Christen gemein machen.

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Und wenn man Pfarrer als unchristliche Ketzer, Kirchen als ent-weiht und die Obrigkeit als heidnisch betrachtet, wird aus einer theologischen Spezialfrage schnell ein fundamentales Problem des Zusammenlebens.

Es ist spannend zu sehen, wie in den anderthalb Jahren, die das Täuferreich von Münster existierte, die Behandlung dieses Pro-blems all jene Phänomene hervorbrachte, die wir heute geneigt sind, vor allem im Zusammenhang mit dem islamischen Funda-mentalismus wahrzunehmen. Einige Beispiele:

Innerhalb von wenigen Wochen kam es zu einer völligen Über-nahme der Macht in Münster durch die Täufer. Wurden zu-nächst nur die Kirchen übernommen, die Klöster aufgelöst und sämtliche katholischen und nicht-täuferischen protestantischen Geistlichen der Stadt verwiesen, kam es bald darauf zu einer umfassenden Säuberung der Stadt von Nicht-Täufern, die sich in den letzten Säuberungswellen durch erhebliche Grausamkeit auszeichnete.

Die bald einsetzende Belagerung der Stadt durch den (katholi-schen) Bischof von Köln führte einerseits zu einem Zuzug aus-ländischer – hier: niederländischer – Kämpfer, sie veranlasste die Täufer andererseits dazu, die Stadt hervorragend zu befesti-gen und ein effektives Militärreglement zu entwickeln, das es erlaubte, den bald hoch überlegenen Truppen des Bischofs ein gutes Jahr lang erfolgreich Widerstand zu leisten, der schließlich erst durch einen Verrat beendet werden konnte.

Es kam im Zuge der Belagerung wiederholt zu Selbstmordatten-taten. So stürzte sich beispielsweise der eben erwähnte Prediger Jan Matthys im Zustand einer religiösen Elevation mit einer Handvoll Glaubensgenossen auf die Belagerer und richtete dort ein erhebliches Blutbad an, bevor er mit seinem Stosstrupp den Tod fand. Eine Täuferin schlich sich, dem Vorbild Judits folgend, aus der Stadt und versuchte (erfolglos), den belagernden Bi-schof zu verführen, um ihn im Bett zu ermorden.

Im Inneren kam es zu einer zunehmenden Radikalisierung der täuferischen Ideologie, die bald sämtliche Bereiche des mensch-lichen Lebens umfasste. Sehr deutlich wird das in einem Aufruf, den die Täufer am 15. April 1534 an die Belagerer richteten:

Allen Völkern jedes Alters, die Münster, die christliche Stadt des allerhöchsten Gottes, mit der Belagerung bedrängen: […] Damit aber jeder von euch einsehe und genauer bei sich überlege, was er tut und gegen wen er die Waffen führt, so werden wir über unseren Glauben und unser Leben kurz Rechenschaft geben. […] Wir wissen auch und glauben, dass der ewige Gott die, die ihn fürchten und auf seinen Wegen wandeln, liebt, dagegen alle Übeltäter auf der Welt gewaltig hasst. […] So ist unser Le-ben vor Gott so eingerichtet, dass wir keinen unter uns, der sich

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durch Übeltaten straffällig macht, ungestraft lassen, auf dass wir nicht solche Frevel und ungeheure Sünden, wie sie über uns unverschämter Weise unter euch erdichtet werden, duldeten und geschehen ließen. […] Also fürchten wir nicht, was der An-tichrist, die Priester, die Mönche und die Schlauheit des Teufels mit seiner ganzen Rotte und mit den Pforten der Hölle selbst gegen uns unternehmen. Unser in Christo verborgenes Leben nimmt erst seinen Anfang, wenn dies Fleisch die Sterblichkeit abgelegt hat. Dann werden die Feinde, die wider den Stachel Jesu Christi löcken, gebrochen und verworfen zu Schanden werden. Deshalb bekehrt euch und erkennet, solange ihr könnt, eure Irrtümer!

Diese Radikalisierung spiegelte sich auch in der Gesetzgebung wider. So wurde auf der einen Seite ein äußerst striktes und rigides Strafreglement eingeführt, auf der anderen Seite aber auch Privatbesitz verboten und die volle Gütergemeinschaft aller täuferischen Brüder und Schwestern verfügt. Unter Matthys’ Nachfolger Jan Bockelson van Leiden entwickelte sich das Täu-ferreich fast ins Groteske. So erlaubte und förderte er u.a. die Polygamie in Münster (was auf Zeitgenossen wie spätere Kom-mentatoren besonders erregend wirkte) und gründete schließ-lich den Staat Israel auf deutschem Boden, dem er selbst als oberster König und von Gott Gesandter vorstand.

Nach dem Fall und der Plünderung der Stadt wurden die Anfüh-rer der Täufer – selbstverständlich nach gebührender Folter – hingerichtet und ihre Leichname in eisernen Käfigen am Turm von St. Lamberti aufgehängt, „allen unruhigen Geistern zur Warnung und Schrecken“. Und all das wegen einer Uneinigkeit über den richtigen Zeitpunkt für die Taufe! Warum können weltanschauliche Differenzen so verheerende Auswirkungen auf die interkulturelle Kommunikation haben oder, wie in die-sem Fall, kulturelle Differenz überhaupt erst herstellen? Um die-se Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich mit einigen der anthropologischen Grundlagen des Menschseins zu beschäfti-gen:

Ausgangspunkt ist die grundlegende theoretische Annahme, dass Menschen ein Bedürfnis nach Bestimmtheit haben. Wir erleben Bestimmtheit, wenn wir vorhersehen können, was als nächstes geschehen wird – wenn also unsere Welt bestimmten Regeln folgt und wir Einsicht in diese Regeln haben. Wir erleben Bestimmtheit aber auch, wenn wir Kontrolle haben, wenn wir beeinflussen können, was geschieht, wenn wir in der Lage sind, Schaden von uns fern zu halten.24

Dies ist eine universelle Annahme, die aber sogleich präzisiert werden muss. Das Bedürfnis nach Bestimmtheit variiert nämlich mit dem Lebensalter. Bei Kindern ist das Bedürfnis nach Be-stimmtheit hoch, Kinder brauchen Sicherheit. In der Adoleszenz

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und im jüngeren Erwachsenenalter nimmt das Bedürfnis nach Bestimmtheit rapide ab um dann im weiteren Verlauf des Le-bens allmählich wieder anzusteigen.25 Das ist der Grund dafür, warum sich manche jungen Menschen voller Begeisterung der Faszination fremder Kulturen hingeben. Die gleichen Menschen aber, wenn sie älter geworden sind, verbringen ihren Sommer-urlaub 17 Jahre hintereinander auf dem gleichen Zeltplatz an der Adria und quittieren es mit Unmut, wenn der Pächter der lokalen Pizzeria wechselt. Dieses Entwicklungsprinzip hat, das sei nur nebenbei erwähnt, gravierende Auswirkungen auf Maß-nahmen zur Förderung interkultureller Kommunikation. Ein Programm, das auf der Unbestimmtheitslust junger Menschen aufbaut, kann für ältere geradezu kontraindiziert sein und um-gedreht.

Zurück zur Theorie: Das Erleben von Bestimmtheit kann sich aus verschiedenen Quellen speisen. Bestimmtheit kann z.B. aus ei-ner beglückenden Partnerschaft resultieren, aus einer verlässli-chen Position in der Großfamilie, aus einem stabilen Freundes-kreis, aus beruflicher Sicherheit, aus einem zuverlässig geregel-ten Alltag, aus materiellem Wohlstand natürlich, und vielem anderen – vor allem aber eben auch aus der Tatsache, dass man Erklärungen dafür hat, was in der Welt um einen herum so pas-siert – aus der Weltanschauung. Diese verschiedenen Be-stimmtheitsquellen können sich im übrigen gegenseitig kom-pensieren: Menschen können z.B. privates Chaos eine Zeitlang durch berufliche Sicherheit ausgleichen und umgedreht.

Wenn man über Weltanschauungen spricht, bezieht man sich gewöhnlich auf die Inhalte. So ist dann von einer christlichen Weltanschauung die Rede oder einer islamischen, von einer so-zialdemokratischen oder einer neoliberalen, von einer konserva-tiven oder einer progressiven. Das hat seine Berechtigung, im vorliegenden Zusammenhang ist aber wichtiger, dass man Weltanschauung auch nach formalen strukturellen Kriterien be-schreiben kann. Ein solches strukturelles Kriterium ist beispiels-weise die Differenziertheit. Ein Mensch kann eine sehr undiffe-renzierte Weltanschauung haben, mit der er alles, was ge-schieht auf wenige, zentrale Grundprinzipien zurückführt. Eine differenzierte Weltanschauung verfügte demgegenüber über vielfältige, mit allerlei einschränkenden Bedingungen versehene Erklärungsmodelle. Eine Weltanschauung kann, das wäre ein zweites Kriterium, unterschiedlich rigide sein, also in unter-schiedlichem Ausmaß offen für die Integration neuer Erfahrun-gen. Und schließlich können Weltanschauungen in unterschied-lichem Maße kohärent bzw. widerspruchsfrei sein.26

Diese Überlegungen haben eine hohe Relevanz für die Ausge-staltung interkultureller Kommunikationsprozesse: Jede inter-kulturelle Begegnung bedeutet für die Teilnehmer zunächst und

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vor allem eine Verringerung der Bestimmtheit. Mein Partner denkt, redet, handelt auf eine Art und Weise, die ich nicht oder nur schlecht verstehe und die ich nicht oder nur schlecht erklä-ren kann. Wie Menschen mit dieser unbestimmten Situation umgehen, ob sie lustvoll darin aufgehen, ob sie konstruktiv nach Verständnis suchen oder ob sie mit schnellen, meist ab-wertenden Urteilen bei der Hand sind, hängt nicht zuletzt von den strukturellen Eigenschaften ihrer Weltanschauung ab: Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen des Kommunikati-onsprozesses ist die Bereitschaft der Interaktionspartner, ihre Erklärungsmodelle ständig zu erweitern, zu revidieren, zu korri-gieren. Verallgemeinert ausgedrückt: interkulturelle Kommuni-kation setzt eine einigermaßen differenzierte, wenig rigide Weltanschauung voraus, die Widersprüchlichkeiten zulässt.27

In diesem Zusammenhang wird nun das eben erwähnte Kom-pensationsprinzip wichtig: Eine differenzierte, flexible, wider-spruchsfreundliche Weltanschauung kann man sich dann „lei-sten“, wenn das Bestimmtheitsbedürfnis aus anderen Quellen hinreichend befriedigt wird. Ist das nicht der Fall, sei es aus ma-terieller oder sozialer Not oder weil die Zahl der Feinde groß, braucht man Bestimmtheit – fast um jeden Preis. Und wenn sonst nichts hilft, gewinnt man Bestimmtheit am besten durch eine radikale Vereinfachung seiner Weltanschauung. Man teilt die Welt in schwarz und weiß und gut und böse – und wird si-cher. Man weiß, was man tun muss und was nicht, wer dazu-gehört und wer nicht, was kommen wird und was nicht. Man kann aufhören, zu denken.

Die Geschichte des Täuferreiches von Münster kann als „histori-sches Experiment“ zum Zusammenhang von Bestimmtheit, strukturellen Veränderungen der Weltanschauung und dem Zusammenbruch von Kommunikationsmöglichkeiten interpre-tiert werden. Wenn man die anthropologische Grundannahme von der Bedeutung des Bedürfnisses nach Bestimmtheit akzep-tiert, dann ist es natürlich, dass sich aus dem immer enger wer-denden Belagerungsring, der Auflösung der inneren Ordnung der Stadt, der schwieriger werdenden Nahrungsversorgung und dem Verlust sozialer Bindungen eine Radikalisierung der Ideolo-gie ergibt, verbunden mit einem drakonischen Militär- und Zivil-reglement. Es ist ebenso natürlich, dass mit der Gegenseite kein theologischer Diskurs mehr stattfinden kann, sondern nur noch ein Austausch der Axiomatik, der im übrigen vor allem der Selbstexkulpation dient: Man hat dem Gegner eine letzte Chan-ce gegeben einzusehen, dass er sich irrt, bevor man ihn er-schlägt.28

Ich denke, ich muss nicht besonders betonen, dass ich der An-sicht bin, dass dieser Zusammenhang zwischen Bestimmtheit, Struktur von Weltanschauung und kommunikativer Offenheit

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auch dabei helfen kann, aktuelle Schwierigkeiten interkultureller Kommunikation besser zu verstehen. Scharia, Türkenhass, evangelikaler Fundamentalismus sind Stichworte, die auf welt-anschauliche Schwierigkeiten verweisen – auf solche allerdings, die wenig mit den Inhalten der jeweiligen Weltanschauung zu tun haben, dafür aber umso mehr mit ihren strukturellen Eigen-schaften. Samuel Huntington begeht daher mit seiner These von der weltanschaulichen Unvereinbarkeit von christlicher und islamischer Welt einen Denkfehler, weil er die notwendige Dif-ferenzierung der inhaltlichen und der strukturellen Aspekte von Weltanschauungen nicht beachtet.

Ich bin damit am Ende dieser kleinen Reise durch das Gebiet der Interkulturellen Kommunikation angekommen. Ich habe über Schwierigkeiten gesprochen, die mit Sprache zu tun haben – „barzen“ heisst übrigens soviel wie „organisieren“, „regeln“ – über solche, die aus unreflektierten Denkgewohnheiten resultie-ren und aus dogmatisierten Weltanschauungen. Ich hoffe dar-über hinaus gezeigt zu haben, dass Interkulturelle Kommunika-tion ein schwieriges, aber zugleich auch lohnendes Forschungs-gebiet darstellt, ein Forschungsgebiet, das nicht nur faszinie-rende Phänomene behandelt, sondern auch theoretisch ausge-sprochen spannend ist.

1 Die z. Zt. wohl umfassendste Übersicht bieten J. Straub, A. Weidemann & D. Weidemann (Hrsg.) (2007). Handbuch inter-kulturelle Kommunikation und Kompetenz: Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder. Stuttgart: Metzler.

2 Theo Herrmann hat sehr viel über Sprache publiziert. Wer sich nicht mit dem von ihm herausgegebenen knapp 1000-seitigen Enzyklopädieband von 2003 beschäftigen will, sei auf die fol-gende, immer noch grundlegende Quelle verwiesen: Herrmann, Th. (19952). Allgemeine Sprachpsychologie: Grundlagen und Probleme. Weinheim: Beltz.

3 Cushing, S. (1994). Fatal words. Communication clashes and aircraft crashes. Chicago, Ill.: The University of Chicago Press. Dieses Buch enthält eine Fülle von Beispielen für sprachliche Missverständnisse im Bereich der Luftfahrt. Die zitierte Kommu-nikationskatastrophe findet sich auf den Seiten 44-45.

4 Die Abbildung ist das Photo einer Wandmalerei aus dem 17. Jahrhundert aus dem Meenakshi Amman Tempel in Madurai, Tamil Nadu, Südindien. Quelle: Wikipedia in Englisch, Reproduk-

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tionserlaubnis unter den Bedingungen der GNU Free Documen-tation License.

5 Die hier vorgelegte Version dieser Geschichte und die nachfol-genden Ausführungen basieren auf Menon, U. & Shweder, R. A. (1994). Kali´s tongue: Cultural Psychology and the power of shame in Orissa, India. In S. Kitayama & H. R. Markus (Hrsg.), Emotion and Culture, S. 241-284. Washington, DC: APA.

6 Das menschliche Gedächtnis ist, wie ich anlässlich der Quellen-recherche feststellen muss, kein passiver Speicher, sondern ein konstruktives System: Franz Hohlers Erzählung heisst „Billiges Notizpapier“ und ist in seinem Erzählungsband Die Rückerobe-rung (München: dtv, 1995) erschienen. Von Befestigungsmate-rial ist dort allerdings keine Rede. Meine Erinnerungstäuschung lässt sich auf ein Gespräch über Zwänge zurückführen, das ich anlässlich der Lektüre dieser Erzählung mit einer Kollegin führte. Trotzdem: die Anregung dazu entstammt Hohlers Phantasie.

7 Das ist natürlich eine gröblich verkürzte Abhandlung eines The-mas, das viel differenzierter behandelt werden müsste. Das tut z.B. K. P. Hansen in seinen Ausführungen über die „Nation als Superkollektiv“ (in Kultur und Kulturwissenschaft, 20033, Tübingen: A. Francke (utb), S. 207ff), sehr lesenswert ist ferner die historische Abhandlung von H.-U. Wehler (2001). Nationa-lismus: Geschichte, Formen, Folgen. München: Beck. Einige konkrete deutsch-deutsche Schwierigkeiten werden in: S. Stroh-schneider (Hrsg.) (1996). Denken in Deutschland: Vergleichen-de Untersuchungen in Ost und West. Bern: Huber analysiert; die aktuelle Situation untersuchen in: J. W. Falter, O.W. Gabriel, H. Rattinger & H. Schoen (Hrsg.), (2006) Sind wir ein Volk? Ost- und Westdeutschland im Vergleich. München: Beck.

8 Auf diese Problematik bin ich bei Volkmann (S. 17ff) ge-stossen: Volkmann, L.: Aspekte und Dimensionen interkulturel-ler Kompetenz. In L. Volkmann, K. Stiersdorfer & W. Gehring (Hrsg) (2002), Interkulturelle Kompetenz, S. 11-37; Tübingen. Narr.

9 Auch dieses Thema wird hier nur gestreift. Ausführlicher wird das Thema bei Barmeyer behandelt (Barmeyer, C. (2000). Inter-kulturelles Management und Lernstile. Frankfurt am Main: Campus), speziell handwerkliche Berufskulturen untersucht A. Fischer (2000). Schulische Berufsausbildung im Handwerk. Eine international ausgerichtete wirtschaftspädagogische Betrach-tung. Dissertation, Universität Köln.

10 Für Anthropologen aus der Generation von Benedict und Mead sind geographische Kategorien wie „Ebene“ oder „Berg-land“ noch ganz selbstverständliche Kategorien kulturtheoreti-

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schen Denkens. Statt auf die Originalquellen verweise ich auf den instruktiven Überblicksband von J. D. Moore (1997), Visions of culture: An introduction to anthropological theories and theorists. Walnut Creek, CA: AltaMira. Der republikanische Uni-versalhistoriker Johannes Scherr schrieb seine wunderbare Ge-schichte deutscher Cultur und Sitte im Schweizer Exil 1852-53 (seit 1858 unter dem Titel Deutsche Kultur- und Sittengeschich-te, zahllose Neuauflagen bis in die Zeit des Dritten Reiches, viel-fach ergänzt und erweitert). Er beginnt ganz selbstverständlich mit einer ausführlichen Darstellung der geographischen Lage Deutschlands und den sich daraus ergebenden Grundstrukturen des deutschen Charakters. Nebenbei bemerkt: Scherr, glühen-der Nationalist, bemüht sich um eine Zusammenfassung dessen, was heute in der politischen Diskussion als „deutsche Leitkultur“ bezeichnet wird und scheitert – wenn auch auf hohem Niveau. Kulturell gesehen lässt sich „Deutschland“ nicht unabhängig vom Rest Europas denken.

11 Huntington, S. Ph. (1996). The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster.

12 Zum lebensweltlichen Kulturbegriff s. Bolten, J. (2007). Ein-führung in die interkulturelle Wirtschaftskommunikation. Göt-tingen: utb. Ich verwende hier den Ausdruck „erfahrungswelt-lich“ um die Rolle von Lernprozessen für die Herausbildung kul-tureller Gemeinsamkeiten zu betonen. Diese Perspektive deckt sich im übrigen auch mit der Theorie multipler Kollektivitäten von K.-P. Hansen (in Vorb.).

13 Überzeugende Analysen zu dieser These finden sich z.B. bei Prieto, J. M. & Martinez Arias, R. (1997). Those things yonder are no giants, but decision makers in international teams. In P. C. Earley & M. Erez (eds.), New perspectives on international industrial/organizational psychology, S. 410-445. San Francisco, CA: New Lexington. Speziell mit der Kommunikation zwischen Chirurgen und Anästhesisten beschäftigen sich H. Waleczek & G. Hofinger (2005). Kommunikation über kritische Situationen im OP – Schwierigkeiten, Besonderheiten, Anforderungen. In G. Hofinger (Hrsg.), Kommunikation in kritischen Situationen. Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 121-140.

14 Definition nach Dörner, D. (1979). Problemlösen als Informa-tionsverarbeitung. Stuttgart: Kohlhammer.

15 Zum schnellen Überblick s. dazu z.B. Anderson, J. R. (19962). Kognitive Psychologie: Eine Einführung. Heidelberg: Spektrum. Sehr differenziert dagegen ist die Darstellung etwa bei Rowe, D. C., Vazsonyi, A. T. & Flannery, D. J. (1994). No more than skin deep: Ethnic and racial similarity in developmental process. Psy-chological Review, 101, S. 396-413. Eine eher testtheoretisch

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fundierte gegensätzliche Position vertritt z.B. Lynn, R. (2003). The geography of intelligence. Oxford: Pergamon.

16 S. aber dazu: Oerter, R. (2007). Werte - Werthaltungen - Va-lenzen. In G. Trommsdorff & H.-J. Kornadt (Hrsg). Theorien und Methoden der kulturvergleichenden Psychologie, S. 555-614. Göttingen: Hogrefe.

17 Bei dieser Erzählung handelt es sich um die Rahmengeschich-te der interaktiven, komplexen und dynamischen Computersi-mulation MANUTEX, die bereits Anfang der 80er Jahre des vori-gen Jahrhunderts von Harald Schaub und Timothy Tisdale vom Institut für Theoretische Psychologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg entwickelt wurde. Die hier beschriebene Untersuchung hat folgende Quellenangabe: Ramnarayan, S. & Strohschneider, S. (1997). How organizations influence individ-ual styles of thinking: A simulation study. Journal of Euro-Asian Management, 3, S. 1-29. Weitere Veröffentlichungen zur Frage der kulturellen Relativität der Organisation von kognitiven Pro-zessen: Schaub, H. & Strohschneider, S. (1992). Die Auswirkun-gen unterschiedlicher Problemlöseerfahrung auf den Umgang mit einem unbekannten komplexen Problem. Zeitschrift für Ar-beits- und Organisationspsychologie, 36, S. 117-126; Stroh-schneider, S. (1994). Strategien beim Umgang mit einem kom-plexen Problem: Ein deutsch-deutscher Vergleich. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 38, S. 34-40; Ramna-rayan, S., Strohschneider, S. & Schaub, H. (1997). Trappings of Expertise and the Pursuit of Failure. Simulation & Gaming, 28, S. 28-43; Badke-Schaub,P. & Strohschneider, S. (1998). Complex problem solving in the cultural context. Le travail humain, 61, S. 1-28; Strohschneider, S. & Güss, D. (1998). Planning and prob-lem solving: Differences between Brazilian and German stu-dents. Journal of Cross-Cultural Psychology, 29, S. 695-716; Strohschneider, S. & Güss, D. (1999). The fate of the Moros: A cross-cultural exploration in strategies in complex and dynamic decision making. International Journal of Psychology, 34 , S. 235-252; sowie, quasi zusammenfassend, Strohschneider, S. (2001). Kultur – Denken – Strategie: Eine indische Suite. Bern: Huber.

18 Allen, die immer noch und immer wieder daran verzweifeln, dass sich die Menschen anderswo der in hiesigen wirtschaftli-chen Organisationen so beliebten Neigung zur Überplanung verweigern, zur trostreichen Lektüre zu empfehlen : Lindblom, C.E. (1959). The Science of “Muddling Through”. Public Admin-istration Review, 19, S. 79-88; sowie, 20 Jahre später: Lindblom, C.E. (1979). Still Muddling, not yet through. Public Administra-tion Review, 39, S. 517-526.

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19 Eine kleine, bunte, aber vollständig unrepräsentative Aus-wahl: Abetti, P., Hirvensalo, I. & Kapji, M. (2001). Multi-cultural entrepreneurial ventures in the former Soviet Union: Case stud-ies of Finish and American approaches in Russia, Ukraine and the Baltics. International Journal of Entrepreneurship and Inno-vation Management, 1, S. 53-72; Barmeyer, Ch. I. (2003). Inter-kulturelles Personalmanagement in internationalen Fusionen: Von Konflikten zur Komplementarität. In M.-O. Schwaab, D. Frey & J. Hesse (Hrsg.), Fusionen: Herausforderungen für das Personalmangement, S. 169-191. Heidelberg: Recht und Wirt-schaft; Doblhofer, S. & Radovic, G. (2004). Mildes Klima mit Fußangeln. Hernsteiner, 17 (3), 4-9.

20 Zumindest in eine ähnliche Richtung geht der folgende Auf-satz: Ramnarayan, S. & Rao, R. M. (1994). Leaders in Action: Some illustrations and inferences, Vikalpa, 19, 3-12. Wer an ei-ner wunderbaren literarischen Aufarbeitung des Gegensatzes von „westlicher Wissenschaft“ und „Erzählkultur“ Freude emp-findet, dem sei Trojanow, I. (2006) Der Weltensammler. Mün-chen: Hanser empfohlen. Eher didaktisch orientiert ist Lynn, L. (1999). Teaching and learning with cases: A guidebook. New York: Chatham House.

21 Auch mit diesen Zeilen wird ein wichtiges Thema nur angeris-sen. Grundlegendes zum Zusammenhang zwischen Begriffen und Denkprozessen findet sich bei Dörner, D. (2000). Sprache und Gedächtnis. In J. Mittelstraß (Hrsg.), XVIII. Deutscher Kon-gress für Philosophie: Vorträge und Kolloquien, S. 529-543. Köln: Akademie Verlag. Eine sehr lesenswerte zusammenfas-sende Arbeit zur Problematik der linguistischen Relativität stammt Hunt, E. & Banaji, M. R. (1988). The Whorfian hypoth-esis revisited: A Cognitive Science View of linguistic and cultural effects on thought. In J. W. Berry, S. H. Irvine & E. B. Hunt (Eds.), Indigenous Cognition: Functioning in cultural context, pp. 57-84. Dordrecht: Martinus Nijhoff. Zum Thema „intellektu-elle Stile“ lässt sich auf folgende ´Quellen verweisen: Galtung, J. (1985). Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichen-der Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nippo-nische Wissenschaft. In A. Wierlacher (Hrsg.), Das Fremde und das Eigene, S. 151- 193. München: iudicium; Zhang, L.-f. & Sternberg, R. J. (2001). Thinking styles across cultures: Their relationship with student learning. In R. J. Sternberg & L.-f. Zhang (eds.), Perspectives on thinking, learning, and Cognitive Styles, S. 197-226. Mahwah, NJ.: Lawrence Erlbaum; sowie Nis-bett, R. E. (2003). The geography of thought: How Asians and Westerners think differently ... and why. New York: Free Press. Der Hinweis auf die mögliche Rolle der Rechtsgeschichte basiert auf Fögen, M. Th. (20032). Römische Rechtsgeschichten: Über

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Strohschneider: Über die Schwierigkeit interkultureller Kommunikation

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Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Mit meiner These über die Bedeu-tung relativer Begriffe und kompartmentalisierter Theorien be-ziehe ich mich insbesondere auf Ramanujan, A. K. (1989). Is there an Indian way of thinking? An informal essay. Contribu-tions to Indian Sociology, 23, 41-58.

22 Derrida, J. (2001). Die unbedingte Universität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Das Zitat steht auf S. 17.

23 Über das Täuferreich von Münster gibt es reiche Literatur. Eine grundlegende Quelle ist sicherlich Kerssenbrock, H. (1899/1900), Anabaptisti furoris Monasterium inclitam Westphaliae metropolim evertentis historica narratio, 2 Bände: Münster. Ich habe mich für das Folgende vor allem an dem Band von van Dülmen, R. (1974). Das Täuferreich zu Münster 1534-1535. München: dtv orientiert; daneben stütze ich mich auf Fischer,C. (2004). Die Täufer in Münster (1534/45): Recht und Verfassung einer chiliastischen Theokratie. Forum historiae iuris, www.forhistiur.de/zitat/0408fischer.htm.

24 Die fundierteste Entwicklung dieses Gedankens stammt von Dörner, D. (1999) Bauplan für eine Seele. Reinbek: Rowohlt; s. dazu auch Strohschneider, S. (20022). Kompetenzdynamik und Kompetenzregulation beim Planen. In S. Strohschneider & R. von der Weth (Hrsg.), Ja, mach nur einen Plan: Pannen und Fehlschläge – Ursachen, Beispiele, Lösungen, S. 35–51. Bern: Huber. Aus dem amerikanischen Wissenschaftsraum kommen neuerdings ähnliche Gedanken unter dem etwas reißerischen Titel „Terror Management Theory“, s. Salzmann, M. (2003). Existential anxiety, religious fundamentalism, the „Clash of civilizations“ and terror management theory. Cross-Cultural Psy-chology Bulletin, 37 (3), 10-16.

25 Dieser Aspekt wurde von Norbert Bischof besonders gut un-tersucht, s. Bischof, N. (1985). Das Rätsel Ödipus. Die biologi-schen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München: Piper; sowie, im vorliegenden Zusammenhang detail-lierter, Gubler, H., Paffrath, M. & Bischof, N. (1994). Untersu-chungen zur Systemanalyse der sozialen Motivation III: Eine Ästimationsstudie zur Sicherheits- und Erregungsregulation während der Adoleszenz. Zeitschrift für Psychologie, 202, S. 95-132.

26 Präzisere Ausführungen dazu finden sich – wenn auch in ei-nem ganz anderen Zusammenhang erörtert – bei Halcour, D. (2002). Wie wirkt Kunst? Zur Psychologie ästhetischen Erle-bens. Frankfurt am Main.: Peter Lang. Viele Details auch in Stumpf, K. (1992). Weltbilder. Bamberg: unveröffentl. Diplom-arbeit.

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Strohschneider: Über die Schwierigkeit interkultureller Kommunikation

25 © Interculture Journal 2008 | 6

27 Viele Auflistungen der Komponenten interkultureller Kompe-tenz enthalten Konzepte wie „Empathie“, „Toleranz“ oder „Ambiguitätstoleranz“, die in ein ähnliche Richtung zu deuten scheinen, wie die weltanschauliche Flexibilität und Differen-ziertheit (vgl. z.B. Bolten, J. (2007). Interkulturelle Kompetenz. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung). Der hier vorgeleg-ten Argumentation zufolge sind die strukturellen Eigenschaften der Weltanschauung allerdings nicht eine Komponente unter anderen, sondern grundlegende Voraussetzung für die Entwick-lung einer toleranten oder gar empathischen Haltung zum Fremden.

28 Die Leserin und der Leser werden ermutigt, sich doch mal im Internet auf den Homepages fundamentalistischer Gruppierun-gen gleich welcher Art umzusehen (eine interessante Wieder-täufer-Site ist z.B. „feldzeichen.de“) – die strukturelle Gleichar-tigkeit der Argumentationen ist verblüffend und selbst das oben zitierte Wiedertäufer-Flugblatt von 1534 lässt sich, von einigen zeitspezifischen Formulierungsbesonderheiten abgesehen, pro-blemlos in eine beliebige Al-Quaida-Philippika von 2008 einfü-gen.

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Christian Wille: Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der

Großregion SaarLorLux

© Interculture Journal 2008 I 6 27

Abstract

Increasing processes of globalization, which reach people’s everyday life more and more, make new and individual scopes of action possible and real. The latter bring about configura-tions of the social and territorial dimensions of human action which break up the traditional comprehension of societal spaces. The concept of the transnational social space is helpful to overcome the unity of territorial and social space and to study social figurations anchored in different national states. The present article aims at the specific context of border re-gions, respectively cross-border labour markets, with special focus on the construction of a transnational social space. Hence, following the social geography centred on subjects and actions, some conditions and impacts of the cross-border com-muter phenomenon in the Greater Region SaarLorLux, widely based on the empiric research of the author, will be discussed.

1. Grenzgänger und transnationale soziale Räume

Wird ‚Grenzgänger’ in einer bekannten Internet-Suchmaschine abgefragt, so findet diese fast eine halbe Million Einträge. Dabei wird jedoch nicht unterschieden zwischen den verschiedenen Bedeutungsrastern des Begriffs: diese reichen vom Querdenker, der disziplinäre Grenzen überschreitet, über den metaphori-schen Gebrauch für Personen in ständiger In- und Exklusion bis hin zu Menschen, die in einem Land arbeiten und in einem an-deren leben. Der Begriff des Grenzgängers ist somit zwar mehr-deutig, er umfasst aber stets das Übertreten einer Grenze und das Spannungsverhältnis zwischen zwei voneinander unter-scheidbaren Bereichen. Die Denkfigur des Grenzgängers bricht also mit eindeutigen Kategorien und macht den Blick frei für Phänomene des Zwischenkategorialen. Die Beschäftigung mit ‚Grenzgängern’ erscheint daher geeignet für die Annäherung an soziale Phänomene der Spätmoderne, gehören sie doch zu denjenigen, „[…] die die Grenzen nationaler bzw. kultureller Zuordnungen sprengen […] und „[…] schon durch ihre bloße Existenz ein gesellschaftliches Ordnungsproblem darstellen, [...] weil sie in den gewohnten, den einfachen und eindeutigen Ka-tegorien sich nicht abbilden lassen“ (Beck-Gernsheim 1998:125).

Das angesprochene Ordnungsproblem beruht auf einem immer stärker in Frage gestellten Gesellschaftsbegriff, der sich im Zuge der im 18. Jh. noch weitgehend zutreffenden Kongruenz von Staat und Gesellschaft herausbildete. Im 21. Jh. ist ‚Gesell-schaft’ jedoch in den Kategorien von sozialen Netzwerken, Grenzüberschreitungen und wechselseitiger Durchdringung zu denken (Pieterse 1998).

