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Peter Trawny Martin Heidegger

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Martin Heidegger

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Campus Einführungen

Herausgegeben vonThorsten Bonacker (Marburg)Hans-Martin Lohmann (Frankfurt a.M.)

Peter Trawny, Dr. phil. habil., ist Privatdozent an der Bergi-schen Universität Wuppertal und Angestellter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Von ihm erschien »Die Zeitder Dreieinigkeit. Untersuchungen zur Trinität bei Hegel undSchelling« (2002) sowie »Heidegger und Hölderlin oder DerEuropäische Morgen« (2003).

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Peter Trawny

Martin Heidegger

Campus VerlagFrankfurt/New York

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 3-593-37359-9

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischenSystemen.Copyright © 2003 Campus Verlag GmbH, Frankfurt/MainUmschlaggestaltung: Guido Klütsch, KölnUmschlagmotiv: Martin Heidegger. Foto: Eric SchaalSatz: TypoForum GmbH, SeelbachDruck und Bindung: Druckhaus Beltz, HemsbachGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.Printed in Germany

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Inhalt

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Philosophie des Lebens1.1 Phänomenologie und Hermeneutik . . . . . . . . . . 191.2 Die urchristliche »Faktizität des Lebens« . . . . . . 301.3 Anfänge mit Aristoteles und Platon . . . . . . . . . . 38

2 Die Frage nach dem Sein2.1 Die Analytik des Daseins oder Existieren als Sein

zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482.2 Die Geschichtlichkeit des Daseins . . . . . . . . . . . 682.3 Die ontologische Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

3 Die Geschichte des Seins3.1 Zur Struktur des »Ereignisses« . . . . . . . . . . . . . 893.2 Der Streit von Welt und Erde . . . . . . . . . . . . . . . 1013.3 Die Überwindung der Metaphysik . . . . . . . . . . . 109

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4 Denken und Dichten4.1 Die Frage nach der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . 1194.2 Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1264.3 Die Götter und der Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

5 Welt und Technik5.1 Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger . . . . . . . . . 1435.2 Zur Zweideutigkeit des »Gestells« . . . . . . . . . . . 1495.3 Ankunft im »Geviert«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

6 Rezeption und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Biographische Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

6 Inhalt

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Siglen

Sämtliche Schriften Heideggers werden (mit einer Ausnahme)nach der in Frankfurt am Main im Verlag Vittorio Klostermannerscheinenden »Gesamtausgabe« (GA) nach Band- und Seiten-zahl zitiert.

GA 2 Sein und Zeit, (hg. v.) Friedrich-Wilhelm von Herr-mann, 1977

GA 4 Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1981

GA 5 Holzwege, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1977GA 7 Vorträge und Aufsätze, Friedrich-Wilhelm von

Herrmann, 2000GA 8 Was heißt Denken?, Paola-Ludovika Coriando,

2002GA 9 Wegmarken, Friedrich-Wilhelm von Herrmann,

2/1996GA 12 Unterwegs zur Sprache, Friedrich-Wilhelm von

Herrmann, 1985GA 13 Aus der Erfahrung des Denkens 1910–1976, Her-

mann Heidegger, 1983GA 15 Seminare, Curd Ochwadt, 1986GA 16 Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges,

Hermann Heidegger, 2000

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GA 19 Platon: Sophistes, Ingeborg Schüßler, 1992GA 24 Die Grundprobleme der Phänomenologie, Fried-

rich-Wilhelm von Herrmann, 1975GA 27 Einleitung in die Philosophie, Otto Saame und Ina

Saame-Speidel, 1996GA 29/30 Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlich-

keit – Einsamkeit, Friedrich-Wilhelm von Herr-mann, 1983

GA 36/37 Sein und Wahrheit, Hartmut Tietjen, 2001GA 38 Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache,

Günter Seubold, 1998GA 39 Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«,

Susanne Ziegler, 2/1989GA 40 Einführung in die Metaphysik, Petra Jaeger, 1983GA 53 Hölderlins Hymne »Der Ister«, Walter Biemel,

1984GA 55 Heraklit, Manfred S. Frings, 2/1987GA 56/57 Zur Bestimmung der Philosophie, Bernd Heimbü-

chel, 1987GA 58 Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20),

Hans-Helmuth Gander, 1993GA 59 Phänomenologie der Anschauung und des Aus-

drucks, Claudius Strube, 1993GA 60 Phänomenologie des religiösen Lebens, Matthias

Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, 1995GA 61 Phänomenologische Interpretationen zu Aristo-

teles. Einführung in die phänomenologische For-schung, Walter Bröcker und Käte Bröcker-Olt-manns, 1985

GA 63 Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Käte Brö-cker-Oltmanns, 1988

GA 65 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2/1994

GA 66 Besinnung, Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 1997

8 Siglen

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GA 75 Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, Curd Ochwadt,2000

GA 79 Bremer und Freiburger Vorträge, Petra Jaeger, 1994NB »Phänomenologische Interpretationen zu Aristote-

les (Anzeige der hermeneutischen Situation)«, hg.v.Hans-Ulrich Lessing, in: Dilthey Jahrbuch6, 1989,S.235–269

9Siglen

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Einleitung

»Ach, man kann ein solches Phänomen vonverschiedenen Seiten sehen.«

Max Kommerell über Heidegger1

1 Max Kommerell, Briefe und Aufzeichnungen. 1919–1944, hg. v.Inge Jens, Olten u. Freiburg im Breisgau 1967, S.403.

»Wege – nícht Werke«2

2 Martin Heidegger, Frühe Schriften, GA1, hg. v. Friedrich-Wilhelmvon Herrmann, Frankfurt/M. 1978, S. IV.

, schreibt Martin Heidegger am Beginnseiner sich auf über hundert Bände auswachsenden Gesamtaus-gabe und will damit auf den offenen Charakter seines Denkenshinweisen. Holzwege (GA 5), Wegmarken (GA 9) sind seineTexte. Unterwegs zur Sprache (GA 12) ist seine Philosophie.Der Feldweg (GA13, 87ff.) ist dem Denker besonders lieb. DerPlural »Wege« weist darauf hin, dass sein Denken nicht deneinen und einzigen Weg kennt, sondern dass es auf vielen We-gen wandert und sich zuweilen verirrt.

