23
Unverkäufliche Leseprobe des S.Fischer Verlages Peter Stamm Seerücken Preis (D) 18,95 | (A) 19,50 | SFR 28,90 ISBN: 978-3-10-075133-1 Erzählung/en, 192 Seiten, gebunden S. Fischer Verlag Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

Peter Stamm Seerücken - fischerverlage.de · 7 Vor der Post standen ein paar Wegweiser, die in un-terschiedliche Richtungen zeigten. Ich folgte einem Sträßchen und später einem

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Unverkäufliche Leseprobe des S.Fischer Verlages

Peter Stamm Seerücken

Preis € (D) 18,95 | € (A) 19,50 | SFR 28,90 ISBN: 978-3-10-075133-1 Erzählung/en, 192 Seiten, gebunden S. Fischer Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011

5

Sommergäste

sie kommen allein?, fragte die Frau am Telefonnoch einmal. Ihren Namen hatte ich nicht verstan-den, ihren Akzent konnte ich nicht einordnen. Ja,sagte ich. Ich suche einen Ort, an dem ich in Ruhearbeiten kann. Sie lachte etwas zu lang, dann fragtesie, was ich denn arbeiten würde. Ich schreibe, sagteich. Was schreiben Sie? Eine Arbeit über MaximGorki. Ich bin Slawist. Ihre Neugier ärgerte mich.Ach?, sagte sie. Sie schien einen Moment lang zu zö-gern, als wäre sie nicht sicher, ob sie das Thema inter-essiere. Gut, sagte sie schließlich, kommen Sie. Siekennen den Weg?

Ich hatte im Januar eine Tagung besucht, es gingum die Frauenfiguren in Gorkis Stücken. Mein Re-ferat über die Sommergäste sollte in einem Sammel-band erscheinen, aber im täglichen Unibetrieb warkeine Zeit gewesen, es zu überarbeiten und fertigzu-

6

stellen. Ich hatte mir die Woche vor Christi Himmel-fahrt dafür freigehalten und einen Ort gesucht, andem niemand und nichts mich erreichen oder ablen-ken konnte. Ein Kollege hatte mir das Kurhaus emp-fohlen. Er hatte als Kind viele Sommerferien dortverbracht. Irgendwann sei der Besitzer des Hauses inKonkurs gegangen, aber er habe gehört, das Hotel seivor einigen Jahren wiedereröffnet worden. Wenn dueinen Ort suchst, an dem nichts los ist, bist du da obengenau richtig. Als Kind habe ich es gehasst.

Die Busse zum Kurhaus fuhren nur im Sommer.Sie könne mich leider nicht abholen, hatte die Frauam Telefon gesagt, ohne einen Grund zu nennen, aberich könne vom nächstgelegenen Dorf aus zu Fuß her-aufkommen, der Marsch sei nicht lang, eine Stundeallerhöchstens.

Der Bus wand sich eine enge Straße hoch durcheine terrassierte Landschaft. Er war spärlich besetzt,und an der Endstation stiegen außer mir nur noch einpaar Schüler aus, die sich sofort zwischen den Häu-sern verloren. Ich hatte nur das Nötigste an Kleiderneingepackt, aber mit den vielen Büchern und demLaptop war der Rucksack wohl an die zwanzig Kiloschwer. Was haben Sie denn dabei?, fragte der Bus-fahrer, der mir beim Ausladen half. Papier, sagte ich,und er musterte mich misstrauisch.

7

Vor der Post standen ein paar Wegweiser, die in un-terschiedliche Richtungen zeigten. Ich folgte einemSträßchen und später einem Pfad, der quer durch einesteile Wiese führte und dann in eine schmale, bewal-dete Schlucht hinunter. Am Waldrand wuchsen Lär-chen und vereinzelte Eschen, im Inneren Rottannen.Überall lagen umgestürzte Bäume, vertrocknete Tan-nengerippe, unter denen noch letzte Reste Schneezu sehen waren. Der Boden war nass, und meine Füßesanken tief ein in der schwarzen Erde. Immer wie-der verklebten mir unsichtbare Spinnweben Gesichtund Hände. Spuren von anderen Wanderern fand ichnicht, vermutlich war ich der erste in diesem Jahr.

Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich schon längerkeine Wegmarke mehr gesehen hatte, kurz daraufverlor sich der Pfad zwischen den Bäumen. Ich hattekeine Lust umzukehren und ging den Abhang hinun-ter, der zunehmend steiler wurde. An manchen Stel-len musste ich mich an Wurzeln oder Ästen festhal-ten, einmal glitt ich aus, rutschte ein paar Meter weitund zerriss mir die Hose. Das Rauschen des Bachesunter mir wurde immer lauter, und als ich ihnschließlich erreichte, fand ich auch den Weg wieder.Es war ein reißender Bergbach mit grauem Wasser. Erfloss in einem breiten Bett aus hellen Felsen und Ge-röll, das wie eine offene Wunde wirkte in der dunk-len Waldlandschaft. Ich kam jetzt leichter voran und

8

erreichte nach ungefähr einer halben Stunde einenkleinen Holzsteg. Die Pfeiler waren unterspült, undein Baum, der mit dem Wurzelballen umgekippt war,lag quer über der Brücke. Er hatte das Geländer ab-gerissen, und einige der Bodenplanken waren unterseinem Gewicht zerborsten. Vorsichtig kletterte ichhinüber. Auf der anderen Seite der Schlucht stieg derWeg steil an, und ich schwitzte, obwohl es kühl warim Wald.

Ich brauchte fast zwei Stunden, bis ich durch dieBäume hindurch das Kurhaus auftauchen sah. FünfMinuten später stand ich vor dem riesigen Jugendstil-gebäude. Der Talgrund lag schon im Schatten, aberdas Haus, das etwas erhöht stand, leuchtete weiß inder Abendsonne. Alle Fensterläden bis auf einen imParterre waren geschlossen, kein Mensch war zu se-hen, und nur das Rauschen des Baches war zu hören.Die Eingangstür stand offen, und ich trat ein. Im Foyerwar es schummrig. Durch die farbigen Scheiben derinneren Tür fielen ein paar Sonnenstrahlen auf denabgetretenen Perserteppich, der auf dem Steinbodenlag. Die Möbel waren mit weißen Tüchern zuge-deckt.

Hallo, rief ich leise. Niemand meldete sich, und ichtrat durch eine Schwingtür, über der in altertümlicherSchrift Speisesaal stand. Ich kam in einen großenRaum mit vielleicht dreißig Holztischen und umge-

9

drehten Stühlen darauf. In der hintersten Ecke desSaals war ein Tisch im Licht. Dort saß eine jungeFrau. Hallo, rief ich etwas lauter als vorher und gingdurch den Raum auf sie zu. Noch bevor ich sie er-reicht hatte, stand sie auf, kam mir mit ausgestreckterHand entgegen und sagte, willkommen, ich bin Ana,wir haben telefoniert.

Sie musste ungefähr in meinem Alter sein. Sie trugeinen schwarzen Rock und eine weiße Bluse wie eineKellnerin. Sie hatte schwarzglänzendes, schulterlan-ges Haar. Ich fragte, ob das Hotel geschlossen sei. Jetztnicht mehr, sagte sie und lächelte. Auf dem Tischstand ein halbvoller Teller mit Ravioli. Einen Mo-ment bitte, sagte die Frau. Sie setzte sich wieder hinund aß auf. Sie schlang das Essen hinunter, es schiensie nicht zu stören, dass ich ihr dabei zuschaute. Ichhatte seit dem Mittag nichts gegessen und bekamlangsam Hunger, aber ich wollte erst mein Zimmerbeziehen, duschen und mich umziehen. Ich setztemich der Frau gegenüber, sie lud mich mit einer ver-späteten Handbewegung dazu ein und sagte, erzählenSie mir von Ihrer Arbeit. Ich erklärte ihr noch ein-mal, weshalb ich hier sei. Sie wischte sich den Mundmit der Serviette ab und fragte, weshalb interessiertSie das? Ich zuckte mit den Schultern und sagte, ichsei zu der Tagung eingeladen worden. Gender Studiesseien im Moment in Mode. Und warum immer die

10

Frauen?, fragte sie. Ich weiß nicht, sagte ich, Männersind weniger interessant. Mit einem Schluck Weinspülte sie den letzten Bissen hinunter. Ich zeige Ihnenjetzt das Zimmer.