Fremder Al ltag?

Transnationale soziale Räu-me von Grenzgängern in der Großregion SaarLorLux

Christian Wille

Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe IPSE (Identités, Politiques, Sociétés, Espaces) an der Universität Luxemburg

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Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion Saar-

LorLux

© Interculture Journal 2008 I 6 28

Die nationalstaatlich verfasste Vorstellung muss daher von einer Denkfigur relativiert werden, die Sozialeinheiten und -verflechtungen jenseits des nationalen Zuschnitts zu erfassen vermag. Ein Beitrag dafür kann in der Betrachtung der bislang wissenschaftlich vernachlässigten aber keineswegs neuen Le-bensform des ‚Grenzgängers’ liegen. Als solche werden hier Arbeitnehmer verstanden, die in einem europäischen Mitglied-staat wohnen und in einem anderen leben, in den sie täglich bzw. mindestens einmal wöchentlich zurückkehren (EWG 1407/71). Von 250.000 Grenzgängern in Europa wurde im Jahr 1975 ausgegangen, 25 Jahre später wurde ihre Zahl auf mehr als das Doppelte geschätzt. Die Großregion SaarLorLux spielt dabei eine besondere Rolle: fast ein Drittel der Grenzgänger-ströme der EU-15 entfallen heute auf diesen Raum und für 2055 werden allein in Luxemburg über 300.000 Grenzgänger erwartet (Ricq 1981, AdR 2004, Langers 2006, INSEE 2007).

Eine kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Grenzgän-gerwesen unter der Prämisse, dass es sich dabei um grenzüber-schreitende Arbeitnehmer handelt, fand bislang kaum statt. Vorliegende Arbeiten beschränken sich nahezu ausschließlich auf die Analyse von amtlichen Statistiken unter arbeitsmarktbe-zogenen oder raumplanerischen Fragestellungen (Ricq 1981, Statec 1995, Europäisches Parlament 1997, IBA 2007a). Eine Ausnahme bildet Krämer, der feststellt: „A part ces quelques traits statistiques, le profil des frontaliers est assez flou, faute d’études sociologiques approfondies” (Krämer 2004:192). Auch in der Soziologie bleibt das Grenzgängerphänomen weitgehend unberücksichtigt: sie „[…] hat sich bisher mit den Grenzgän-ger/innen nur beiläufig beschäftigt, so daß der Gegenstand weder hinreichend definiert noch gar zum Zwecke analytischer Aussagen hinreichend konstruiert ist“ (Krämer 1998:35). Damit kann für die Untersuchung des Grenzgängerwesens nicht auf bereits vorliegende begrifflich-analytische Konzepte zurückge-griffen werden, jedoch bieten die Sozialgeographie sowie die Transmigrationsforschung geeignete Anknüpfungspunkte.

Grenzgänger pendeln in der Regel täglich zwischen ihrem Wohn- und Arbeitsort, die sich in unterschiedlichen National-staaten befinden. Aufgrund der zirkulären Mobilitätsstruktur, welche sie fortdauernd und regelmäßig an ihren Ausgangsort zurückführt, spannen sie grenzüberschreitende und dauerhafte Sozialzusammenhänge auf. Damit wird die strukturgebende Bedeutung gesellschaftlich gesetzter Raumkategorien relativiert und im Kontext routinisierter Grenzüberschreitung sozial neu verhandelt. Die Betrachtung des Grenzgängerwesens erfordert daher eine Perspektive, die Raum nicht als objektive und erklä-rende Rahmenbedingung vorgängig setzt, sondern den Blick auf die soziale Konstitution von Räumen lenkt. Dies leistet das Konzept der alltäglichen Regionalisierungen (Werlen 2007),

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Christian Wille: Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der

Großregion SaarLorLux

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welches Räumlichkeit in die Handlungen der Subjekte einlagert: Raum wird hier nicht als eine objektive Gegebenheit, sondern als eine subjektive Tatsache verstanden, die sich erst im Hand-lungsvollzug realisiert. Diese Sichtweise macht den Blick frei für soziale Phänomene jenseits des nationalstaatlichen sozial-räumlichen Zuschnitts und rückt das handelnde Subjekt in sei-nen lebensweltlichen Bezügen ins Zentrum. Auch im Hinblick auf das Grenzgängerwesen soll hinterfragt werden, auf welche Weise die in grenzüberschreitende Bezüge verwobenen Pendler die Welt auf sich beziehen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Auswirkungen sie grenzüberschreitende Sozial-zusammenhänge aufspannen. Diese werden als sozial konstitu-ierte Räume aufgefasst, die sich im Zuge alltäglicher Regionali-sierungen, also in der transnationalen Alltagspraxis, herausbil-den.

Weiterführend zu dieser sozialräumlichen und subjekt-zentrierten Perspektive kann auf die Migrationsforschung zu-rückgegriffen werden. Auch wenn Grenzgänger hier noch keine Beachtung fanden (Krämer 2004), fokussiert diese Disziplin seit den 1990er Jahren auf transnationale soziale Verflechtungszu-sammenhänge, die Parallelen zum Grenzgängerwesen aufwei-sen. Damit sind solche Migrationen angesprochen, die nicht mehr als einmalige unidirektionale Ortswechsel aufzufassen sind, sondern „[…] als ein dauerhafter Zustand und damit als eine soziale Lebenswirklichkeit […]“ (Pries 2001:32). Die klassi-sche Perspektive auf die Herkunfts- oder Ankunftsregion wird hier abgelöst vom Forschungsinteresse, das sich auf die transna-tionale Konstituierung von dauerhaften sozialen Wirklichkeiten richtet, die sich „[…] nicht „in“ oder „zwischen“ Nationen, son-dern „darüber hinaus“ […]“ (Berker 2006:141) abspielen. Diese Form der Migration bezeichnet Menschen, die ihr Leben durch fortdauernden und regelmäßigen Kontakt über nationale Gren-zen hinweg gestalten. Diesen Migrationstypen verkörpert der Transmigrant, dessen sozialräumliche Dimension mehrere na-tionale Flächenräume überspannt. Er konstituiert im Rahmen alltäglicher Regionalisierungen transnationale soziale Räumen, die definiert werden als

„[…] relativ dauerhafte, auf mehrere Orte verteilte bzw. zwischen mehreren Flächenräumen sich aufspannende verdichtete Konfigurationen von sozialen Alltagspraktiken, Symbolsystemen und Artefakten. Sie sind […] in ver-schiedenen Territorien […] verankert, die wiederum in andere sozialräumliche Einheiten – z.B. von nationalen Container-Gesellschaften – eingewoben sind“ (Pries 2008:195).

Das Konstrukt des transnationalen sozialen Raums umfasst demnach analytische Aspekte und eine maßstabsbezogene Verankerung. Die Einbettung in ‚gesetzte Räume’, wie etwa in administrative Regionen oder Nationalstaaten soll keinen kausa-len Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen und

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Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion Saar-

LorLux

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Handeln implizieren, vielmehr ist von einer Dualität zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen auszu-gehen (Giddens 1997). Diese berücksichtigt die ins grenzüber-schreitende Alltagshandeln von Grenzgängern eingelassenen bzw. wirksamen Bedingungen ebenso wie das durch grenz-überschreitendes Handeln geformte Bedingungsgefüge, wel-ches auf grenzüberschreitendes Handeln bzw. gesellschaftliche Strukturen zurückwirkt. Die zwischen Handeln und Struktur an-gelegte Rekursivität, die Dynamik und Wandel vorsieht, ermög-licht den Zugang zur handlungsbezogenen Konstitution von transnationalen sozialen Räumen, die als „[…] Produkt und Neuschöpfung aus […] Elementen der Herkunfts- und der An-kunftsregion“ (Pries 2001:40) umrissen werden können. Diese Form der grenzüberschreitenden Strukturation und ihre Implika-tionen im Zuge alltäglicher Regionalisierungen soll am Beispiel des Grenzgängerwesens erläutert werden.

2. Großregion SaarLorLux und grenzüberschreitender Arbeitsmarkt

Transnationale soziale Räume bilden sich vor allem in Kontexten heraus, in denen die Sozialräume von Subjekten über die „Rän-der“ von nationalen Flächenräumen dauerhaft hinausreichen. Damit wird der spezifische Kontext von Grenzregionen und da-mit von „[…] geographische[n] Zonen mit höchster Konzentra-tion sozialer Interaktion und sozialräumlicher Verdichtung“ (Pries 2008:113) angesprochen. Diese Sichtweise versteht die Grenzregion als ‚Region der Grenze’ und rückt die sozialräumli-che Vermittlungs- und Inklusionsfunktion von Grenze in den Blick. Andererseits weist sie einen trennenden Charakter auf, der in der Rede von der ‚Region an der Grenze’ zum Ausdruck kommt und auf ihre flächen- und sozialräumliche Begrenzungs- und Exklusionsfunktion verweist (Pries 2008:113f.). Der Wider-spruch zwischen verbindendem und trennendem Charakter wird in ‚Regionen der Grenze’ zwar in nicht eindeutiger Weise, jedoch insofern vereinbar, als hier Grenzgänger das zusammen-fügen, „[…] was als unvereinbar gilt: zugleich hier und dort zu leben und zu handeln“ (Beck 1997:57). Bevor dieses Span-nungsverhältnis im Rahmen grenzüberschreitender sozialer All-tagspraxis und ihre Implikationen näher betrachtet wird, soll die Großregion SaarLorLux und ihr grenzüberschreitender Arbeits-markt vorgestellt werden.

2.1. Raumprofil und grenzüberschreitende Zusammen-arbeit

Mit einer Gesamtfläche von 65.400 km2 und etwa so vielen Einwohner wie im Großraum Paris umfasst die Großregion SaarLorLux 1,6% des Gebietes der 25 EU-Staaten und stellt eu-

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ropaweit rund 2,5% der Bevölkerung (IBA 2007a:14). Diese Kennziffern stehen für den politischen Kooperationsraum „Saar-land – Lothringen – Luxemburg – Rheinland-Pfalz – Wallonien“, der sich über die Flächenräume der Nationalstaaten Deutsch-land, Frankreich, Luxemburg und Belgien erstreckt. Lebenswelt-lich stärker verankert als der Begriff „Großregion“ ist die Be-zeichnung „SaarLorLux“ (Cavet / Fehlen et al. 2006:25.), mit der im Jahr 1969 erstmalig das „Montandreieck Saarland – Lothringen – Luxemburg“ einen griffigen Namen erhielt (Gai-ger-Jaillet 2001). Im Zuge der Erweiterung der grenzüberschrei-tenden Zusammenarbeit über den wirtschaftlichen Kontext hin-aus traten in den 1970er Jahren auch Rheinland-Pfalz und in den 1990er Jahren Wallonien dem Kooperationsraum bei. Die Semantik von „SaarLorLux“ geriet damit an seine Grenzen und auf politischer Ebene wurde alternativ der Begriff „Großregion“ eingeführt. Einen Kompromiss bildet die Bezeichnung „Großre-gion SaarLorLux“, die an die Sozialgeschichte des grenzüber-schreitenden Raums anknüpft und der aktuellen Kooperations-kulisse Rechnung trägt. Diese erstreckt sich nicht, wie in der Mehrzahl der europäischen Grenzregionen, über nur zwei Flä-chenräume von benachbarten Nationalstaaten, sondern sie um-schließt zwei deutsche Bundesländer, eine französische Region, den souveränen Nationalstaat Luxemburg und eine belgische Region mit zwei Sprachgemeinschaften.1 Die Heterogenität der Partner und die damit verbundenen Kompetenzunterschiede sind nicht unproblematisch für die grenzüberschreitende Zu-sammenarbeit, wie der zuständige Regierungsrat in Luxemburg unterstreicht: „Leider ist aufgrund unterschiedlicher politischer Strukturen in unseren Nachbarregionen eine Kooperation nicht immer einfach“ (LW 2008:2).

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Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion Saar-

LorLux

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Abb. 1: Karte der Großregion SaarLorLux. Kartographie: Bläser und Wille 2008

Ebenso in Abgrenzung zu anderen europäischen Grenzregionen verfügt die Großregion SaarLorLux über keine Rechtsform. Zwar werden die Möglichkeiten grenzüberschreitender Rechtspersön-lichkeiten2 genutzt, sie schließen jedoch nicht die gesamte poli-tische Gebietskulisse ein. Gleichwohl ist die Institutionalisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit durch ein vielfälti-ges und gewachsenes Kooperationsgeflecht in Politik und Ver-waltung sowie außerhalb der Exekutive weit entwickelt. So be-stehen z.B. gefestigte Kooperationen auf europäischer, nationa-ler, regionaler und kommunaler Ebene sowie zwischen den So-zialpartnern (Groß / Wille et. al. 2006).

• Nationale Zusammenarbeit:

Deutsch-Französisch-Luxemburgische Regierungskommissi-on (seit 1970)

• Regionale Zusammenarbeit:

Regionalkommission Saar-Lor-Lux – Trier/Westpfalz (seit 1971)

Interregionaler Parlamentarierrat (seit 1986)

Gipfel der Großregion (seit 1995)

Wirtschafts- und Sozialausschuss der Großregion (seit 1997)

Interregionale Arbeitsmarktbeobachtungsstelle der Großre-gion (seit 1998)

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• Kommunale Zusammenarbeit:

EuRegion SaarLorLux (seit 1995)

Verein Zukunft SaarMoselle Avenir (seit 1997)

Eurodistrikt Saarbrücken – Moselle-Est (seit 2004)

• Zusammenarbeit der Sozialpartner:

Interregionaler Gewerkschaftsrat SaarLorLux (seit 1976)

Interregionaler Rat der Handwerkskammern SaarLorLux (seit 1989)

AG der Industrie- und Handelskammern der Großregion SaarLorLux-Trier/Westpfalz (seit 1990)

EURES Transfrontalier (seit 1991)

Daneben existiert eine kaum überschaubare Landschaft an bi- und multilateralen Projekten sowie informellen Kooperationen. Die Vielfalt an grenzüberschreitenden Initiativen war nicht zu-letzt Anlass für das im Jahr 2003 vom „Gipfel der Großregion“ verabschiedete „Zukunftsbild 2020“. Das Leitbild für eine kon-zertierte SaarLorLux-Politik beinhaltet grenzüberschreitende Entwicklungsperspektiven für verschiedene Gesellschaftsberei-che und Vorschläge für die künftige institutionelle Architektur der Großregion SaarLorLux (Staatskanzlei des Saarlandes 2003).

2.2. Wirtschaft und Arbeitsmarkt

Die hier lediglich kursorisch dargestellte Kooperationslandschaft war neben dem europäischen Integrationsgedanken ursprüng-lich ökonomisch motiviert. So wie die Teilräume seit Ende des 19. Jh. eine gemeinsame Blütezeit ihrer von Kohle und Stahl geprägten Wirtschaft erlebten, teilten sie ebenso den Unter-gang der Montanindustrie in den 1960er und 70er Jahren. Der sich anschließende Strukturwandel zeigte in den Teilräumen unterschiedliche Erfolge: im Saarland haben nach der industriel-len Diversifizierung der Bergbau und die Stahlindustrie an Ge-wicht verloren, so dass hier heute knapp 28% der Bruttowert-schöpfung über Finanz- und Unternehmensdienstleistungen ab-gedeckt werden. In Lothringen wurde noch bis in die 1980er Jahre eine ausgeprägte Subventionspolitik in der Montanwirt-schaft verfolgt, aber auch hier wird die herkömmliche Industrie zunehmend durch neue Industrien und Dienstleistungen abge-löst. In Luxemburg war die rasche Umstellung der damals indus-triell und landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft auf den Dienstleistungsbereich sehr erfolgreich, so dass das Großher-zogtum seit den frühen 1980er Jahren seinen Platz als eines der führenden europäischen Zentren für Finanzdienstleistungen behaupten kann. Während in Wallonien noch lange Zeit die In-dustrien im Bereich Textil, Stahl und die chemische Industrie

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LorLux

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dominierten, wandelt sich seit einigen Jahren das Bild hin zu neuen Technologien und unternehmensbezogenen Dienstleistungen. In der Gesamtbetrachtung wurde die Wirtschaft der Großregion SaarLorLux aus einer ehemaligen Monostruktur in ein breites Branchenspektrum überführt, in dem Dienstleistungen zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Der Strukturwandel ist jedoch noch nicht flächendeckend abge-schlossen, sondern insbesondere in Lothringen und Wallonien noch in vollem Gange. Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeiti-gen hat zu erheblichen Entwicklungsgefällen zwischen den Re-gionen geführt, die vor allem hinsichtlich der Arbeitslosenquo-ten deutlich werden. Während diese in Wallonien (11,8%) und im Saarland (10,8%) vergleichsweise hohe Werte erreichen, lie-gen sie in Rheinland-Pfalz (8,8%) und Luxemburg (4,5%) unter-durchschnittlich (IBA 2007b). Diese Unterschiede spiegeln sich ebenso in der Beschäftigungsentwicklung wider, die in der Großregion SaarLorLux zwischen 1995 und 2005 moderater (+0,9%) als in der EU-25 (+1,0%) verlief. Dem allgemeinen Trend folgend gingen in diesem Zeitraum in allen Teilräumen Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe sowie der Land- und Forstwirtschaft verloren, wobei Wallonien die höchsten Arbeits-platzverluste in der Industrie verzeichnete. Diese wurden weit-gehend aufgefangen durch die Entwicklung verschiedener Dienstleistungsbereiche, welche sich im regionalen Vergleich aber sehr unterschiedlich darstellt: Während zwischen 1995 und 2005 in Wallonien die Dienstleistungsbeschäftigung nur um 13,8% stieg, schneiden das Saarland (+15,0%) und Lothringen (+15,2%) besser ab. Etwa im Schnitt der Großregion (+18,0%) liegt Rheinland-Pfalz, mit weitem Abstand gefolgt von Luxem-burg: hier ist die Erwerbstätigkeit im Dienstleistungssektor in den vergangenen zehn Jahren um 57,2% gestiegen (IBA 2007c:42). Das an dieser Stelle sehr deutlich werdende Entwick-lungsgefälle ist eine wesentliche Triebfeder für das Grenzgän-gerwesen. Denn neben den besseren Einkommensmöglichkei-ten in den Nachbarregionen pendeln viele Grenzgänger auf-grund des mangelnden Arbeitsplatzangebots in der Wohnregi-on über die Grenze. Dies trifft vor allem auf Wallonien und Lo-thringen zu: „Ce n'est pas pour choix, mais par obligation que je travaille en Belgique car dans ma région [Lorraine] pas d'oppor-tunité“ (Lor-Wal).3 Oder: „Je remercie d'être à la frontière pour avoir trouvé du travail et de m'avoir accepté. Sans ça, après la fermeture de la sidérurgie où aurais-je atterri?“ (Lor-Lux).

Mit knapp 180.000 Grenzgängern hat die Großregion SaarLor-Lux das höchste Grenzgängeraufkommen in der Europäischen Union und konzentriert 72% ihrer grenzüberschreitenden Ein-pendler in Luxemburg (siehe Abb. 2). Allein 42% der im Groß-herzogtum beschäftigten Arbeitnehmer kommen aus den Nachbarregionen: die Hälfte von Ihnen aus Frankreich und je-

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Christian Wille: Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der

Großregion SaarLorLux

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weils ca. ein Viertel aus Belgien und Deutschland. Weitere 13% der Einpendler in der Großregion SaarLorLux arbeiten in Wallo-nien, die fast vollständig aus dem benachbarten Frankreich stammen. Der Anteil der aus Lothringen einpendelnden franzö-sischen Grenzgänger ist dabei jedoch vergleichsweise gering.4 Schließlich ist das Saarland mit knapp 12% der Einpendler in der Großregion SaarLorLux der drittgrößte „Arbeitgeber“ für Grenzgänger. Unter den an die Saar einpendelnden ‚Franzosen’ befindet sich aber knapp ein Drittel atypischer Grenzgänger, bei denen es sich um Deutsche handelt, die in Lothringen wohnen und im Saarland arbeiten. Das atypische Grenzgängerwesen gewinnt nicht nur in Lothringen an Bedeutung, ebenso in Rhein-land-Pfalz und in Wallonien, wo sich aufgrund steigender Miet- und Lebenshaltungskosten immer mehr Luxemburger ansiedeln und weiterhin im Großherzogtum beschäftigt bleiben.

Festzuhalten ist, dass die Mehrzahl der Grenzgänger in Luxem-burg arbeitet, gefolgt von Wallonien und dem Saarland. Dem-gegenüber stellt allein Lothringen weit über die Hälfte der aus-pendelnden grenzüberschreitenden Arbeitnehmer in der Groß-region SaarLorLux, gefolgt von Wallonien (26%) und Rheinland-Pfalz (13%), (siehe Abb. 2). Vor diesem Hintergrund werden zwei zentrale Merkmale des grenzüberschreitenden Arbeits-markts deutlich: zum Einen die Asymmetrie der Grenzgänger-ströme, die mit 129.000 Einpendlern und nur 860 Auspendlern besonders in Luxemburg augefällig wird. Zum Anderen ver-zeichnen lediglich Luxemburg und das Saarland einen positiven Pendlersaldo, auch wenn an der Saar seit einigen Jahren der Grenzgängerstrom nach Luxemburg ansteigt und sich die Ein-pendlerzahlen aus Frankreich rückläufig entwickeln (IBA 2007a, IBA 2007b).

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Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion Saar-

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Einpendler Auspendler

Ziel

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mbu

rg

31.021 64.540 33.201 128.762 856 275 200 381

Luxemburg

Wal

loni

en

491 22.371 132 22.994 40.038 4.718 4.218 31.102

Wallonien

Gro

ßreg

ion

32.632 112.418 528 33.621 179.199 157.232 27.523 5.538 119.583 4.588

Großregion

Abb. 2: Pendlerströme in der Großregion SaarLorLux (2006/2007). Eigene

Darstellung auf Basis von IBA 2007b.

3. Bedingungen und Auswirkungen transnationaler Raumkonstituierung

Die im Folgenden vorgestellten Aspekte transnationaler Raum-konstituierung basieren auf den Ergebnissen einer standardisier-ten Befragung von 458 Grenzgängern in der Großregion Saar-LorLux (Wille 2007). Von ihnen wohnen weit über die Hälfte (63%) in Lothringen, gefolgt von den deutschen Bundesländern (30%), Wallonien (3%) sowie Gebieten außerhalb des Koopera-tionsraums (4%). Mehr als die Hälfte geht einer Erwerbstätig-keit in Luxemburg nach (52%), 22% in Wallonien und weitere 20% pendeln an die Saar. Hinsichtlich der grenzüberschreiten-den Arbeitnehmerströme sind die nach Luxemburg pendelnden

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Grenzgänger aus Rheinland-Pfalz und Lothringen mit 23% bzw. 18% der Stichprobe am stärksten vertreten. Ähnlich gut aufge-stellt sind die Pendlerströme aus Lothringen nach Wallonien (21%) und ins Saarland (19%).

Die Merkmale der Stichprobe entsprechen den Trends des Grenzgängerwesens in der Großregion SaarLorLux, womit unter Einbezug vertiefender qualitativer Interviews mit Grenzgängern und Experten Aussagen über die Bedingungen und Auswirkun-gen alltäglicher grenzüberschreitender Regionalisierungen mög-lich sind.

3.1. Konkurrenzmomente: Arbeitsmarkt und Identität

Gemäß den europäischen Verträgen genießen Arbeitnehmer in der EU die volle Freizügigkeit. Das bedeutet, sie dürfen in jedem Mitgliedsstaat eine Beschäftigung aufnehmen und sind den an-sässigen Arbeitnehmern gleichgestellt. Trotz der gesetzlichen Verankerung von Gleichbehandlung geben Experten und Grenzgänger an, unterschiedliche Behandlungen zwischen An-sässigen und Grenzgängern festzustellen. Dies wird besonders im Hinblick auf die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten deutlich, wo ein Fünftel der Befragten keine Gleichbehandlung gewähr-leistet sehen: „En travaillant au Luxembourg, on nous fait bien ressentir que nous sommes des étrangers et c'est beaucoup plus dur pour l'ascension professionnelle que pour une personne du pays.“ (Lor-Lux). Oder: „Les postes clés sont occupés par les Belges de préférence“ (Lor-Wall). Im Hinblick auf die Vergütung sehen 18% zwischen Grenzgängern und Ansässigen Unter-schiede, wobei dieser Eindruck mit 19% leicht überdurchschnitt-lich bei den in Luxemburg beschäftigten Grenzgängern aus-geprägt ist. Als hierfür ursächlich können die zum Teil ver-gleichsweise niedrigen Gehaltsvorstellungen von Grenzgängern angeführt werden, die zwar über dem Niveau der Wohnregion liegen, aber unter dem üblichen Niveau der Arbeitsregion und gegenüber dem Arbeitgeber entsprechend artikuliert werden (Brosius 2005), wie ein Grenzgänger bestätigt: „Die [Luxembur-ger] haben höhere Ansprüche an das Gehalt und an Soziallei-stungen. Da sind Deutsche und Belgier von den Ansprüchen her geringer. Die verlangen weniger, um es mal ganz deutlich zu sagen“ (RLP-Lux). Weniger wohlwollend betrachten einige der Befragten die Einkommensdifferenzen zwischen Grenzgängern und Ansässigen und sehen hierin eine intendierte Ungleich-behandlung.

Während die dargelegten Unterschiede nachteilig für Grenz-gänger sind, wirkt sich dies ebenso auf die Ansässigen aus. Denn Unternehmen ziehen die Pendler vielfach den Einheimi-schen vor, da sie die nachgefragten Qualifikationen mitbringen, tendenziell niedrigere Gehaltsforderungen stellen und als moti-

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vierter gelten. Das damit induzierte Konkurrenzmoment wirft Fragen nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Grenz-gängern auf, die besonders in Luxemburg mit seiner paradoxen Arbeitsmarktsituation zur Kenntnis zu nehmen sind. Denn wäh-rend das Großherzogtum einen ungebrochenen Arbeitsplatz-zuwachs verzeichnet, von denen jährlich etwa zwei Drittel auf Grenzgänger und ein Drittel auf Ansässige entfallen (ADEM 2007:7), wächst seit 2001 auch die Arbeitslosenquote. Sie ist im europäischen Vergleich zwar niedrig, für Luxemburg stellen die derzeit ca. 10.000 Arbeitslosen aber eine schmerzhafte Erfah-rung dar. Die atypische Situation von Arbeitsplatz- und Arbeits-losenwachstum ist auf den Mismatch zwischen nachgefragten Qualifikationen und entsprechend verfügbaren Luxemburgern zurückzuführen, womit die luxemburgischen Arbeits-losenzahlen weniger durch einen Verdrängungswettbewerb, denn vielmehr strukturell bedingt sind (IBA 2007a: 67ff.). Gleichwohl verschärft diese Situation das genannte Konkur-renzverhältnis zwischen Ansässigen und Grenzgängern.

Pointierte Verlautbarungen zur Arbeitsmarktkonkurrenz waren im Frühjahr 2007 von der Gewerkschaft des öffentlichen Dien-stes (CGFP) zu hören: es könne nicht sein, dass man mit luxem-burgischen Arbeitsplätzen den Arbeitsmarkt der Großregion SaarLorLux sanieren wolle, anstatt den nationalen Arbeitsmarkt wieder auf Vordermann zu bringen (SZ 2007). Damit richtete sich die Gewerkschaft gegen eine weitere Öffnung des öffentli-chen Dienstes für Nichtluxemburger. Der Staatsdienst ist nahezu die letzte Branche, die aufgrund der weitgehend obligatori-schen luxemburgischen Nationalität, der erforderlichen Sprach-kompetenzen und der mangelnden persönlichen Kontakte noch nicht von Grenzgängern ‚erobert’ wurde: 90% der Arbeitsplätze werden hier von Luxemburgern besetzt, 8% von ansässigen Ausländern und lediglich 2% entfallen auf Grenzpendler (IBA 2007b). Die CGFP erfüllt zwar ihren Auftrag, wenn sie sich für die Arbeitnehmerinteressen einsetzt, aber die starke Abhängig-keit Luxemburgs von externen Arbeitskräften wird, wie vom Interregionalen Gewerkschaftsrat bekräftigt,5 bei dieser Argu-mentation ausgeblendet.

Vielmehr ist zu hinterfragen, ob der am Arbeitsmarkt orientierte öffentliche Diskurs nicht auf einem Konkurrenzmoment beruht, welches die Identitäten im zweitkleinsten Land Europas mit dem höchsten Ausländeranteil (39%) berührt. Die These wäre somit, dass hinter dem arbeitsmarktbezogenen Grenzgängerdiskurs ein identitätsbezogener Diskurs steht. Anstöße für diese Über-legung gibt z.B. ein Ergebnis des führenden luxemburgischen Meinungforschungssinstituts: 72% der Luxemburger meinen, die luxemburgische Identität werde von Grenzgängern nicht respektiert (TNS ILReS 2007). Des Weiteren geben luxemburgi-sche Interviewpartner (Experten) an, dass sich Grenzgänger

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mehr anpassen sollten, Luxemburgisch sprechen und dankbar sein sollten, in Luxemburg arbeiten zu dürfen. Zwar dürfe nie-mandem seine Mentalität genommen werden, aber „in Luxem-burg besteht eben die Gefahr, dass sich da etwas auflöst“ Be-sonders augenfällig wird der Unmut darüber, nicht in der eige-nen Muttersprache einkaufen zu können:

„Wenn ich hier in Luxemburg in Geschäfte gehe, dann muss ich französisch sprechen. […] Da müssten die Luxemburger sturer sein und sagen: ‚Ey, ihr kommt zu uns und verdient viel Geld, also bringt uns auch etwas entgegen.

Akzeptiert unsere Kultur, sprecht unsere Sprache!’“

Vor diesem Hintergrund wurde weiterführend untersucht, in-wiefern Grenzgänger als eine Gefährdung für die Sprache und Kultur der jeweiligen Arbeitsregion wahrgenommen und damit für Ansässige identitätsrelevant werden. Die Grenzgänger soll-ten angeben, welche der vorgegebenen Aussagen sie bereits von Ansässigen ihrer Arbeitsregion gehört haben. Deutlich wird, dass in der Großregion SaarLorLux eine ‚gefühlte’ positive Hal-tung gegenüber Grenzpendlern vorherrscht, wenngleich die Meinung, Grenzgänger würden Ansässigen die Arbeitsplätze wegnehmen, mit 60% der Zustimmungen ein hohes Gewicht erlangt. Nach Arbeitsregionen betrachtet, zeichnet sich für Lu-xemburg zunächst eine besonders positive Haltung gegenüber den Pendlern ab. Hier wird der Aspekt der „willkommenen Ar-beitskraft“ (70,9%) im Gegensatz zu den Arbeitsregionen Saar-land und Wallonien stärker als die Arbeitsmarktkonkurrenz (54,4%) betont. Bemerkenswert ist jedoch, dass im Großher-zogtum gegenüber der Meinung, Grenzgänger seien eine kultu-relle Bereicherung (27%), laut der Befragten die Einstellung überwiegt, sie seien eher eine Gefährdung für die luxemburgi-sche Sprache und Kultur (30%). In den Arbeitsregionen Saar-land und Wallonien kehrt sich dieses Verhältnis um.

Festzuhalten ist, dass im Großherzogtum das durch Grenzgän-ger induzierte materielle Konkurrenzmoment (Arbeitsmarkt) eine vergleichsweise nachgelagerte Rolle spielt, hingegen er-langt das immaterielle Konkurrenzmoment (Identität) im Ver-gleich der Arbeitsregionen einen hohen Stellenwert. Deutlich wird somit am Beispiel Luxemburg, dass transnational aufge-spannte Sozialräume ein gesellschaftliches Konfliktpotential beinhalten, welches auf unterschiedlichen Ebenen manifest werden kann.

3.2. Integration: Soziale Beziehungen und Sozialneid

Hinsichtlich der Frage, inwiefern Grenzgänger am Arbeitsort integriert sind, sollen die sozialen Beziehungen mit Ansässigen näher betrachtet werden. Im unmittelbaren Arbeitsumfeld zeigt sich, dass die Grenzgänger überwiegend mit der eigenen Na-tionalität und mit ansässigen Arbeitnehmern zusammenarbei-

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ten, womit hier durchaus die Möglichkeit besteht, entsprechen-de Beziehungen zu etablieren. Dies trifft ebenso auf den außer-betrieblichen Kontext zu, geben doch 83% der Grenzgänger an, auch außerhalb der beruflichen Tätigkeit Zeit in der Arbeitsregi-on zu verbringen. Dabei rangiert hinsichtlich der sozialen Prakti-ken in der Arbeitsregion auf Platz Eins das Einkaufen, gefolgt vom Ausgehen, Tourismus usw. Die weiterführende qualitative Analyse zeigt, dass (ältere) Grenzgänger mit Familie weniger stark ihre außerbetrieblichen sozialen Praktiken in die Arbeitsre-gion verlagern.

„Am Anfang als ich noch kein Kind hatte, bin ich noch viel mit den Kollegen

weggegangen, mein Mann genauso in seiner Firma. Aber es beschränkt sich inzwischen auf immer weniger Zeit, weil man immer wieder den Fahrtweg hat. […] Früher war das nicht so hinderlich, aber inzwischen ist man etwas bequemer geworden und konzentriert sich auf den Trierer Raum.“

Ferner besteht mit Ausnahme des Einkaufs die Tendenz, Frei-zeitangebote in der Arbeitsregion weitgehend am Wochenende mit Freunden oder der Familie aus der Wohnregion zu nutzen: „Im Sommer fahre ich mit der Familie mal rüber, vielleicht nach Echternach. Wir sind dann auch drüben mit den Kindern spazie-ren gegangen, oder auch Radfahren.“ (RLP-Lux). Außerdem wird angedeutet, dass sich die Kontakte mit Ansässigen außer-halb der Arbeit nahezu ausschließlich auf den Kollegenkreis be-schränken: „[…] Es gab schon einmal Zeiten, in denen ich relativ viel auch in Luxemburg unterwegs war. Dann überwiegend mit Arbeitskollegen“ (RLP-Lux). Oder: „Doch, schon, ich kenne Lu-xemburger. Aber diese Bekanntschaften entwickeln sich alle über die Arbeit. Ausgehen und welche kennen lernen, das ist nicht der Fall“ (RLP-Lux).