»Holzwege« sind eine Art Irrwege. »Wegmarken« sind Ori-entierungspunkte, die ein Vorgänger auf seinem Weg hinter-ließ, um denen, die selbst auf einen Weg kommen wollen, zuhelfen. Doch seinen Weg zu finden, ist keine leichte Aufgabe.Deshalb geht Heideggers Denken mitunter in die Irre undbegibt sich auf Abwege. Es gehört zum eigentümlichen Pathosdieser Philosophie, das Falsche, das Entlegene, auch das Obs-kure nicht zu scheuen; vermutlich deshalb nicht, weil Heideg-ger immer dachte, dass das Denken nah am Lebensweg, nah anden Schicksalen der Menschen bleiben müsse.

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Dieses Pathos, im Denken irren zu können, weil das Lebenirren kann, ist eines der Ärgernisse, die Heideggers Philosophieauch heute noch immer wieder erregt. Auf der einen Seite einerder wenigen wirklich bedeutsamen Philosophen des 20. Jahr-hunderts – für den Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker ist er»vielleicht der Philosoph des 20.Jahrhunderts«3

3 Richard Wisser (Hg.), Martin Heidegger im Gespräch, Freiburgund München 1970, S.13.

–, wird er vonvielen Kritikern massiv abgelehnt. Diese Ablehnung geht nichtzuletzt auf Heideggers Verirrung in den Nationalsozialismuszurück, doch sie lässt sich nicht darauf reduzieren.

Das Ärgerliche und Provozierende in Heideggers Denkenhat viele Quellen und es scheinen dieselben Quellen zu sein,die so glühende Verehrung für diesen Denker hervorgebrachthaben und immer noch hervorbringen. Der wahrscheinlichberühmteste und einflussreichste Schüler Heideggers, Hans-Georg Gadamer, bekennt 71-jährig in einem Brief, dass er sei-nem Lehrer zu Dank verpflichtet sei. Dann fügt er vielsagendhinzu: »[. . .] und ich weiß auch recht gut, daß gerade meineNeigung zur Moderation, eine letzte, fast bis zum (hermeneu-tischen) Prinzip erhobene Unentschiedenheit mich eingängigund zulässig macht, wo Ihr originaler Einsatz unzugänglich istund als unzulässig gilt.«4

4 Hans-Georg Gadamer, Ausgewählte Briefe an Martin Heidegger,Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 2002, S.43.

Heideggers Denken ist alles, nur nicht»moderat«. Der Philosoph kennt die Extreme und nimmt keinBlatt vor den Mund, indem er das Äußerste zum Maßstab fürdie Norm erklärt und andersherum nicht denken möchte. Im-mer wieder thematisiert er die »Entscheidungen« und Brüche,die tiefen Einschnitte und Schrecken der Existenz, aber auchdas Heilende, das jedes Leben kennt. Und war das Leben in bei-den Hälften des 20. Jahrhunderts nicht von Kriegen und Völ-kermorden auf extreme Weise betroffen? In der Tat: Heideg-

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gers Philosophie hat sich den Katastrophen dieses Jahrhundertsgestellt und ist dadurch eine Art Echo der Zeit geworden. WerHeideggers Texte liest, spürt den Druck, den die Geschichte imletzten Jahrhundert erzeugt hat. Diese Geschichte intellektuellund moralisch stets auf dem richtigen Weg zu überstehen, dashätte nur der vermocht, der ihr unentwegt ausgewichen wäre.Das war Heideggers Sache nicht – denn wie soll man sich ausdem Leben heraushalten?

Man kann die wenig verhohlene Lust an der Provokationspüren, wenn Heidegger in einem Vortrag aus dem Jahre 1952die skandalösen Worte ausspricht: »Die Wissenschaft denktnicht.« (GA7, 133) Hatte er nicht gewusst, dass er damit vieleWissenschaftler brüskiert? Hatte er nicht geahnt, wie er damitvielen akademischen Philosophiegelehrten, die es ernst neh-men, dass die Philosophie an einer Institution für Wissenschaftund Bildung unterrichtet bzw. erforscht wird, und die sich nichteinem ständigen Selbstwiderspruch aussetzen wollen, vor denKopf stößt? Doch so provokant dieser Satz zu sein scheint, soverständlich wird er, wenn man ihn im Kontext versteht. Wie-der einmal evoziert er eine Entscheidung und bringt zum Aus-druck, dass Indifferenz nicht geduldet werden kann. Ist die Phi-losophie eine Wissenschaft im modernen Sinne oder nicht? Hei-degger hat von Anfang an erklärt, dass sie entweder im aristote-lisch-hegelischen Sinne die Wissenschaft aller Wissenschaftenoder keine Wissenschaft sei. Aber wie soll heute eine sich wis-senschaftlich auslegende Philosophie mit einem Denken umge-hen, das jede Forderung, es müsse sich vor einer ihm überlege-nen Instanz oder gar Institution rechtfertigen, für unannehm-bar hält?

»Denken ist Danken« (GA8, 149ff.), sagt Heidegger in einerVorlesung vom Anfang der fünfziger Jahre. Das Denken seikeine Wissenschaft, sondern ein »Danken« – eine scheinbarpathetische Übertreibung. Auch diese Äußerung weckt immernoch Befremden und wird zuweilen dem für esoterisch gehalte-

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nen Stil oder gar den Stilblüten des Philosophen zugeschrieben.Dabei schwingt in diesem Gedanken nur das mit, was auchim Wort »Vernunft« anklingt, dass nämlich das Denken keinspontanes Vermögen ist, sondern auf das angewiesen ist, was es»vernimmt«. Wieder scheint es um eine Entscheidung zu gehen:Macht sich das Denken seine Gedanken selbst oder empfängtes sie – hat sich der Mensch die Sprache selbst erfunden oderentspringt der Mensch der Sprache?