Im Foyer trat sie hinter die Rezeption und kramtein den Schubladen des Möbels. Nach einer Weileschob sie einen Block über die Theke und bat mich,das Formular auszufüllen. Ich trug mich ein. Als ichzurückblättern und die letzten Einträge lesen wollte,nahm sie mir den Block aus der Hand und verstauteihn. Würde es Ihnen etwas ausmachen, gleich zu be-zahlen? Ich sagte, das sei in Ordnung. Sieben TageVollpension, rechnete sie, das macht vierhundert-zwanzig Franken inklusive Kurtaxe. Sie steckte dieGeldscheine ein und sagte, das Wechselgeld gebe siemir später. Und eine Rechnung, bat ich. Sie nickte,kam hinter der Rezeption hervor und lief mit schnel-len Schritten die breite Steintreppe hoch. Erst jetztfiel mir auf, dass sie barfuß war. Ich nahm meinenRucksack und folgte ihr.

Sie wartete im ersten Stock auf mich am Anfangeines langen düsteren Flurs. Haben Sie einen beson-deren Wunsch?, fragte sie. Als ich verneinte, öffnetesie die erste Tür und sagte, dann nehmen Sie dochgleich dieses hier. Ich trat ins Zimmer, das ziemlichklein war und spärlich möbliert, außer einem unbe-zogenen Bett, einem Tisch und einem Stuhl gab es

11

eine Kommode, auf der ein altes Porzellanbecken standund darin ein mit Wasser gefüllter Krug. Die Wändewaren weiß gekalkt und leer bis auf ein Kruzifix überdem Bett. Ich ging zur Glastür, die auf einen win-zigen Balkon führte. Den sollten Sie besser nichtbenutzen, sagte Ana vom Flur aus. Ich fragte, wo sieschlafe. Weshalb wollen Sie das wissen? Einfach so.Sie schaute mich ärgerlich an und sagte, nur weilsie allein hier sei, heiße das nicht, ich könne mir Frei-heiten erlauben. Ich hatte an nichts Böses gedachtund schaute sie überrascht an. Ich fragte, wann ichessen könne. Sie machte ein Gesicht, als denke sieangestrengt nach, dann sagte sie, ich solle herunter-kommen, wenn ich mich frisch gemacht hätte. Dannverschwand sie und tauchte kurz darauf noch einmalin der Tür auf und warf, ohne ein Wort zu sagen,Bettwäsche und ein Handtuch auf den Tisch nebenmir.

Das Bad und die Toiletten waren am Ende desFlurs. Ich zog mich aus und stellte mich unter die Du-sche, aber als ich den Hahn aufdrehte, war nur ein lei-ses Röcheln zu hören. Auch die Toilettenspülungfunktionierte nicht. Nur in Unterwäsche ging ichzurück in mein Zimmer und wusch mich mit Was-ser aus dem Krug und zog frische Sachen an. Dannging ich hinunter, aber Ana war nirgends zu finden.

12

Gegenüber vom Speisesaal war ein etwas kleinererRaum, über dessen Tür Damensalon stand. Darin gabes einige ebenfalls mit Tüchern bedeckte Sessel undeinen großen Billardtisch. Auf dem grünen Filz lageneine rote und zwei weiße Kugeln, an den Tisch ge-lehnt stand ein Queue, als habe eben noch jemandhier gespielt. Der nächste Raum war mit Fumoirangeschrieben und schien als Bibliothek zu dienen.Die meisten Bücher waren alt und verstaubt und vonAutoren, deren Namen ich noch nie gelesen hatte.Nur wenige Klassiker waren dabei, Dostojewskij,Stendhal, Remarque. Dazwischen standen ein paarzerlesene Bestseller von amerikanischen Autoren.

Ich ging zurück ins Foyer und von da in den Ball-saal, den größten Raum, der bis auf einen aufgeroll-ten Teppich leer war. An der von falschen Marmor-säulen getragenen Decke hing ein alter Kronleuchteraus Messing. Es war kühl in den Räumen, durch diegeschlossenen Läden drang nur wenig Licht. In derKüche im Untergeschoss war es noch düsterer. Dortstand ein riesiger Kochherd aus Gusseisen, der offen-bar mit Holz beheizt wurde, und auf einer AnrichteDutzende von gebrauchten Weingläsern und Stapelvon schmutzigen Tellern, als habe im Hotel vor kur-zem ein Bankett stattgefunden. Ich ging wieder insErdgeschoss und nach draußen.