Wird außerdem die Frage nach neuen Freunden in der Arbeits-region berücksichtigt, so zeichnen sich auch hier schwache Be-ziehungen zwischen Grenzgängern und Ansässigen ab. Ledig-lich „teils teils“ geben die Befragten an, durch die Grenzgän-gerbeschäftigung neue Freunde in der Arbeitsregion gewonnen zu haben. Dies ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass sich in Unternehmen – trotz der oben dargelegten häufigen Zusam-menarbeit mit Ansässigen – das Personal nationen- und damit weitgehend sprachenspezifisch ausdifferenziert, wie ein luxem-burgischer Personalleiter andeutet: „Probleme, die auf der Na-tionalität beruhen, sind uns nicht bekannt. Aber natürlich finden sich Landsleute wieder zusammen, z.B. in Kaffeepausen…“ Die-se Tendenz bestätigen auch Grenzgänger: „Die Luxemburger sind sehr nett und waren auch die ersten, die einen geduzt ha-ben, aber für private Dinge wird da irgendwie geblockt. Mit meinen Grenzgänger-Kollegen habe ich einen besseren Draht, vor allem zu den Deutschen“ (RLP-Lux).

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Des Weiteren sind die sozialen Beziehungen zwischen Grenz-gängern und Ansässigen auch Ausdruck des nomadenhaften Charakters des Grenzgängerwesens. So wird von Ansässigen oftmals betont, dass „[Grenzgänger] ja gleich wieder nach Hau-se fahren“, was mit Anfahrtswegen, mangelndem Interesse aber auch damit begründet wird, „dass sie zu Hause bei sich ja auch viel mehr für ihr Geld bekommen als hier in Luxemburg.“ Damit werden die Vorteile angesprochen, die sich aus der zirku-lären grenzüberschreitenden Mobilität ableiten und dazu füh-ren, dass Grenzgänger gegenüber Arbeitnehmern am Wohn- und zum Teil am Arbeitsort finanziell besser gestellt sind. Vor diesem Hintergrund stimmen die Befragten weitgehend der Aussage zu, in der Wohnregion beneidet zu werden und bestä-tigen auch entsprechende Erfahrungen in der Arbeitsregion.

„En Allemagne on dit toujours que les Français ne payent pas d’impôts. Ça, on

entend souvent. Mais ce n’est pas vrai. C’est l’image du frontalier privilégié, mais ce n’est pas forcément vrai. Nous avons des taxes que vous [les Alle-mands] n’avez pas“ (Lor-Saar).

Die Situation, welche die auf Sozialneid basierende Zuschrei-bung des ‚privilegierten Grenzgängers’ widerspiegelt, gibt ein Interviewpartner bei Hamman (2005) wieder: „Le travailleur frontalier est accusé par ses collègues de travail de gagner beaucoup d’argent, et là où il réside il est considéré comme un traître […] Par conséquent, il se trouve toujours en porte-à-faux“ (Hamman 2005:44). Die Zuschreibung des „Verräters“ am Wohnort und des „Großverdieners“ am Arbeitsort wird von Grenzgängern relativiert, indem sie die immateriellen Investitio-nen in den Blick führen: „Man verdient zwar mehr, aber man zahlt einen Preis dafür. Ich bin mir wirklich des Preises bewusst, den ich zahle“ (Wal-Lux). Angesprochen sind damit die Auswir-kungen von Mobilität auf die Lebensqualität. So macht z.B. eine Grenzgängerin auf Zeitmangel, Stress und gesundheitliche Pro-bleme aufmerksam:

„Depuis 1992 je suis frontalière au Luxembourg. Je n'ai jamais eu autant de

problèmes de santé et de stress que depuis que je suis entrée. En effet, on vous demande toujours plus en moins de temps. Et si vous avez le malheur d'être en maladie, on vous vire. Luxembourg: plus d'argent, moins de temps pour vous. France: moins d'argent, plus de temps pour vous“ (Lor-Lux).

Über die Hälfte der Befragten stimmen der Aussage zu, auf-grund der Grenzgängerbeschäftigung weniger Zeit für sich ha-ben. Gesundheitliche Probleme durch die Grenz-gängerbeschäftigung sind laut ihrer Angaben zwar weniger re-levant, aber ein luxemburgischer Filialleiter unterstreicht: „Wir stellen fest, dass die Grenzgänger mehr Fehlzeiten haben als die Luxemburger. Die Grenzgänger sind also öfter krank." Hingegen stößt die Aussage, dass man durch das Pendeln gestresst sei, bei den Befragten auf große Zustimmung. Angesichts dieser Befunde bleibt zu hinterfragen, ob es sich beim Grenzgänger

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um eine privilegierte Lebensform handelt und welche Auswir-kungen die beschriebene doppelte In- und Exklusion auf Identi-tätsbildungen zeigt.

3.3. Transnationale Repräsentationen: Identifikationen und Perzeptionen

Zur Annäherung an die Frage, inwiefern die durch grenzüber-schreitendes Handeln aufgespannten Sozialzusammenhänge von Grenzgängern transnational repräsentiert werden, wurde ihr territoriales Zugehörigkeitsgefühl auf unterschiedlichen Maßstabsebenen untersucht.

Die größte Identifikationskraft strahlen die lokale, regionale und nationale Ebene des angestammten Territoriums der Grenzgän-ger aus, was ebenso die Frage, in welcher Region die Grenz-gänger bei gleicher Vergütung vorzugsweise arbeiten würden, zeigt: Weit über die Hälfte zieht in diesem Fall die Wohnregion vor, wobei dies besonders auf ältere Grenzgänger zutrifft. Hin-sichtlich der übergeordneten Maßstabsebene des Weltbürgers und Europäers von mittlerer Identifikationskraft zeigen sich Un-terschiede zwischen den aus dem Inland in die jeweilige Wohn-region zugezogenen Grenzgängern und der Pendler, die schon immer in ihrer Wohnregion wohnen. Die Zugezogenen empfin-den sich stärker als Europäer bzw. als Weltbürger, während re-gional verankerte Personen sich stärker den subeuropäischen Ebenen zugehörig fühlen.

Die Gebietseinheiten mit der geringsten Identifikationskraft bil-den die Großregion SaarLorLux und die jeweilige Arbeitsregion. Hinsichtlich der großregionalen Ebene ist aus Interviews be-kannt, dass dieses eher politische Konstrukt für viele unbekannt oder sehr abstrakt bleibt. Mit Blick auf die Arbeitsregion wird vermutlich die oben angedeutete spezifische Regionalisierung wirksam: „Mein Privatleben spielt sich zu 99 Prozent auf deut-scher Seite ab.“ (RLP-Lux). Oder: „Ich ziehe die Mittagspause auch deshalb durch, um verantworten zu können, dass ich um sieben Uhr den Abflug mache und mein Privatleben in Trier ha-ben zu können“ (RLP-Lux). Vor diesem Hintergrund wurde fest-gestellt, dass Grenzgänger mit sozialen Beziehungen und Prak-tiken am Arbeitsort eine stärkere Zugehörigkeit zur Arbeitsregi-on und Großregion SaarLorLux empfinden als Grenzgänger, deren Lebensmittelpunkt ausschließlich in der Wohnregion ver-ankert bleibt. Eine andere Studie bei in Luxemburg beschäftig-ten Grenzgängern zeigt, dass die transnationale Wahrnehmung des individuellen sozialen Raums z.B. von der Entfernung des Wohnorts zur Grenze, der Sprachkompetenz, der Haushalts-größe, der Beschäftigungsdauer als Grenzgänger sowie von der Arbeitszufriedenheit beeinflusst wird (Gerber / Enaux 2008).

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Einen weiteren Hinweis auf sinnhafte Konstituierungen des grenzüberschreitenden sozialen Raums geben Angaben dar-über, inwiefern die Arbeitsregion als „Ausland“ empfunden wird. Im Interview wurden die Grenzgänger gefragt, ob sie sich darüber bewusst seien, täglich ins Ausland zu fahren. Dabei ist ein ambivalentes Antwortverhalten auszumachen, bei dem überwiegend Artefakte der Arbeitsregion thematisiert werden. So werden stets Nummernschilder, Straßenschilder, Häuser bzw. Architektur, Sprachen, Supermärkte, Restaurants und das Flair als „anders“ wahrgenommen, gleichwohl die Arbeitsregion kaum als Ausland qualifiziert wird.

„Ich fahre wirklich nur zur Arbeit und tanke. Da nehme ich kaum wahr, dass ich mich im Ausland befinde. Höchstens bei der Sprache ... oder beim Einkaufen, da hat man ein ganz anderes Angebot. Oder von den Restaurants her: das kann man mit Deutschland gar nicht vergleichen. … Und das andere Flair. Wenn man im Sommer zum Beispiel in Echternach ist, da merkt man direkt den Unterschied – in Luxemburg ist alles sehr gepflegt, das fällt direkt auf gegenüber der Eifel“ (RLP-Lux).

Personen, die ihrer Ansicht nach nicht täglich ins Ausland fah-ren, thematisieren besonders oft „sich daran gewöhnt zu ha-ben“ sowie die nicht mehr spürbare Trennwirkung der Grenze: „Ich denke nicht jeden Morgen 'Ich fahre ins Ausland'. Die Grenzkontrollen sind ja auch weggefallen, das ist für mich ein-fach der Weg zur Arbeit. 'Ausland' ist das für mich in dem Sinne nicht mehr.“ (RLP-Lux). Die damit vollzogene sinnhafte Verknüp-fung, die auf grenzüberschreitender Relationenbildung im Rah-men routinisierter Alltagspraxis beruht, zeigt, dass sozial bedeu-tungsvolle Orte und Artefakte teilweise als ein Ensemble in die transnationale Raumrepräsentation eingehen (Löw 2001).

3.4. Interkulturelle Zusammenarbeit: Sprachen und Ar-beitsstile

Im Rahmen der transnationalen sozialen Alltagspraxis sind Grenzgänger am Arbeitsplatz in der Regel mit verschiedenen Fremdsprachen und Arbeitskulturen konfrontiert. Einen ersten Eindruck darüber kann die Personalstruktur in den Unterneh-men der Befragten geben. Im Schnitt beschäftigen die Unter-nehmen drei bis vier verschiedene Nationalitäten (3,8), beson-ders in Luxemburg (4,7), gefolgt von Wallonien (2,8) und den deutschen Bundesländern (jeweils 2,7). In diesem Zusammen-hang ist die Feststellung von Janssen und Woltering (2001) be-merkenswert:

„Die Politik der Europäischen Kommission zur Förderung der grenzüberschre-

itenden Mobilität konzentriert sich auf die Beseitigung juristischer, administra-tiver und steuerlicher Behinderungen des Zusammenwachsens der Arbeits-märkte. Aspekte wie sprachlich-kulturelle Probleme, die nach Ansicht vieler Arbeitsmarktexperten und Praktiker den juristischen und steuerlichen Hin-dernissen vorgelagert sind, werden lediglich erwähnt.“ (Janssen und Wolter-ing 2001:122).

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Diesen sprach- und kulturbezogenen Handlungsbedarf im Kon-text des Grenzgängerwesens bestätigen die vorliegenden Un-tersuchungsergebnisse. Hier rangieren unter den genannten Mobilitätshemmnissen „Mentalitätsunterschiede“ (45%), „Fremdsprachenkentnisse“ (41%) sowie „gegenseitige Vorurtei-le“ (30%) auf den ersten Plätzen neben Recht, Administration, Infrastruktur und Beratung. Vertiefend wurden daher Grenz-gänger befragt, die am Arbeitsplatz am meisten mit Kollegen einer anderen als der eigenen Nationalität zusammenarbeiten. Dabei handelt es sich um eine Teilstichprobe von 199 Personen, die in Situationen der interkulturellen Zusammenarbeit „teils teils“ kognitiv unstrukturierte Momente erleben. Dieser Um-stand dürfte jedoch weitaus ausgeprägter sein als dies in der vorliegenden Untersuchung zum Ausdruck kommt.6

Knapp die Hälfte der Teilstichprobe gibt an, dass es in jüngster Vergangenheit zu Missverständnissen und Problemen zwischen verschiedenen Nationalitäten am Arbeitsplatz gekommen sei. Als Gründe hierfür wurden besonders häufig „Sprachen“ (48%) genannt, gefolgt vom „Arbeitsstil“ (42%), „verschiedenen Per-sönlichkeiten“ (40%), „Arbeitsmotivation“ (29%) und „Kommu-nikationsweisen“ (24%).

Hinsichtlich der Sprache als einer der Hauptursachen für inter-kulturelle Konflikte ist festzuhalten, dass in der Großregion SaarLorLux neben regionalen Dialekten Deutsch, Französisch und Luxemburgisch gesprochen wird. Für Grenzgänger förder-lich ist der Umstand, dass Französisch und Deutsch neben Lu-xemburgisch die Amtssprachen im Großherzogtum bilden und somit Deutsche, Franzosen und Belgier sich hier zum Teil in ihrer Muttersprache verständigen können. Lothringer im Saarland können noch weitgehend im Lothringer Platt kommunizieren, wobei die lothringischen Dialektsprecher sich weitgehend auf das ans Saarland angrenzende Département Moselle beschrän-ken. Trotz dieser vorteilhaften Situation wird von sprachbeding-ten Missverständnissen und Problemen am Arbeitsplatz berich-tet. Dies erstaunt nicht in Anbetracht der sprachlich vielfältigen Situationen im Arbeitsalltag, wie sie der Leiter eines Pflegeheims beschreibt.

„Alle Teamversammlungen sind sehr problematisch. Stellen sie sich vor, sie haben ein Team von 15 Leuten – und das ist noch kein sehr großes Team – und vier von denen sprechen nur Französisch, drei von denen sind deutsch-sprachig und die anderen Luxemburger. Da sagen die Deutschen etwas, die Franzosen verstehen kein Wort und dann kommen die zum Luxemburger und fragen 'Was hat der gesagt?'. Der Luxemburger übersetzt dann für die Franzo-sen oder umgedreht und diese Situation wird sehr unruhig, weil viele Überset-zungsgespräche zwischen den Einzelnen laufen – das ist unmöglich.“

Vor diesem Hintergrund wurden Grenzgänger, die im unmittel-baren Arbeitsumfeld fremdsprachliche Kommuni-kationssituationen bewältigen müssen (139 Personen), zu den

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Auswirkungen fremdsprachlicher Kommunikation im Beruf be-fragt. Die höchste Zustimmung erfuhr die Aussage, dass Ge-spräche in der Fremdsprache eine höhere Konzentration erfor-dern: „Das Arbeiten in einer Fremdsprache ist eine Belastung. Man verliert mehr Kraft, mehr Zeit und dadurch hat man wie-derum weniger Zeit für anderes.“ (RLP-Lux). Gleichzeitig bewer-ten sie die fremdsprachliche Kommunikation am Arbeitsplatz sehr positiv und finden, dass die Arbeit durch die verschiedenen Sprachen interessanter wird. Ebenso zustimmend zeigen sie sich bei der Behauptung, dass man sich aufgrund der verschiedenen Sprachen „einfacher ausdrücken“ müsse. Damit verbunden ist die Bestätigung, dass Informationen (von Kollegen) unterschied-lich interpretiert werden. Dass damit ein Informationsverlust einhergeht, wird aber nur „teils teils“ deutlich: "Es gibt auch manchmal Informationsverlust. Für mich wäre es von den In-formationen her von Vorteil, wenn ich in einem deutschen Un-ternehmen [in Luxemburg] arbeiten würde. Ich glaube es gehen schon einige Details verloren. Vor allem die Feinheiten." (RLP-Lux). Eher ablehnend äußern sich die Befragten zum Auftreten von Fehlern aufgrund von Fremdsprachen.

Die Gesamtschau zeigt, dass der Kontakt mit Kollegen durch die fremdsprachliche Kommunikation beeinflusst wird, negative Auswirkungen auf die Informationsweitergabe und den Ar-beitsablauf werden aber nur zurückhaltend geäußert.

Unterschiede im Arbeitsstil wurden von den Befragten auf Platz zwei der Ursachen für interkulturelle Missverständnisse ge-nannt. Grenzgänger, die überwiegend mit einer fremden Na-tionalität am Arbeitsplatz unmittelbar zusammenarbeiten, wur-den daher um Angaben über den Arbeitstil der betreffenden Nationalität gebeten. Die Ergebnisse des semantischen Differen-tials zeigen verschiedene Ausprägungen des deutschen, franzö-sischen und luxemburgischen Arbeitsstils, wobei zwischen Deut-schen und Franzosen deutliche Unterschiede auszumachen sind und die luxemburgische Arbeitsweise zwischen ihnen angesie-delt werden kann. Dies zeichnet sich bereits bei einer überge-ordneten Einschätzung durch die Befragten ab: erwartungsge-mäß wird der deutsche Arbeitsstil als diszipliniert und der fran-zösische als Laisser-Faire eingestuft und die luxemburgische Ar-beitsweise nahezu exakt zwischen der deutschen und französi-schen Arbeitsweise.

Hinsichtlich der Sicherheitsorientierung zeigt sich, dass die deut-sche Arbeitsweise vergleichsweise am stärksten vom Streben nach Sicherheit gekennzeichnet ist. Sie und ebenso in schwä-cherer Form die französische Arbeitsweise charakterisieren sich in Abgrenzung zum luxemburgischen Arbeitsstil durch detaillier-te Planungsprozesse und routinemäßige Abläufe.

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„Ich habe den Eindruck, dass wir [Deutschen] so preußisch die Arbeit planen, wir legen das fest und teilen die Arbeit auf. Bei mir in der Firma ist das so, dass das alles absehbar ist, aber man lässt das auf sich zukommen und dann bleibt das an zwei Leuten hängen und die brechen fast zusammen und beklagen sich noch nicht einmal. […]“ (RLP-Lux).

Mit Blick auf den Umgang mit Zeit wird deutlich, dass beson-ders Deutsche, gefolgt von Luxemburgern, auf das Einhalten von Fristen achten und Zeitpläne respektieren. Für Franzosen hingegen dienen Zeitpläne eher zur Orientierung und ihre Ar-beitsweise wird bezüglich des Einhaltens von Fristen nicht dis-kriminierbar eingestuft.

„Die Franzosen sind auch Luxemburger. Nur was das Savoir-vivre

angeht, nehmen die alles noch lockerer. Auch was Pünktlichkeit

betrifft… bei Vorstellungsgesprächen oder besonders bei Besprechun-

gen. Da kommen die Franzosen mal eine Viertelstunde zu spät und das

ist dann auch okay“ (Saar-Lux).

Die betrachteten Nationalitäten tendieren in nahezu identischer Ausprägung zu einem monochronen Zeitverständnis und damit tendenziell zu einer sequentiellen Form der Arbeitsorganisation. Hinsichtlich der Ausrichtung an hierarchischen Strukturen wird besonders die französische Arbeitsweise als hierarchieorientiert eingestuft, was durch die Notwendigkeit und ausgeprägte Ak-zeptanz von Arbeitsanweisungen zum Ausdruck kommt. Eben-so wird der luxemburgische Arbeitsstil als hierarchieorientiert bewertet, wenngleich er eine intermediäre Position zwischen Akzeptanz und kritischem Hinterfragen von Arbeitsanweisun-gen einnimmt. Schließlich kennzeichnet sich der deutsche Ar-beitsstil durch eine schwach ausgeprägte hierarchische Orientie-rung angesichts der deutlichen Tendenz zum kritischen Hinter-fragen sowie der schwach ausgeprägten Notwendigkeit von Arbeitsanweisungen.

„Der Franzose neigt eher dazu, auf den Chef zu hören. Also wenn der Patron sagt, dass etwas so und so gemacht werden soll, dann wird das auch so ge-macht – da wird nichts in Frage gestellt. Bei den Deutschen ist es dann eher so, dass mal gesagt wird: 'Nein, das finde ich nicht in Ordnung.' Oder 'Wollen wir das nicht besser so machen?' – also, dass von den Deutschen noch Gegenvorschläge kommen“ (Saar-Lux).

Bei der Beziehungs- bzw. Sachorientierung zeigt sich für die be-trachteten Arbeitsstile insgesamt die Tendenz zur Sachorientie-rung, jedoch mit unterschiedlicher Akzentuierung: während Deutsche der Erledigung von Aufgaben vor den Beziehungen zu Kollegen eine vergleichsweise hohe Priorität einräumen, be-kommt das Konkurrenzmoment im luxemburgischen und fran-zösischen Arbeitsstil ein höheres Gewicht. Anzumerken ist, dass das Item „Konkurrenzdenken“ in diesem spezifischen Untersu-chungskontext nur eingeschränkt interpretiert werden kann.7 Hingegen illustriert ein Experte die Dimension der Beziehungs- bzw. Sachorientierung. „Die Franzosen sind unverbindlicher, die

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mögen keine detailliert ausgearbeiteten Konzepte, kein Meta-planverfahren. Die schätzen es mehr, bei einem gemeinsamen Essen durch persönliche Gespräche eine gute Grundlage für ei-ne positive Arbeitsbeziehung zu schaffen.“ (Experte) Festzuhal-ten bleibt, dass die betrachteten Kulturdimensionen sich weit-gehend mit den Ergebnissen der interkulturellen Management-forschung decken (Hall und Hall 1990, Hofstede 1997, Pateau 1999, Barmeyer 2000) und auf ausgeprägte Phänomene des Fremderlebens in der grenzgängerischen Alltagspraxis verwei-sen.

4. Transnationale soziale Räume: vertrautes Fremdes

Der Überblick zu Aspekten transnationaler sozialer Raumkonsti-tuierung zeigt einige Bedingungen und Auswirkungen von auf Dauer angelegtem grenzüberschreitenden Handeln auf. In ma-kroanalytischer Perspektive zeichnet sich im Grenzgängerwesen zunächst ein gesellschaftliches Konfliktpotential ab, das sich aus dem Konkurrenzverhältnis zwischen Grenzgängern und Ansäs-sigen herleitet. Es wird primär auf Fragen des Arbeitsmarkts be-zogen, berührt aber ebenso die Identitäten in den Arbeitregio-nen. Die diskursive Verschachtelung dieser Kon-kurrenzmomente wird besonders in Luxemburg augenfällig, wo Grenzgänger aus dem öffentlichen Raum seit gut 20 Jahren nicht mehr wegzudenken sind.

In diesem Zusammenhang spielen die sozialen Beziehungen zwischen Ansässigen und Grenzpendlern mit ihrem sozial-kohäsiven Potential eine Rolle. Für Grenzgänger besteht sowohl im betrieblichen als auch im außerbetrieblichen Kontext die Möglichkeit soziale Beziehungen mit Luxemburgern zu unter-halten, diese sind jedoch sehr schwach ausgeprägt und kaum von integrativem Charakter. Ursächlich dafür sind die Bedin-gungen des Pendelns wie etwa die langen Anfahrtswege, aber auch das mit dem Grenzgänger verknüpfte Stereotyp. Dieses ist geprägt vom Eindruck, dass Grenzgänger lediglich aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeiten in die Arbeitsregion kämen und kein weitergehendes Interesse für die Region bzw. für das Land zeigen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die finanziel-len Vorteile, die sich für Grenzgänger aus der transnationalen Ausdehnung ihres sozialen Raums ergeben und auch in der Wohnregion ihre Wirkung entfalten. Hier werden Grenzgänger zum Teil um ihre Arbeits- sowie Verdienstmöglichkeiten benei-det und auf das „gute Gehalt“ reduziert. Dieser auf Sozialneid beruhende Umstand und die durch Anfahrtswege einge-schränkte Freizeit beeinträchtigen zum Teil ebenso die sozialen Beziehungen in der Wohnregion.

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Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion Saar-

LorLux

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Insgesamt bleiben „Durch den ständigen Ortswechsel [die] so-ziale[n] Beziehungen sowohl im Heimatland als auch im Arbeits-land flüchtig. Ihre Zugehörigkeit wird als fragmentiert und am-bivalent erlebt […]“ (Reckinger 2003:299). Die Zugehörigkeit von Grenzgängern kann als eine Form ständiger In- und Exklusi-on beschrieben werden (Krämer 2004:193), was sich ebenso in den Mehrfachzugehörigkeiten auf mikroanalytischer Ebene äu-ßert. Diese erstrecken sich vom lokalen bis zum globalen Ni-veau, wobei die Identifikationskraft der Arbeitsregion sowie der Großregion SaarLorLux vergleichsweise schwach ausgeprägt bleibt. Gleichwohl bildet die Arbeitsregion einen festen Be-standteil der grenzgängerischen Erfahrung, was durch die ins Alltagshandeln eingelassene Grenzüberschreitung beobachtbar wird, sich aber insbesondere an der transnationalen Raumre-präsentation ablesen lässt. Wenn auch auf ambivalente Weise, wird die Arbeitsregion von vielen Grenzgängern nicht bzw. kaum als Ausland wahrgenommen und in die Raumrepräsenta-tion integriert.

Letztgenannter Befund überrascht zunächst, sind doch ange-sichts der vorgestellten Aspekte Interkultureller Kommunikation deutliche Hinweise auf Phänomene der Fremdwahrnehmung auszumachen. Wird jedoch der oben erläuterte trennende und verbindende Charakter der ‚Region der Grenze’ berücksichtigt, so lässt sich abschließend ein zentrales Strukturprinzip transna-tionaler sozialer Räume im Kontext des Grenzgängerwesens festhalten: „[…] Prozesse der Integration und Differenzierung [kristallisieren sich hier] in nicht eindeutig beschreibbarer Weise heraus: Das Fremde ist hier ein vertrauter Bestandteil der Sozi-alwelt“ (Schack 2007:34). Damit werden die von Grenzgängern im Zuge ihrer alltäglichen Regionalisierungen sozialen Verhand-lungen von Vertrautem und Fremdem angesprochen, die in die transnationale Raumkonstituierung einfließen. Oder in anderen Worten: Das, was mit Schütz als unhinterfragte und intersub-jektiv geteilte Lebenswelt (Schütz und Luckmann 2003) be-zeichnet wird, ist im Kontext des Grenzgängerwesens durch die Dualität von Unhinterfragtem und Hinterfragtem gekennzeich-net. Mit welchen Strategien Grenzgänger, die exemplarisch für transnationale Lebensformen stehen, das Fremde und Vertraute in ihrer ortspolygamen Alltagspraxis verhandeln, gilt es an ande-rer Stelle umfassender zu untersuchen.

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Christian Wille: Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der

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1 Die Französische Gemeinschaft Belgiens und die Deutschspra-chige Gemeinschaft Belgiens gehören zur Wallonischen Region.

2 Euregio, Eurodistrikt, grenzüberschreitender örtlicher Zweck-verband usw.

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Fremder Alltag? Transnationale soziale Räume von Grenzgängern in der Großregion Saar-

LorLux

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3 Hier und im Folgenden werden jeweils die Stromrichtungen der befragten Grenzgänger angegeben (Saar: Saarland, Lor: Lothringen, Lux: Luxemburg, RLP: Rheinland-Pfalz, Wal: Wallo-nien).

4 Die Mehrzahl der nach Wallonien einpendelnden Grenzgänger kommt aus Nord-Pas-de-Calais.

5 Der Interregionale Gewerkschaftsrat Saar-Lor-Lux-Trier/Westpfalz reagierte auf die Verlautbarungen der CGFP mit der Pressemeldung „GrenzgängerInnen sind der Trumpf in der Großregion“ (8.3.07).

6 Neben sozialer Erwünschtheit sind die zum Teil langen Be-schäftigungszeiten der Befragten zu berücksichtigen, die kultu-relles Lernen bewirken können (43% der Stichprobe ist der Meinung, durch die Tätigkeit als Grenzgänger besser mit ver-schiedenen Mentalitäten umgehen zu können).

7 Die Beziehungen zwischen ortsansässigen Arbeitskräften und Grenzgängern sind oftmals von (Arbeitsplatz)Konkurrenz ge-prägt. Vor diesem Hintergrund wurde das Item „Konkurrenz“ von vielen Probanden nicht auf den Arbeitsstil bezogen.

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Heiß: Im dritten Raum

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Abstract

In this article we propose a line of argument which emphasizes the correlation between the imagination of intercultural compe-tence and subjective strategies of situating the self (i.e. self-situating) in a particular context. The presented conclusions are based on an empirical study which employed methods of alter-native perspectives. The study’s theoretical backbone is sup-ported by postcolonial theories in order to analyze the essential factors guiding the involved actors during situations with inde-terminate intercultural properties.

We present the (empirical) process in which two employees of the German Development Service and one member of the Ger-man embassy were interviewed before and after their respec-tive training seminars. The focus during the interviews was set on the participants’ imagination of cultural competence in order to bring to the fore the emergent relationship of individual bio-graphical experiences with strategies of self-situating.

This studies’ results highlight two major features: First, the im-portance to demonstrate the relation of biographical experi-ences and the construction of self-situating. Second, it becomes obvious that the analysis of interviews adds value to the prepa-ration processes for professional development actors.

Finally, we propose to initiate an alternative perspective for the qualification practices and coaching-processes within the con-text of development services.

1. Einleitung

Imaginierte Bilder wirken auf unser Handeln ein. Ganze Vorstel-lungswelten bauen sich sukzessive auf und aus, entwickeln sich und bedingen die Wahrnehmungen, Denkweisen und Handlun-gen einzelner Personen.

In sämtlichen Interaktionen im Kontext der Entwicklungszu-sammenarbeit läuft ein paralleler Strang - eine Art Subtext - der subjektiven Verortung mit. Immerzu setzen sich die AkteurIn-nen in diesen Begegnungssituationen zueinander ins Verhältnis, wobei sie auf verschiedene soziale Konstruktionen Bezug neh-men und gleichzeitig Bestandteil letzterer sind. Die soziale In-teraktion der AkteurInnen innerhalb der Entwicklungszusam-menarbeit (EZ) wird gemeinhin als interkulturelle Überschnei-dungssituation bezeichnet. Im Bereich der EZ birgt deshalb die Frage danach, wodurch diese Vorstellungswelten bzw. Imagina-tionen generiert und geprägt werden, eine besondere Relevanz. Hierbei beeinflussen Bilder des „Eigenen“ und „Anderen“ alltäg-liche Handlungskontexte. Dabei bedingen sinnliche Wahrneh-

Im dr itten Raum –

Von der kulturvergleichen-den Differenzbestimmung hin zur Analyse des Wir-kungszusammenhang zwi-schen Imaginationen inter-kultureller Kompetenz und subjektiver Verortungsstra-tegien von AkteurInnen der EZ.

Ein Perspektivwechsel unter Verknüpfung von Ansätzen der postkolonialen Theorie.

Sabine Heiß

M.A. Interdisziplinäre Latein-amerikastudien (Freie Universität, Berlin)

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Heiß: Im dritten Raum

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mungen und Erfahrungen je eigene Wirklichkeiten. Persönliche Vorstellungen, Wahrnehmungen, Situationsdeutungen und in-terkulturelle Handlungsorientierungen bestimmen in hohem Maße Anspruch und Wirklichkeit der Entwicklungszusammen-arbeit.

Die Popularität der Thematik des „Interkulturellen“ hat sich so-wohl in der unternehmerischen Praxis als auch in der Interkultu-ralitätsforschung in den vergangenen Jahren verstärkt. Auf Ba-sis verschiedener theoretischer Ansätze von Interkulturalität wurden zahlreiche Modelle für menschliches Verhalten in kultu-rellen Begegnungssituationen entwickelt und zur Konzeption von Qualifizierungsmaßnahmen genutzt.

Für die Praxis sowohl der Profit- als auch Non-Profit-Organisationen wird die Notwendigkeit „Interkultureller Kom-petenz“ als Schlüsselqualifikation und Voraussetzung für ad-äquates Handeln auf Makro- und Mikroebenen in globalisierten Gesellschaften proklamiert, so auch in der Entwicklungszusam-menarbeit (EZ). Die EZ stellt ein spezifisches Handlungsfeld dar, in dessen Kontext in vielfachen kommunikativen Prozessen kul-turelle Begegnungssituationen stattfinden. Mitarbeitende der Deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind in der Ausübung ihrer institutionellen Aufgaben Bestandteil von Interaktionspro-zessen im Kontakt mit AkteurInnen verschiedener Institutionen, beispielsweise NGOs, BürgerInnen in den Botschaften, den Re-gierungen, Studierenden, etc.

Diese Fachkräfte für Entwicklungszusammenarbeit sind identifi-zierbare AkteurInnen, die im geopolitischen Raum internationa-ler Beziehungen agieren. Entsprechend werden auch für Mitar-beitende der EZ-Institutionen Qualifizierungen mit dem Ziel an-geboten, die als elementare Fähigkeit professionellen Handelns verstandene Kompetenz zu erweitern. Dies legt die Vermutung nahe, dass implizit davon ausgegangen wird, durch die Schaf-fung einer Lehrsituation die gewünschten Kompetenzen lehr- und lernbar zu machen. Ein ganz wesentlicher Aspekt, nämlich wie die AkteurInnen interkulturelle Kompetenz imaginieren, wird dabei bis dato lediglich marginal herangezogen. Es ist da-her unerlässlich, die Schwerpunktsetzung bei entsprechenden Qualifizierungsmaßnahmen und Auswahlverfahren in diese Richtung weiterzuentwickeln.