Doch der Spruch »Denken ist Danken« kann noch andersverstanden werden. Wenn man einerseits vor dem gar nicht»moderaten« Ton und einem manchmal esoterischen Momentin Heideggers Denken zurückschreckt, wenn viele Kritiker hiereine prophetische Pose vermuten, dann muss dagegen betontwerden, dass kein anderer deutscher Philosoph des letzten Jahr-hunderts so viele bedeutsame Schüler hatte und sich mit so vie-len und unterschiedlichen Gesprächspartnern einließ wie Hei-degger. Unter den Schülern sind Hans-Georg Gadamer, KarlLöwith, Hans Jonas oder auch Herbert Marcuse zu nennen.Hannah Arendt hat unübersehbar von ihrem Lehrer und Ge-liebten gelernt. Mit Ernst Jünger trat er in eine einzigartigephilosophische Auseinandersetzung ein. Mit den PhilosophenMax Scheler und Karl Jaspers führte er einen intensiven Gedan-kenaustausch. Mit dem ehemaligen Psychoanalytiker MedardBoss begründete er die »Daseinsanalyse«. Die Freundschaftenmit der Pädagogin Elisabeth Blochmann und der Witwe des ver-ehrten Hölderlin-Editors Norbert von Hellingrath Imma vonBodmershof dokumentieren ausführliche Briefwechsel. DerTheologe Rudolf Bultmann lernte von ihm in seiner MarburgerZeit. Die Germanisten Max Kommerell, Emil Staiger und BedaAllemann erkannten sein hermeneutisches Genie. Paul Celansuchte seine Nähe, während der Philosoph die große Bedeu-tung des Dichters erkannte. Nach dem Krieg knüpfte er Bezie-hungen in Frankreich mit Jean Beaufret und dessen Schülern, erbegegnete dem Dichter Rene Char. Viele andere wären noch zu

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nennen. Wenn das »Denken« ein »Danken« ist, dann wird da-mit auch gesagt, dass die Philosophie ein Gespräch ist und derPhilosoph die Fähigkeit haben muss, sich etwas sagen zu lassen,also mehr zu hören und zu antworten statt sich im Monologabzuschließen. Wir müssen dem Anderen dankbar sein, weil eruns denken lässt.

Häufig hat Heidegger betont, dass jeder Philosoph nur eineeinzige Frage habe. Seine war die »Frage nach dem Sinn vonSein«. Sie ist nur zu verstehen aus dem Anfang der europäi-schen Philosophie bei Platon und Aristoteles. An diese Denkerlehnt sich Heidegger an, wenn er vom »Sein selbst«, vom »Sei-enden« und vom »Seienden im Ganzen« spricht. Doch es darfnicht verkannt werden, dass Heidegger in seinen ersten phäno-menologisch-hermeneutischen Vorlesungen als Privatdozent inFreiburg zunächst die »Faktizität des Lebens« thematisiert.Ohne den Blick auf das volle Leben ist die »Seinsfrage« nicht zuverstehen. Wenn man daher Heideggers Denken zunächst als»Existenzphilosophie« rezipierte, traf man in der Verkürzungetwas Richtiges. Die »Seinsfrage« ist sozusagen die Existenz-,die Lebensfrage. Das »Faktische« blieb immer im Spiel, auchwenn sich Heideggers Denken in den dreißiger Jahren in die»Geschichte des Seyns« begibt.

Als das erste Hauptwerk Heideggers gilt das Fragmentgebliebene Sein und Zeit aus dem Jahre 1927. Ohne ein genauesStudium dieser Schrift bleibt Heideggers gesamtes Werk unzu-gänglich. Hier präsentiert sich sein Denken als »Daseinsana-lytik«, im Grunde als eine Analyse des »faktischen Lebens«.Doch nach seiner eigenen Interpretation hat er dabei das Fra-gen nach dem »Sein selbst« zu sehr aus der Perspektive desLebens initiiert. Eine Modifikation des Denkens wurde nötig.

Diese Modifikation wird zumeist mit dem Begriff der »Keh-re« zu fassen versucht. Im Denken nach Sein und Zeit soll dasFragen nicht mehr beim »Dasein«, sondern beim »Sein selbst«beginnen, um von dort auf das Leben des »Daseins« zurückzu-

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kommen. Aber die Einteilung von Heideggers Philosophie inein Denken »vor« und »nach« der »Kehre« ist schief. Vielmehrmuss gesehen werden, dass Heidegger stets »in« der »Kehre«denkt, das heißt, dass es das Verhältnis von »Sein« und »Da-sein« betrachtet. Wenn er in wenigen Texten betont, einzig undallein das »Sein selbst« in den Blick nehmen zu wollen, dannweiß er um die extreme Schwierigkeit dieses Versuchs.

Um die Mitte der dreißiger Jahre findet Heidegger zu einerbesonderen Interpretation des »Seins«. Das »Sein« sei in Wahr-heit »das Ereignis«. Bereits in seinem ersten Hauptwerk hatteer auf den Zusammenhang von Sein und Zeit aufmerksamgemacht. Für Heidegger stellt sich der »Ereignis«-Gedanke alseine Radikalisierung dieses Zusammenhangs dar. Diese Ra-dikalisierung betrifft besonders ein bestimmtes Moment der»Zeitlichkeit«. Für uns geschieht Zeit als »Geschichte«. ImDenken des »Ereignisses« wird die Geschichte zu einem wich-tigen Element. Es ist offensichtlich, dass auch diese Betonungder Geschichte einen Anhaltspunkt im »faktischen Leben« hat,wurde es für Heidegger doch immer deutlicher, dass die politi-schen Geschehnisse seiner Zeit nicht vom Himmel fielen, son-dern aus der Welt kamen und deshalb durch eine Besinnungauf ihre Herkunft in der europäischen Geschichte zu verstehenwaren.

Vielleicht ist der Einfluss des faktischen Geschichtsverlaufsin den dreißiger und vierziger Jahren auf Heideggers Denkenbisher noch nicht gerecht und nüchtern genug betont worden.Damit meine ich Folgendes: Wenn der Philosoph in der zweitenHälfte der dreißiger Jahre, animiert durch eine immer wichtigerwerdende Interpretation von Hölderlins Dichtung, den Gedan-ken fasst, bestimmte Leitmotive der europäischen Philosophie»überwinden« zu müssen, dann darf an der Koinzidenz dieserAbsicht mit der sich immer stärker totalisierenden Herrschaftder Nationalsozialisten nicht vorbeigesehen werden. In der Tatsteht der Gedanke der »Überwindung der Metaphysik«, der

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auf den schon in den frühen zwanziger Jahren entwickeltenBegriff der »Destruktion« zurückgeht, mit dem faktischen Le-ben im totalen Staat des »Dritten Reichs« und den sich darausergebenden Schrecken in einer Verbindung. Die Frage nachder Technik und ihrer Macht wird jetzt immer brennender. Dievorliegende Einführung möchte diesen Zusammenhang unauf-dringlich pointieren.