Die Schatten der alten Tannen, die in einiger Ent-

13

fernung um das Kurhaus standen, waren inzwischenlänger geworden und griffen schon nach den weißenMauern. Ich ging um das Gebäude herum. An einerSeite war ein kleiner Kiesplatz, auf dem ein paarBlechtische und Klappstühle standen und einige Lie-gestühle. Erst als ich näher trat, sah ich Ana. Ich setztemich neben sie und fragte, ob sie die letzten Sonnen-strahlen genieße. Es war ein langer Winter, sagte sie,ohne die Augen zu öffnen. Ich betrachtete sie. IhreAugenbrauen waren ungewöhnlich breit, ihre Naseziemlich markant. Die schmalen Lippen gaben ihremGesicht etwas Strenges. Sie hatte die Beine ange-winkelt, und ihr Rock war ein wenig hochgerutscht.Die obersten Knöpfe ihrer Bluse waren geöffnet. Ichwurde das Gefühl nicht los, sie habe sich für michso hingelegt. Da öffnete sie die Augen und fuhr sichmit der flachen Hand über die Stirn, als wolle siemeine Blicke wegwischen. Ich räusperte mich undsagte, die Duschen funktionieren nicht. Habe ichIhnen das nicht gesagt? Und die Toilettenspülung.Improvisieren Sie, sagte sie mit einem freundlichenLächeln, jetzt liegt ja wenigstens kein Schnee mehr.Wann fängt denn die Saison hier an?, fragte ich. Siesagte, das hänge von verschiedenen Dingen ab. EineWeile lang saßen wir schweigend nebeneinander,dann stemmte sie sich hoch, brachte ihre Kleider inOrdnung und sagte, Sie wollten doch in Ruhe arbei-

14

ten. Da bin ich mir nicht mehr so sicher, sagte ich,und als sie mich irritiert anschaute, ich würde gerneetwas essen. Sie sagte, das Abendessen sei um sieben,stand auf und verschwand.

Ich ging zurück auf mein Zimmer und versuchtezu arbeiten. Der Hunger lenkte mich ab, und ich tratauf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Dafiel mir ein, dass Ana mir abgeraten hatte, ihn zu be-nutzen. Aber er sah stabil aus, nur das Eisengeländerwar von Rost zerfressen und an einigen Stellen ganzdurchlöchert. Direkt unter mir war die Schlucht, undich hörte das laute Rauschen des Bachs. Als ich michumwandte, sah ich Ana wieder im Liegestuhl auf demKiesplatz.

Um Punkt sieben war ich im Foyer. Kurz daraufkam Ana von draußen herein. Ach Sie, sagte sie,kommen Sie mit. Sie ging voraus in die Küche, zün-dete eine Petroleumlampe an und führte mich ineinen kleinen Vorratsraum, in dem Kartons vollerKonservendosen standen. Ravioli?, fragte sie. Gibt esnichts anderes? Sie drehte sich schnell um die eigeneAchse, als wolle sie schauen, was alles da sei, dannzählte sie auswendig auf: Apfelmus, grüne Bohnen,Erbsen mit Karotten, Thunfisch, Artischockenher-zen, Mais. Ich sagte, ich nähme die Ravioli. Sie griffsich eine Dose vom Regal und drückte sie mir in die

15

Hand. Zurück in der Küche zeigte sie mir, wo Ge-schirr und Besteck zu finden waren, und reichte mireinen Dosenöffner. Nicht verlieren, den brauchenwir noch. Und wo kann ich die Ravioli aufwärmen?Sie runzelte die Stirn und sagte, soll ich vielleichtwegen einer Dose den Herd einheizen? Außerdemweiß ich nicht, wie das geht. Ich bat sie um Wein. Sieverschwand und kam kurz darauf mit einer FlascheVeltliner zurück und stellte sie vor mich hin. Der wirdseparat berechnet, sagte sie, guten Appetit, ich binoben.