In diesem im Kontext der Interkulturalitätsforschung zu veror-tenden Artikel setze ich mich mit der Suche nach den Bestand-teilen und Prägungen auseinander, auf die die AkteurInnen in diesen Prozessen zurückgreifen und die sie heute als determi-nierende Erfahrungen rekonstruieren. Hierbei greife ich auf die Ergebnisse meiner Studie zurück, in der ich den Wirkungszu-

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Heiß: Im dritten Raum

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sammenhang zwischen Imaginationen1 interkultureller Kompe-tenz und subjektiver Verortung ergründete, d. h. herausarbeite-te, inwiefern Imaginationen interkultureller Kompetenz biogra-phisch geprägt sind und sich entwickeln, um deren Bedeu-tungsgehalt augenfällig zu machen. Hierzu nutzte ich lebensge-schichtliche Erzählungen von Fachkräften der EZ. Denn nur mit-tels der individuellen biographischen Darstellung und ihren sub-jektiven Bewertungen können verwertbare Rückschlüsse auf die eigene Imagination interkultureller Kompetenz gezogen wer-den. Methodisch arbeitete ich hierzu mit themenzentrierten Interviews, für deren Auswertung ich die Narrationsanalyse bio-graphischer Selbstpräsentation nach Fischer Rosen-thal/Rosenthal (1997) anwandte. Als theoretische Grundlage zur Analyse und Interpretation orientierte ich mich an Ansätzen der postkolonialen Theorie, da sie die Relationen der AkteurIn-nen gleichermaßen als Ausgangspunkt und Fokus in den Vor-dergrund rücken, und somit eine Erweiterung der bislang vor-handenen deterministischen Modelle darstellen.

In meiner Studie beabsichtigte ich einen konzeptionellen Orien-tierungswechsel in den Analysekategorien, die den Stellenwert der Imagination interkultureller Kompetenz der Fachkräfte für die Gestaltung des Handlungsraums der EZ berücksichtigt2.. Gleichermaßen beansprucht die empirische Untersuchung auch eine politisch-gesellschaftliche Relevanz: Die Ergebnisse sollen einen Beitrag zur Weiterentwicklung der benannten interkultu-rellen Praktiken und Politiken innerhalb der Entwicklungszu-sammenarbeit leisten. Ihr akteursorientierter Ansatz eröffnet neben den inhaltlichen Ergebnissen die Option, dieses Verfah-ren methodisch in die Coachings- und Weiterbildungspraxis ein-fließen zu lassen.

2. Interkulturalitätsforschung im Diskurs

Die Definitionen Interkultureller Kompetenz3 variieren je nach Forschungszweck in unterschiedlichen akademischen Bedeu-tungszusammenhängen, Anwendungsgebieten aber auch in der jeweils beabsichtigten funktionalen Nutzung. Eine allgemei-ne Heranführung formuliert Alexandra Hausstein (2000), die interkulturelle Kompetenz als die Fähigkeit beschreibt, einen den Dialog ermöglichenden Zwischenraum zwischen den Men-schen verschiedener Kulturen durch Offenheit, Empathie und

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Heiß: Im dritten Raum

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Toleranz zu schaffen und produktiv auszugestalten (vgl. a.a.O.: 232).

Veröffentlichungen von Stefanie Rathje (2006) und Jürgen Bol-ten (2006a; 2007) zeigen in ihren synoptisch angelegten Arbei-ten aktuelle Definitionen und Diskussionen der Interkulturellen Kompetenzforschung. Rathje und Bolten setzen in ihren Be-schreibungen des Forschungsstandes zu Konzepten Interkultu-reller Kompetenz bei den Wurzeln der Problematik an, und un-ternehmen den Versuch einer Darstellung und Bewertung des Spektrums an unterschiedlichen Definitionsansätzen. Rathje lei-tet ihre Synopse treffend mit dem Zitat ein: „Wenn man ver-sucht, sich einen Überblick über die Diskussion zum Thema in-terkulturelle Kompetenz zu verschaffen […], so kann einen die Fülle des [...] Materials ratlos machen“ (Auernheimer 2002:183 in a.a.O. 2006), da die unterschiedlichen Fachrichtungen bereits eine kaum übersehbare Anzahl an Modellen zur Beschreibung und Entwicklung interkultureller Kompetenz hervorgebracht haben.

„Angesichts der Fülle unterschiedlicher Ansätze lässt sich derzeit konstatieren, dass „sich bislang kein Modell als unisono akzep-tiertes“ durchsetzen konnte. Die Gründe hierfür liegen zum ei-nen sicherlich in der beschriebenen „Multidisziplinarität“ der Debatte (Bolten 2005 in Rathje 2006), zum anderen jedoch auch in fundamentalen Definitionsunterschieden des Konzepts Interkultureller Kompetenz. So führen Differenzen im grund-sätzlichen Verständnis davon, wozu interkulturelle Kompetenz eigentlich gut ist und in welchen Situationen sie relevant wird, zwangsläufig zu unterschiedlichen Antworten in Bezug auf die Frage, aus welchen Teilkompetenzen sie sich zusammensetzt, bzw. ob und wie sie erlernt oder vermittelt werden kann“ (Rathje 2006: 2).

Bolten (2006a) kategorisiert vorhandene Modelle in Listen-, Struktur- oder Prozessmodelle. So werden in den Listenmodel-len nahezu durchgängig z. B. „Fremdsprachenkenntnisse“, „Aufgeschlossenheit“, „Flexibilität“, „Empathie“, „Anpassungs-fähigkeit“, „Optimismus“, „Ambiguitätstoleranz“, „Kontaktfä-higkeit“ und „Rollendistanz“ aufgeführt. Während die prinzipiel-le Unabschließbarkeit der Auflistung derartiger Teilkompeten-zen im Additionsergebnis notgedrungen auch zu sehr unter-schiedlichen Definitionen der Summe „interkulturelle Kompe-tenz“ führe, ermöglichten Strukturmodelle zur Beschreibung interkultureller Kompetenz aufgrund ihrer Systematik eine grö-ßere begriffliche Verbindlichkeit. Sie stammen überwiegend aus der Sozialpsychologie und nehmen beispielsweise Zuordnungen von interkulturellen Teilkompetenzen zu Strukturdimensionen (kognitiv, affektiv, verhaltensbezogen) oder zu Teilbereichen allgemeiner Handlungskompetenz (individuell, sozial, fachlich,

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Heiß: Im dritten Raum

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strategisch) vor. Der Vorteil solcher Modelle bestehe darin, dass sie interkulturelle Kompetenz nicht additiv, sondern systemisch-prozessual verstehen (vgl. Gertsen 1990, Stüdlein 1997 in a.a.O.).

Bolten kritisiert gleichermaßen, dass bei derartigen Strukturmo-dellen vielfach der Unterschied zwischen allgemeiner (eigenkul-tureller) und interkultureller „Handlungskompetenz“ ungeklärt bleibe. Interkulturelle Kompetenz schließt seines Erachtens ei-gen- und fremdkulturelle Kompetenz ein. Während fremdkultu-relle Kompetenz das Verstehen der Besonderheiten des jeweili-gen „anderen“ strategischen Vorgehens ermögliche, bestehe interkulturelle Kompetenz darin, handlungsfähige Synergien zwischen eigen- und fremdkulturellen Ansprüchen bzw. Ge-wohnheiten „aushandeln“ und realisieren zu können (vgl. 2006a: 1ff).

Folglich, so proklamiert Bolten (2007), sei interkulturelle Kom-petenz nicht als eigenständiger Kompetenzbereich zu verste-hen, „sondern in der Bedeutung von lat. competere: 'zusam-menbringen' - als Fähigkeit, individuelle soziale, fachliche und strategische Teilkompetenzen in ihrer bestmöglichen Verknüp-fung auf interkulturelle Handlungskontexte beziehen zu können (a.a.O.: 87). Sie unterscheide sich von allgemeiner (eigenkultu-reller) Handlungskompetenz vor allem durch die andere - eben interkulturelle - Beschaffenheit des Handlungsfeldes, auf das sie bezogen ist; nicht jedoch in Hinblick auf die Notwendigkeit der Ganzheitlichkeit des Zusammenspiels der vier interkulturellen Teilkompetenzen. Als ein unverzichtbares „Mehr“ gegenüber der allgemeinen (eigenkulturellen) Handlungskompetenz erwei-sen sich jene Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die den Transfer auf das fremd- bzw. interkulturelle Bezugsfeld si-chern. Dazu zählen in der Regel Fremdsprachenkenntnisse, aber auch die Fähigkeit, Differenzen zwischen eigen-, ziel- und inter-kulturellen Interaktionszusammenhängen reflektieren bzw. er-klären sowie Synergiepotentiale erkennen und entfalten zu können (vgl. Bolten 2006a). Aus Boltens Ansatz, nach dem „In-terkulturelle Kompetenz sich damit als ein synergetischer Pro-zessbegriff [erweist], der folglich auch nicht auf den Bereich der Soft Skills, also auf personale und soziale Aspekte, reduziert werden kann“, greife ich vor allem den dynamischen Aspekt des „Aushandelns“ auf (Bolten 2006b).

Bei der Frage nach den Anwendungsgebieten lassen sich Auto-rInnen unterscheiden, die sich bei der Interaktion verschiedener Kulturen implizit auf Nationalkulturen beziehen, und andere, die von einer inter-kollektiven Interaktion ausgehen.

Ein weiterer Diskussionsstrang in den vorherrschenden Debat-ten ist die Frage nach dem „Ziel“ bzw. dem „Nutzen“ interkultu-reller Kompetenz. Die Stellungnahmen hierzu bewegen sich

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„zwischen eher ökonomisch orientierten Konzepten, die vor allem Effizienzgesichtpunkte in den Vordergrund stellen und eher geisteswissenschaftlichen bzw. erziehungswissenschaftli-chen Ansätzen, die Effizienzerwägungen gegenüber skeptisch eingestellt sind und vor allem den Aspekt menschlicher Weiter-entwicklung in der interkulturellen Interaktion betonen“ (Rathje 2006: 3).

Gegenpositionen zu den meist in den Wirtschaftswissenschaf-ten verankerten Effizienz-Ansätzen bilden Konzepte aus der in-terkulturellen Germanistik, die vom Denken in Gegensätzen, in der das Fremde und das Eigene immer noch weithin als Opposi-tionsbegriffe verstanden werden, dezidiert abrückt, indem sie die wechselseitige Konstitution von Identität und Alterität ins Zentrum der Kommunikationsprozesse rückt. Interkulturalität wird hier als Beziehungskategorie verstanden, die Partnerschaft konstituiert und kulturelle Pluralität als Grundverfassung der mitmenschlichen Wirklichkeit anzuerkennen sucht. Mit dem Prinzip der Kontrastivität habe Interkulturalität darum wenig zu tun (vgl. Wierlacher 2003: 260). Nach Alois Wierlacher stiftet „[e]ine kulturelle Überschneidungssituation (…) Interdependen-zen zwischen den agierenden Identitäten als Alteritäten, die für beide eine Veränderung ihrer selbst mit sich bringen kann. (…) [D]ie Veränderungen vollziehen sich nicht zuletzt als Konstituti-on einer partiellen Gemeinsamkeit, deren Zustandekommen kein schicksalshafter Vorgang, sondern Folge der kooperativen Selbstaufklärung und der angeführten Abhebung ist. Sie ma-chen aus der kulturellen Überschneidungssituation eine kulturel-le Zwischenposition“ (ebd. Hervorhebung i. O.). Diese auch als „Zwischenwelt“ bezeichnete Dimension werde aufgrund des „hybriden“ Charakters von Kulturen möglich, der entsteht, weil Kulturen keine von einander völlig isolierte und sich abschot-tende Gebilde sind, sondern sich überlappen und überkreuzen und ihre Identität immer auch der kreativen Rolle Fremder im Kulturwandel verdanken. Als „interkulturell“ werden also „sol-che Kommunikationsprozesse angesehen, in denen, bezogen auf den jeweiligen dialogischen Prozess, geteiltes Wissen als Grundlage der Verständigung gezielt hergestellt wird, um aus dem Gelernten auf der Basis der dreifachen Semantik des For-mativs ›inter‹ in kooperativer Erkenntnisarbeit eine dritte Ord-nung als »gemeinsame Orientierung« zu schaffen“ (Mauritz 1996: 88, Hervorhebung i. O., in Wierlacher 2003: 260). Die Fähigkeit, diese neue Ordnung zu stiften, heißt demnach „inter-kulturelle Kompetenz“.

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3. Forschungen im Themenfeld „Interkulturelle Kommu-nikation und Kompetenz“

Bei disziplinären und interdisziplinären Forschungen im Themen-feld „Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz“ handelt es sich nach Straub/Weidemann/Weidemann (2007) um ein insgesamt noch junges Forschungsfeld4, in dem der Blick auf eine vielgestaltige und in rasantem Wandel befindliche soziale Praxis gerichtet wird, wobei höchst unterschiedliche theoreti-sche Perspektiven eingenommen und empirische Methoden eingesetzt werden. In einem komplexen Feld trans- und inter-disziplinärer Forschung und Theoriebildung machen viele wis-senschaftliche Unternehmungen ausgewählte Ausschnitte aus der Praxis nicht nur zu ihrem Forschungsgegenstand, sondern kooperieren auch mit dieser Praxis und stellen ihre Expertise oh-ne Berührungsscheu in deren Dienst (vgl. a.a.O.:1).

Die Debatten bezüglich Interkultureller Kompetenz5 in berufli-chen Handlungsfeldern sind nicht minder vielfältig und setzten sich je nach erkenntnistheoretischen Hintergründen mit diversen Fragestellungen auseinander; sämtliche Disziplinen widmen sich Indikatoren Interkultureller Kompetenz und/oder Vorausset-zungen für deren Erwerb bzw. deren Messbarkeit abgeleitet bis hin zur Konzeption von Studiengängen.

Vielfach wird interkulturelle Kompetenz in beruflichen Kontex-ten zum Gegenstand internationaler Personalentwicklung erho-ben und erforscht, überwiegend mit dem Ziel, Maßnahmen zur Erhöhung des „Entsendeerfolges“ im Ausland zu entwickeln6. Branchenübergreifende Curricula für Trainings7 „off the job“8 orientieren sich entsprechend an unterschiedlichen Kompetenz-profilen, wobei binäre Perspektiven kultureller Skripte häufig das Ausgangsszenario bilden, in denen von Überschneidungen dieser Skripte ausgegangen wird, die implizit an Individuen und deren Nationalität geknüpft werden. Meist begründet eine kul-turvergleichende Perspektive dabei die Grundlage des interkul-turellen Kompetenzerwerbs.

Gemeinsam ist den hier aufgeführten Forschungen neben ei-nem kulturvergleichenden Konzept, dass sie sich vorwiegend an Kategorien wie Kulturstandards oder den Kulturdimensionen nach Geert Hofstede (2001; 1993) bzw. Edward T. Hall (1990) als Bedingungsvariablen orientieren. Diese Kategorien gehen häufig von einem territorial begrenzten Kulturbegriff aus oder werden handlungsfeldspezifisch definiert, wobei sie überwie-

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gend als homogene Entitäten verstanden werden, aus denen kulturelle Skripte bzw. Stereotypen abgeleitet werden. Die Re-duzierung von Komplexität wird mit der Ermöglichung der Auf-nahme und Verarbeitung der vielschichtigen Lerninhalte be-gründet (vgl. Thomas/Kammhuber/Schroll-Machl 2003; Kum-bruck/Derboven 20059). Obwohl Typisierungen im wissen-schaftlichen Paradigma des „Dekonstruktivismus“ oft als zu de-terministisch und konstruierend zurückgewiesen werden, basie-ren Untersuchungen zur interkulturellen Kompetenz oft auf vordefinierten Erhebungsrastern, die sich aus vorgefertigten Kompetenzprofilen ableiten bzw. beabsichtigen diese Profile zu definieren. Außer acht bleibt dabei, inwiefern der Entwick-lungsprozess des Individuums in verschiedenen sinn- und be-deutungsgebenden Orientierungssystemen berücksichtigt wird10 und davon ausgegangen wird, dass Wertorientierungen und Verhaltensnormen interkulturell und interpersonell stark variieren können. Genauso wenig wird bei den vorhandenen Konzeptionen der Frage große Bedeutung geschenkt, inwieweit soziale Strukturen und Hierarchien, Geschlechterrollen, sozio-ökonomischer Status, Lebensstile, Alter und die Beziehungen der AkteurInnen bedeutsame Faktoren sind.

Die Entwicklungszusammenarbeit stellt ein institutionalisiertes System dar, in dem permanent interkulturelle Interaktionen und Überschneidungen stattfinden11. Bisherige Studien folgen dem Paradigma einer funktional und normativ bestimmten konzep-tionellen und begrifflichen Ausrichtung der für dieses Hand-lungsfeld als notwendig proklamierten interkulturellen Kompe-tenz. Es besteht demnach eine Forschungslücke in der Analyse der Konzepte interkultureller Kompetenz aus Perspektive der AkteurInnen. In meiner empirischen Studie habe ich den Fokus genau auf diesen Bereich gelenkt und bestehende Forschungen um die subjektive Perspektive der Fachkräfte innerhalb der EZ erweitert, indem ich ihre Imagination interkultureller Kompe-tenz in Zusammenhang zu ihrer subjektiver Verortung setzte. Zur Analyse der Interviews orientierte ich mich an Ansätzen der postkolonialen Theorie, um losgelöst von deterministischen Ka-tegorien aus den Erzählungen Aussagen über Aspekte wie Ver-ortungsstrategien, Relationen zwischen den AkteurInnen, Ge-schlechterrollen und Beweggründe zu extrapolieren.

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4. Anregungen/Ansätze aus der postkolonialen Theorie

Zahlreiche postkoloniale Studien und Essays sind bislang über-wiegend in englischer Sprache veröffentlicht. Die 2005 erschie-nene kritische Einführung von María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan bietet erstmals einen Einblick in die spannenden und kontroversen Auseinandersetzungen dieser zeitgenössi-schen Konzepte. Castro Varela/Dhawan (2005) verweisen hier-bei deutlich darauf, dass unter Postkolonialismus kaum von ei-ner einheitlichen, wohl strukturierten Theorie gesprochen wer-den kann, da unter diesem Etikett unterschiedliche Theoretike-rInnen zusammengefasst werden. Die Postkoloniale Theorie untersucht sowohl den Prozess der Kolonisierung als auch den einer fortwährenden Dekolonisierung und Rekolonisierung. Die Perspektive auf den (Neo-)Kolonialismus beschränkt sich dabei nicht auf eine brutale militärische Besetzung und Ausplünde-rung geographischer Territorien, sondern umfasst auch die Pro-duktion epistemischer Gewalt (vgl. a.a.O.: 8). Der koloniale Dis-kurs beruht essentiell auf einer Bedeutungsfixierung, die in der Konstruktion und Fixierung der ausnahmslosen Anderen zum Ausdruck kommt. Die gewaltvolle Repräsentation der Anderen als unverrückbar different war notwendiger Bestandteil der Konstruktion eines souveränen, überlegenen europäischen Selbst (vgl. a.a.O.: 16).

Mit ihren dekonstruktivistischen Ansätzen kämpft die Postkolo-niale Theorie gegen die Naturalisierung von Herrschaftsverhält-nissen. Ihre Herangehensweisen implizieren eine Perspektive die davon ausgeht, „dass die präkolonialen Strukturen in die kolo-nialen hineingewirkt haben. Shalini Randeria spricht in diesem Zusammenhang von »verwobenen Geschichten« (entangled histories, Conrad/Randeria 2002: 17 in: Castro Varela/Dhawan 2005: 24) und beschreibt damit eine relationale Perspektive, die die Unmöglichkeit aufzeigt, eine Geschichte des ›Westens‹ oh-ne die Geschichte der Kolonialländer zu schreiben und vice ver-sa“ (ebd).

Zudem ist der Prozess der Dekolonisierung ein andauernder, der sich eben nicht als linear und fortschreitend darstellen lässt. Neokolonialismus und Rekolonisierungstendenzen zeigen viel-mehr an, dass der Kolonialismus immer neue Wege erfindet, um sich die Ressourcen der anderen Länder zu sichern. Die Durchsetzung eines uniformen Verständnisses von Postkoloniali-tät schließt sich aus und spricht vielmehr für die Notwendigkeit einer Kontextsensibilität beim Gebrauch des Begriffes (vgl. ebd.).

Nach Young (1995: 163 in Castro Varela/Dhawan 2005: 25) haben Edward Said, Gayatri Chakrovorty Spivak und Homi K. Bhabha, die er als »Heilige Dreifaltigkeit« der postkolonialen

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Theorie bezeichnet, eine radikale Rekonzeptionalisierung der Beziehung zwischen Nation, Kultur und Ethnizität ermöglicht, die ohne Zweifel von weitreichender kultureller und politischer Bedeutung ist (vgl. ebd.). Bhabhas theoretisches Hauptinteresse gilt den Repräsentationsformen kultureller Differenz, wobei er sich von poststrukturalistischen und psychoanalytischen Ansät-zen stark beeinflusst zeigt; seine Argumentationen beruhen hauptsächlich auf theoretischen Konzepten von Foucault, Derri-da, Freud und Lacan (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 84ff). In seinen Analysen der kolonialen Beziehungen sucht Bhabha das binäre Oppositionssystem zu überschreiten. Er strebt in seiner Theoriebildung die Vermeidung von Homogenisierungen und Totalisierungen an, indem er sich um eine Klärung des »Dazwi-schen« bemüht (vgl. ebd.). Bhabha nennt einen solchen Zwi-schenraum „third space“, wobei er diese Bezeichnung im Sinne einer Denkfigur konzipiert und sich nicht auf eine physische oder geographische Kategorie bezieht. „Beim Entstehen solcher Zwischenräume - durch das Überlappen und De-plazieren (displacement) von Differenzbereichen12 - werden intersubjekti-ve und kollektive Erfahrungen von nationalem Sein (nation-ness), gemeinschaftlichem Interesse und kulturellem Wert ver-handelt“ (Bhabha 2000: 2; Hervorhebung im Original). Bhabha unternimmt in seinem 2000 auf Deutsch erschienenen Werk ‚Die Verortung der Kultur’ einen Perspektivwechsel in dem er versucht, die Frage der kulturellen Differenz als produktive Des-orientierung und nicht als Festschreibung einer vereinnehmba-ren Andersartigkeit zu verhandeln. Ihm geht es vornehmlich darum, intersubjektive und kollektive Erfahrungen von nationa-ler Gemeinschaft sowie von verbindlichen kulturellen Werten derart neu zu definieren, dass Subjekte gerade nicht auf eine ethnische Position festgelegt werden, sondern als Überschrei-tung jener verschiedenen Teilaspekte der divergierenden ethni-schen, klassen- oder geschlechtsspezifischen Zugehörigkeit be-griffen werden, die nur als Verknotung die kulturelle Identität des Individuums ausmachen (vgl. Elisabeth Bronfen im Vorwort a.a.O.: IX). Theoretisch innovativ und politisch entscheidend ist nach Bhabha

die Notwendigkeit, über Geschichten von Subjektivitäten mit einem Ursprung oder Anfang hinaus zu denken und sich auf jene Momente oder Prozesse zu konzentrieren, die bei der Artikulation von kulturellen Differenzen produziert werden. Diese „Zwischen“-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Stra-tegien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet wer-den können, die beim aktiven Prozess, die Idee der Gesellschaft selbst zu defi-nieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zu-sammenarbeit und des Widerstreits führen (Bhabha 2000: 2).

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Nach Doris Bachmann-Medick kann die Eröffnung eines dritten Raums der Differenz als gezielter Gegenentwurf gegen eine Identitätspolitik verstanden werden,

die dazu neigt, ethnische Unterschiede festzuschreiben, sie in den Dienst der Ausgrenzung zu stellen oder mit vereinheitlichenden Verallgemeinerungen zu arbeiten. (…) Die neue Praxis der Interkulturalität bestände darin, jenseits fes-ter Identitätskorsetts auf die Vielschichtigkeiten wie Widersprüchlichkeiten auch der eigenen kulturellen Traditionsstränge vorzudringen. So wird unsere gewohnte Vorstellung von Kultur als einem Ort fester Zugehörigkeit und Geschlossenheit verlassen zugunsten einer Auffassung von Kultur als Über-gang und Entwicklung (Bachmann-Medick 1999: 18).

Ich beziehe mich in dieser Arbeit bewusst auf einen ausgewähl-ten Ausschnitt des komplexen Systems transnationaler und -globaler Interaktion, indem ich mich diesem auf der Mikroebene annähere. Aus einem Personenkreis, für dessen berufliche Kon-texte interkulturelle Kompetenz - basierend auf verschiedenarti-gen Konzepten - als Voraussetzung und Bestandteil des Agie-rens angesehen wird, konzentriere ich mich auf AkteurInnen innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit. Erhebungsgrund-lage sind ihre rekonstruierten Erzählungen subjektiver Erlebnisse und Lebenspraktiken in interkulturellen Begegnungssituationen. Wird Gegenwart entsprechend Bhabha nicht mehr nur als eine Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft gedacht, son-dern – so wie “third space” – als ein produktiver Zwischenraum, analysiere ich, mit welchen Bedeutungen sie ihre Gegenwart auffüllen, d. h. in der Erzählung ihre Vergangenheit interpretativ erarbeiten. Um ihre daraus abgeleiteten Strategien individueller oder gemeinschaftlicher Selbstheit zu erfassen, konzentriere ich mich auf die Erzählabschnitte sozialer Beziehungen, in denen sie ihren subjektiven Verortungsstrategien Ausdruck verleihen.

René John und Holger Knothe (2004) meinen mit sozialer Ver-ortung den von Zugehörigkeits-, Anerkennungs- und Vertrau-enskonstruktionen bestimmten Prozess sozialer Einbettung in verschiedene Lebenswelten (vgl. a.a.O.). „Verortung deutet somit auf den Umstand, dass der Ort des Individuums eben immer nur ein soziales Konstrukt aus dem Zusammenspiel eige-ner Intentionen und verschiedener gesellschaftlicher Operatio-nen ist, den Intentionen anderer, den spezifischen Entscheidun-gen von Organisationen und verschiedener funktionaler Opti-onsrealisierungen“ (vgl. Kuhm 2000; 2003 nach John/Knothe 2004).

Deshalb ist erstens der gefundene und damit „erfundene“ Ort, immer ein sozialer Ort und zweitens der Prozess der Verortung immer ein reflexiver, ak-tiver Vorgang seitens des Individuums, unabhängig davon, wie das Individuum diesen schildert. Dieses Merkmal des Verortungsprozesses ist deshalb wichtig, weil damit betont wird, dass mit Verortung nur die eigens geleistete Bezie-hungsproduktion, Positionierungsarbeit gemeint ist und nicht die Frem-dzuschreibung durch dritte (John/Knothe 2004: 11).

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Zum einen kann die Zugehörigkeit als eine Sinnkonstruktion (sense making) verstanden werden, die in Sprache stattfindet. Dies bedeutet zum zweiten, dass die Konstruktionsarbeit der einzelnen an ihrer sozialen Verortung im Sprechen aufscheint und in ihrem - interaktiv erzielten - Ergebnis zu besichtigen ist. Der interaktive Aspekt dieser Konstruktionsarbeit verweist auf eine dritte Überlegung, die unter dem Aspekt sozialer Macht und der Frage nach Inklusion/Exklusion bedeutsam ist: Die Er-zählarbeit ist gekennzeichnet von Prozessen der Positionierung, die der Erzähler sowohl erfährt als auch gestaltet und an denen das soziale Kräftefeld ablesbar ist (vgl. ebd.).

5. Operationalisierung, Fazit und Ausblick

In der vorgelegten Arbeit galt es den Wirkungszusammenhang zwischen Imaginationen interkultureller Kompetenz und subjek-tiver Verortung zu erforschen. Dem lag die Hypothese zugrun-de, dass Imaginationen interkultureller Kompetenz biographisch geprägt sind und im wechselseitigen Verhältnis zur subjektiven Verortung stehen. Entsprechend lassen sich aus den erzählten Imaginationen sinnstiftende Bedeutungen für die AkteurInnen ableiten, die wiederum handlungsleitend für ihr berufliches Wir-ken sind.

Des Weiteren ging ich davon aus, dass die Komponenten bio-graphische Vorprägung und subjektive Verortung die Grund-konzeption interkultureller Kompetenz bestimmen. Einzelne Ereignisse, wie vorbereitende Qualifizierungsmaßnahmen bzw. die Arbeitsaufnahme am Einsatzort stellen in diesem Kontext ein Ereignis13 von vielen dar. Sie beeinflussen die Dispositionen der AkteurInnen vorwiegend in Form von begrifflichen Anpas-sungen der Erzählungen, die sich vor allem in der Wiedergabe der im Rahmen der Qualifizierungsmaßnahmen verwandten Erklärungsmodelle und Terminologien widerspiegelt.

Zur Konzeptionalisierung der zentralen Thesen führte ich auf Grundlage der Methoden der qualitativen Sozialforschung the-menzentrierte biographische Interviews mit Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit durch, die in Vorbereitung auf ihren Einsatz in Lateinamerika standen. Unter Anwendung von Analysekategorien nach Ansätzen der postkolonialen Theorie, beabsichtigte ich den Stellenwert der subjektiven Perspektive der Fachkräfte und ihrer Imaginationen interkultureller Kompe-tenz stärker zu berücksichtigen.

Die Ergebnisse gehen aus je zwei Gesprächen mit den Fachkräf-ten Jana, Katrin und David14 hervor, die ich vor und nach der

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Qualifizierungsmaßnahme bzw. Janas Arbeitsaufnahme am Ein-satzort führte.

Im Ergebnis ist festzustellen, dass sich die im Vorfeld getroffene Annahme im Rahmen der Untersuchung durchweg bestätigt hat: Imaginationen interkultureller Kompetenz sind biogra-phisch geprägt und stehen im wechselseitigen Verhältnis zur subjektiven Verortung der befragten Personen. Es sind gerade die biographischen Erfahrungen, Begegnungen, Interaktionen und die individuelle bzw. dialogische Reflexion darüber, die ihre eigenen Dispositionen bestimmen.

Die Imaginationen der Fachkräfte zu interkultureller Kompetenz weisen eine hohe Überschneidung auf. Dazu zählen Teilkompe-tenzen, wie Offenheit, Flexibilität, Selbstreflexion, Empathie, etc. Selbst in der wechselnden Nennung verschiedenster Refe-renzsysteme interkultureller Überschneidung stimmen sie über-ein. Einzig David verdeutlicht, dass er bereits jegliche Interaktion sämtlicher Individuen als solche versteht – unabhängig ihrer biographischen Prägung.

In der Analyse der Erzählabschnitte wird deutlich, wie ihre sub-jektiven Verortungsstrategien und Imaginationen sich wechsel-seitig bedingen. Die Fachkräfte verweisen implizit und explizit auf einen kausalen Wirkungszusammenhang zwischen ihren erlebten Erfahrungen und ihren derzeitigen Vorstellungen. Hierbei führen sie überwiegend Erzählungen über Ereignisse im Kontext ihrer studiumsbedingten- oder beruflichen Auslands-aufenthalte und Reisen an. Aus diesen bisherigen Erfahrungen heraus, scheinen alle drei Fachkräfte gewisse Wahrnehmungs-systeme bzw. Handlungsprinzipien entwickelt zu haben:

Eine grundsätzliche Übereinstimmung zeigen sie im Hinterfra-gen und Reflektieren von sich selbst und ihren Rollen in ver-schiedenartigen settings. Wie die biographischen Prägungen und motivationalen Aspekte näher verdeutlichen, lösen die drei Fachkräfte im Wesentlichen auch ihren Anspruch an Offenheit, Neugier und Flexibilität ein, was sich nicht zuletzt in ihrer Bereit-schaft zeigt, sich auf die Interviews einzulassen.

Nichts desto trotz unterscheiden sie sich in ihren jeweiligen Ausprägungen, die sich auf ihre sehr unterschiedlichen biogra-phischen Hintergründe zurückführen lassen. So weist David z. B. eine gewisse Abfolge seiner Reflexions- und Bewertungsmecha-nismen auf, in dem er Erlebnisse seiner bisherigen Lebens- und Berufserfahrungen ins Verhältnis setzt und hieraus vorwiegend die Bestätigung seiner Vorannahmen abstrahiert. Bei Jana wird deutlich, wie ihr jeweiliger Lebenskontext ihre Grundkonzeptio-nen interkultureller Kompetenz sowie ihre subjektive Verortung „in Bewegung“ bringt. Katrins Wahrnehmungssystem spiegelt sich zum Teil in ihren Erzählungen von „Zuordnungen“ einzelner

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in einen gewissen Menschenschlag wider. Dem entsprechend setzt sie sich ins Verhältnis und richtet überwiegend ihr Handeln danach aus.

Meine ursprüngliche Ausgangshypothese, dass einzelne Erei-gnisse, wie vorbereitende Qualifizierungsmaßnahmen, die ein-zelnen Dispositionen vorwiegend in Form von begrifflichen An-passungen der Erzählungen beeinflussen, hat in der Analyse überraschend differenzierte Ergebnisse zu Tage gebracht:

In den Erzählungen nach der Qualifizierungsmaßnahme von Katrin und David sowie der Arbeitsaufnahme von Jana, verdeut-lichen alle drei ihre hochgradig detaillierte Beobachtung sämtli-cher sozialer Interaktion. Gleichermaßen geht eine Zunahme der dichotomen Begrifflichkeiten aus den Schilderungen hervor, deren Verwendung sich allerdings auf anfängliche Beschreibung interkultureller Situationen beschränkt. Dies zeigt sich insbeson-dere in Janas Verortungsstrategien und Positionierungen, die mit der Arbeitsaufnahme in Lima einhergehen. Auch bei Katrin und David wird augenfällig, wie sie sich zunächst innerhalb der Seminargruppe positionieren.