Nach dem Krieg wird das »Ereignis«-Denken durch zweineue Begriffe erweitert. In den dreißiger Jahren hatte Heideggerdas »Wesen der Technik« als »Machenschaft« charakterisiert.Jetzt fasst er es als das »Gestell«. Dem »Gestell« korrespon-diert der Begriff des »Gevierts«, der eine spezifisch vierfachgegliederte Weltstruktur entfaltet. In dieser Zeit beschäftigtsich Heidegger beinahe ausschließlich mit der Frage, wie derMensch in einer sich immer intensiver technisierenden Welt zuleben vermag. Dabei ist deutlich, dass Heidegger nicht glaubte,nach 1945 hätten sich die fundamentalen, Politik und Ethikbestimmenden Ideen wirklich geändert.

Eine Einführung in die Philosophie Martin Heideggers istbesonders mit einem Problem konfrontiert. Heideggers Begriff-lichkeit sieht auf den ersten Blick sehr einfach aus. Der Philo-soph verwendet kaum Spezialtermini, er spricht ein zuweileneckig-expressives, dann wieder schlichtes, knorriges Deutsch.Dabei kommt es vor, dass er Worte, die wir alltäglich verwen-den, in einem ganz eigentümlichen Sinne gebraucht. Das be-ginnt schon mit den Wörtern »Leben« oder »Ereignis«. Wenndas aber so ist, wird die Frage nach dem Gebrauch von Anfüh-rungszeichen akut. Setze ich keine, könnte der Anschein entste-hen, das Wort werde im gewöhnlichen Sinne verstanden. Setzeich sie, kommt es sogleich zu einer ganzen Invasion. Ich habeversucht, einen Mittelweg zu gehen – mit einer Ausnahme. DieBegriffe »Sein«, »Seiendes« und »Dasein« sind Grundwortedes Heideggerschen Denkens. Sie kommen in der Alltagsspra-che kaum vor. Außerdem versteht der Denker sie in einem sehr

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spezifischen Sinne. Ich habe mich daher entschlossen, sie fastdurchgängig in Anführungszeichen zu setzen.

Letztlich ist eine vollkommene Übersetzung von HeideggersLexik und Grammatik in Alltags- oder Wissenschaftsspracheunmöglich. Zu erheblich wäre der Bedeutungsverlust. Manwürde vor allem Heideggers Texte aus der zweiten Hälfte derdreißiger Jahre ihrer Eigenheit berauben. Darum schwebt jedeEinführung in diese Philosophie in der Gefahr, entweder zuoberflächlich über ihre eigentlichen Intentionen hinwegzuge-hen oder zu identifikatorisch in ihnen zu verschwinden. Ichhabe mir Mühe gegeben, beides zu vermeiden.

Ich möchte Nadescha Bergmann und Hermann Eller für ihrehilfreichen Anmerkungen bei der Herstellung des Manuskriptsdanken.

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1 Philosophie des Lebens

»Da war kaum mehr als ein Name,aber der Name reiste durch ganz

Deutschland wie das Gerücht vomheimlichen König.«1

1 Hannah Arendt/Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und an-dere Zeugnisse, hg.v. Ursula Ludz, Frankfurt/M. 1998, S.180.

Hannah Arendt

1.1 Phänomenologie und Hermeneutik

Heideggers Philosophie ist von Anfang an auf das fakti-sche Leben bezogen. Dieses Leben erscheint in einer Welt,sodass es der Philosoph mit Phänomenen zu tun hat.Jedes Leben ist bedingt, indem es von der Geschichteabhängt, in der sich das jeweilige Leben entfaltet. Willsich der Mensch in seinem Leben mithilfe der Philosophieselbst verstehen, muss er sich mit dem Sinn der Geschichteauseinandersetzen. Zu einem solchen Verstehen ist derMensch in der Lage, weil er die Gabe hat, sprechen zukönnen. In der diskursiven Auseinandersetzung findet erzu einer Auslegung, die vor allem praktische Konsequen-zen hat. Die Philosophie wird zu einer Auslegung vonPhänomenen des tatsächlichen Lebens, zu einer Herme-neutik der Faktizität.

Martin Heideggers philosophischer Anfang lässt sich nicht ein-fach bestimmen. In einer Vorlesung sagt er einmal: »Begleiter

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im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, denjener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mirHusserl eingesetzt.« (GA63, 5) Jede dieser Figuren hat Spurenim Denken Heideggers hinterlassen. Doch es wäre zu kurzgedacht, wollte man es bei diesem Quartett belassen. So wärenauch Wilhelm Dilthey und Oswald Spengler, oder Hegel unddie Philosophie des Mittelalters zu nennen. Der Neukantianerund Lehrer Heideggers, Heinrich Rickert, schreibt in seinemGutachten zur Habilitationsschrift seines Schülers, dass diesersich in der Erforschung des »›Geistes‹ der mittelalterlichen Lo-gik« »große Verdienste erwerben«2

2 Martin Heidegger/Heinrich Rickert, Briefe 1912 bis 1933 undandere Dokumente, hg.v. Alfred Denker, Frankfurt/M. 2002, S.97.

könne. Mit anderen Wor-ten: Heideggers philosophischer Beginn speist sich aus vielenQuellen, und es wäre verfehlt, sein Philosophieren aus einerTradition ableiten zu wollen.

Es ist jedoch möglich, den Anfang von Heideggers Denkenmithilfe zweier philosophischer Methoden zu kennzeichnen. Essind zwei methodische Entscheidungen, die Heidegger bereitsin seinen ersten Vorlesungen exerzierte und die seine Philoso-phie wiederholt mit immer neuen Anstößen belebt haben. Früh,am Beginn der zwanziger Jahre, hat er sich auf die beiden philo-sophischen Methoden und Schulen der Phänomenologie undder Hermeneutik eingelassen. »Schulen« lassen sich diese bei-den Denkmethoden nur insofern nennen, als man in der Schulelernt, wie gedacht werden kann. Unter Phänomenologie undHermeneutik sind also keine besonderen Denkinhalte zu ver-stehen, sondern Weisen, wie philosophische Fragen gestellt undbeantwortet werden können.