Sie ließ die Lampe stehen und verschwand mitsicherem Schritt in der Dunkelheit. Ich kippte diekalten Ravioli auf einen Teller und ging hoch in denSpeisesaal. Das Essen schmeckte scheußlich, aber we-nigstens war mein Hunger gestillt. Den leeren Tellerbrachte ich in die Küche und stellte ihn zum schmut-zigen Geschirr. Ich überlegte mir, gleich wiederabzureisen, aber inzwischen war es zu spät. Also setzteich mich mit meinem Laptop und der Flasche Weinin die Bibliothek, um zu arbeiten. Ich fand eineSteckdose, aber es gab keinen Strom. Auch das elek-trische Licht funktionierte nicht. Glücklicherweisewar der Akku des Computers voll. Ich las mein Re-ferat noch einmal durch und merkte schnell, dass we-niger daran zu tun war, als ich gedacht hatte. Ich ver-suchte, mich auf den Text zu konzentrieren, aber ich

16

war müde von der langen Wanderung, vom Weinund von der ungewohnten Höhe und nickte immerwieder ein. Um zehn ging ich durch das stockdunkleGebäude nach oben und ins Bett, ohne Ana nocheinmal gesehen zu haben.

Ich traf sie am nächsten Morgen im Speisesaal, vorsich einen Teller mit Apfelmus. Bedienen Sie sich,sagte sie und zeigte auf ein großes Glas, das auf demTisch stand. Ich sagte, ich hätte keine funktionierendeSteckdose für meinen Laptop gefunden und auch dasLicht gehe nicht, ob irgendetwas mit den Sicherun-gen nicht in Ordnung sei. Wir haben keinen Strom,sagte Ana, als sei es das Selbstverständlichste auf derWelt. Während ich noch aß, stand sie auf und ver-ließ den Raum. Kurz darauf sah ich sie draußen miteinem Handtuch und einer Rolle Toilettenpapierzwischen den Bäumen verschwinden.

Mein Akku war leer, und da ich keinen Ausdruckmeines Textes dabeihatte, konnte ich nicht viel tun.Ich las ein wenig in den Sommergästen und in derKorrespondenz von Gorki und machte mir ein paarNotizen, aber es hatte keinen Sinn. Am besten wärees, gleich wieder abzureisen. Aber statt zu packen undnach Ana zu suchen, ging ich in den Damensalon undspielte Billard. Am Mittag war im Speisesaal ein Tischfür zwei gedeckt. Kurz nachdem ich mich hingesetzt

17

hatte, kam Ana mit einer Dose Ravioli. Ich habe siein die Sonne gestellt, sagte sie, um sie ein wenig auf-zuwärmen. Das Essen war kaum wärmer als am Tagzuvor. Schmeckt es nicht?, fragte Ana.

Ich sagte, ich könne nicht arbeiten ohne Strom. Sieschaute mich an wie einen Schwächling und sagte, Siewerden schon etwas finden, um sich zu beschäftigen.Ich muss diesen Text in zwei Wochen abliefern, sagteich. Wozu schreibt man überhaupt solche Sachen,sagte sie, wen interessiert das schon? Darum gehtes nicht. Ich habe einen Termin, und den muss icheinhalten. Sie lächelte spöttisch und sagte, Sie wollenja gar nicht abreisen. Ana hatte recht. Ich wollte hierbleiben, ich wusste selbst nicht weshalb, vielleichtihretwegen. Machen Sie sich keine falschen Hoffnun-gen, sagte sie, als habe sie meine Gedanken erraten.

Das Wetter war gut in den folgenden Tagen, undich lag oft draußen auf einem Liegestuhl und döste.Ich las viel, spielte Billard oder legte Patiencen. Anawar nie weit, aber wenn ich sie fragte, ob sie mit mirKarten spielen wolle oder Karambolage, schütteltesie den Kopf und verschwand. Wenn ich in die Bi-bliothek trat, saß sie schon dort und schaute aus demFenster. Ich zog irgendein Buch aus dem Regal undbegann zu lesen. Wenn mir eine Stelle gefiel, las ichsie laut vor, aber Ana schien nicht zuzuhören.