Bei Katrin finden sich kaum begriffliche Anpassungen nach der Qualifizierung wieder. Sie erwähnt zwar bleibende Seminarein-drücke um das Thema des Rollenverständnisses in der EZ, je-doch ohne dies zu vertiefen. Die Diskussionen mit anderen Teil-nehmerInnen innerhalb der Kurseinheiten scheinen für sie eher anregende und nachwirkende Momente zu sein.

Im Gegensatz zu Katrin lassen Davids Schilderungen eine deutli-che begriffliche Anpassung auf Grundlage des Seminars erken-nen. So bezeichnet er sich nun beispielsweise selbst als Entwick-lungshelfer, wenngleich er die das begriffliche Konzept zuvor kritisierte. Hervorzuheben sind des Weiteren zwei von ihm er-wähnte Modelle: Ein Kommunikationsmodell, das in Bezie-hungs- und Sachebene unterscheidet, die jeweils den kulturellen Praktiken in Lateinamerika und Westeuropa zugeordnet wurden und die David in Übereinstimmung mit seinen Erfahrungen ad-aptiert. Außerdem das Modell der „Kulturzwiebel“, das die Am-biguität interkultureller Begegnungssituationen durch Zuord-nungen in „Inneres“ und „Äußeres“ für ihn fassbarer zu machen scheint.

In der Adaption vergleichbarer Modelle liegt meines Erachtens eine potenzielle Ursache der Problematik, kulturelle Differenzen allzu schnell als Reflexion „vorgegebener ethischer oder kulturel-ler Eigenschaften“ zu lesen (Bhabha in: Castro Varela/Dhawan 2005: 95). Eben diese vermeintlichen Zuschreibungen stehen im diametralen Verhältnis zum Konzept des „third space“, in dem kulturelle Symbole neu verhandelt, d. h. mit neuen Bedeutun-gen belegt und damit reinterpretiert werden können (vgl. ebd.).

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Die Erlebnisse in Janas erster Arbeitswoche scheinen beispiel-haft den Prozess der Neuverhandlung von Bedeutungen und Symbolen zu verdeutlichen. Aus ihren Erzählungen geht hervor, dass sie sich in einer Situation der Desorientierung befindet, in der ihr vertraute „Bestandteile“ von Differenz und bislang ver-wandte Referenzsysteme als Bezugspunkte nicht mehr ausrei-chend sind. Einerseits behilft sie sich mit Lösungsvorschlägen ihres Mentors und reflektiert die Prozesse mit ihren in Peru le-benden Cousins. Andererseits sieht sie in der Intensivierung der Arbeitsbeziehungen das Potenzial eines produktiven Zwischen-raums, in dem Neuverhandlungen und die Überschreitung jener verschiedenen Teilaspekte möglich werden.

Abschließend lässt sich konstatieren, dass biographische Erfah-rungen einen elementaren Einfluss auf die Imaginationen inter-kultureller Kompetenz der befragten Personen ausüben. Es sind gerade die Begegnungen, Interaktionen und die individuelle bzw. dialogische Reflexion darüber, die die eigenen Dispositio-nen der AkteurInnen bestimmen. Das Wissen hierum legt eine erweiterte Schwerpunktsetzung in Gestalt eines Perspektiv-wechsels auf die Imaginationen und subjektiven Verortungsstra-tegien der Mitarbeitenden der EZ nahe. Die Analyse der Strate-gien und deren Resultat eröffnen den Zugang in und einen qua-litativ hochwertigen Einblick auf diese Wechselwirkung und bie-tet somit ein Potenzial für die Konzeption von Professionalisie-rungs- und Coachingmaßnahmen, für die persönliche Entwick-lung der AkteurInnen und nicht zuletzt für die Neuverhandlung der gegenwärtigen politischen Praxis.

L iteratur

Bachmann-Medick, Doris (1999): Andersheit in der Selbsterfahrung. 1+1=3: Interkulturelle Beziehungen als „dritter Raum“ in Kulturwissenschaften und Ökonomie. In: Frankfurter Rundschau Nr. 189 (17.8.1999, 18: „Forum Hu-manwissenschaften“).

Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. 1. Aufl. -Tübingen: Stauffenburg-Verlag.

Bolten, Jürgen (2007): Interkulturelle Kompetenz. Veröffentlichung der Lan-deszentrale für politische Bildung. Erfurt.

- ders. (2006a): Interkulturelle Kompetenz. in: L.R.Tsvasman (Hg.): Das große Lexikon Medien und Kommunikation. Würzburg 2006, 163-166. http://www2.uni-jena.de/philosophie/iwk/publikationen/interkulturelle_kompetenz_bolten.pdf (Zugriff: 03.09.2007)

- ders. (2006b): Interkulturelles Lernen mit Multimedia gestalten. In: Hand-buch E-Learning. 16. Erg.-Lfg. Mai 2006. http://www2.uni-jena.de/philosophie/iwk/publikationen/iklernen_multimedia_bolten.pdf (Zu-griff: 04.10.2007).

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Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Transkript, Bielefeld.

Fischer-Rosenthal, Wolfram (1991): Biographische Methoden in der Soziolo-gie. In: Flick, Uwe, u.a. (Hrsg.): Handbuch qualitative Sozialforschung. Grund-lagen, Konzepte Methode und Anwendungen. München.

Fischer-Rosenthal, Wolfram/Rosenthal, Gabriele (1997): Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentationen. In: Hitzler, Ronald [Hg.] : Sozialwissenschaftliche Hermeneutik: eine Einführung. Leske und Budrich, Opladen.

Geier, Bernd (2000): Der Erwerb interkultureller Kompetenz. Ein Modell auf Basis der Kulturstandardforschung. Philosophische Fakultät der Universität Passau. http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=961285230&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=961285230.pdf (Zugriff: 11.07.2007)

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Hausstein, Alexandra (2000): Interkulturalität. R. Schnell (Hg.): Metzler Lexi-kon Kultur der Gegenwart. Stuttgart-Weimar, 231–232.

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Rathje, Stefanie: Interkulturelle Kompetenz – Zustand und Zukunft eines um-strittenen Konzepts. In: Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunter-richt (2006). http://www2.uni-jena.de/philosophie/iwk/publikationen/interkulturelle_kompetenz_rathje.pdf (Zugriff: 03.09.2007)

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Thomas, Alexander/Kammhuber, Stefan/Schroll-Machl, Sylvia (Hg.) (2003): Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kooperation. Länder, Kulturen und interkulturelle Berufstätigkeit. Göttingen. Vandenhoeck & Ruprecht.

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Tyradellis, Daniel (2000): Imaginäre. R. Schnell (Hg.): Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Stuttgart–Weimar, 219.

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1 Den Begriff „Imaginäres“ benutze ich im Sinne von subjekti-ven Vorstellungen, womit ich mich an Tyradellis orientiere, nach dem man „[u]nter dem Imaginären etwas bloß Bildhaftes im Sinne eines nur in der Vorstellung Vorhandenen [versteht]. (…) Es zeichnet sich dadurch aus, dass es in der Vorstellung des Menschen entsteht und von dort her in verschiedenem Maß die Wahrnehmung beeinflusst“ (Tyradellis 2000: 219).

2 Die Grundlagen dieses Artikels entstammen meiner Ab-schlussarbeit „Im „dritten Raum“ - Imaginationen interkultureller Kompetenz - Rekonstruktion biographischer Erzählungen zum Verhältnis imaginierter interkultureller Kompetenz und subjekti-ver Verortung am Beispiel von Fachkräften der Entwicklungszu-sammenarbeit“ des Masterstudiums Interdisziplinäre Latein-amerikastudien an der Freien Universität Berlin. Zentralinstitut Lateinamerika-Institut.

3 Die Begriffspaare interkulturelle Kompetenz, interkulturelle Handlungskompetenz und interkulturelle kommunikative Kom-petenz werden in der wissenschaftlichen Literatur überwiegend synonym verwendet. Gleiches gilt für die englischsprachigen Begriffe cultural intelligence, cultural competence und cross-cultural communication competence.

4 Straub/Weidemann/Weidemann (2007) sprechen von minde-stens drei Jahrzehnten wissenschaftlicher Grundlagenforschung und angewandter Forschung, zunächst vor allem in Nordameri-ka, sodann in wachsendem Ausmaß in europäischen Ländern und Australien – und ansatzweise mittlerweile auch in verschie-denen Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas (vgl. a.a.O.).

5 Im Folgenden belasse ich die Schreibweise Interkulturelle Kompetenz mit Großbuchstaben, um auf die variierende kon-zeptionelle Verwendung des Begriffs aufmerksam zu machen. Im Sinne meines Erkenntnisinteresses beabsichtige ich keine definitorische Begriffsbestimmung. Zur unbestimmten Verwen-dung des Begriffs, z. B. bei der Frage nach den Imaginationen, setze ich die Schreibweise interkulturelle Kompetenz ein.

6 Die enge Verknüpfung von interkulturellen Trainingsforschung und –praxis (vgl. Bolten 2005: 13) erschwert meines Erachtens die Loslösung deterministischer Ansätze in der interkulturellen Kompetenzforschung.

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7 Von der sehr umfangreichen Literatur aus den USA vgl. Über-blicksdarstellungen für interkulturelle Trainings von Kohls/Knight (1994), Fowler/ Mumford (1999) sowie Lan-dis/Bhagat (1995).

8 Trainingsveranstaltungen außerhalb des Arbeitsplatzes, die sowohl kulturübergreifend als kulturspezifisch zusammenge-setzt sein können. Methodisch sind sie überwiegend trainerorientiert/kognitiv und erfahrungsorientiert konzipiert. „On the job” bedeutet interkulturelles Coaching, Mediation und Teambuilding (vgl. Bolten 2007). In den vergangenen Jahren ist eine Entwicklung von Trainings off-the-job zu Trainings on-the-job zu beobachtenden. Die Gründe dieses Wandels hängen mit der größeren Effizienz und Praxisnähe bzw. mit dem integrativeren holistischeren Ansatz der trainings-on-the-job zusammen. Spätestens seit der Wende zum 21.Jahrhundert rücken Diskussionen um die Aufgabenbereiche und Methoden interkulturellen Coachings und interkultureller Mediation in den Brennpunkt des Forschungs- und allmählich auch des Praxisinteresses (vgl. Bolten 2005: 4).

9 Kumbruck/Derboven (2005) konstatieren für ihr Konzept des erfahrungsgeleiteten Lernens, dass ein handlungsleitendes Trai-ning nicht ohne kollektive Differenzen auskommen könne (vgl. a.a.O.: V).

10 Positiv hervorzuheben ist dazu die Studie von Bernd Geier (2000) der proklamiert, dass der Fokus der interkulturellen Aus- und Weiterbildung sich deutlicher auf den einzelnen Mitarbeiter oder auf die Führungskraft richten muss, und nicht auf die Cha-rakteristika der Landeskultur in der er (derzeit) lebt. Neben der Vermittlung von landesspezifischen, methodischen oder fachli-chen Kenntnissen gewinnen value-orientated key skills zuneh-mend an Bedeutung. Darunter werden diejenigen Fähigkeiten verstanden, die aufgrund von wertebasierten Haltungen und Einstellungen in interkulturellen managementnahen Kontexten die Grundlage für ein konflikt- und problemreduziertes Inter-agieren und Kommunizieren bilden. In der Praxis werden diese Fähigkeiten häufig vereinfacht als enablers, Metakompetenzen oder Metafähigkeiten bezeichnet (vgl. a.a.O.: 172-222).

11 Als ‚Überschneidungssituation’ bezeichne ich jegliche Interak-tionen der handelnden AkteurInnen der EZ, ohne mich dabei auf homogene Entitäten zu beziehen. Die Überschneidungssi-tuation leitet sich eher aus der Interaktion der „empfangenden“ und der sogenannten „gebenden“ Institution ab.

12 Als „Bestandteile“ der Differenz werden gewöhnlich Ras-se/Klasse/Geschlecht usw. angegeben (vgl. Bhabha 2000: 2).

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13 Ereignis wird verstanden als Struktur für ein kognitives sowie sinn- und bedeutungsstiftendes System, in dem die Auseinan-dersetzung mit sich selbst in Bezug auf die Frage der interkultu-rellen Kompetenz stattfindet.

14 Sämtliche Namen sind durch die Autorin anonymisiert. Na-men der Organisationen bzw. Arbeitsbereiche, in denen die Fachkräfte tätig waren oder sein werden sind ebenfalls aus Gründen der Anonymisierung durch Name der Organisatio-nen/Abteilung bzw. durch alternative Bezeichnungen des Ein-satzortes gekennzeichnet.

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Abstract

As a result of our research realized in the framework of the Erasmus Thematic Network (ERIC) we received serious indica-tions that neither the cultural contexts of technology, let alone intercultural issues are taken seriously in technological/scientific education and training. This is the more surprising since many technological and business failures have provided proof enough that technology does not exist independently of the cultures in which it operates. Cultural issues have an impact on the atti-tudes towards technology, a society’s willingness to accept technological and scientific development, and even on techno-logical development itself. While a great deal of research has been done on the social and environmental results of techno-logical development the relevance of culture for technology and of technology for culture have been much less explored. This paper presents the outcomes of the ERIC project and starts on a theoretical analysis of the views of the relationship between science/technology and their cultural contexts, the relevance of cultural factors in technological projects and the needs for cul-tural sensitivity in technology. On this base we outline the frame of a further research project which will try to apply the theoreti-cal results in higher education programs in technology and en-gineering. Our partner for this project will be a Master pro-gramme named Integrated Water Resource Management at the Institute for Technology in the Tropics at the Cologne Uni-versity of Applied Sciences, that started in autumn 2007 and which explicitly centres technology in cultural and intercultural contexts.

1. Einführung

Die folgenden Überlegungen sind Ergebnis und Fortführung eines Forschungsprojekts, an dem verschiedene Wissenschaftler mehrerer europäischer Hochschulen und Universitäten im Rah-men eines Erasmus Thematic Network (European Ressources for Intercultural Communication - ERIC) beteiligt waren. Dabei ging es um die Erforschung der Rolle der interkulturellen Kom-munikation in verschiedenen Wissenschaftsbereichen, wobei das Hauptaugenmerk auf den Humanwissenschaften lag.

Der relativ junge Forschungsbereich der Interkulturellen Kom-munikation (IK) hat sich in den vergangenen Jahren sehr schnell entwickelt und aufgrund seiner Zielstellungen und Inhalte viele Wissenschaftsgebiete erfasst, wodurch zum einen ein stärkerer interdisziplinärer Zugang und die Kooperation verschiedener Fachbereiche, zum anderen eine Aufgliederung in Subbereiche (wie Interkulturelle Philosophie, Interkulturelle Übersetzungs-

Brücken zwischen Inter -kulturel ler Kommunika-t ion und Technik

Angelika Hennecke

Professorin für Angewandte Sprach- und Übersetzungswissen-schaft, Fachhochschule Köln

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wissenschaft, Interkulturelle Germanistik etc.) bedingt wurden. Es herrscht ein Konsens darüber, dass die kulturelle Determi-niertheit von Handlungen und Interaktionen für alle Lebensbe-reiche eine immer größere Bedeutung erlangt und dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, Handlungsangebote und Lö-sungsmöglichkeiten für interkulturelle Konfliktsituationen zu erarbeiten. Besonders gut erforscht ist mittlerweile der Bereich der Interkulturellen Wirtschaftskommunikation, wo eine beacht-liche Zahl von Forschungsbeiträgen über Geschäftsverhandlun-gen, Auslandsvorbereitung, Personaltraining und Management-grundlagen für den interkulturellen Geschäftsverkehr existiert. In zum Teil eigenen Studiengängen oder Modulen bei den wirt-schaftswissenschaftlichen Ausbildungsgängen sollen die Studie-renden und künftigen Fachleute für kulturelle Systeme und Fak-toren sensibilisiert und trainiert werden.

Wir stellten dabei fest, dass jedoch der Bereich der Technik er-staunlicherweise von diesen Überlegungen kaum erfasst wird. Probleme der Technik oder des Techniktransfers blieben in den Kulturwissenschaften allgemein weitgehend unberücksichtigt (Beck 1997). Hermeking führt bezüglich der Nichtberücksichti-gung soziokultureller Faktoren in den Wirtschafts- und Ingeni-eurwissenschaften aus: „Die Vernachlässigung dieses Problem-feldes erscheint angesichts des hohen Anteils von Investitions-gütern sowohl am Handelsvolumen als auch an der Quote der Misserfolge im internationalen Geschäftsverkehr unverständ-lich“ (Hermeking 2001:16).

Dass die Berücksichtigung der unterschiedlichen Kulturen beim Techniktransfer, also der Kultur des Anbieter- und des Abneh-merlandes, aber ausschlaggebend ist, wird deutlich, wenn man sich die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung der Welt-wirtschaft vor Augen hält. Wir sehen uns zwei wesentlichen Herausforderungen gegenüber: Zum einen geht es vor allem für die Industriestaaten darum, ihren gegenwärtigen und zukünfti-gen Bedarf an Ressourcen zu decken und damit mit denjenigen Ländern zusammenzuarbeiten, die über diese Ressourcen ver-fügen. Zum anderen werden nur diejenigen Wirtschaften nach-haltig ihre Position auf dem Weltmarkt sicher können, denen es gelingt, die Globalisierung und die damit einhergehende inter-nationale Vernetzung effektiv zu nutzen. Ersteres hat mit Tech-nik und Techniktransfer, letzteres mit Kommunikation, genauer gesagt, interkultureller Kommunikation zu tun, und beide Berei-che sind wechselseitig miteinander verbunden.

Es gibt eine Reihe von Beispielen für Misserfolge bei Transfer-projekten, die aus einer Vielzahl von schwierigen Bedingungen beim Techniktransfer ins Ausland resultieren. Hermeking führt dazu aus:

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„Zu dieser Vielzahl an Erschwernisfaktoren zählen typischerweise etwa der erhöhte Transaktions- und Zeitaufwand durch die größere räumliche Distanz zwischen Anbieter und Abnehmerland, Verständigungsschwierigkeiten durch unterschiedliche Sprachen, verschiedene Rechtssysteme und Gesellschafts-strukturen, unterschiedliche klimatische, infrastrukturelle und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie allgemein meist nur als ‚Mentalitätsunterschiede’ bezeichnete, oft unterschätzte kulturelle Unterschiedlichkeiten der Transfer-partner“ (Hermeking 2001:13).

Die Praxis liefert eine Fülle von Beispielen für misslungenen Techniktransfer bzw. für das Scheitern von technischen Groß-projekten in anderen Ländern, bei denen gerade die diffusen und nicht genauer definierten „Mentalitätsunterschiede“ ent-scheidend sind. Allzu oft funktionieren technische Anlagen nicht wie erwartet, erreichen nicht die vorgesehene Auslastung oder stehen als „Entwicklungsruine“ gänzlich still.

Dazu ein Beispiel: Bei einem Entwicklungsprojekt in Indonesien war das Ziel, Häuser bzw. Hütten zu elektrifizieren, unter Ein-satz modernster Technik für erneuerbare Energien. Die Elektrifi-zierung sollte mit so genannten Solar Home Systems (Photovol-taikmodul, Laderegler, Batterie). Diese Technik wurde so be-rechnet, dass als Verbraucher z.B. zwei Lampen und ein Radio betrieben werden konnten. Europäische Ingenieure entwickel-ten gewissenhaft diese Systeme und erprobten sie in viele Tests. Schließlich wurden die Solaranlagen in großer Stückzahl nach Indonesien gebracht. Nach weniger als einem Jahr kam die Meldung, dass alle Systeme defekt seien! Es wurde eine Delega-tion der Entwicklungsorganisation nach Indonesien geschickt, um vor Ort nach den Ursachen zu suchen. Die europäischen Ingenieure trauten ihren Augen nicht: Die Bewohner hatten die Lampen nicht in ihren Hütten installiert, sondern am Hüttenein-gang. Dort waren sie die ganze Nacht in Betrieb, mit der Kon-sequenz, dass die Batterien tiefentladen waren und somit ihr Lebensdauerende nach kürzester Zeit erreicht hatten. Grund dieser seltsamen Beleuchtungsvariante war, dass durch die Hel-ligkeit böse Geister vertrieben werden sollten.

Der Umgang mit der neuen Technik wurde also im Empfänger-land von gänzlich anderen Faktoren geprägt als erwartet. Reli-giöse Überzeugungen der Menschen in Indonesien wirkten als soziokultureller Faktor, so dass die Haltung zu dieser neuen Technik und die von ihr erwartete Funktion im Gegensatz zu den Zielen der Entwicklungszusammenarbeit stand (Stadler 2002).

Erfolgreicher Techniktransfer verlangt aber gerade nach der Bewältigung dieser Schwierigkeiten und der Vermeidung von Konflikten zwischen den Transferpartnern (Hermeking 2001). Ein besonders hohes Potential für Misserfolge liefert nach der zeitlich begrenzten Phase der Montage einer Maschine oder Anlage im Abnehmerland die Phase des nachhaltigen Funktio-

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nierens. Der dauerhafte Betrieb einer Anlage ist geprägt durch den Umgang mit der Technik durch die Zuständigen im Emp-fängerland. Mit dem Betrieb der Technik sind neben der Aneig-nung und Kenntnis spezifischer technischer Wissensinhalte vor allem auch eine Reihe von Werten, Einstellungen, Emotionen und kulturell determinierten Handlungs- und Verhaltensweisen verbunden (Hermeking 2001). Neben den hohen materiellen Verlusten und der Beschädigung der Reputation der Transfer-partner können solche gescheiterten Technikprojekte im Ex-tremfall sogar bis hin zu sozialen Unruhen oder internationalen politischen Verstimmungen führen (Kumar / Steinmann 1982). Die Frage nach der Kulturbedingtheit des Umganges mit Tech-nik bzw. nach den Auswirkungen der Tatsache, dass Transakti-ons- oder Projektpartner Angehörige unterschiedlicher Kulturen sind, stellt sich also nicht nur im Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Erweiterung der Forschungsperspektive, sondern sie kann gerade im Bereich des Techniktransfers tief greifende politische und soziale Konsequenzen haben. Besonders die Erfahrungen aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sowie die Fehlschläge bei der Gründung international tätiger Unternehmen im Zuge der Globalisierung müssen zwangsläufig langsam zu einer Neuorientierung führen: „Ingesamt ist in den sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen auf-grund fortdauernder Misserfolge sowohl beim entwicklungspolitischen als auch – wenngleich mit Verzögerung – beim industriellen Techniktransfer wäh-rend der vergangenen Jahrzehnte eine tendenzielle Abkehr von einer rein technologisch-mechanistischen Betrachtung der Transferdurchführung zugun-sten einer stärkeren Berücksichtigung der Betriebsphase, einschließlich der Menschen, die dabei mit Technik umgehen, beobachtbar“ (Hermeking 2001:17).

Wenngleich zögerliche Veränderungen bezüglich einer einseitig materiellen, auf die so genannten „harten“ Faktoren konzen-trierten Herangehensweise sichtbar werden, ist das Problem-bewusstsein für interkulturelle Fragestellungen in den techni-schen Wissenschaften bzw. für eine notwendige Kooperation und interdisziplinäre Arbeitsweise zwischen Kultur- und Ingeni-eurswissenschaften noch unvollständig entwickelt. Die Vielzahl möglicher kulturbedingter Probleme und Schwierigkeiten beim Techniktransfer und allen damit verbundenen Bereichen bietet in Zukunft noch ein weites Betätigungsfeld für das Fach der In-terkulturellen Kommunikation.

Dies war für uns der Anlass, ein neues Projekt auf den Weg zu bringen, um den Zusammenhang zwischen Kultur und Technik zu beleuchten und schließlich daraus Implikationen für die Aus-bildung von Studierenden technischer Bereiche sowie für die Konzipierung von technischen Ausbildungsgängen abzuleiten. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, den Zusammen-hang zwischen Kultur, Kommunikation und Technik zu skizzie-

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ren, wobei wir zunächst unsere theoretische Einordnung der genannten Begriffe erörtern. Zur Illustration dieses Zusammen-hangs und der Bedeutung soziokultureller und bisher weitge-hend vernachlässigter ‚weicher’ Faktoren gehen wir dabei vom Paradigmenwechsel in der Entwicklungszusammenarbeit aus. Schließlich sollen darauf aufbauend die Ziele des neuen For-schungsprojekts skizziert werden und exemplarisch anhand des neuen Studienganges Integrated Water Ressource Manage-ment am Institut für Tropentechnologie der Fachhochschule Köln spezifiziert werden.

2. Kultur – Text – Kommunikation

Durch die Vielfalt der in den letzten Jahren im Bereich der IK entwickelten Modelle und Ansätze ergibt sich eine gewisse Schwierigkeit bei der Definition der zentralen Begriffe. Auf-grund der Besonderheiten des Bereichs Technik und der damit verbundenen kommunikativen Prozesse, vor allem zur Erfassung der komplexen Zeichenprozesse zwischen Subjekt (Mensch) und Objekt (Maschinen oder Anlagen) reicht ein rein linguistischer Zugriff nicht aus. Wir gehen deshalb von der Semiotik als unifi-zierende Basis zur Beschreibung der komplexen Begriffe Kultur, Kommunikation und Technik sowie den zwischen ihnen beste-henden Wechselverhältnissen aus und lehnen uns bei der Defi-nition von Kultur an Posner (1991) an. Wir gehen davon aus, dass ‚Kultur’ Forschungsobjekt verschiedener Wissenschaftsge-biete sein kann (vgl. auch Schröder / Hennecke 2002). Die Sozi-alwissenschaften befassen sich mit der sozialen Seite der Kultur (Gesellschaft), die Geisteswissenschaften mit der materialen Seite (Zivilisation), und die sog. Normwissenschaften mit der mentalen Seite der Kultur (Mentalität).

Aus handlungstheoretischer Sicht lässt sich Kultur folgenderma-ßen definieren:

“Kultur ist ein universelles, für eine Nation, Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen gebildet. Es beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller Mitglieder und legt demzufolge deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft, Organisation oder Gruppe fest. Das Orien-tierungssystem ermöglicht den Mitgliedern ihre eigene Umweltbewältigung. Das so strukturierte Handlungsfeld reicht von den geschaffenen Objekten bis hin zu Institutionen, Ideen und Werten” (Thomas 1994:76, in Anlehnung an Kröber / Kluckholm 1952 und Boesch 1952).

Damit liegt eine Definition vor, die weit genug ist, um die von der Gesellschaft geschaffenen Artefakte als auch die mentale Seite der Gemeinschaft als strukturiertes, spezifisches Orientie-rungssystem zu verstehen und damit eine Verbindung zwischen der sozialen, materialen und mentalen Seite von Kultur herzu-stellen.

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Als zentrale Größe dieses Systems definiert Thomas die typi-schen zentralen Kulturstandards. Typische zentrale Kulturstan-dards sind „Orientierungen des Wahrnehmens, Denkens und Handeln, die von der Mehrzahl der Mitglieder eine bestimmten Kultur als normal, typisch oder verbindlich angesehen werden, und weite Bereiche des Denkens, Wertens und Handelns regu-lieren“ (Thomas 1994:76).

Der Einfluss dieser typischen zentralen Kulturstandards wird erst deutlich, wenn Handlungen in interkulturellen Interaktionen fehlschlagen. Treffen zwei verschiedenen Orientierungssysteme aufeinander, spricht man von einer „kulturellen Überschnei-dungssituation“ (Rieger 1992:11). Oft reagieren die Beteiligten in solchen Situationen ethnozentrisch (Brislin 1990). Das Verhal-ten des Partners wird auf das eigene Orientierungssystem proji-ziert und an den eigenen Standards gemessen. Dies ist die Ur-sache für Missverständnisse oder das Fehlschlagen der Kommu-nikation. Die Vermittlung von interkultureller Kompetenz in der Ausbildung von Fachleuten muss daher auf die Bewusstma-chung dieser verschiedenen Systeme und Standards und deren Interpretation gerichtet sein.

Es gibt eine Vielzahl solcher Wertorientierungen bzw. typischer zentraler Kulturstandards, die in interkulturellen Kontaktsitua-tionen des Techniktransfers wirken und maßgeblich am Erfolg oder Misserfolg eines Projektes beteiligt sind. Hermeking (2001) betrachtet Unterschiede in der Leistungsorientierung, der Grup-pensolidarität, der Hierarchie und der Zeitorientierung in ver-schiedenen Kulturräumen. Auch hierzu ein Beispiel:

„Hierarchie“ ist ein Element der Wertorientierungskategorie „Beziehung der Menschen zueinander“ (Lane / DiStefano 1992:36). Hinsichtlich ihrer Ausprägung, ihrer Akzeptanz und des Umganges mit ihr lassen sich deutliche kulturelle Unter-schiede ausmachen (Hofstede 1993). Für arabische Länder weist Hofstedes Vergleich eine sehr stark ausgeprägte Hierar-chie und hohe Werte des ‚Machtdistanzindex’, für Deutschland hingegen relativ niedrige Werte auf. Hermeking (2001) führt dazu das Beispiel eines Krankenhausprojektes im Jemen an. Im Jahre 1981 wurde ein deutsches Ingenieurbüro vom jemeniti-schen Gesundheitsministerium mit der Planung und Bauleitung der schlüsselfertigen Errichtung eines Krankenhauses in der Hauptstadt Sana beauftragt. Bestandteil war die Integration modernster deutscher medizintechnischer Geräte, auf ausdrück-lichen Wunsch der jemenitischen Seite. Nach der Übergabe des Krankenhauses war das deutsche Büro drei weitere Jahre mit der Ingangsetzung und Betreuung des Krankenhausbetriebes einschließlich der Einweisung der Ärzte in die neue Technik be-traut. Dies erwies sich weitaus schwieriger als die Phase der Er-richtung und komplizierter als angenommen. Grund dafür war

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u.a. das andere ‚Hierarchieverhältnis’ und die daraus abgeleite-ten Handlungs- und Denkschemata der jemenitischen Ärzte. Sie erachteten dem Umgang mit dieser Technik als nicht ihrem Sta-tus angemessen und verstießen gegen die Betriebsvorschriften, indem sie beispielsweise in Straßenkleidung durch kritische Hy-gienebereiche der neuen Klinik gingen. Ihren hohen Status woll-ten die Ärzte durch den absichtlichen Verstoß gegen die neuen Regeln behaupten: „Macht geht vor Recht“ (Hofstede 1993:53). Des Weiteren ‚delegierten’ sie untere Angestellte des Kranken-hauses zu den eigentlich für sie vorgesehenen technischen Ein-weisungen, welchen das Know-how zum Betrieb der Geräte völlig fehlte. Die Ärzte betrachteten es jedoch als ihrem Status unangemessen, sich mit solchen Dingen abzugeben. In einem Fall zerstörte ein angesehener Arzt der Dentalstation sogar ab-sichtlich die neuen Geräte, weil er aufgrund mangelnder Kennt-nisse damit nicht zurecht kam. Sein Hierarchieverständnis er-laubte ihm nicht, seine Wissensdefizite zuzugeben (Hermeking 2001).

Wertorientierungen, typische zentrale Kulturstandards leiten also wesentlich das Handeln der Betroffenen in interkulturellen Kontexten.1

2.1. Die semiotische Perspektive auf Kultur

Die so definierten Orientierungssysteme können aus semioti-scher Perspektive auch als zeichenhaft strukturierte und kulturell spezifische Systeme ausgefasst werden:

“Kulturen sind Zeichensysteme; sie erfordern von den Lebewesen die Fähigkeit zum Vollzug von Zeichenprozessen spezieller Art und bringen ihnen den Vor-teil, dass sie bei der Bewältigung ihrer Lebensprobleme zusätzlich zu der durch den genetischen Kode vererbten Information auf die Lebenserfahrungen ihrer unmittelbaren Vorfahren und Zeitgenossen zurückgreifen können“ (Posner 1991:39).

Die wesentlichen Zeichenprozesse vollziehen sich auf der Grund-lage und mit Hilfe von Kodes. In interkulturellen Kontaktsitua-tionen verfügen die Partner über ein unterschiedliches Inventar an Kodes, derer sie sich bedienen und die sie zur Deutung der intentional benutzten Zeichen heranziehen. Streeck (1985:117) spricht von kommunikativen Kodes auch als „Ausprägung ethni-scher Identitätsmarken“. Durch unterschiedliche Kodes und de-ren Verwendung in der Interaktion können kulturelle Verhält-nisse und Beziehungen sowie auch Abgrenzungen und Diffe-renzierungen reproduziert und schließlich stereotypisiert wer-den. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, über diese Gren-zen hinweg zu Gemeinsamkeiten zu finden, die die Kommuni-kation tragen. Voraussetzung dafür ist die Bewusstheit und Sensibilisierung für das „Andere“ gegenüber dem „Eigenen“ und umgekehrt.

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Das zentrale Element der Kommunikation sind Texte. Es reicht für unsere Zwecke jedoch nicht aus, Texte im herkömmlichen linguistischen Sinne zu definieren, da sonst die komplexen Zei-chenprozesse in der technischen Kommunikation auf mehreren Ebenen – Kommunikation zwischen Subjekten als Angehörige verschiedener Kulturen, Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt u.a. – nicht erfasst und beschrieben werden können. Nach den obigen Ausführungen kann Textverstehen durch die dazu erforderliche Benutzung kulturell determinierter Kodes auch als die Dekodierung von Kultur verstanden werden. Wir verstehen unter Text folgendes:

„Wenn etwas ein Artefakt ist und in einer Kultur nicht nur eine Funktion (ei-nen Standardzweck), sondern auch eine (kodierte) Bedeutung hat, so nennen wir es Text dieser Kultur. Ob ein Gegenstand ein Text ist, hängt also von drei Bedingungen ab:

Es muss ein Artefakt, d.h. Ergebnis absichtlichen Verhaltens sein.