Heidegger hat angegeben, bereits als Student in seinem ers-ten Semester im Winter 1909/10 Edmund Husserls LogischeUntersuchungen von 1900 bearbeitet zu haben.3

3 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S.81.

Dieses Werk

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gilt als das Stiftungszeugnis der »Phänomenologie«, einer phi-losophischen Methode, die es sich zum Ziel gesetzt hat, nichtdie Theorien über die »Sachen«, sondern die »Sachen selbst«,die Art und Weise, wie die »Sachen« gegeben werden, wie sie er-scheinen, zu ihrem Thema zu machen. Das Erscheinende heißtgriechisch phainomenon. So ist die »Phänomenologie« einDenken, das sich mit dem Erscheinenden und seinem Erschei-nen beschäftigt.

Schon Heideggers erste Vorlesungen zeigen eine eigenstän-dige Ausprägung und eine unabhängige inhaltliche Orientie-rung dieser Methode. Das Thema dieser Vorlesungen, dieGrundfrage seines Denkens zu jener Zeit, ist das »faktischeLeben«. »Leben« bedeutet hier einen zumeist unthematischenBezug des Menschen zu sich selbst. Es ist eine Art von »Selbst-genügsamkeit«. Wir leben von uns selbst aus auf uns selbst zu.Die Faktizität des Lebens, d.h. seine Tatsächlichkeit bzw. Gege-benheit, besteht im alltäglichen Vollzug des Existierens und sei-ner Motivationen. Unser Leben geschieht jederzeit gleichsamvon selbst uns selbst. Heidegger bringt das mit einer Redeweisezum Ausdruck: »So ist nun einmal das Leben, so gibt es sich.«(GA 58, 35) Eine Philosophie des »faktischen Lebens« hat esmit dessen »Gegebenheitsweisen« zu tun. Ein Phänomen stelltsich als eine unvordenkliche »Phänomengabe« (GA61, 89) dar.Die Phänomenologie ist ein zurückhaltendes Denken, weil siebetrachtet, was »es gibt«.

Dabei hält Heidegger das Grundphänomen seines frühenDenkens, seinen Begriff vom »Leben«, von allen biologistischenNuancen frei. Die Phänomenologie ist »absolute Ursprungswis-senschaft des Geistes überhaupt« (GA 58, 19, Hervorh. P.T.). Esist also nicht das Leben des Leibes, sondern das Leben des »Geis-tes«, das den jungen Philosophen interessiert. Der Einfluss einerfrühen Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes ist spür-bar. In dieser Schrift hatte Hegel das »Leben des Geistes« in sei-nen ihm eigenen Metamorphosen auseinandergelegt.

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Das Leben liegt nie als isolierter Gegenstand vor. Es hatjeweils seinen eigenen Ort und seine eigene Zeit. »Unser Lebenist unsere Welt« (ebd., 33), schreibt Heidegger und meintdamit, dass das Leben sich auf vielfältige Weisen in undurch-dringlichen Verhältnissen zu den Mitmenschen und den Dingenentfaltet. Eine Phänomenologie des Lebens hat es mit den»Lebenswelten« (GA61, 146) zu tun, in denen sich der Menschauf seine jeweilige Art und Weise praktisch und theoretisch ver-strickt.

Der Begriff »Welt« oder »Lebenswelt« korrespondiert mitdiesem Begriff des »Lebens« vorzüglich. Er bietet Möglichkei-ten zu einer Differenzierung, die der »Lebens«-Begriff zu seinerBereicherung fordert. So ist »Welt« immer »Umwelt«, »Mit-welt« und »Selbstwelt« (GA58, 33). Wir leben in konzentrischineinander übergehenden »Welten«, die möglicherweise schließ-lich eine einheitliche Welt bilden. Wir leben mit unseren Freun-den, Geliebten und Feinden etc., und wir leben in einer je »per-sonalen Rhythmik«. Auf der Basis eines so differenziertenWelt-Verständnisses führt Heidegger seine phänomenologi-schen Analysen durch. Wir werden sehen, inwiefern er auf demgesamten Weg seines Denkens das von ihm sehr ernstgenom-mene Welt-Problem immer wieder untersucht.

Das Leben, das Heidegger in seinen Vorlesungen am Beginnder zwanziger Jahre thematisiert, ist ein »faktisches« »Existie-ren«. Zur »Existenz« gehört eine fundamentale Unsicherheitund Endlichkeit. Es gibt »irregeleitetes Leben«, wie es »echtesLeben« (ebd.,22) gibt. Leben, das in die »Irre« geht, und »ech-tes Leben« schließen sich nicht aus. Beide Tendenzen findensich in der Unsicherheit des Lebens zusammen. Das Leben hateinen »Fraglichkeitscharakter«, dem es sich nicht entziehenkann. Die Realisierung des »faktischen Lebens« besteht geradedarin, diese »Fraglichkeit« immer wieder zu erfahren. Es bildeteinen »faktischen Erfahrungszusammenhang«. »Erfahrung« istder primäre Ausdruck des »faktischen Lebens« so, wie sie der

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Zugang zu ihm ist. Diese Erfahrung hat nichts oder nur wenigmit einem empiristischen Begriff von Erfahrung zu tun. Hei-deggers Verständnis von Erfahrung ist stets eingebettet in einbestimmtes Pathos. Eine Erfahrung wird nicht »gemacht«, son-dern erlitten. Sie ist immer eine pathische Erfahrung.