18

Nachdem die Wasserkanne in meinem Zimmerleer war, wusch ich mich wie Ana jeden Morgen amBach. Ich wartete im Speisesaal, bis ich sie zurück-kommen sah, dann erst ging ich los. Ich hatte eineschöne Stelle gefunden, an der das Ufer flach war unddas Wasser ruhig floss. In der weichen Erde entdeckteich Spuren von nackten Füßen, ich nahm an, es seidieselbe Stelle, an die auch Ana kam. Wenn ich denKopf in das eiskalte Wasser steckte, war es mir, als ex-plodierte er, aber danach fühlte ich mich den ganzenMorgen lang frisch. Nur das Rauschen des Bachesfing an mich zu stören. Man konnte ihm nicht aus-weichen, sogar im Inneren des Hotels war es leise zuhören. Ich musste dauernd an Ana denken, die gan-zen Tage lang umkreisten wir uns ruhelos, und mirwar oft nicht klar, wer von uns beiden den anderenverfolgte.

Sie putzte nicht und kochte nicht, sogar mein Bettmusste ich selbst machen. Ihr einziger Dienst bestanddarin, Dosen zu öffnen und den Tisch zu decken.Ein einziges Mal machte ich eine Bemerkung, ich be-käme für mein Geld nicht sehr viel. Anas Gesicht ver-finsterte sich. Sie sagte, ich solle mir besser über meineigenes Frauenbild Gedanken machen als über jenesvon Maxim Gorki. Das hat doch damit nichts zu tun,sagte ich, aber wenigstens Strom und Wasser dürfeman in einem Hotel erwarten. Sie bekommen viel

19

mehr, sagte Ana barsch. Ich wusste nicht, was sie da-mit meinte, aber ich hütete mich, das Thema nocheinmal anzuschneiden.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein würde,wenn sich die Gäste hier im Sommer versammelten,wenn der Speisesaal voller Menschen wäre, jemandam Flügel säße und Kinder durch die Flure rannten,aber es gelang mir nicht.

Die Stapel mit dem schmutzigen Geschirr in derKüche wuchsen. Einmal zählte ich die Teller. WennAna jeden Tag drei benutzt hätte, müsste sie den gan-zen Winter hier verbracht haben. Ich fragte sie, ob sieeine Art Hausmeisterin sei. Wenn Sie so wollen, sagtesie. Ich glaubte ihr nicht, aber es war mir längst egal,weshalb sie hier war.

Am Mittag aßen wir meist Thunfisch und Arti-schockenherzen, am Abend machten wir draußenein Feuer und wärmten auf einem Stein eine DoseRavioli auf. Die Sonne verschwand früh aus dem Tal,und es wurde schnell kühl, trotzdem saßen wir jedenAbend lange am Feuer und tranken Wein. Wir hattenden ganzen Tag lang kaum ein Wort gewechselt, undauch jetzt war Ana nicht viel gesprächiger, aber we-nigstens hörte sie mir zu. Ich hatte keine Lust, übermich zu reden, ich wollte nicht an mein Leben zuHause denken, das weit entfernt schien und ohne Be-

20

lang. Also fing ich an, ihr die Sommergäste nachzu-erzählen. Sie reagierte auf die verschiedenen Figuren,als seien sie lebende Menschen, ärgerte sich über dieewig klagende Olga und nannte den Ingenieur Suslowein Schwein. Mit Warwara und ihrer Schwärmereifür den Schriftsteller Schalimow konnte sie nicht vielanfangen. Wie konnte sie nur auf den hereinfallen,sagte sie empört, er ist wirklich ein schlechter Verfüh-rer. Was müsste denn ein guter Verführer machen?,fragte ich. Ehrlich müsste er sein, der Geliebten undvor allem sich selbst gegenüber, sagte Ana und schüt-telte unwillig den Kopf. Am liebsten war ihr MarjaLwowna. Ich konnte ihren berühmten Monolog ausdem vierten Akt einigermaßen auswendig und mussteihn Ana mehrfach wiederholen. Wir sind Sommer-gäste in unserem Land, irgendwelche Zugereisten.Wir irren geschäftig umher, suchen nach einem be-quemen Plätzchen im Leben, tun nichts und redenabscheulich viel. Ja, sagte Ana, wir alle müssen anderswerden. Wir müssen es um unsretwillen, fuhr ich fort,damit wir nicht mehr diese verfluchte Einsamkeit füh-len. Ana schaute mich misstrauisch an und sagte, ichsolle nicht auf falsche Gedanken kommen. Sie würdengut in das Stück passen, sagte ich. Gorki hat in einemBrief geschrieben, alle seine Frauenfiguren seienMännerhasserinnen und die Männer Halunken. Dannpassen Sie auch gut in das Stück, sagte Ana. Ich schaute

21

sie an, aber im flackernden Licht des Feuers konnte ichihren Gesichtsausdruck nicht erkennen.