Er muss ein Instrument sein, d.h. es muss eine Kultur geben, in der eine Kon-vention herrscht, die ihm (mindestens) eine Funktion verleiht.

Er muss kodiert sein, d.h. es muss eine Kultur geben, in der ein Kode gilt, der ihm ein oder mehrere Signifikate zuordnet” (Posner 1991:46).

Somit können wir jetzt Texte nicht nur im herkömmlichen Sinne als aus sprachlichen Zeichen bestehende, mündlich oder schrift-lich vorliegende Einheiten verstehen, sondern Texte sind alle Ergebnisse absichtlichen Verhaltens. Texte können also sprach-lich oder anders kodierte Artefakte sein, mit linearer oder nicht-linearer, diskreter oder kontinuierlicher Signifikatenstruktur (Posner 1991).

Somit lassen sich auch Gebäude, eine Stadt, und eben vor allem technische Produkte, Maschinen und Anlagen als Text verste-hen. Wenn wir oben Textverstehen als Dekodierung von Kultur definiert haben, ergibt sich augenscheinlich die kulturelle Di-mension des Umgangs mit Technik. Kultur ist nach dieser Auf-fassung nichts anderes als eine Menge von Texten, die sich strukturiert in einem bestimmten, spezifischen System ordnen und zu deren Verständnis eine Menge von elaborierten Kodes notwendig ist. Da diese Kodes kulturspezifisch und zum Ver-ständnis aller Texte des Systems erforderlich sind, kann man daraus schließen, dass alles Handeln innerhalb des eigenen Sy-stems und im Kontakt mit anderen Systemen von den zugrunde liegenden Kodes, bzw. zentralen typischen Kulturstandards ge-leitet wird. Somit kann man aus dieser semiotischen Sicht sa-gen, dass die ‚mentale Kultur einer Gesellschaft’ nichts anderes ist als ein System von Zeichenkonventionen. Jede Mentalität ist als Summe von Kodes aufzufassen. Auf diese Kodes sind die Partner in jeglicher Interaktion – sowohl intra- als auch interkul-tureller Art – angewiesen. Die Art der Kodes, ihre Menge und

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Elaborierung bestimmen die Mentalität und damit die Art und Funktion der Werte, Ideale, Normen und Denkschemata. Die eingangs beschriebenen drei Seiten von Kultur lassen sich nun wie folgt zueinander in Beziehung setzen:

“Wenn eine Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzern, eine Zivilisation als Menge von Texten und eine Mentalität als Menge von Kodes definiert werden kann, so sind diese drei Bereiche notwendig miteinander verbunden, denn Zeichenbenutzer sind auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wol-len. Ein kulturelles Zeichensystem besteht aus individuellen und kollektiven Zeichenbenutzern, die Texte produzieren, in denen mittels konventioneller Kodes Botschaften formuliert sind, welche den Zeichenbenutzern die Bewälti-gung ihrer Lebensprobleme ermöglichen” (Posner 1991:53-54).

3. Der Bereich Technik als System

Innerhalb des Gesamtsystems einer Kultur können verschiedene soziale Subsysteme unterschieden werden. Nach Luhmann (1988) differenziert sich eine Gesellschaft in verschiedene auto-nom funktionierende soziale Systeme. Dieses System der Auf-gliederung in soziale Subsysteme impliziert, dass jedes System mit spezifischen, ihm eigenen Kodes operiert. Grundlegende Bedingung für die Autonomie des Systems ist, dass es eine ei-gene Perspektive von sich hat und seine Umgebung beobach-tet. Das bedeutet, ein so charakterisiertes System nimmt den „output“ anderer Systeme auf und liefert ihnen zugleich einen „input“. Die verschiedenen Subbereiche eines kulturellen Sy-stems, wie z.B. Wissenschaft, Politik, Recht, Technik usw. ste-hen also miteinander in komplexer Wechselwirkung. Für den Bereich der Technik kann man feststellen, dass er den output aus sehr vielen anderen Systemen, wie z.B. aus dem System der Wissenschaft, empfängt und gleichermaßen einen umfassenden input liefert. Der input des Systems Technik erfolgt rückwirkend z.B. auf Wissenschaft, Medien, Werbung, Politik und nicht zu-letzt Bildung.

Luhmann unterscheidet als guiding difference der Systeme ei-nen binären Kode. So gilt z.B. für die Wissenschaft der Kode wahr/falsch, für das Rechtssystem der Kode richtig/nicht richtig und für die Technik könnte man den Kode funktio-niert/funktioniert nicht annehmen.

In einer interkulturellen Kontaktsituation treten nun die einzel-nen Systeme mit anderen Systemen einer anderen Kultur in Wechselwirkung. Soll ein Text in der anderen Kultur wie in der eigenen ‚funktionieren’, so ist das System gezwungen, den output dieser kulturell verschiedenen Systeme anzunehmen und seinerseits einen input zu liefern, der sich mit den anderen kul-turellen Kodes verträgt. Die vom System produzierten Texte (Ar-tefakte) werden in einer anderen Kulturgemeinschaft imple-mentiert. Da eine Wechselwirkung mit den dort vorhandenen

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anderen sozialen Subsystemen, wie z.B. Recht, Religion, Wirt-schaft zwingend erfolgt, welche alle ihre eigenen Texte nach den vorherrschenden kulturellen Kodes produzieren, wird deut-lich, dass das ‚Funktionieren’ von Technik in der anderen Kultur auf die Einordnung und das Verständnis der dort vorhandenen Kodes angewiesen ist. Die verschiedenen Kodes beider Systeme treten miteinander in eine Wechselbeziehung. Von der Art die-ser Beziehung hängt letztlich der erfolgreiche Transfer ab.

Zu klären ist nun noch die Art und Weise, in der die Kodes der verschiedenen Systeme miteinander in Beziehung treten. In ei-ner wie auch immer gearteten Interaktion zwischen zwei Kultu-ren werden nach unserer Definition Texte ausgetauscht, die sich aus sprachlichen oder nicht sprachlichen Zeichen aufbauen und zu deren Verständnis bestimmte Kodes notwendig sind. Dieser Austausch von Zeichen, der von einer spezifischen Intention der Interaktionspartner geleitet wird, ist Kommunikation. Jeder Be-reich, bzw. jedes Subsystem eines Kultursystems entwickelt ei-gene kommunikative Standards, die sich letztlich in einem Spe-zialdiskurs ausdrücken. Diese Spezialdiskurse sind u.a. der For-schungsbereich der Fachsprachenforschung. Dabei arbeiteten die Diskurse mit kulturellen kollektiven Symbolen, welche ihrer-seits ein System bilden und Grundlage des Eindrucks kultureller Einheitlichkeit sind und damit den Gesamtdiskurs zusammenhal-ten. Dabei sind die Kollektivsymbole des eigenen Systems meist positiv konnotiert, die eines eventuellen Gegensystems sind oft negativ besetzt. Dies erklärt, warum ein Kampf zwischen Kultu-ren häufig auf der symbolischen Ebene stattfindet (vgl. Karrika-turenstreit).

Nachdem wir den Zusammenhang zwischen Technik, Kultur und Kommunikation dargestellt haben, soll im folgenden ver-sucht werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit die verschie-denen Ebenen zu beschreiben, auf denen sich dieses wechsel-seitige Verhältnis vollzieht, um daraus schließlich Ansatzpunkte für eine wissenschaftliche Beschäftigung durch die Interkulturel-le Kommunikationsforschung abzuleiten und zukünftigen For-schungsbedarf aufzuzeigen.

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Abb. 1: Sprachlich-kommunikative Ebene

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Abb. 2: Außersprachliche Ebene

Diskursive oder kommunikative Praxen stellen nach unserer Auf-fassung keine besonderen Tätigkeiten im Unterschied etwa zu „praktischen“ Tätigkeiten dar. Ausgehend von unserer Textde-finition können wir sagen, dass die sprachlich-schriftliche Seite und die materielle Seite zwei miteinander verbundene Aspekte einer insgesamt diskursiven Praxis sind. Fruchtbare Ansätze hierzu liefert u.a. die Kritische Diskursanalyse (Jäger 2001). Jä-ger erläutert diesen Zusammenhang am Beispiel eines Haus-baus:

“Der Eindruck, dass das denkerische Planen eines Hauses etwas prinzipiell anderes wäre als das Bauen eines Hauses kann nur daher rühren, dass diese Tätigkeiten historisch voneinander getrennt wurden, nach Maßgabe einer Arbeitsteiligkeit, die merkwürdigerweise Hand- und Kopfarbeit separiert hat“ (Jäger 2001:147).

Es handelt sich zwar um teilweise unterschiedliche Tätigkeiten, die aber nicht prinzipiell unterschiedlich sind. Nach Jäger besitzt der Diskurs eine eigene Materialität und die Wirklichkeit wird nach Maßgabe der Diskurse gestaltet. Umgekehrt wirkt die ma-terielle Objektwelt auf die Diskurse zurück. Diskurs wird auf die Ebene des Umgangs mit Wissen gesetzt, das allem Sprechen, Denken und Handeln vorausgesetzt ist und sich andererseits durch die Praxis erweitert und bereichert (Jäger 2001).

Wenn diskursive, sprachliche und praktische Tätigkeit also nicht voneinander zu trennen sind und keine zwei prinzipiell verschie-denen Bereiche darstellen, ergibt sich umso stärker die Forde-rung nach der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Technik und Interkultureller Kommunikation.

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Das oben angesprochene Wissen besteht aus Kenntnissen als propositionales Element, sowie auch aus kulturellen Traditionen, Werten, Überzeugungen, Denkschemata als positionales Ele-ment. Es ist die eingangs gekennzeichnete mentale Kultur einer Gesellschaft (Mentalität als Summe aller Kodes). Wenn die ge-sellschaftliche Praxis davon nun gesteuert wird, bedeutet dies, dass allen hier im Bereich der Technik und des Techniktransfers betrachteten kommunikativen Prozessen das jeweilige kulturelle System mit den entsprechenden zentralen typischen Kultur-standards zugrunde liegt. Werte, Einstellungen, religiöse Über-zeugungen, Formen der Wahrnehmung etc. steuern quasi aus einer Tiefenstruktur heraus alle diskursiven Praktiken einer Kul-turgemeinschaft, sowohl sprachliche als auch nicht sprachliche.

Abb. 3: Wechselwirkung kultureller Systeme

Die oben theoretisch erläuterten Zusammenhänge sollen im Folgenden an Veränderungen in der Entwicklungspolitik exem-plarisch illustriert werden.

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3.1. Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik

Die gesellschaftliche Praxis, das Handeln der in sie gebundenen Menschen und die sich in und durch dieses Handeln ergeben-den Probleme sind generell der Motor jeglicher wissenschaftli-cher Forschung, deren Aufgabe es ist, Lösungswege aufzuzei-gen und dazu beizutragen, dass die Subjekte ihre Lebenspro-bleme besser bewältigen können. Gleiches gilt – sogar in ver-stärktem Maße – für den Bereich der Entwicklungszusammen-arbeit. Die Evaluationen der entwicklungspolitischen Maßnah-men durch Organisationen wie die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) in Deutschland und einer Reihe weiterer Organisationen haben gezeigt, dass anfängliche Strategien in der Entwicklungspolitik gescheitert sind. Um zukünftig Fehler zu vermeiden und um eine wirklich nachhaltige Entwicklung in al-len Regionen zu erreichen, müssen Strategieänderungen von wissenschaftlicher Forschung begleitet, untermauert und sogar vorgegeben werden. Gerade in der Entwicklungszusammenar-beit ist der dauerhafte Erfolg jedes Techniktransfers das erklärte Ziel. Transferprojekte werden hier grundsätzlich evaluiert und Misserfolge analysiert. Die meisten Empfehlungen für neue Pro-jekte beruhen auf den Erfahrungen vorausgegangener Fehl-schläge. Die Wissenschaft ist hier derzeit höchstens in einer nachbereitenden oder begleitenden Funktion. Das Panorama der Entwicklungszusammenarbeit zeigt jedoch mit großer Deut-lichkeit, dass in Zukunft eine Vorreiterrolle gefragt ist. Herme-king (2001) unterscheidet drei Phasen der Problemerkennung und ihrer Bewältigung in der Entwicklungszusammenarbeit. In den 50er und 60er Jahren sollten die so genannten Entwick-lungsländer mit Hilfe des Transfers moderner westlicher Technik und finanzieller Hilfe ihren wirtschaftlichen und technischen Rückstand aufholen. Verbunden damit waren Schulungen der Benutzer zur Gewöhnung an die transferierte Technik. Trotz-dem stellte sich meist weder ein erfolgreicher Betrieb der Tech-nik noch der erwartete Aufschwung ein (vgl. auch Kolland 1988). Deshalb erfolgte in den 70er Jahren die Anwendung des Konzepts der „angepassten Technologie“, demzufolge „der Transfer von Technik und dem damit verbundenen technischen ‚Know How’ nicht mehr pauschal an den westlichen Standards orientiert erfolgen sollte, um wachsende Abhängigkeiten der Entwicklungsländer als Folge fehlgeschlagener technischer Transfers zu vermeiden“ (Hermeking 2001:15). Dies bedeutete eine erste Abkehr von der bis dahin vorherrschenden üblichen Form des ethnozentristischen Techniktransfers. Jedoch gilt wei-terhin, dass zwischen dem Wunsch nach Fortschritt einerseits und der regionalspezifischen Anpassung sowie der unter Um-ständen notwendigen Modifikation westlicher Technikmodelle unter den Partnern noch immer große Differenzen bestehen (Schmitz 1982). In den 80er Jahren wurde dann verstärkt auf

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die ‚soziale Verträglichkeit’ oder ‚Akzeptanz’ der Technik im Empfängerland hingewiesen. Hermeking (2001:16) führt dazu aus: „Dieses bis heute aktuelle Konzept lässt bereits die gestie-gene Bedeutung des Einflusses kultureller Werthaltungen, Nor-men und Einstellungen als Hintergrundfaktoren des Umgangs mit Technik bei ihrem Betrieb im Einsatzland erkennen.“

Die Vernachlässigung dieser weichen, soziokulturellen Faktoren hat in den letzten Jahren zu schmerzlichen Erfahrungen geführt, die von ungeheurer politischer Tragweite sind und an denen nochmals deutlich wird, dass eine Vernachlässigung kulturwis-senschaftlicher Aspekte bei politischen und wirtschaftlichen Ent-scheidungen weit reichende Konsequenzen nach sich ziehen kann. Es wäre unberechtigt, die westliche Entwicklungspolitik als gescheitert zu kennzeichnen. Fakt ist jedoch auch, dass an-stelle eines Miteinanders und eines gegenseitigen Verständnis-ses eine Situation eingetreten ist, in der sich Kulturen gegensei-tig als Bedrohung wahrnehmen. Diese Polarisierung ist beson-ders augenscheinlich zwischen der „westlichen“ und der „isla-mischen Welt“. Der Westen und der Islam sind zu Identifikati-onspolen geworden (Jammal 2004, Jammal 2007). Maßgeblich genährt wurde diese Art der Wahrnehmung durch den 11. Sep-tember 2001. Der 11. September ist gleichzeitig das traurigste Beispiel dafür, inwiefern Technik als Symbol für Kulturen steht und entweder zu ihrer Annäherung oder zu ihrer Polarisierung beitragen kann. Herausragende technische Leistungen, Bau-werke oder Projekte können innerhalb einer Kultur zu einem positiven kollektiven Symbol werden und Fortschritt, Wohlstand oder auch Überlegenheit über andere Kulturen symbolisieren. Umgekehrt können sie bei einer Situation der kulturelle Polari-sierung auch für die jeweilige Gegenkultur zum Symbol der Be-drohung werden. Mit den Twin Towers in New York wurde das nationale Symbol der Vereinigten Staaten von Amerika für Überlegenheit und Macht getroffen. Zeichen einer Kultur, wozu gerade technische Artefakte gehören, können als Symbole für religiöse oder weltanschauliche Inhalte stehen und im Wider-spruch zu eigenen Werten stehen. Jammal sagt zur symboli-schen Bedrohungswahrnehmung:

“Sie manifestiert sich in Konflikten über religiösen Glauben oder weltanschau-liche Überzeugungen. Sie gründet auf der Wahrnehmung von Differenzen, die im Extremfall grundsätzlich sein können und dann in der Wahrnehmung der Betroffenen das eigene Handeln schlechthin bis zu einer nicht hinnehmbaren Weise einengen” (Jammal 2007).

Die Anfang der 90er Jahre von Samuel Huntington aufgestellte These vom Clash of Civilizations hatte eine gewisse self-fulfilling-prophecy-Wirkung. Durch den öffentlichen medialen Diskurs wurden und werden gegenseitige Feindbilder konstruiert. Das eigene System ist dabei mit positiv konnotierten Kollektivsymbo-len besetzt, während das Gegensystem mit Symbolen ausgefüllt

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wird, die negativ konnotiert sind und denen jeglicher Subjekt-status abgesprochen wird (Link 1982).

Diese Polarisierung und Bedrohungswahrnehmung hat natürlich auch Auswirkungen auf die Entwicklungszusammenarbeit (EZ).

Jammal (2007) unterscheidet ähnlich wie andere Autoren ver-schiedene Etappen in der EZ; er spricht jedoch direkt von einem Paradigmenwechsel, von einer „Vermeidungsstrategie“ hin zu einer „Aushandlungsstrategie“. Die erste Phase, gekennzeichnet von der Vermeidungsstrategie, zeichnete sich dadurch aus, dass man in erster Linie versuchte, die Handlungsfreiheit in den be-treffenden Ländern zu erweitern (vgl. auch Dahrendorf 2003). Größere Handlungsfreiheit sollte vor allem durch die Erweite-rung des Angebots an Wahloptionen – also mehr Schulen, er-weitertes Straßennetz, Kraftwerke etc. – ermöglicht werden. Mit der Zeit richtete man das Augenmerk aus den Erfahrungen mit Misserfolgen zunehmend auf die Wahlchancen, also die Möglichkeiten, in den entsprechenden Ländern auch an den Optionen teilhaben zu können. Der Bau von Schulen allein er-möglichte Mädchen in manchen Ländern noch nicht automa-tisch die Teilnahme daran: “Mit der Aufnahme der Wahlchan-cen begann die EZ sich implizit und geradezu verstohlen an das heikle Thema der soziokulturellen Faktoren in den Partnerlän-dern heranzuwagen“ (Dahrendorf 2003).

Die soziokulturellen Regeln selbst wurden jedoch nicht angeta-stet, da man dies als nicht legitime Intervention verstand. Es bestand also eine Vermeidungsstrategie im Bezug auf soziokul-turelle Faktoren. Diese Vermeidungsstrategie kann vielleicht auch eine Erklärung dafür sein, warum sich die Sozial- und Kul-turwissenschaften so wenig mit dem Verhältnis zwischen Tech-nik und Kultur auseinander setzten.

Spätestens seit dem 11. September hat sich dies verändert. Werte, Normen und religiöse Überzeugungen werden nunmehr als Hauptkraft in interkulturellen Konstellationen verschiedener Art betrachtet. Über eine direkte Zusammenarbeit mit z.B. isla-mischen Institutionen begann eine Veränderung, die Jammal als „Aushandlungsstrategie“ bezeichnet. In Pakistan beispielsweise vermittelt die GTZ zwischen einer islamisch regierten Grenzpro-vinz im Nordwesten des Landes und dem Federal Ministry of Education in Sachen Lehrpläne. Der Wechsel von der Vermei-dungs- zur Aushandlungsstrategie ist schlichtweg für viele Or-ganisationen und Institutionen eine politische Notwendigkeit, zu der es kaum Alternativen gibt. „Die Kunst der Aushandlung besteht darin, Werte und Normen auszuhandeln, ohne dabei einem Werterelativismus zu verfallen“ (Jammal 2007). Die Chancen, die sich dadurch ergeben, liegen vor allem darin, in der Praxis solch simplifizierende und stereotypisierende Eintei-lungen von Kulturen wie von Huntington und Moisi2 zu wider-

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legen und über den Weg der Aushandlung zu einer erneuten Annäherung zu gelangen. Jammal plädiert dafür, weder in ei-nen Werterelativismus zu verfallen, noch Prinzipienreiterei zu betreiben, denn Kultur ist immer Identität und Differenz im glei-chen Atemzug. Angesichts der veränderten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Bedingungen scheint auch uns dies die ein-zig vernünftige Alternative im Umgang der Kulturen miteinan-der zu sein. Die Chancen dieses Paradigmenwechsels gilt es also zu nutzen, und zwar nicht nur in der EZ. Dabei besteht die Kunst darin, in entsprechenden Kontakt- und Konfliktsituatio-nen den richtigen „Stategiemix“ zu finden, der sich zwischen Vermeidung, Aushandlung, Anpassung und Konfrontation an-siedelt (Jammal / Schwegler 2007).

Aus dieser letzten Feststellung ist ableitbar, dass eine solcher Strategiemix, der in interkulturellen Konfliktsituationen zur An-wendung gelangen soll, weitaus schwieriger herzustellen ist als eine eindeutige Vorgabe wie noch in den 50er oder 60er Jah-ren. Das bedeutet gleichermaßen, dass die Anforderungen an diejenigen, die in diesen Bereichen – im weitesten Sinne also im Bereich des Techniktransfers und der wirtschaftlichen und tech-nischen Zusammenarbeit – mit anderen Ländern tätig werden wollen, über signifikant größere kulturelle Kenntnisse und Kompetenzen verfügen müssen als noch vor einigen Jahren. Daraus ergeben sich mit großem Nachdruck neue Anforderun-gen an die Ausbildungsprofile an unseren Hochschulen und Universitäten und an die Kulturwissenschaften, deren Tätig-keitsfeld eben jene soziokulturellen Faktoren sind, welche aus-schlaggebend für die richtige Strategieentscheidung im konkre-ten Fall sind. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, interkulturel-le Kommunikation zu einem unabdingbaren Bestandteil der Techniker- und Ingenieurausbildung zu machen.

3.2. Der Studiengang Integrated Water Resources Management am Institut für Tropentechnologie der Fachhochschule Köln

Seit dem Wintersemester 2007/2008 gibt es am Institut für Tropentechnologie der Fachhochschule Köln in Zusammenarbeit mit dem Water and Environmental Research and Study Center der University of Jordan, Amman, ein neues, innovatives Ma-ster-Programm. Dieser Studiengang wird aufgrund seiner Be-deutung und seines einzigartigen Konzepts vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und dem Bundesmini-sterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMWZ) unterstützt. Das Konzept setzte sich gegen mehrere Mitbewerber deutscher Universitäten durch.

Besonders hervorzuheben ist auf dem Hintergrund der oben beschriebenen Situation in der Entwicklungszusammenarbeit

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gerade mit arabischen Ländern und der eingetretenen Beschä-digung eines gegenseitigen Verständnisses die Tatsache, dass der Kooperationspartner Jordanien gewählt wurde, mit dem Ziel, durch praktische gemeinsame Arbeit und ein interkulturell ausgelegtes akademisches Projekt zur Annäherung zwischen den beiden Kulturen beizutragen sowie Vorurteile und Stereo-type abzubauen.

Das Fachgebiet eines Integrated Water Resources Management soll Lösungen für Wasserkrisen erarbeiten, indem das Problem Wasser mit anderen lebenswichtigen Ressourcen verbunden wird. Das betrifft den gesamten Wasserkreislauf in Verbindung mit der Intervention des Menschen als Grundlage für ein nach-haltiges Wassermanagement. Das neue Programm beinhaltet nicht nur Seminare, Übungen und Feldstudien über die modern-sten Konzepte und Technologien des Fachgebiets Wasserma-nagement, sondern gleichermaßen ein interkulturelles Trai-ningsprogramm mit dem Schwerpunkt des Interkulturellen Pro-jektmanagements. Eines der definierten und vorrangigen Ziele des neuen Studienganges ist es deshalb, zukünftige Experten und Führungskräfte vorzubereiten auf die Praxis der Projektpla-nung und –durchführung im internationalen Kontext bzw. in Kontexten der internationalen Zusammenarbeit. Beide am Ma-ster-Programm beteiligten Institutionen legen diesem Konzept das Verständnis zugrunde, dass bilaterale Projekte zwischen deutschen und arabischen Partnern Experten und Fachkräfte benötigen, die neben hohem fachspezifischem Wissen glei-chermaßen kulturelles Wissen und interkulturelle Kompetenzen mitbringen, die als Schlüsselqualifikationen für das Gelingen von solchen bilateralen Kooperationsprojekten ausschlaggebend sind. Das Ziel dieses innovativen Studienganges ist es also, sol-che Experten mit den genannten Qualifikation und Kompeten-zen im Kontext der deutsch-arabischen Zusammenarbeit auszu-bilden und zu trainieren.

Das Neuartige an diesem Programm ist also, dass der Erwerb interkultureller Kompetenz in den Mittelpunkt gestellt wird. Bis-her berücksichtigte die Mehrzahl solcher technisch ausgerichte-ten postgradualen Programme nur die „harten“ Faktoren, die Techniktransfer erschweren können. Diese wurden in Vorpro-jektierungen, Durchführbarkeitsstudien, Marktanalysen etc. be-arbeitet. Neu ist hier die Einbeziehung der viel schwieriger zu ermittelnden „weichen“ Faktoren in die Ausbildung der Studie-renden und somit die Erweiterung der Perspektive um eine kul-turalistische Position. Dadurch soll die Möglichkeit geschaffen werden, die durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen prinzipiell entstehenden Konflikte und Probleme „prin-zipiell zu verringern, zu vermeiden oder zu lösen“ (Roth 1993:276). Wie deutlich gemacht werden sollte, ist der Um-gang mit der Technik ein kulturabhängiger und kulturvariabler

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Faktor. Für die Interkulturelle Kommunikationsforschung be-steht Handlungsbedarf und die Aufgabe, diese spezifisch im Bereich Technik wirkenden kulturellen Faktoren auszumachen und der Frage nachzugehen, welche Zusammenhänge zwischen Kulturen und Misserfolgen im Techniktransfer bestehen und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Des weiteren müs-sen umfassende theoretische Überlegungen bezüglich einer Erweiterung der bisher vorherrschenden „face-to-face“ Perspek-tive erfolgen, denn im Bereich der Technik und des Technik-transfers haben wir es u.a. auch mit einer Kommunikation zwi-schen Objekt und Mensch zu tun, wozu prinzipiell neue Sicht-weisen auf unseren Kommunikationsbegriff zu erarbeiten sind.

Auf diesen Feststellungen und den Erfahrungen dieses Master Programms an unserer Fachhochschule wollen wir mit unserem Projekt anknüpfen. Ziel ist es, aus den ersten Erfahrungen Schlüsse für weitere Studiengänge dieser Art abzuleiten und zu einer stärkeren Kooperation zwischen technischen und Gei-steswissenschaften, insbesondere der Interkulturellen Kommu-nikationsforschung zu gelangen. Hierzu haben wir in einem er-sten Schritt einen Fragebogen erarbeitet, mit dessen Hilfe die TeilnehmerInnen – also deutsche und arabische Studierende – über ihre konkreten Erfahrungen befragt werden sollen. Unter anderem wird danach gefragt, welche „Schwierigkeiten und Besonderheiten“ bei der Durchführung eines konkreten Projekts auftraten, und in welche Kategorien diese Schwierigkeiten ein-zuordnen wären. Weiterhin wird dezidiert nach „aufgetretenen Kommunikationsproblemen“ mit den Kollegen vor Ort gefragt, nach eventuellen zwischenmenschlichen Konflikten oder Pro-blemen sowie nach allen Faktoren, die im Verlaufe des Aufent-haltes oder der Durchführung des Projekts als „anders“ wahr-genommen wurden. Später sollen diese Befragungen auch auf Dozenten, Wissenschaftler, Techniker oder Entwicklungshelfer und andere Studierende ausgeweitet werden, welche über Er-fahrungen im Bereich internationaler Kooperation in techni-schen Bereichen verfügen. Wir versprechen uns davon, detail-lierter Kenntnisse über die einzelnen Faktoren (harte und wei-che) zu bekommen, die für das Gelingen oder Scheitern von technischen Kooperationsprojekten im internationalen Kontext verantwortlich sind. Letztlich soll unser Projekt nach der Aus-wertung dieser Interviews und Befragungen und der entspre-chenden theoretischen Fundierung und Interpretation den en-gen Zusammenhang zwischen Kultur und Technik verdeutlichen und damit ggf. Implikationen für das künftige Design von post-gradualen Studiengängen dieser Art ableiten.

Bisher können wir noch keine umfassende Auswertung vorle-gen, da wir mit den Interviews und Befragungen gerade erst begonnen haben, denn schließlich startete das genannte Ma-ster-Programm erst zum Wintersemester. Unsere Vorarbeiten

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belaufen sich bisher auf die wissenschaftstheoretische Erarbei-tung der grundlegenden Konzepte, auf die Sondierung der vor-handenen Fachliteratur, die erste Kontaktaufnahme zu ähnlich gelagerten Projekten sowie erste Vorgespräche mit den Pro-banden.

Letztlich ist es auch unser Anliegen, eine wissenschaftliche Kon-ferenz zu diesem Thema in Köln zu organisieren, um Forscher, Wissenschaftler und Praktiker, die in diesem Bereich tätig sind, zusammen zu bringen und ggf. Projekte zu Netzwerken zu-sammenzuschließen. Natürlich wollen wir damit auch der Forde-rung nach einer notwendigen Einbeziehung interkultureller Fra-gestellungen in technisch orientierte Ausbildungen und Studi-engänge Nachdruck verleihen.

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L iteratur

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Jäger, S. (2001): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Duisburg: DISS Verlag.

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1 Ein wesentliches Ziel unseres Projektes ist es deshalb, konkrete Standards für die betreffenden Kulturen zu eruieren und ihren Einfluss auf das Verhalten zu untersuchen. Über den Einfluss von Werten auf den Umgang mit Technik in interkulturellen Kooperationsprojekten liegen bisher nur weniger Untersuchun-gen vor.

2 In der Ausgabe vom Januar/Februar 2007 der Zeitschrift Fo-

reign Affairs spricht Dominique Moisi von einem Clash of Emo-tions. Danach sei die westliche Welt von einer Kultur der Angst (vor Migranten, Terror etc.) geprägt, die muslimische Welt von einer Kultur der Erniedrigung und des Hasses, und die asiatische Welt von einer Kultur der Zuversicht und Hoffnung.

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Pan: Netzwerkbildung in China

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Abstract

Das Netzwerkdenken, das insbesondere auf die konfuzianische Lehre zurückzuführen ist, ist seit Jahrtausenden integrierter Be-standteil der chinesischen kulturellen Grundbefindlichkeit und prägt heute noch das soziale und wirtschaftliche Leben der Chi-nesen. Die Beschäftigung mit den Wurzeln der Beziehungskul-tur, den Substanzen sowie den Grundprinzipien der Netzwerk-bildung hilft einem, mit Chinesen besser zu kommunizieren und zusammenzuarbeiten.

1.1. Die Wurzeln

Der Konfuzianismus hat den Charakter der sozialen Beziehun-gen innerhalb der chinesischen Gesellschaft in den letzten zwei-einhalb Jahrtausenden sehr viel stärker beeinflusst als etwa der Buddhismus oder der Taoismus. Die Konfuzianische Lehre be-steht aus einer Reihe ethischer Prinzipien, die das Fundament einer harmonischen Gesellschaft bilden. Die konfuzianische Ge-sellschaft wird geregelt über die im Verlauf ihrer Sozialisation von allen Individuen internalisierten ethischen Prinzipien des Konfuzianismus.

Sie definieren eine Mehrzahl von sozialen Beziehungen. Die fünf wichtigsten sind die zwischen Herrscher und Untertan, Vater und Sohn, Ehemann und Ehefrau, älterem und jüngerem Bruder sowie zwischen Freunden. Im Kern war und ist der chinesische Konfuzianismus keine Religion, sondern vielmehr eine konfuzia-nische persönliche Ethik (Fukuyama 1995:111). Die Essenz der ethischen Lehren des Konfuzianismus ist die Apotheose der Fa-milie als der sozialen Bindung, der alle anderen untergeordnet sind.

Nach dem konfuzianischen Menschenbild ist die Existenz des Menschen eng an gesellschaftliche Beziehungen gebunden (Xu 2004:81). Der Kardinalwert im Konfuzianismus ist “Ren”, das so viel wie „ein Herz für die Mitmenschen“, „Menschlichkeit“, “Humanität”, “Gutherzigkeit”, “Herzensgüte“ bedeutet. Das Schriftzeichen „Ren“ „ “ besteht aus dem Charakter „zwei“ und „Menschen“. Das heißt, „Ren“ regelt die sozialen Bezie-hungen zwischen den Menschen.

Der Mensch definiert sich über seine sozialen Beziehungen und über seine Stellung im gesellschaftlichen Verband. Das soziale Verhalten eines Individuums muss seiner Stellung in dem sozia-len Geflecht angemessen sein (Lin 2000).

In der traditionellen chinesischen Kultur gilt der Mensch nicht als selbstständiges Individuum. Wörter wie „Individuum“ und „Individualismus“ haben selbst in der modernen chinesischen Sprache immer noch eine negative Färbung und bedeuten so viel wie „Egoist“, „Egozentrismus“ bzw. „Eigennützlichkeit“.