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich schon für den frühen Hei-degger ein Problem, das ihn bis zuletzt bewegen wird. WennErfahrung der eigentliche Zugang zum Grundphänomen derPhilosophie ist, wenn der Philosoph nur dann über sein Themasprechen kann, wenn er dieses Thema »lebt«, dann muss dieFrage nach der »Wissenschaftlichkeit« von Philosophie über-haupt gestellt werden. Für gewöhnlich halten wir die Philoso-phie für eine Wissenschaft. Diese charakterisiert Heidegger als»erkennendes, rationales Verhalten« (GA 60, 8). Doch dasLeben besteht nur am Rande in einem solchen »Verhalten«.Zumeist erfahren wir unser Leben gerade nicht »erkennend«.Deshalb macht Heidegger früh darauf aufmerksam, dass »dasProblem des Selbstverständnisses der Philosophie« »immer zuleicht genommen« wurde. Ist das Leben das Thema der Philo-sophie, und ist dieses Thema nur dadurch zu erreichen, dassauch der Philosoph seinem Leben nicht aus dem Wege geht,dann kann geschlossen werden, »daß die Philosophie der fakti-schen Lebenserfahrung entspringt«. Für Heidegger ist die Phi-losophie von Anfang an eine endliche Tätigkeit des Denken-den – so endlich das Leben, so endlich ist auch das Denken, dasdieses volle Leben thematisiert. Die Philosophie, die der »fak-tischen Lebenserfahrung entspringt«, »springt [. . .] in dieseselbst zurück«. Daraus ergibt sich eine Verstrickung des Den-kens in das Leben, die es schwierig macht, das »Ideal der Wis-senschaft« für die Philosophie aufrecht zu erhalten.

Diese anfängliche Einsicht in die Verstricktheit von Denkenund Leben hat Heidegger schon früh dazu getrieben, über dasVerhältnis von Philosophie und Universität nachzudenken. Be-reits im Kriegsnotsemester 1919 bespricht Heidegger die Mög-

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lichkeit einer »echten Reform im Bereich der Universität«(GA 56/57, 4). Drei Jahre später befragt er noch einmal den»lebendigen Lebenszusammenhang« »Universität« und denktdarüber nach, »ob die Universität weiter auf Bedürfnisse zuge-schnitten werden soll« (ebd., 70). Wenn Heidegger im Jahre1933 auf die »Selbstbehauptung der deutschen Universität« zusprechen kommen wird, greift er auf einen Themenkomplexzurück, der ihm schon am Beginn seines Philosophierens amHerzen lag. Ich werde später noch auf diese Verbindung auf-merksam machen.

»Faktizität« ist der Titel für die Verstricktheit von Denkenund Leben. Wenn Heidegger an diesem Titel im Verlauf seinerKarriere nicht festhalten wird, so müssen wir sehen, dass erdem Phänomen »Faktizität« treu geblieben ist. Das philosophi-sche Denken ist in seiner Endlichkeit in die welthaften Verflech-tungen des jeweils Philosophierenden dermaßen eingewoben,dass es eine von diesen Verflechtungen vollkommen befreiteErkenntnis nicht geben kann. Zwei wesentliche Momente derVerstrickung in die »Faktizität« sind die Phänomene Spracheund Geschichte.

Bereits Aristoteles bezeichnet den Menschen als ein Lebewe-sen, das die Sprache hat (zoon logon echon). Menschliches Le-ben ist dadurch ausgezeichnet, dass es sich selbst über sich ver-ständigen kann. Für den Menschen ist charakteristisch, dass»das Leben immer in seiner eigenen Sprache sich anspricht undsich antwortet« (GA 58, 42). Leben und Sprache sind für denMenschen keine unabhängigen Phänomene, sondern gehörenvon vornherein zusammen. Die Betonung dieser Zusammenge-hörigkeit weist auf eine wichtige Tendenz von Heideggers Den-ken. Das Leben, das Heidegger in den Blick nimmt, ist das poeti-sche oder praktische Leben, das wir arbeitend und handelnd mitden Anderen führen, in dem wir uns in einem ständigen Ge-spräch befinden. Für die vermeintlich sprachlosen Instinkte undTriebe des Lebens bringt Heidegger nur wenig Interesse auf.

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Eine Phänomenologie des Lebens hat es damit zu tun,dass sich dieses Leben ausspricht. Leben geschieht in einemSpielraum von Bedeutungen oder »Bedeutsamkeiten«. UnserHandeln ist zweckhaft, wir verfolgen Ziele. So leben wir »imFaktischen als einem ganz besonderen Zusammenhang vonBedeutsamkeiten, die sich ständig durchdringen« (ebd., 105).»Bedeutsamkeiten« verweisen aufeinander, widersprechen,durchkreuzen sich. Wenn wir das Leben betrachten, müssenwir uns diesem ständigen Erscheinen von »Bedeutsamkeiten«zuwenden.

Die »Bedeutsamkeiten« des Lebens zeigen sich dem han-delnden Menschen einerseits in der Wahrnehmung. Sie »er-scheinen« und bilden als »Erscheinungen« den Gegenstandder »Phänomenologie«. Doch sie rufen danach, »ausgelegt« zuwerden. Unser faktisches Handeln besteht in einem unentweg-ten Auslegen von verschwindenden und neu auftauchendenZielen und Zwecken. Darum ist die Phänomenologie ein ausle-gender Umgang mit dem Erscheinenden. Die PhänomenologieHeideggers ist von Anfang an eine »phänomenologische Her-meneutik« (GA61, 187).

Vermutlich ist Heideggers Bezugnahme auf die »Hermeneu-tik« durch Wilhelm Dilthey4

4 Vgl. Diltheys Aufsatz «Die Entstehung der Hermeneutik« aus demJahre 1900 in Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie desLebens. Erste Hälfte. Abhandlung zur Grundlegung der Geistes-wissenschaften. Gesammelte Schriften. V. Band, Stuttgart 1957,S.317–338.

angeregt worden. Aber der Philo-soph macht selbst darauf aufmerksam, dass der erste expliziteHinweis auf die Hermeneutik den Gott Hermes als ihren Ahn-vater nennt (GA63, 9). Hermes ist der Bote, der den Menschenmitteilt, was die Götter über sie entschieden haben. Er ist derSprecher der Götter. Platon bestimmt in seinem Dialog Ion dieDichter als diejenigen, die mitteilen, was die Götter sagen. Siesind die Sprecher der Sprecher.