Ich fand nie heraus, wo Ana schlief. Wenn wirnachts zurück zum Haus gingen, jeder mit seinerLampe, sagte sie, ich solle vorausgehen, sie kommegleich nach. Einmal wartete ich im Flur vor meinemZimmer. Ich hatte die Lampe gelöscht und lauschtelange Zeit in die Dunkelheit, aber ich hörte keinenTon, und schließlich ging ich ins Bett.

Halb im Traum stellte ich mir vor, wie Ana in meinZimmer käme. Mitten in der Nacht erwachte ichund sah im schwachen Mondlicht ihre Silhouette. Siezog sich aus, schlug die Decke zurück und setzte sichauf mich. Alles geschah völlig geräuschlos, nur durchdie dünnen Scheiben war das entfernte Rauschendes Baches zu hören. Ana behandelte mich grob oder,besser gesagt, wie einen Gegenstand, den man zueinem bestimmten Zweck verwendet, aber der einemsonst gleichgültig ist. Als sie ihren Hunger gestillthatte, ging sie, ohne dass wir ein Wort gewechselthätten.

Am Morgen saß Ana wie immer schon am Früh-stückstisch, als ich in den Speisesaal kam. Ohne vielzu überlegen, strich ich ihr, bevor ich mich hinsetzte,kurz mit der Hand über das Haar. Sie zuckte zusam-men und duckte sich. Ich versuchte ein Gespräch zu

22

beginnen, aber Ana gab keine Antwort und schautemich nur finster an, als wisse sie, wovon ich in derNacht geträumt hatte. Wie immer schlang sie ihrEssen hinunter und verließ den Tisch, sobald ihr Tel-ler leer war.

Nach dem Frühstück blätterte ich in der Biblio-thek in einigen Bildbänden, später ging ich in denDamensalon und spielte Billard. Ana war nirgends zusehen, und sie kam auch nicht zum Mittagessen. Ichaß unten in der Küche und ging dann wieder in dieBibliothek und begann, einen der amerikanischenKrimis zu lesen. Am frühen Nachmittag hörte ich einAuto vorfahren. Als ich aus dem Fenster schaute, sahich einen alten Volvo in der Einfahrt stehen, aus demzwei Männer stiegen. Einen Moment lang dachte ichdaran zu verschwinden, aber dann blieb ich einfachsitzen und las weiter in meinem Buch. Vielleicht eineStunde später, ich hatte den Krimi eben gelangweiltweggelegt, öffnete sich die Schwingtür und die bei-den Männer traten ein. Sie schauten mich entgeistertan, und einer fragte, ohne meinen Gruß zu erwidern,was ich hier machen würde. Ich lese, sagte ich. Undwie sind Sie hereingekommen?, fragte der Mann.Durch die Tür, sagte ich und stand auf, ich bin Gast indiesem Haus. Das Kurhaus ist seit letztem Herbst ge-schlossen, sagte der Mann. Der Besitzer ist Konkursgegangen. In einem Monat wird das Haus versteigert.

23

Jetzt erst stellte er sich vor, er hieß Lorenz undwar Konkursbeamter der nächsten Gemeinde. Derandere war ein Kaufinteressent, ein Investor namensSchwab, der schon andere Hotels in der Gegend be-saß. Ich erzählte ihnen von Ana und ging mit ihnenins Foyer und fand in einer Schublade hinter derRezeption den Meldeblock mit meiner Eintragung.Trotzdem blieb der Konkursbeamte misstrauisch. Obich mir denn nichts dabei gedacht hätte, fragte er. EinHotel, in dem es kein Wasser gibt und keinen Strom.Es sei wahr, das Telefon habe er nicht abgemeldet, erhabe schließlich nicht wissen können, dass jemandsich im Gebäude einnisten würde. Ich gab keine Ant-wort, was hätte ich schon sagen können. Und wo istdiese ominöse Frau?, fragte er. Ich sagte, um siebenwerde sie hier sein, dann äßen wir immer zu Abend.Der Konkursbeamte schaute mich skeptisch an undsagte, er wäre dankbar, wenn ich meine Sachen zu-sammenräumen würde. Ich könne später mit ihnenhinunterfahren. Sie würden vielleicht noch eine odereineinhalb Stunden brauchen. Ich sagte, ich hätte bismorgen bezahlt, aber er gab keine Antwort und sagtezum Investor, er werde ihm jetzt das Untergeschosszeigen. Ich ging auf mein Zimmer, um den Rucksackzu packen.