Netzwerkbi ldung in China

Yaling Pan

University of International Business and Economcis, VR China

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Pan: Netzwerkbildung in China

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„Der Mensch kann nur durch die Beziehungen zu anderen defi-niert werden“ (Wei 2000:139). Es gibt kein Individuum, das un-abhängig von seiner sozialen Rolle bzw. von seinen Beziehun-gen zu anderen existiert (ebd.).

In Teilen der westlichen Literatur wird – wenn man über die Be-ziehungen in der chinesischen Gesellschaft schreibt – haupt-sächlich die Zweckmäßigkeit der Beziehungen unterstrichen. Die Pflege der Beziehungen zu den Mitmenschen als Selbstzweck findet kaum Beachtung. Zugleich wird viel zu oft betont, wie viel Nutzen einem ein Netzwerk verspricht, ohne auf die Ver-pflichtungen der einzelnen gegenüber anderen in dem Bezie-hungsnetzwerk hinzuweisen. In der Tat spielt in der traditionel-len chinesischen Gesellschaft das Recht der Einzelnen keine große Rolle, sehr wohl aber seine Verantwortung und die Ver-pflichtungen gegenüber seinem Clan und seinem sozialen Um-feld (vgl. Jin et al.: 1999: 164).

1.2. Die Notwendigkeit

Das Gleichgewicht zwischen dem Streben nach einer harmoni-schen Gesellschaft und der Sicherung der eigenen Existenz prä-gen die chinesische Alltagskultur seit Jahrtausenden. Dabei geht es nicht nur darum, das bereits existierende Beziehungsgeflecht zu pflegen, sondern auch das Netzwerk auszubauen. „Um den eigenen Einflussbereich über die Grenzen des familiären Ver-bundes zu erweitern, wurden Beziehungen zu anderen Verbün-den geknüpft, z.B. durch Heirat um auf die Ressourcen des an-deren Netzwerks zurückzugreifen“ (Liang 2003:176).

China war lange Zeit ein Agrarland und auch heute stellt die ländliche Bevölkerung die Mehrheit dar. „Die Bauern am Unter-lauf eines Flusses versuchen immer, gute Beziehungen mit den Bauern am Oberlauf des Flusses zu pflegen, weil das Wasser für sie von existentieller Bedeutung ist. Wasser hat hier eine symbo-lische Bedeutung und repräsentiert Ressourcen. Wer über Res-sourcen verfügt, hat Macht“ (Wang 2004:40). Dies galt in ei-nem langen Zeitraum für diejenigen, die Land und Boden besa-ßen, die über mehr Arbeitstiere und Werkzeuge verfügten und in deren Familien es mehr Arbeitskräfte gab. Beziehungen hel-fen einem, Zugang zu den begrenzten Ressourcen zu haben.

Gute Beziehungen sind auch notwendig, weil China über einen sehr langen Zeitraum kein Rechtsstaat war, und auch heute ist das Rechtsbewusstsein der Chinesen gering ausgeprägt. Man verlässt sich eher auf die guten Beziehungen zu den anderen. „Recht“ und „Gesetz“ wurden gleichgesetzt mit dem „Herr-scher“. Das chinesische Wort für Gesetz heißt „Wangfa“, das sich wörtlich als „Gesetz des Herrschers“ übersetzen lässt.

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Pan: Netzwerkbildung in China

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Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit, ein gut funktioniertes Netzwerk zu haben, liegt daran, dass die chinesische Wirtschaft bis in die Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts noch an Güter-knappheit und Dienstleistungsengpässen litt. Man war auf gute Beziehungen angewiesen, die einem zu den knappen Gütern verhalfen und bot im Gegenzug Dienstleistungen, wie Hausbau, Haushaltshilfe, Kinderbetreuung oder Krankenpflege innerhalb des Netzwerkes an.

Nicht zuletzt ist man vor allem auf die guten Beziehungen zwi-schen den Familienmitgliedern angewiesen, weil es in China selbst heute noch kein gutes Sozialsystem gibt. „Yang er fang lao“, also Kinder haben, um im Alter versorgt zu werden, ist – vor allem für die ländlichen Einwohner – immer noch unabding-bar.

1.3. Der Begriff „Guanxi“

„Guanxi“ wird in den meisten westlichen Publikationen als „Be-ziehungen“ übersetzt, Die Bedeutung von „Guanxi“ ist jedoch noch viel umfangreicher. Die wichtigsten Bedeutungen dieses Wortes lassen sich wie folgt zusammenfassen:

• Die Tatsache der Interaktion oder des gegenseitigen Ein-flusses zwischen den Dingen und Sachverhalten

• Von bestimmten Charakteristiken geprägte Beziehungen zwischen den Personen

• Einfluss oder Bedeutung für etwas

• Allgemeiner Grund oder Bedingung

• Ein Zeugnis, das eine bestimmte Beziehung zu einer Organi-sation bestätigt

In diesem Aufsatz wird “Guanxi” als Synonym für Beziehungen benutzt, wobei das Wissen um die anderen Bedeutungen des Wortes zu einem besseren Verständnis des Zusammenhanges beitragen. Guanxi ist ein persönliches und partikularistisches Phänomen (Kutschker/ Schmidt 1997:176). Die Pflege dieser Beziehungen ist aufgrund des konfuzianischen Selbstverständ-nisses der Chinesen ein wichtiger Selbstzweck in der Gesell-schaft. Zugleich sind diese Beziehungen auch ein wichtiges Mit-tel für das Vorwärtskommen der einzelnen Individuen und ein wichtiges Attribut für deren Selbstverwirklichung und soziale Stellung.

2. Die Entstehung der Beziehungen

Das Beziehungsgeflecht hat in China eine weit detailliertere Struktur, als man sie in vielen anderen Kulturen wahrnehmen kann.

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Den Kern des Geflechtes bilden die langfristigen und stabilen Beziehungen, die mit dem Stamm eines Baums zu vergleichen sind, während andere Beziehungen, die sich dazu aufbauen las-sen, die Äste des Baumes bilden. Mit Hilfe dieser Beziehungen werden Bedürfnisse nach Liebe, Zuwendung, Geborgenheit und Identität ebenso befriedigt, wie materielle Interessen.

Das Beziehungsnetzwerk kann man in fünf Beziehungsebenen unterteilen (vgl. auch Shi 2001:243):

1. Verwandtschaftsbeziehungen, die durch Blut-verwandtschaft und Eheschließung entstehen

2. Beziehungen, die durch gleiche Abstammung entstehen

3. Beziehungen, die durch gemeinsame Ausbildung entstehen

4. Freundschaftsbeziehungen

5. Beziehungen, die durch berufliche Verbindung entstehen

2.1. Familie – Verwandtschaftsbeziehungen

Die Familie spielt in China als Keimzelle der Gesellschaft und der Wirtschaft eine fundamentale Rolle. In der Agrarwirtschaft war und ist die Familie eine Produktionseinheit. Im Handel stand hin-ter einem Geschäft oft eine Familie, in der Industrie war die Fa-milie nicht selten Standort eines Betriebs. Die ersten Schulen befanden sich im Haus des Lehrers. Man kann ohne Beruf überleben, aber nicht ohne Familie (Xu 2004:50).

Von den fünf konfuzianischen Beziehungen gelten drei für die Beziehungen innerhalb der Familie. Zur Regelung der Beziehun-gen zwischen den Familienmitgliedern spielt die Kindespietät eine fundamentale Rolle und nimmt einen zentralen Platz in der Ethik der Chinesen ein. Ihr wesentlicher Inhalt ist die Liebe und der Respekt der Kinder zu ihren Eltern und darüber hinaus zu ihren Ahnen. Aus dieser Verpflichtung gegenüber dem Clan entwickelte sich ein System von Beziehungen, Verhaltensweisen und Ansprüchen. In „Klassiker der Kindespietät“ äußerte sich Konfuzius zu seinem Schüler Zengzi folgendermaßen:

„Kindespietät ist die Grundlage der Tugend und der Ursprung aller geistigen Kultur.... Körper, Haar und Haut hat man von den Eltern empfangen, die soll man nicht zu Schaden kommen lassen; damit fängt die Kindespietät an. Das Rechte tun und auf dem Pfad des Guten wandeln und so einen guten Namen auf die Nachwelt bringen, auf das die Ahnen geehrt werden, das ist die Krönung der Pietät. Sie beginnen damit, dass man seinen Eltern dient, führt zum Dienst beim König und enden mit dem Gewinn eines Charakters ...“

In der Familie ist das Wohlbefinden der Eltern ein hohes Gebot und heute immer noch die Motivation des Strebens vieler Chi-nesen. Man sorgt für das Wohl der Eltern und auch aller ande-ren Mitglieder, weil man durch die gleichen Ahnen verbunden ist. Noch bis in die Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts lebten die Chinesen in Großfamilie, in der man einen gemeinsamen

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Haushalt führte und die Einkünfte aller Familienmitglieder mit allen geteilt wurden.

Der Familienbegriff ist weit gefasst. Auch die Fernverwandten gehören zur Familie. In der Tat versucht man in China das Fami-lien-Modell auch für das größere Sozialnetz gültig zu machen. Nach der Konfuzianischen Lehre sollte der Herrscher das Land so regieren wie der Vater die Familie. In „Xiaojing“ (Schriften über Kindespietät) äußert Konfuzius, die Liebe zu den Eltern sollte auch auf die Eltern anderer übertragen werden und die Liebe zu den Geschwistern sollte auch auf die Geschwister an-derer übertragen werden. Mengzi, der die Philosophie von Kon-fuzius weiterentwickelte, schreibt:

„ ” – „Wenn ich weiß. meine eigenen Eltern zu respektieren, muss ich auch die Eltern anderer respektieren; wenn ich weiß, meine eigenen Kin-der zu lieben, muss ich auch die Kinder von anderen lieben.“

Das Wort für Staat heißt z.B. auf Chinesisch guojia, das sich wörtlich als Staatsfamilie oder Landfamilie übersetzen lässt. Ein Synonym für das Volk heißt „Zimin“ – Kindervolk. Nach Xunzi (313 – 238 v.Ch.), einem wichtigen Vertreter des Konfuzianis-

mus, heißt es: „ “ – Der König ist der Vater des Volkes.“ Auch heute wird Sun Yat-sen, der Günder der Re-publik als „Guofu“ – Staatsvater geehrt.

Weitere Beispiele sind:

– shifu, shimu: Lehrvater, Lehrmutter für Lehrer/in bzw. dessen/deren Ehepartner

– shixiong, shimei: Lehrbruder bzw. Lehrschwester für Kommilitonen

– yeye, nainai, Opa und Oma als Anrede der Älteren

– Onkel, Tante als Anrede der Altersgenossen der Eltern...

2.2. Beziehungen, die durch gleiche Abstammung ent-stehen – Die Heimatverbundenheit der Chinesen

In einem Agrarland wie China ist man in der Heimat gebunden und fühlt sich dieser auch verbunden. Noch heute findet man in China (in den ländlichen Regionen) Dörfer, in denen die meisten den gleichen Familiennamen haben.

Auch aufgrund der Kindespietät muss man bei den Eltern blei-ben, vor allem wenn sie in das Alter kommen, wo sie Pflege brauchen. Nach der Lehre von Konfuzius sollte man sogar keine lange Reise unternehmen, solange die Eltern noch leben – „fu-mu zai, bu yuan yong“. Dieser Bodenständigkeit der Chinesen

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steht gleichzeitig ihr Ehrgeiz gegenüber, sich hochzuarbeiten und erfolgreich zu sein, damit man der Familie mehr Glück und Würde bringen kann. Deshalb verlassen immer mehr Chinesen ihre Heimat und gehen in die Stadt, um dort zu studieren und zu arbeiten.

Diejenigen, welche die Heimat verlassen, werden in der chinesi-sche Sprache als „Youzi“, Wanderer in der fremden Ferne, be-zeichnet. Durch die konnotative Bedeutungen dieses Wortes, wie: Fremder, Hilflosigkeit, Einsamkeit, Heimweh wird deutlich, was die fremde Ferne bedeutet.

Wenn man die Heimat verlassen hat und in einer fremden Um-gebung leben muss, ist die Verbindung zur Heimat und zu de-nen aus der Heimat, die ebenfalls in der Ferne leben, besonders wichtig. In vielen chinesischen Hochschulen gibt es deshalb Clubs für Kommilitonen aus der gleichen Provinz. In den Groß-städten wie Beijing und Shanghai gibt es Repräsentanzhäuser der jeweiligen Provinzen. Es ist heute immer noch üblich, dass man, wenn man in der Stadt erfolgreich ist und das eigene Un-ternehmen ausbaut, neben den Mitgliedern der Familie auch Angehörige aus der gleichen Region in die Stadt nachholt.

In diesen Kontext der lebenslangen Heimatverbundenheit ge-hört auch die Tatsache, dass Chinesen, die in der Ferne erfolg-reich sind, in die Heimat investieren. Viele Chinesen glauben, dass man den Erfolg der Abstammung und den Ahnen ver-dankt. Daher überrascht es auch nicht, dass die so genannten Übersee-Chinesen die größten Investoren in Festland-China sind.

2.3. Tongxue – Beziehungen durch gemeinsamen Bildungsgang

„Tongxue“ bedeutet wörtlich Mitlernende oder Mitstudierende, also Mitschüler oder Kommilitone. In der Schule und während des Studiums hat man ein sehr enges Verhältnis zueinander und diese engen Beziehungen werden auch nach der gemeinsamen Schul- und Studienzeit gepflegt. Sie gelten als wichtiger Knoten in dem Netzwerk der Chinesen.

Dieses Phänomen lässt sich vor allem durch die Bildungsphiloso-phie der Chinesen erklären: Nach dieser Philosophie liegt das Ziel der Bildung weniger darin, kreativ wie kritisch denkende und selbstständig handelnde Individuen auszubilden, sondern vielmehr die Lernenden und Studierende zu Gemeinschaftswe-sen zu erziehen, die kollektiv denken und auf das Gemeinwohl achten sollten.

Es wird großer Wert darauf gelegt, dass sich die Mitschüler und Kommilitonen gegenseitig helfen, so dass man als Kollektiv er-folgreich ist. Des Weiteren bieten einem die Rahmenbedingun-gen in der Schule und an der Universität wichtige Vorausset-

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zungen dafür, dass man gute Beziehungen zu den Mitschülern und Kommilitonen hat:

Die Mitschüler stammen meistens aus dem gleichen Ort. Oft sind sie sogar Nachbarn. Viele Grund- und Mittelschulen gehör-ten bis in die Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts einer Ar-beitseinheit (siehe 2.5.) an, einem System, das wie eine Groß-familie funktionierte.

Wenn es in der näheren Umgebung keine gute Schule gibt, schicken die chinesischen Eltern ihre Kinder auch zu einer weiter entfernten Schule und nehmen es in Kauf, dass die Kinder im Internat wohnen, was auch heute selbst in Großstädten keine Seltenheit ist. Ein weiterer Grund dafür, dass es in China so viele Internat-Schulen gibt, liegt darin, dass man möglichst viel Zeit für das Lernen haben möchte, weil der Leistungsdruck in der Schule sehr groß ist.

Im Internat wohnt man oft zu acht, wenn nicht noch enger, in einem Zimmer. Für alle gilt der gleiche Lebensrhythmus. Es ist einleuchtend, dass Schüler sehr enge Beziehungen zueinander haben. Genau wie Geschwister in einer Familie teilen sie Leid und Freude miteinander.

Das Modell des Internats setzt sich an den Hochschulen fort. Alle chinesischen Hochschulen sind Campusuniversitäten, in de-nen die Studenten in einem Wohnheim wohnen. Oft wohnen sie zu sechst oder acht in einem Zimmer. Noch bis vor wenigen Jahren hatten alle Studenten von einem Jahrgang, die das glei-che Fach studierten, einen einheitlichen Stundenplan. Sie blie-ben inner- und außerhalb der Lehrveranstaltungen eng zusam-men.

2.4. Freundschaftsbeziehungen

Im Chinesischen ist „Freund“ ein weit zu fassender Begriff. Da das Anstreben harmonischer Beziehungen mit den Mitmen-schen ein wichtiges Gebot ist, wird man in China viel schneller als Freund aufgenommen, als es in vielen anderen Kulturen der Fall ist.

Freundschaft ist „übertragbar“, nach dem Motto „Der Freund meines Freundes ist auch mein Freund“. Somit kommt es häufig vor, dass man durch einen gemeinsamen Freund schon einen „alten“ Freund hat, obgleich man ihn noch gar nicht gesehen hat.

In den meisten Fällen ist Freundschaft auf Verwandtschaftsbe-ziehungen, auf gleiche Abstammung, auf gleichen Bildungs-gang und auf berufliche Verbindungen, also auf die vier ande-ren Beziehungsebenen, zurückzuführen.

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Neben der emotionalen Bedeutung hat ein „Freund“ durchaus auch praktischen Nutzen. Dies lässt sich u.a. durch Sprichwörter wie „Ein Freund mehr bedeutet einen Ausweg mehr“, „Zu Hau-se wird man von den Eltern unterstützt und außerhalb der Fami-lie von den Freunden“ ausdrücken.

2.5. Kollegen und das Gemeinschaftsgefühl – Beziehun-gen durch berufliche Verbindungen

Noch bis Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gehört fast jeder Chinese zu einer „Danwei“, einer Arbeitseinheit. Eine Arbeitseinheit funktionierte wie eine Großfamilie: Man arbeitete zusammen und wohnte auch zusammen. Die Danwei funktio-nierte auch als eine Sozialsicherungsinstitution, die für Kranken- und Altersversorgung zuständig ist. Sie hatte normalerweise auch eine Schule, ein Krankenhaus und andere Gemeinschafts-einrichtungen.

Durch die Reform, die Anfang der Achtziger Jahre in China be-gonnen hat, ist man nun nicht mehr lebenslang in einer einzi-gen Arbeitseinheit gebunden, sondern es gibt mehr berufliche Mobilität. Dennoch versucht man, gute Beziehungen mit den Kollegen zu pflegen und sich diese für andere Lebensbereiche von Nutzen zu machen. Denn die holistisch denkenden Chine-sen trennen das Arbeitsleben nicht vom Privatleben.

3. Die Grundprinzipien der Netzwerkbildung

Das „System“ des Beziehungsnetzwerks konnte und kann in China über Jahrtausende funktionieren, weil es Substanzen hat, die in China allgemein respektiert werden. Davon sind die fol-genden von großer Bedeutung:

3.1. Renqing

Als erstes zu nennen ist „Renqing“, das je nach Kontext als Mitmenschlichkeit, zwischenmenschliche Bindung, Einfühlung, Mitgefühl, Gefallen, Gunst, Wohlwollen und Menschlichkeit verstanden werden kann.

Das Wort „Renqing“ hat überwiegend positive Konnotationen, wie menschliche Wärme, Nächstenliebe, Zusammenhalt, Har-monie, Solidarität und Loyalität. (Shi, 2001).

Renqing bedeutet soziale Verpflichtung gegenüber Personen in dem Netzwerk. Die „Ressourcen“, die man so schafft, kann man weiter schenken und man kann auch wieder auf sie zurückgrei-fen. Die folgenden Ausdrücke sollen einen Einblick in die Bedeu-tung des Wortes „Renqing“ geben und die Bandbreite dieses Schlüsselbegriffes verdeutlichen:

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Jiang Renqing – auf Renqing achten: Es bedeutet, dass Ren-qing, als Kriterium vor anderen Kriterien – z.B. vor Regeln und Vorschriften - vorgezogen würde, was sehr typisch für das Ver-halten vieler Chinesen ist.

Zuo Renqing – Renqing herstellen: Man hilft einem anderen oder man macht einem ein Geschenk, um dem anderen einen Gefallen zu tun.

Qian Renqing – einem anderen Renqing schulden. Wenn man Unterstützung von einem anderen bekommt, schuldet man die-sem einen Gefallen.

Huan Renqing – für Renqing revanchieren. Es ist in der chinesi-schen Gesellschaft eine Sozialregel, dass man sich für das ge-schuldete Gefallen rechtzeitig revanchiert.

In der chinesischen Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele da-für, dass Renqing einem zu großen Erfolg verhilft:

“Lü Buwei war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der auch politische Ambitio-nen hatte. Nachdem er erfahren hatte, dass Zichu, der Kronprinz von dem Königreich Qin, als Geisel im Königreich Zhao leben mußte, versuchte er mit allen Mitteln, gute Beziehungen mit diesem aufzubauen und in weiser Voraus-sicht in Renqing zu investieren. Er investierte alles, um die Herzenswünsche von Zichu zu erfüllen und schenkte ihm gar seine Lieblingskonkubine. Nach dem Tod des Vaters wurde Zichu König von dem Königreich Qin und aus Dankbarkeit für das Renqing hatte er Lü Buwei zu Ministerpräsidenten des Königreichs Qin gemacht. Drei Jahre nach der Krönung starb Zichu und Lü Buwei konnte aber weiter seine Macht vergrößern, indem er den Sohn von Zichu, der später als erster Kaiser Chinas - bekannt wurde, unterstützte.“

Renqing ist nicht messbar. Aber jeder hat einen Maßstab. Dieser Maßstab ist subjektiv. Deswegen gibt es Differenzen. Viele Pro-bleme und gar Konflikte sind dadurch entstanden (Tian 2004). Es gibt also keine explizit formulierten Regeln für Renqing. Den-noch kann man die implizierten Regeln in folgende Prinzipien umformulieren: • Geben und nehmen: Renqing hat die Eigenschaft der Rezi-

prozität. Renqing ist keine Ware, wird deswegen nicht wie Ware gehandelt. Dennoch ist Renqing in vieler Hinsicht ver-gleichbar mit Waren und hier gilt das Prinzip der Leistung und Gegenleistung. Ein Netzwerk funktioniert nur dann gut, wenn man immer auch an das Wohl der anderen denkt und gegenseitig voneinander profitieren kann.

• Den Schwachen wird geholfen. Profitieren bedeutet nicht nur materieller Zugewinn, sondern auch die Verbesserung des sozialen Images. Es ist für viele Chinesen erstrebens-wert, dass man als guter Mitmensch angesehen ist. Deshalb helfen sie auch anderen, ohne einen persönlichen Nutzen daraus ziehen zu wollen.

• Dankbar sein. Derjenige, der einem anderen hilft, sollte nicht sofort eine Gegenleistung erwarten. Hingegen sollte

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derjenige, der Begünstigter ist, „Renqing“ nicht als Selbst-verständlichkeit betrachten, sondern darauf achten, dass er das Renqing rechtzeitig erwidert. Das “Renqing-Konto“ kann man zwar überziehen, aber man sollte das Renqing nicht für eine lange Zeit schuldig bleiben.

• Alle Mitglieder eines Beziehungsnetzwerks haben eine „Bringschuld“ für Renqing: Wenn Person A und Person B zu einem Beziehungsnetzwerk gehören, kann Person A auto-matisch von Person B erwarten, dass ihr – bei Bedarf – von Person B geholfen wird, auch wenn diese ihr keinen Gefal-len schuldet. Es ist eine stillschweigende Regel, dass man den anderen im Netzwerk hilft.

• Renqing ist an weitere Mitglieder des Beziehungsnetzwerks übertragbar: Wenn Person A Person B einen Gefallen getan hat, kann Person A das „Guthaben“ auf dem „Renqing-Konto“ auf Person C übertragen.

• Mehr zurückgeben: Neben dem Prinzip der Reziprozität gilt auch das Prinzip, dass man mehr zurückgibt, als man erhal-ten hat. Dies ist z.B. die Erklärung dafür, dass auf einer chi-nesischen Hochzeit oft zu beobachten ist, dass man eifrig aufschreibt, von wem man wie viel geschenkt bekommt, so dass man den jeweiligen eines Tages mehr zurück schenken kann. Renqing wird „verzinst“, wenn man zu einem späte-ren Zeitpunkt das angenommene Renqing erwidert. In vie-len China-Handbüchern wird oft – nicht selten mit einer iro-nischen Färbung - darauf hingewiesen, dass man dreimal „nein“ sagen muss, bevor man ein Geschenk oder eine Hil-feleistung annimmt. In der Tat fällt es vielen Chinesen schwer, einen Gefallen von anderen anzunehmen, da dies auch mit Verpflichtung verbunden ist und bedeutet, dass man es eines Tages mehr zurückgeben muss.

• Dem anderen das Leben leichter machen: Im Bewusstsein darin, dass der andere, dem geholfen wird, ein „Schuldge-fühl“ für das angenommene Renqing hat, versucht man, diesen von diesem Gefühl zu befreien. Wenn man z.B. ei-nem anderen ein Geschenk – ohne besonderen Anlass – macht, pflegt man zu sagen: “Ich habe das auch geschenkt bekommen und gebe Ihnen/dir einen Teil davon“. Ge-schenke dieser Art, die man ohne weiteres weiter schenken kann, sind meistens Lebensmittel, die früher in der Arbeits-einheit und zwischen den Nachbarn immer wieder ge-schenkt wurden.

• Längerfristiges Denken: Man geht davon aus, dass man langfristig zusammen bleibt. Deswegen wird Renqing nicht pingelig abgerechnet.

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Diese Renqing-Regeln sind wie eine „unsichtbare Hand“ und regeln das soziale Leben in einem Netzwerk.

3.2. „Mianzi“ (Das Gesicht) – Die Achillesferse der Chine-sen

Das Gesicht gehört in China zum sozialen Kapital eines Men-schen. Es ist Respekt und Ansehen, das einem Menschen durch seinen beruflichen Erfolg, seinen Status, sein soziales Netzwerk und sein Verhalten anderen gegenüber gebührt und das er sei-nen Mitmenschen weitergibt.

Das Gesicht ist in China eine wichtige soziale Ressource zur in-terpersonalen Beziehungsgestaltung (Liang/ Kammhuber 2003:178). Es ist verbunden mit Würde, Achtung, Ansehen und Moral und kann verbessert werden, durch gute Taten, berufli-che Erfolge und durch andere Mitglieder des Netzwerkes. Jeder Mensch hat ein soziales Gesicht, das aufgrund von Prestige, Er-folg, Leistung oder Wohlstand unterschiedlich groß (ebd.).

Es gibt viele Ausdrücke in der chinesischen Sprache, die mit Ge-sicht in Verbindung stehen:

You Mianzi - Gesicht haben: stolz sein

Diu Minazi – Gesicht verlieren, sich schämen. Man verliert auch sein Gesicht u.a. durch den Gesichtsverlust eines Familienmit-gliedes oder eines engen Freundes. Man verliert auch selbst sein Gesicht, wenn man den Gesichtsverlust eines anderen verur-sacht. Gesicht ist für Chinesen also etwas Kollektives.

Gei Mianzi - Gesicht geben, einem anderen dabei helfen, dass er sein soziales Gesicht „verbessert“.

Bu gei Mianzi – Kein Gesicht geben. Dieser Ausdruck wird be-nutzt, wenn man sich weigert, einem anderen in dem Bezie-hungsnetzwerk bei Bedarf zu helfen.

Wanjiu Mianzi - Gesicht retten. Man kann das eigene Gesicht und auch das Gesicht eines anderen retten.

Des Weiteren kann man auch Gesicht „pflegen“ (weihu Mianzi), nach Gesicht streben (zheng Mianzi), Gesicht wahren (bao Mi-anzi).

Unter der „Gesichtsarbeit“ gilt “Gesicht geben” als ein wichtiges Instrument für das harmonische Zusammenleben und nicht zu-letzt für den Erfolg im Beruf. Man kann jemandem Gesicht ge-ben durch Respekt, Komplimente, Anerkennung, Hilfeleistung etc., aber auch dadurch, dass man eine Person nicht vor ande-ren kritisiert oder sie zur Schau stellt.

Im Westen wird zwar ebenfalls betont, dass man einen Ge-sichtsverlust des Partners vermeiden soll, aber dem Kommunika-tionspartner ein “positives Gesicht” zu geben ist dort eher un-

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bekannt. Deswegen wissen viele Ausländer in China oft nicht, wie sie Mianzi geben können, und gelten daher schnell als arro-gant (Shi 2001:26).

Da man in China das Gesicht nicht durch Eigenlob bekommt, ist wichtig, dass man gegenseitig Komplimente macht, vor allem wenn mehrere Zuhörer dabei sind.

3.3. Pflege des Netzwerks auf der Grundlage „Gleichheit der Ungleichheit“

In China wird soziale Harmonie auf der Grundlage „Gleichheit der Ungleichheit“ (Liang 2003:174) angestrebt. „Jedem Chine-sen kommt nach dem Grundsatz „Gleichheit in Ungleichheit“ ein bestimmter Platz in dem großen Ganzen zu, den es in der Kommunikation differenziert zu berücksichtigen gilt (ebd.).

Diese Grundlage ist verwurzelt in den konfuzianischen „fünf Beziehungen – wu lun“, nach denen der Untertan dem Herr-scher, der Sohn dem Vater, der jüngere Bruder dem älteren Bruder, die Ehefrau dem Ehemann, der jüngere Freund dem älteren unterzuordnen ist.Für das Funktionieren des Bezie-hungsnetzwerks ist darüber hinaus auch die Unterscheidung von Innen- und Außengruppe von Bedeutung. Die Prinzipien des Rens und des Renqings gelten hauptsächlich für Mitglieder der Innengruppe. Innerhalb der Innengruppe ist man verpflichtet, sich gegenseitig zu helfen.Die Unterteilung von Innen- und Au-ßengruppe fängt schon innerhalb der Familie an. Da die chinesi-sche Gesellschaft lange Zeit vom Patriarchat geprägt war, wer-den die Verwandten mütterlicherseits als „von außen“ bezeich-net: Der Großvater mütterlicherseits wird „Waigong“, „Außen-opa“ und die Großmutter mütterlicherseits wird „Außenoma“ genannt.

Auf der Grundlage der „Gleichheit der Ungleichheit“ und der Unterscheidung von Außen- und Innengruppe haben die Indivi-duen die Freiheit, selbst Beziehungen einzugehen, zu intensivie-ren und sie auch zu größer Beziehungskonstellationen im Sinne von Netzwerken auszuweiten (Kuschker 1997). Für die Bildung und Pflege des Netzwerks sind folgende Konzepte wichtig.

3.4. „Li“ - Etikette und Höflichkeit

Auch die kulturelle Verwurzelung des chinesischen Höflichkeits-konzepts liegt im Konfuzianismus. „Li“ ist einer der Kernbegriffe der konfuzianischen Lehre und prägt seit Jahrtausenden wie kein anderer die chinesischen Umgangsformen.

„Li“ bedeutet Etikette und Höflichkeit, und auch sittliches Ver-halten, moralische Regel, Zeremonie und Geschenk.

Spätestens seit der Zhou-Dynastie (1000 bis 221 vor Chr.) ver-steht man unter Li die Gesamtheit der gesellschaftlichen Um-

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gangsformen und das gesellschaftliche Regelsystem, das zur Wahrung der sozialen Hierarchie dient. Das li-mäßige Verhalten zielt auf die Sicherung der sozialen Ordnung und der hierarchi-schen Differenzierung der Gesellschaft ab.

In Liji, Aufzeichnungen der Etiketten, einem der Klassiker des Konfuzisanismus, wird unterstrichen: „Wenn der Mensch die Etiketten nicht kennt, ist er von den Tieren nicht zu unterschei-den, selbst wenn er eine Sprache spricht“. Andere Tugenden, die zu Li-Konzept gehören, sind:

Respekt und Ehrfurcht

Nachgiebigkeit Duldsamkeit

Einfühlungsvermögen , Vorausdenken und seinem Ge-genüber die Wünsche von den Augen ablesen, ohne dass dieser sie direkt ausdrücken muss.

3.5. Bescheidenheit

Nach Konfuzianischer Lehre bedeutet Li: „Wer sich höflich ver-halten will, soll sich selbst erniedrigen und anderen gegenüber Respekt zeigen1.“ Bescheidenheit und Respekt vor anderen gel-ten als wichtige Lebensphilosophie in der chinesischen Gesell-schaft.

Viele Floskeln der Chinesen, die Bescheidenheit und Selbster-niedrigung zum Ausdruck bringen, bringen Menschen aus einer anderen Kultur oft in Verwirrung, z.B.: „Ich bin Anfänger. Ich muss noch sehr viel lernen“ – Eine übliche Floskel von Bewer-bern, auch wenn sie schon viel Berufserfahrungen haben.„Was ich eben gesagt habe, ist nicht gut durchdacht. Ich hoffe, dass ich Sie nicht allzu sehr gelangweilt habe“ – Ein typischer Ab-schlusssatz einer Rede.

“Wegen der Begrenztheit meines Wissens finden sich in diesem kläglichen Heft sicherlich viele Mängel und Fehler. Ich bitte Sie um Kritik und Belehrung” – Sehr oft in einem Vorwort eines chinesischen Buches, vor allem in fachlicher Publikation zu lesen.

„Es ist eine große Ehre, dass Sie mich in meiner schäbigen Hütte besuchen kommen“ – wird von dem Gastgeber benutzt, um den Gast zu begrüßen.

„Ich probiere es mal, wahrscheinlich wird es gehen, aber ich weiß nicht, ob es zu Ihrer Zufriedenheit sein wird“ – sagt man häufig so zu dem Vorgesetzten. Die chinesische Bescheidenheit lässt sich auch dadurch erklären, dass man dazu erzogen ist, sich der Gruppe bzw. dem Kollektiv anzupassen. Es wird in der

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Gesellschaft nicht gern gesehen, dass man aus der Gruppe her-ausragt. Dies lässt sich auch durch folgende Sprichwörter bestä-tigen:

– Der Vogel, der einer Schar voraus fliegt, wird als erster geschossen.

– Der Mensch fürchtet sich davor, berühmt zu werden; das Schwein davor, fett zu werden.