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Im Verlauf der Geschichte der Philosophie ist die Hermeneu-tik zu einer Auslegungskunst von Texten geworden. Die Her-meneutik etwa bei Friedrich Schleiermacher ist die Kunst des»Verstehens« von schriftlichen Mitteilungen. Für Heideggerstellt sich dies aber als eine Verkürzung des ursprünglichenBegriffs der Hermeneutik dar. Nach ihm ist das Leben in Bedeu-tungen überhaupt hermeneutisch. Das »faktische Leben« istgrundsätzlich ein Verstehen, sei es, dass es sich selbst verstehenund auslegen muss, sei es, dass es das, was in der Welt geschieht,interpretiert. Das Leben ist in sich hermeneutisch, weil es einfragendes, antwortendes, verstehendes und sich verkennendesLeben ist.

Die Berührung der Philosophie mit diesem sich verstehendenund missverstehenden Leben ist alles andere als ein einfachesPhänomen. Wie kommt die Philosophie eigentlich an das »fak-tische Leben« heran? Für gewöhnlich leben wir ziemlich unre-flektiert in den Tag hinein. Wir sind unmittelbar betroffen vondem, was uns geschieht. Die Philosophie ist indes ein vermit-telndes Denken, ist nicht nur die Reflexion unseres Handelns,sondern darüber hinaus die Reflexion der Reflexion. DieseSachlage zeigt sich in der Weise, wie die Philosophie ihre Ge-genstände be- und verhandelt, wie sie sie bespricht. Sie vermages nicht, einfach im »Faktischen« zu bleiben. Sie gibt den Pro-blemen des »faktischen Lebens« eine »Gegenständlichkeit«,welche die faktischen Phänomene normalerweise nicht haben,sie macht die lebendigen Phänomene zu Objekten, die sie imLebensvollzug nicht sind. Es besteht ein Unterschied zwischeneiner philosophischen Behandlung der Liebe oder des Todesund dem Leben, in welchem Liebe und Tod uns betreffen. FürHeidegger ist diese »formale Bestimmtheit des Gegenständli-chen« (GA60, 63) der Philosophie ein »Präjudiz«, eine vorge-gebene Einstellung, die auch die Begrifflichkeit des Philoso-phierens bestimmt. Eine »phänomenologische Hermeneutikder Faktizität« muss diese vorgegebene Einstellung berücksich-

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tigen. Dies leistet sie nach Heidegger mit der so genannten »for-malen Anzeige«. Sie ist eine hermeneutische Methode, welchedas »Faktische« »dahingestellt« sein lässt, »formal« auf es hin-zeigt, ohne es mit einer vorgegebenen philosophischen Begriff-lichkeit so zurechtzuschneiden, dass es seinen unmittelbarenSinn verliert. Für die »Hermeneutik der Faktizität« hat die»formale Anzeige« eine »unumgängliche Bedeutung« (GA59,85), weil sie die Geltungsansprüche der philosophischen Be-griffsordnungen einschränkt. Die »formale Anzeige« versuchtdas »Faktische« in der Philosophie so erscheinen zu lassen, wiees ist.

Die »Bedeutsamkeiten«, die wir im Leben verstehen undauslegen, bilden einen bestimmten zeitlichen Zusammenhangaus. Wir leben nicht nur im Heute, sondern haben es mit Bedeu-tungen zu tun, die uns von früheren Generationen überliefertwerden oder die noch aus der Zukunft auf uns zukommen. Das»faktische Leben« ist ein Leben in der Geschichte. Der früheHeidegger bezeichnet dieses Phänomen als »das Historische«(GA60, 31). Er geht so weit zu behaupten, dass der Begriff des»Faktischen« nur vom »Begriff des ›Historischen‹ her ver-ständlich« wird. Denn das »Faktische« unseres Lebens ist im-mer auf die eine oder andere Weise von der Geschichte herbestimmt. Wer kann zum Beispiel noch ein Flugzeug besteigen,ohne sich unwillkürlich an die Bilder vom Anschlag auf dasWorld Trade Center zu erinnern?

Mit diesem Phänomen hängt zusammen, dass das »Histori-sche« nicht bloß als Gegenstand der Geschichtswissenschaftaufgefasst werden darf. In der Geschichtswissenschaft wird das»Historische« nicht mehr aus der »Faktizität des Lebens« herverstanden, sondern als ein zu erforschender Gegenstand ob-jektiviert. Heidegger geht es um die »unmittelbare Lebendig-keit« des »Historischen« oder, wie er anschaulich sagt, um die»lebendige Geschichtlichkeit, die sich in unser Dasein gleich-sam eingefressen hat« (ebd.,33). Die »lebendige Geschichtlich-

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keit« teilt sich uns vordringlich aus der Überlieferung mit. Eine»lebendige Geschichtlichkeit« ist eine kulturelle Erbschaft, diewir in der Geschichtswissenschaft vergegenständlichen kön-nen, in der wir (und das heißt auch die Historiker) aber primär»leben«. Die Fundamente der europäischen Kultur in der grie-chischen Philosophie, dem römischen Rechtsdenken und derchristlichen Religion bilden eine »lebendige Geschichtlich-keit«. Überall lassen sich ihre Spuren im »faktischen Leben«auffinden. Um ein Beispiel zu nennen, sei auf die Shoah verwie-sen. Sie hat einerseits immer wieder Einfluss auf unser alltägli-ches Leben, kann aber andererseits zum Gegenstand der Ge-schichtswissenschaft gemacht werden. Für Heidegger hat die»unmittelbare Lebendigkeit« der Geschichte einen Vorrang vorihrer Vergegenständlichung in der Wissenschaft. Dieser Vor-rang ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass das »faktische Le-ben« selbst stets den Bezugspunkt bilden soll, an den die Ge-schichte zurückgebunden bleibt. Geschichte ist für ihn immerhier und jetzt gelebte Geschichte. Wenn sie zu einem reinenWissensobjekt gemacht wird, wird ihr eigentlicher Sinn ver-fehlt. Später wird sich dieser Gedanke, dass Geschichte vor-dringlich gelebte Geschichte ist, zuweilen in einer unbändigenWut auf die Geschichtswissenschaft Luft machen, da sie nachHeidegger den Kontakt mit der »lebendigen Geschichtlichkeit«verloren hat.