Als ich fertig war, stieg ich zum ersten Mal, seit ichhier war, in die oberen Stockwerke. Sie sahen genau

24

so aus wie das, in dem ich wohnte. Ich öffnete dieTüren aller Zimmer, aber keines davon war bewohnt.Vom obersten Stockwerk aus führte eine schmaleTreppe auf den Dachboden, der vollgestopft warmit alten Möbeln, Dekorationsmaterial, Pappkartonsmit Briefumschlägen und Toilettenpapier. Ein StapelStrohkränze lag neben einem alten Schild, auf demzwischen gemalten Eiszapfen Winterball stand. Ichfand ein Dutzend Hornschlitten und große verstaubteKorbflaschen, aber keine Spur von Ana. Trotzdemhatte ich, seit ich das Haus durchsuchte, immer dasGefühl, sie wäre bei mir und käme gleich hinter einerEcke hervor.

Nachdem ich das ganze Haus durchsucht undnichts gefunden hatte, setzte ich mich im Foyer aufeinen der Sessel, ohne das weiße Tuch zu entfernen.Nach einer Weile kamen die zwei Männer aus demSpeisesaal. Herr Lorenz trug eine Papierrolle unterdem Arm. Er schaute auf die Uhr und machte einungeduldiges Gesicht. Sechs Uhr, sagte er zu seinemBegleiter, ich will Sie nicht länger aufhalten. WennSie warten wollen, sagte Herr Schwab, ich habe esnicht eilig. Ich möchte selbst gerne wissen, was es mitdieser geheimnisvollen Frau auf sich hat. Er wandtesich an mich und sagte, ich wisse doch bestimmt, wohier der Wein versteckt sei, ob ich nicht eine Flascheholen wolle. Das mache ich, sagte Lorenz schnell und

25

verschwand in den Keller. Was halten Sie von diesemOrt?, fragte der Investor, kann man es hier aushalten?Er sei sich nicht sicher. Zwei Konkurse innerhalb we-niger Jahre seien nicht gerade ein gutes Zeichen fürein Haus, aber vielleicht hätten es einfach die falschenLeute geführt.

Wir setzten uns in den Speisesaal und tranken dieFlasche Veltliner, die Lorenz gebracht hatte. Um vier-tel nach sieben sagte Schwab, er glaube nicht, dass dieFrau noch komme, vermutlich habe sie das Auto vordem Hotel gesehen und Reißaus genommen. Wennes sie überhaupt gibt, sagte Lorenz. Sie war da, sagteich. Lorenz nickte und sagte, ich glaube Ihnen ja. Wirwarteten noch eine Viertelstunde. Schließlich ent-schlossen wir uns zu gehen. Der Konkursbeamte ver-riegelte die Tür und sagte, er werde morgen die Poli-zei raufschicken, um nach dem Rechten zu sehen.Während wir auf der kurvigen Straße die Schluchthinunterfuhren, dachte ich an Ana und fragte mich,wo sie jetzt wohl sein, was sie essen, wo sie die Nachtverbringen würde. Ich war sicher, dass nicht das Autosie vertrieben hatte, sondern ich, meine gedanken-lose Berührung an diesem Morgen.

Ich übernachtete in einer kleinen Pension, die mirder Konkursbeamte empfohlen hatte. Am Morgenfuhr ich nach Hause. Es blieb mir noch eine Woche,um meinen Text fertigzustellen, und ich arbeitete die

26

nächsten Tage intensiv daran. Dabei musste ich im-mer wieder an Ana denken. Jetzt erst begriff ich, wassie gemeint hatte, als sie sagte, ich bekäme von ihr vielmehr als Strom und Wasser. Nachdem ich den Textabgeliefert hatte, rief ich den Konkursbeamten an.Er brauchte einen Moment, um sich an mich zu er-innern, dann sagte er, die Polizei sei im Hotel gewe-sen und habe alles durchsucht, aber außer den leerenDosen und dem schmutzigen Geschirr keine Spurvon einer Frau gefunden.