Zusammenfassend sollte man in China, in mündlichen wie schriftlichen Formulierungen untertreiben, wenn es um die ei-gene Person geht, und übertreiben, wenn es sich auf andere bezieht. Übertriebene Zurschaustellung der eigenen Person und der eigenen Leistung wird vermieden. Im Gegensatz werden Menschen geschätzt, die Selbstironie haben.

3.6. Die Suche nach Gemeinsamkeiten

Eine wichtige Strategie zur Bildung und Pflege eines Netzwerks ist, dass man nach Gemeinsamkeiten sucht. „Qiu tong cun yi“, nach Gemeinsamkeiten suchen und Unterschiede belassen, ist eine Lebensmaxime vieler Chinesen (Wei 2000:232). Es wird erst nach dem Gemeinsamen gesucht und auf das Gemeinsame werden die interpersönlichen Beziehungen aufgebaut (Pan 2007).

Wie in Kapitel 2 schon dargelegt wurde, sind alle fünf Bezie-hungsebenen, durch die ein Beziehungsnetzwerk entsteht, auf Gemeinsamkeiten zurückzuführen.

Die Feststellung der Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen stellt eine wichtige Voraussetzung für weitere Kommunikation dar. Auch wenn man jemanden, den man zu dem Netzwerk gewinnen kann, neu kennen lernt, versucht man meistens, durch Smalltalk herauszufinden, welche Gemeinsamkeiten es zwischen einem und dem Gegenüber gibt. Diese können sein, aus der gleichen Provinz zu stammen, in der gleichen Stadt stu-diert bzw. gearbeitet zu haben, im selben Jahrgang geboren zu sein, Kinder im gleichen Alter zu haben, einen gemeinsamen Bekannten zu haben. Die Liste der Gemeinsamkeiten lässt sich unendlich verlängern. Das Geheimnis eines erfolgreichen Netz-werkbildenden besteht darin, dass er immer Gemeinsamkeiten zu seinem Gegenüber findet.

4. Schlusswort

Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass das Netzwerksy-stem in der chinesischen Tradition tief verwurzelt ist. Es ist fein verästelt und zugleich auch gut strukturiert. An den Substan-

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zen, die das Netzwerkdenken der Chinesen ausprägen, erkennt man auch die Werterorientierung der Chinesen.

Die Harmonie ist das zentrale Prinzip der Netzwerkbildung. Sie gilt in allen Lebensbereichen zu verwirklichen. Die sittliche Ord-nung, die dafür notwendig ist, wie wir gesehen haben, klar strukturiert und bildet die Grundlage für die chinesische Netz-werkkultur. Es geht also nicht um spirituelle oder gar himmli-sche Erlösungskonstrukte, sondern um die Frage, wie der Mensch durch konkretes Handeln im Alltag das perfektioniert, was sein inneres Wesen ausmacht. Dies gibt konkrete Lebens-hilfe für viele Chinesen und trägt wesentlich zum Konsens in der chinesischen Gesellschaft bei.

L iteratur

Fukuyama, F. (1995): Konfuzius und Marktwirtschaft, München: Kindler Verlag.

Kutschker, M. / Schmid, S. (1997): Guanxi oder: Die Bedeutung von Beziehungen in China. In: Kutschker, M. (Hrsg.): Manage-ment in China: die unternehmerischen Chancen nutzen, Frank-furt: Verlagsbereich Wirtschaftsbücher, S. 175-199.

Liang, Y. / Kammhaber, Stefan (2003): Asien. In: Thomas, A. u.a.: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperati-on, Band 2: Länder, Kultur und interkulturelle Berufstätigkeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 160 – 180.

Lin, Y. (2000): Wu guo yu wu min (Mein Land und meine Nati-on). Changsha.

Pan, Y. (2007): Die Suche nach Gemeinsamkeiten als Teil der interkulturellen Kompetenz – ein wichtiges Lernziel für den Fremdsprachenunterricht, in: Esser, R. / Krumm, H.-J. (Hrsg.): (2007): Bausteine für Babylon: Sprache, Kultur, Unterricht … Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans Barkowski. München: Iudicum, S. 135-144.

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Kim et al.: Interkulturelle Wirtschaftskommunikation zwischen Deutschland und Korea

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Abstract

Economical relationships between German and South Korean companies are successfully growing. Nevertheless, difficulties in understanding each other in face-to-face-communication be-tween managers of both countries become evident when man-agement styles of the own culture are applied to multi-cultural business situations. Such conflicts lead to an increasing interest in theories of intercultural business communication in South Korea. The following article summarizes the outcome of a re-search project “A Trans-cultural Study for Solution of Trading Conflicts between Korea and the EU” which was conducted in 2003. The goal of the project was to make out culture-based differences in German and Korean management styles. The focus was put on three main domains which seem to be the most outstanding causes of conflicts: 1. valuation of the written and oral word in business communication; 2. concepts of time in mutual planing activities and 3. methods of operation in carrying out business plans. 30 managers of both countries were interviewed about their work experiences in the other country. Hofstede’s modell of cultural dimensions and Hall’s description of cultures provide the foundation for comparing and interpreting their answers. The article concludes with sug-gestions for improving future enterprises in the field of business between both countries.

1. Untersuchungsziel

Deutschland ist zum viertgrößten Direktinvestor in Korea ge-worden. Derzeit sind rund 200 deutsche Unternehmen in Korea tätig. Circa 50 koreanische Firmen sind inzwischen in Deutsch-land aktiv. Trotz kontinuierlicher und positiver Beziehungen der beiden Länder, die sich über lange Zeiträume vorzugsweise auf die Bereiche Kultur, Politik und Wirtschaft erstreckten, scheint die wirtschaftliche Zusammenarbeit der Partner häufig mit zu-vor oft unterschätzten Schwierigkeiten verbunden zu sein. Die Probleme konzentrieren sich vor allem auf die Bereiche Spra-che/Kommunikation, Geschäftspraktiken und Gastlandkontakte und haben ihren Ursprung in den unterschiedlichen Kulturen beider Länder. Managementtheorien und -praktiken, die sich zum Beispiel in Deutschland bewährt haben, erbringen in Korea nicht immer den erhofften Erfolg.

Die Zunahme internationaler Geschäftstätigkeiten und die dar-aus folgenden interkulturellen Konfliktsituationen haben auch in Korea dazu geführt, dass sich in den letzten Jahren Forschung und Lehre mit dem Bereich der Wirtschaftskommunikation und

Interkulturel le Wirt -schaftskommunikat ion zwischen Deutschland und Korea

Problematik im interkulturel-len Verstehen in Bezug auf die Arbeitsweise von Deut-schen und Koreanern

Soon-Im Kim (Chonnam University), Suyon Yu (Ewha University), Miyeon Kim (Kyungpook University), Dury Chung (Maritim Uni-versity), Chungi Min (Chonnam Uni-versity)

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Kim et al.: Interkulturelle Wirtschaftskommunikation zwischen Deutschland und Korea

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aus ihr resultierenden Herausforderungen für Mitarbeiter und Unternehmen beschäftigen.

Internationalisierung und Globalisierung machen die direkte Kommunikation und Kooperation zwischen Angehörigen ver-schiedener Kulturen erforderlich. Diese Kontakte werden aber zunehmend als problematisch empfunden. Wenn die Beteiligten mit den unterschiedlichen Kommunikationsweisen, Handlungs- und Deutungsvoraussetzungen nicht umgehen können, kommt es immer wieder zu Missverständnissen und Konflikten. Deshalb kommt dem möglichst konfliktarmen Umgang mit ausländi-schen und kulturell fremden Kunden, Mitarbeitern und Ge-schäftspartnern eine entscheidende Bedeutung zu. Da interkul-turelle Spannungen häufig aus Fehlinterpretationen einer Kultur durch eine andere Kultur resultieren, befasst sich dieser Beitrag mit den interkulturellen Unterschieden und deren Wahrneh-mung, die in Interviews mit deutschen und koreanischen Ge-schäftspartnern erfragt wurden. Unsere Studie versucht, die Konflikte in der interkulturellen Kommunikation durch ein empi-risches Untersuchungsverfahren zu beschreiben, zu analysieren und Probleme herauszustellen. Zu diesem Zweck wurden 30 Personen interviewt, die in Korea oder in Deutschland leben und im interkulturellen Kontext arbeiten. Sie haben bei den Inter-views frei über die Erfahrungen gesprochen, die sie wegen der kulturellen Unterschiede gemacht haben, etwa über Themen wie Kontaktsprache, Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit, Anrede, Kleidung, Zeitauffassung, Arbeitsweise, Hierarchie, Smalltalk, Vertrauensaufbau, Gesprächsweise, sonstige Konfliktfaktoren etc., so dass wir viel authentisches Material auswerten konnten. In dieser Arbeit werden drei Themen, die starke Kulturunter-schiede zeigten, dargestellt. Diese Themen - Schriftlichkeit-Mündlichkeit, Zeitauffassung, Arbeitsweise - werden in Kapitel 2 näher erklärt.

1.1. Theoretische Grundlagen: Forschungsansätze

Um einen objektiven Beleg für die Existenz kulturbedingter Un-terschiede in der deutsch-koreanischen Zusammenarbeit zu lie-fern, werden die ausgewählten klassischen Ansätze beschrie-ben.

Die Fähigkeit, sich in der fremden Kultur angemessen verhalten zu können, ist unabdingbare Voraussetzung für eine interkultu-relle Zusammenarbeit. Damit stellt sich die Frage, was eigentlich Kultur ist? Da in der heutigen Zeit eine Vielzahl von Definitionen über den Begriff „Kultur“ parallel existieren, wird hier bewusst der Begriff für die Unternehmensebene nach Thomas verwen-det.: „Kultur ist ein Orientierungssystem, das einerseits univer-sell, andererseits für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr spezifisch und typisch ausgeprägt sein kann“ (Thomas

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Kim et al.: Interkulturelle Wirtschaftskommunikation zwischen Deutschland und Korea

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1996:112). Dieses Orientierungssystem beeinflusst das Wahr-nehmen, Denken, Werten und Handeln. Mitglieder einer Kultur kennzeichnen sich durch die Lebensweise einer historisch be-stimmbaren Gesellschaft aus, die sich von allen anderen in ih-rem kulturellen Gesamtmuster und ihrer kulturellen Konfigura-tion unterscheidet. Hall beschreibt die „Kultur“ als das wichtig-ste Bindeglied zwischen Menschen und als Grundlage für jeden zwischenmenschlichen Kontakt. Er spricht von zwei Schlüssel-elementen, die es in jeder Kultur gibt: die Einstellung zum „Raum“ und das Verständnis von „Zeit“ (Hall 1996:20).

Die Ausgangsbasis für kulturvergleichende und interkulturelle Forschungen bildet häufig das Konzept einer „nationalen Kul-tur“. Die einer Nation zuzuordnende Gesellschaft bildet ein so-ziales System, in dem Individuen leben. Sie ähneln oder unter-scheiden sich in bestimmten Kategorien, so genannten subkul-turellen Merkmalen, wie regionale und ethnische Besonderhei-ten, Sprache, Religion, Geschlecht, Generation, soziale Klasse, Bildungsniveau etc. und bilden wiederum aufgrund gemeinsa-mer Kategorien Gruppierungen (Barmeyer 2000:41). Die „Na-tionalkultur“ wird erst in Kontrasterfahrungen mit Angehörigen anderer Gesellschaften evident. Dadurch entwickelt sich erst ein Bewusstsein für Unterschiedlichkeit (Hofstede 2002: 13). Nach Hofstede sind die „Nationalkultur“ und die „Unternehmenskul-tur“ eng miteinander verknüpft, denn die „Nationalkultur“ übt einen entscheidenden Einfluss auf die „Unternehmenskultur“ aus (Hofstede 2002: 254).

2. Untersuchungsergebnisse

Im Folgenden sollen die wesentlichen Kulturunterschiede durch die Untersuchungsergebnisse von Kim, Soon-Im beschrieben werden.1 Vom 29. Juli 2003 bis 12. August 2003 wurden mit elf Deutschen und zwölf Koreanern Einzelinterviews geführt, die meist an den Arbeitsplätzen der Interviewten stattfanden. Die befragten zehn Deutschen gehörten zum überwiegenden Teil der ersten oder zweiten Führungsebene der Landesgesellschaf-ten an. Des weiteren wurden technische und kaufmännische Führungskräfte, Repräsentanten einer politischen Stiftung, Re-präsentanten eines Interkulturellen Trainingscenters und Kurz-zeitexperten interviewt.

Die zwölf befragten Koreaner waren zum überwiegenden Teil Auslandsmanager mit zwei- bis sechsjähriger Deutschland-erfahrung. Des weiteren wurden lokale koreanische Mitarbeiter, nach Deutschland entsandte technische Manager und techni-sche Manager mit geschäftlicher Verbindung zu Deutschland ohne Deutschlandaufenthalt interviewt.

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Das Alter der Befragten lag zwischen 28 bis Anfang 60. Einige Interviewte wiesen ihrem Alter entsprechend lange Geschäftser-fahrung auf, während andere noch Unsicherheiten im Umgang der unterschiedlichen Kulturbedingungen zeigten.

Durch den “Kulturvergleich über die Grundlagen der Zusam-menarbeit zwischen Deutschen und Koreanern in Unterneh-men” sollen folgende Fragen geklärt werden: • Welche Probleme sind bei der Anknüpfung von Geschäfts-

beziehungen und der Führung von Geschäftsverhandlungen mit Partnern aus Korea (Deutschland) zu beachten?

• Welche kulturell bedingten Anpassungsschwierigkeiten ha-ben die deutschen bzw. die koreanischen Manager zu be-wältigen, wenn sie jeweils in dem Gastland für ihre Unter-nehmung tätig werden?

• Warum scheitern manche Versuche der Übertragung hei-matlichen Management-Know-hows in fremde Kulturen?

• Wie kann man diese Mitarbeiter rechtzeitig auf die kulturel-len Eigenheiten des Gastlandes vorbereiten?

• Gibt es dafür spezifische Schulungsgruppen?

Die Aussagen aus bestimmten Themenbereichen und den zu-sammengefasst wiedergegebenen Interviewbeispielen mit den deutschen und koreanischen Interviewten aus verschiedenen Bereichen der Wirtschaft, Politik und Technik dienen der praxis-relevanten Hintergrundinformation und Interpretation der Kul-turdimensionen (Kim et. al 2004:31). Zur besseren Übersicht werden die elf deutschen Befragten mit D1, D2 etc. nummeriert und die zwölf koreanischen Befragten mit K1, K2 etc. Die Fremdperspektive wird dadurch auf die andere Kultur und zum Teil implizit durch die Perspektive auf die eigene Kultur veran-schaulicht. Gleichzeitig werden diejenigen kulturspezifischen Strukturmerkmale ersichtlich, die zu Schwierigkeiten in der Zu-sammenarbeit führen können.

Die Problematik besteht dabei zunächst darin, dass Kultur nicht direkt beobachtet, sondern nur über einen Interpretationsvor-gang erschlossen werden kann. Nicht alle der angebotenen Di-mensionen sind für die allgemeine Betrachtung der beiden Län-der geeignet oder gar verständlich. Auf diese wird später noch genauer eingegangen.

2.1. Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Die Kultur dient zur Produktion, Übermittlung, Verarbeitung und Speicherung von Informationen. Der Kontext gibt der Kommunikation Bedeutung, wie viel man wissen muss, bevor befriedigende Kommunikation stattfinden kann, wie weit eine

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unausgesprochene Gemeinsamkeit im Gespräch gegeben ist. In hoch kontextgebundenen Kulturen wie in Korea sind Aufforde-rungen, Anweisungen, Informationen etc. eher implizit in zwi-schenmenschlichen, sozialen Interaktionen eingebaut, d.h. der Kontext ist wichtiger als die eigentliche Nachricht; sie werden indirekt vermittelt. Verbindungen im Geschäftsleben werden hier erst durch persönliche Beziehungen möglich. Daraus resul-tiert ein hoch entwickeltes Beziehungsnetzwerk, welches es Fremden erschwert, sich zu assimilieren.

In niedrig kontextgebundenen Kulturen, wie in Deutschland, werden Nachrichten direkt vermittelt; der Kontext ist weniger wichtig: Man spricht Sachverhalte unmittelbar an und aus, wo-bei Kommunikation als Informationsaustausch betrachtet wird, bei dem Argumente gewinnen (Kim et al. 2004:72).

Die Unterschiede im Kommunikationsstil zwischen Deutschen und Koreanern wurden mehrfach von allen Befragten erwähnt. Das Aufeinandertreffen des indirekten Kommunikationsstils der Koreaner und des direkten, offenen Kommunikationsstils der Deutschen sind als eine besondere Schwierigkeit in der Zusam-menarbeit empfunden (D7) (Kim et al. 2004:56). In ihren Äuße-rungen erwähnten die meisten deutschen Befragten, dass das „Ja-Wort“ eines koreanischen Partners nicht direkt erfasst wer-den kann (D10) (Kim et al. 2004:159). Die koreanischen Befrag-ten finden, dass die Deutschen in Besprechungen und auch bei der Arbeit dazu tendieren, zu dominieren. Die zu direkte Sprechweise der Deutschen (d.h. im deutschen Sinne „unmiss-verständlich“) wird von Koreanern zum Teil negativ bewertet (Kim et al. 2004:61). Dieses Problemfeld spiegelt exemplarisch einige der wesentlichen Unterschiede zwischen einer hoch- und einer niedrigkontextgebundenen Kulturen wieder. Für die Deut-schen, die in ihrem Auftrag in der Zusammenarbeit stark ergeb-nisorientiert sind und unter Erfolgsdruck stehen, stellt die indi-rekte Ausdrucksweise der Koreaner eine besondere Erschwernis dar.

2.2. Zeitauffassung

Empirische Forschungen zu interkulturellen Fragestellungen hat es schon seit den sechziger Jahren gegeben. Im Bereich der „Zeit und Zeitplanung“ unterscheiden Hall/Hall zwischen mo-nochronen und polychronen Kulturen (Hall 1990). Bei der mo-nochronen Zeiteinteilung werden Dinge nacheinander erledigt und über den Tag hinweg nach einem genauen Zeitplan bear-beitet. Diese lineare Zeitperspektive und die daraus folgende Segmentierung bedingt eine genaue Zeitplanung. Bei polychro-ner Zeiteinteilung herrscht die Auffassung, dass mehrere Dinge gleichzeitig erledigt werden können.

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Monochrone Kulturen wie Deutschland zeichnen sich beispiels-weise dadurch aus, dass sie vorausplanend sind, mit festen Zeitplänen arbeiten, Termine genau einhalten und der Arbeit Priorität gegenüber der Pflege von Beziehungen geben. Ein Hauptunterschied zwischen den Deutschen und Koreanern be-steht darin, dass die Deutschen sehr langfristig und die Korea-ner kurzfristig planen. In polychronen Kulturen wie in Korea wird kurzfristig geplant, die Termine werden nicht genau ein-gehalten, und die Pflege von Beziehungen hat gegenüber der Arbeit Priorität. So wird in Korea größerer Wert auf ein gemein-schaftliches Zusammensein als auf die Privatsphäre gelegt.

Zum Thema „Zeit und Planung“ erleben die deutschen Inter-viewpartner die Koreaner als ungenau und locker im Umgang mit der Zeit, obwohl sie im Gegensatz zu den anderen polych-ronen Ländern pünktlich zur geschäftlichen Verhandlung er-scheinen.2 Probleme entstehen, weil sie eine zu große Flexibili-tät mit der Einhaltung der Termine zeigen. Die Koreaner ver-sprechen etwa Utopisches, um den Auftrag möglichst zu erhal-ten. Sie haben immer das Gefühl, dass man mit Nachtschichten irgendwie das Ziel erreichen kann. Von den deutschen Befrag-ten wird die koreanische Arbeitszeit als zu lang und zu planlos empfunden. Sie fangen meist um acht Uhr morgens an und ha-ben aber keine festen Arbeitsschlusszeiten, wodurch sie nicht konzentriert und effektiv genug arbeiten (D6) (Kim et al. 2004:150). Die Deutschen dagegen würden innerhalb der ge-gebenen Arbeitszeit von 9 bis 17 Uhr aufgabenorientiert und zielgerecht arbeiten. Sie bemitleiden die Koreaner, dass sie nicht richtig vorausplanen können und immer für Notfälle auf der Ar-beitsstelle sein müssen.

2.3. Arbeitsweise

In der Rangfolge des Machtdistanzindex von Hofstede liegen Korea (Machtdistanzwert 60, Platz 27) und Deutschland (Machtdistanzwert 35, Platz 42) weit auseinander (Hofste-de1991). Generell sind die koreanischen Organisationsformen stark hierarchisch geprägt, d. h. Seniorität, Titel und Statussym-bole sind in Korea sehr wichtig. Die wichtigsten Entscheidungen werden von Geschäftsführern und Vorstandmitgliedern getrof-fen; dann geht die Hierarchie strikt nach unten. Der Jüngere schuldet dem Älteren Respekt und Gehorsam, der Ältere dem Jüngeren Schutz und Aufmerksamkeit (Hofstede 2002). So wird einem koreanischen Auslandsmanager in Deutschland ein auto-kratischer bzw. patriarchischer Führungsstil unterstellt, wobei sich die Arbeitnehmer schwer tun, dem Vorgesetzten zu wider-sprechen (D4) (Kim et al. 2004:51). Die Befragten (K6), die in einer koreanischen Firma in Deutschland arbeiten, sind der Mei-nung, dass die delegierten koreanischen Manager mit geringen

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Deutschkenntnissen mehr Schwierigkeiten bei der Erlangung von Autorität bei den deutschen Mitarbeitern hätten als die mit ausreichenden Deutschkenntnissen.

Für deutsche Auslandsmanager wiederum, die im Mutterhaus eher funktionale Organisationsformen kennen, ist der Umgang mit den koreanischen Strukturen gewöhnungsbedürftig. Die Interviewteilnehmer schildern, dass die koreanischen Ge-schäftspartner sich weigerten, niedrigere Rangstufen zu akzep-tieren (K8, 10) (Kim et al. 2004:51). Somit gibt es zwischen den geschäftlichen Verhandlungen der beiden Länder immense Schwierigkeiten, da für die deutschen Manager selbst nach ei-niger Verhandlungszeit nicht ausreichend transparent wird, welcher ihrer Gesprächpartner über die Entscheidungsmacht verfügt (D 7, 8). Dies sei ein großes Hindernis für eine erfolgrei-che Zusammenarbeit beider Seiten. Somit werden die koreani-schen zentralistisch und stark hierarchisch geprägten Organisa-tionsformen von den meisten deutschen Befragten als ineffi-zient erlebt.

Deutschland gehört im Gegensatz zu Korea zu den Gesellschaf-ten mit geringer Machtdistanz, in denen durch das Ideal des Gleichgewichts zwischen mächtigeren und weniger mächtige-ren Personen gewisse Interdependenzen erwünscht sind. Mit-bestimmung und die Bildung neuer Strukturen sind gewünscht und werden unterstützt, d.h. es wird begrüßt, wenn sich Macht, Wohlstand und Status nicht in der gleichen Person ver-einen (D8, 9) (Kim et al. 2004:53). Aufgrund seines Wissens und seiner fachlichen Autorität übt der Experte seine Macht aus. So ist D4 der Meinung, dass in Deutschland Hierarchie gar nicht notwendig sei, um bestimmte Ziele zu erreichen, weil die Mitarbeiter in fast allen Bereichen als Profis zuständig sind.

Obwohl Deutschland nach Hofstedes Untersuchung mit dem Rang 42 ein niedriges Niveau an Machtdistanz zeigt, was auch von den deutschen Interviewbefragten mit einem gewissen Stolz bestätigt wurde, zeigt sich auch unter den deutschen Mit-arbeitern eine gewisse Machtdistanz. Es wurde auch bei der koreanischen Firma in Deutschland beobachtet, dass die Mitar-beiter von sich aus die Bereitschaft zeigten, die Autorität des direkten deutschen Vorgesetzten zu akzeptieren. Nach der Aus-sage der einzigen koreanischen Mitarbeiterin in dieser Firma (K6) hielten sie sich mit Kritik oder eigenen Verbesserungsvor-schlägen gegenüber dem Management und dem Führungsstil vielleicht mit Absicht etwas zurück, da normalerweise in Deutschland die Führungskraft über die absolute Macht bezüg-lich des Jahreseinkommens, der Arbeitsleistungsnachweise und der Erteilung positiver oder negativer Referenzen verfüge.

Wie auch andere asiatische Länder wird Korea im Gegensatz zu Deutschland als ein Land mit stark ausgeprägtem Kollektivismus

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beschrieben. So wird im koreanischen Unternehmen der Ar-beitsplatz oft zur ‘Wir-Gruppe’, und die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer entspricht eher einer familiären Beziehung mit beiderseitigen Verpflichtungen, d.h. Schutz und Loyalität. Die koreanischen Befragten erleben bei den Deut-schen eine klare Trennung zwischen Geschäftlichem und Priva-tem. Die entsandten Manager aus Korea sind davon überrascht, dass die deutschen Kollegen eine geringere Identifikation mit ihrem Unternehmen und wenig Flexibilität in Arbeitszeitfragen zeigen (K4) (Kim et al. 2004:102). Der intensivere und ständige soziale Kontakt bewirkt, dass in kollektivistischen Kulturen wie in Korea die Harmonie ein viel bedeutenderes Konzept ist, das sich auch auf Bereiche außerhalb der Familie ausdehnt. Der deutsche Interviewpartner wiederum (D4) sieht bei den Korea-nern im beruflichen Bereich keine klare Trennung zwischen Ge-schäftlichem und Privatem. (D4) ist der Meinung, dass ausführli-che Diskussionen über die Arbeitsprobleme sowie eine neutrale Umsetzung eines Arbeitsvorganges nicht zustande kommen könnten, wenn man sich zu persönlich kennt.

Eine weitere typische Eigenart des deutschen Arbeitsstils ist die Sachlichkeit, die intensive Hinwendung zur Sache. Die Sachlich-keit ist die direkte und formale Herangehensweise an Projekte und Problemstellungen, die deshalb entweder als effektiv oder als unpersönlich eingestuft wird. Die Person nimmt sich bei der Aufgabenerledigung zurück und stellt seine Gefühle und per-sönliche Bedürfnisse hinten an.

Im deutschen Arbeitsstil zeigt sich die Unsicherheitsvermeidung im ausgeprägten Führen von Zeitplanbüchern und Protokollen während des Arbeitsablaufs und im Befolgen von Dienstwegen (K5) (Kim et al. 2004:107). Die Einstellung zur Sicherheit wird auch bei Vereinbarungen einer wirtschaftlichen Beziehung deut-lich. Deutsche versuchen aufgabenorientiert durch schriftliche Abmachungen, die Unsicherheit zu verringern. Bei Vertragab-schlüssen wird versucht, so detailgenau wie möglich vorzuge-hen (D2) (Kim et al. 2004:131).

An dieser Stelle ist zu beobachten, dass sich die kulturelle Di-mension der Unsicherheitsvermeidung eher zur Erklärung für Eigenheiten des koreanischen Arbeitsstils eignet. Folgende Gründe sprechen dafür: 1. Das Prinzip der teilweise noch prakti-zierten lebenslangen Anstellungsverhältnisse und Beförderun-gen gemäß Senioritätsprinzip entspricht der Präferenz der Ko-reaner, einerseits Unsicherheit zu reduzieren und andererseits langfristig zu planen. Dies jedoch ist durch die radikalen wirt-schaftlichen Änderungsprozesse fast nicht mehr praktizierbar, d.h. auch, die Bindung in Kombination mit dem Senioritätsprin-zip, bei dem das Gehalt wesentlich von der Firmenzugehörigkeit abhängig gemacht wurde, hat langsam seine Gültigkeit verlo-

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ren. Auf der anderen Seite jedoch zeigt sich in Korea die Unsi-cherheitsvermeidung seitens der Vorgesetzten in der Art und Weise, Uneindeutigkeiten zu reduzieren, Risiken zu vermeiden und die Zukunft zu planen. Im koreanischen Unternehmen ma-nifestiert sich ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Vermeidung von Unsicherheit in zahlreichen formellen Gesetzen und in informel-len Regeln, die die Rechte und Pflichten von Vorgesetzten und deren Mitarbeiter festlegen. Die vielen internen Regeln und Vorschriften innerhalb der koreanischen Unternehmen sowie die zahlreichen Zwischenberichte der koreanischen Verhand-lungspartner an ihre Vorgesetzen empfinden die Deutschen als eine Störung für eine effektive Zusammenarbeit (D4) (Kim et al. 2004:136). Neben Machtdistanz ist die Unsicherheitsvermei-dung auch ein Faktor, der je nach herrschender nationaler Kul-tur auf die Unternehmenskultur einwirkt.

3. Fazit

Anhand der beschriebenen und interpretierten Kulturspezifika von Deutschland und Korea wurden die Kulturunterschiede deutlich, die in wirtschaftlicher Kommunikation wirksam wer-den. Dabei handelt es sich um Eigenarten, die im Sozialisations-prozess erworben sind und eine historische Dimension aufwei-sen:

Die nach Deutschland delegierten koreanischen Manager hat-ten meistens kaum Erfahrungen mit deutscher Unternehmens-kultur und Mentalität. Es wird dem koreanischen Vorgesetzten ein autokratischer bzw. ein patriarchalischer Führungsstil unter-stellt.

Die geringere Identifikation der deutschen Mitarbeiter mit ihrem (koreanischen) Unternehmen und wenig Flexibilität in Arbeits-zeitfragen, sowie die pünktliche Beendigung der Arbeit werden von den koreanischen Vorgesetzten als negativ bewertet. So wurde bemängelt, dass die deutschen Kollegen wenig Bereit-schaft zu Überstunden zeigen.

Die strikte Trennung zwischen Geschäftlichem und Privatem der Deutschen hindern die Koreaner, ein Gruppen-zugehörigkeitsgefühl mit den Deutschen aufzubauen.

Die meisten koreanischen Auslandsmanager verfügen außer über Fremdsprachenkenntnisse in der Geschäftssprache Eng-lisch nur über geringe Kenntnisse in der Landessprache (Deutsch). Folglich können sie ihre offiziellen sowie inoffiziellen Managermethoden nicht ausreichend verständlich übermitteln, wie beispielsweise die starke Bindung zwischen den Vorgesetz-ten und ihren Mitarbeitern über die Arbeitszeit hinausgehend,

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die sich ausdrückt u.a. in der Fürsorge um die Mitarbeiter bei familiären Angelegenheiten wie Festen und Traueranlässen.

Die Art der Deutschen, sich verbal direkt auszudrücken, wird von den Koreanern als arrogant und herrisch empfunden. Die indirekte Redeweise und die Höflichkeit der Koreaner werden von einigen Deutschen als unehrlich bewertet.

Der Umgang der Koreaner mit 'Zeit' - kurzfristiges Planen, Ter-mine nicht einhalten bzw. kurzfristig absagen- wird als negativ für die Zusammenarbeit bezeichnet. Die Koreaner wiederum werfen den Deutschen Unflexibilität bei der Erledigung einer unvorhersehbaren Aufgabe vor.

Es ist unumstritten, dass in Zukunft deutsche und koreanische Auslandsmanager sowie die jeweiligen einheimischen Mitarbei-ter in zunehmendem Maße zusammenarbeiten und gemeinsam die Verantwortung für Erfolg und Misserfolg tragen. Es wird neben ökonomischer Effizienz daher auch interkulturelle Kom-petenz – eine tragende Bedeutung für eine erfolgreiche Zu-sammenarbeit – verlangt. Für die Vorgesetzten ist es wichtig, sich mit Kulturunterschieden im Management und daraus resul-tierenden Problemen für Mitarbeiter und Unternehmen zu be-schäftigen. Fähigkeiten wie Kooperation mit Menschen fremder Mentalität, soziale Kontaktfähigkeit und Improvisationsvermö-gen sind für eine erfolgreiche Zusammenarbeit im globalisierten Unternehmen von großer Bedeutung und somit wesentliche Schlüsselfaktoren. Die Kenntnis von Kulturdifferenzen allein reicht nicht aus, um im interkulturellen Management erfolgreich zu sein. Vielmehr gilt es, herauszufinden, welche spezifischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den neuen und alten Bedingungen vorhanden sind, um trotz aller Kulturunter-schiede eine erfolgreiche Integration gewährleisten zu können. Es müssen bei der Koordination beider Länder lokale Gegeben-heiten berücksichtigt werden. Den Auslandsmanagern sollte regelmäßiges interkulturelles Coaching vor Ort angeboten wer-den, um sie für das Erkennen kultureller Unterschiede in ihrer realen Arbeitssituation zu sensibilisieren. Entsprechende Trai-nings würden u.a. die beteiligten Partner auf die gegenseitigen kulturbedingten Erwartungen in Kommunikationssituationen vorbereiten. Dadurch wären die wirtschaftlichen Partner durch ein gezieltes Training in dieser Richtung eher in die Lage ver-setzt, Missverständnisse zu vermeiden bzw. sie beim Auftreten entsprechend der kulturellen Konvention zu lösen oder von vor-neherein eine interkulturelle Kompetenz einzubringen, die für beide Seiten eine angenehme Arbeitsatmosphäre und ein ziel-dienliches erfolgreiches Miteinander weitestgehend sicherstellt.

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1 Korea Research Foundation AS 2522. A Trans-cultural Study for Solution of Trading Conflicts between Korea and EU.

2 Dies hängt von der militärischen Erziehung der Schülern in Ko-rea zusammen. Sowohl bei den Grundschülern als auch bei den Oberschülern ist es tabu, zu spät zum Unterricht zu kommen oder gar zu fehlen.