Heideggers frühe Wendung zur Geschichte ergibt sich syste-matisch aus der Bestimmung einer »phänomenologischen Her-meneutik der Faktizität«. Das »faktische Leben« ist in sich ge-schichtlich verfasst. Ich habe gezeigt, inwiefern sich aus dieserBestimmung der Philosophie gewisse methodische Problemeergaben. Erstens entsteht eine Spannung im Verhältnis von Phi-losophie und Wissenschaft. Wissenschaftlichkeit, wie sie bei-spielsweise Max Weber definiert, besteht in einer Vorausset-zungsfreiheit der Perspektive, die wir im »faktischen Leben«niemals einnehmen oder auch nur anstreben. In ihm geht es

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gerade um praktische Ziele und Zwecke, um Realisierungenvon ethischen Orientierungen und Voraussetzungen. Zweitensergibt sich eine Spannung zwischen der »Hermeneutik der Fak-tizität« und den überlieferten Begriffsstrukturen der Philoso-phie selbst. Diese Spannung bekundet sich in HeideggersGedanken einer »formalen Anzeige«, einer spezifisch herme-neutischen Zugangsweise zum »Faktischen«. Diese beiden Pro-bleme konzentrieren sich in der Bedeutung der »lebendigenGeschichtlichkeit« des Denkens. Denn beide entstammen derkulturellen Überlieferung des europäischen Denkens. Die Fra-gen: Wie verhält sich die Philosophie zu einem etablierten Idealder Wissenschaftlichkeit?, oder: Vermag die Philosophie ausihrer eigenen Überlieferung heraus das »faktische Leben« zuerreichen?, lassen es als notwendig erscheinen, die Geschichtedes europäischen Denkens selbst einer »Destruktion« zu unter-ziehen. Sie wird als ein »Grundstück phänomenologischen Phi-losophierens« (GA59, 35) eingeführt.

Das Wort »Destruktion« stammt vom lateinischen Wort»destruere« (zerstören) ab. Die »phänomenologische Destruk-tion« der europäischen Geschichte des Denkens hat hingegennicht die Absicht, das überlieferte wissenschaftliche bzw. phi-losophische Denken bloß zu zerstören. Vielmehr soll sie dieseÜberlieferung so erschüttern, dass Verdeckungen und Verstel-lungen der Quellen dieser Überlieferung abgetragen werden. Esgibt in Heideggers Denken von Anfang an eine Neigung, dieUrsprünge des »faktischen Lebens« und das aus diesen hervor-kommende und in sie zurückgehende Denken freizulegen.Diese Intention bezeugt bereits die erste Kennzeichnung derPhänomenologie als einer »Ursprungswissenschaft«.

Es gehört zu Heideggers Eigentümlichkeiten, dass sich fürihn die Herkunft einer europäischen »Faktizität« oder, wennman so will, Identität aus zwei Quellen speist. Die »Hermeneu-tik der Faktizität« hat es mit einer »griechisch-christlichenLebensauslegung« (NB, 259) zu tun. Dem Traditionsstamm

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der römischen Antike schenkt Heidegger zunächst keine Auf-merksamkeit, später wird er ihm polemisch begegnen. Die»Destruktion« der europäischen Geschichte des Denkens be-zieht sich dementsprechend auf jene beiden Quellen. So schreibter im Wintersemester 1920/21:

»Es wird nicht zu vermeiden sein, daß die Aufdeckung der Phäno-menzusammenhänge die Problematik und Begriffsbildung von Grundaus ändert und eigentliche Maßstäbe beistellt für die Destruktionder christlichen Theologie und der abendländischen Philosophie.«(GA60, 135)

Am Ausgangspunkt seines Denkens bezeichnet Heidegger dieThemenfelder, mit denen er sich zeit seines Lebens beschäftigensollte. Es geht um eine Destruktion bzw. Freilegung der Her-künfte unseres Lebens; eines Lebens, das sich selbst zu verste-hen sucht und darum seine Geschichte betrachtet.

1.2 Die urchristliche »Faktizität des Lebens«

Eine oder vielleicht auch die wesentliche Habitualisie-rung unseres (das heißt europäischen) Lebens ist dasChristentum. Um dieses Leben philosophisch auszulegen,ist es nötig, seine christliche Disposition zu untersuchen.Das macht es nötig, so nahe es geht an den Ursprung desChristentums zurückzukehren. Ihn finden wir in dengrundlegenden Dokumenten der christlichen Urgemein-de. Ihre Auslegung fördert zu Tage, dass das Hauptcha-rakteristikum des christlichen Lebens in einem besonde-ren Verhältnis zur Zukunft besteht.

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In einem kurzen Text aus dem Jahre 1954 erinnert sich Heideg-ger an seine Kindheit:

»In der Frühe des Weihnachtsmorgens gegen halb vier Uhr kamen dieLäuterbuben ins Mesmerhaus. Dort hatte ihnen die Mesmermutterden Tisch mit Milchkaffee und Kuchen gedeckt. Er stand neben demChristbaum, dessen Duft von Tannen und Lichtern noch vom Hl.Abend her in der warmen Stube lag. Seit Wochen, wenn nicht dasganze Jahr, freuten sich die Läuterbuben auf diese Stunde im Mesmer-haus. Worin mag sich ihr Zauber verborgen haben?« (GA13, 113)

Heideggers Vater war »Mesmer« oder »Küster« der katholi-schen Kirche St. Martin am Schloss in Meßkirch, dem Geburts-ort des Philosophen. Die »Läuterbuben« erschienen, um beim(überregional berühmten, inzwischen im Internet zu hörendensiebenstimmigen) Läuten der Glocken zu helfen und das Ge-heimnis des Glockenturms erklingen zu lassen. Der katholischeTheologe Conrad Gröber, ebenfalls in Meßkirch geboren undab 1932 Erzbischof in Freiburg, gehörte zu den ersten Förde-rern des heranwachsenden Denkers. Es lag nahe, dass Heideg-ger im Winter 1909/10 begann, in Freiburg Theologie zu stu-dieren. Viel später, wiederum um das Jahr 1954, schrieb Hei-degger: »Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie aufden Weg des Denkens gelangt. Herkunft aber bleibt stets Zu-kunft.« (GA12, 91) Heideggers philosophischer Anfang ist mitjenem »Zauber« des »Duftes von Tannen und Lichtern« ver-bunden. Seine späteren Polemiken gegen das Christentum rich-ten sich gegen eine spezifische Art von christlicher Heuchelei,keineswegs jedoch gegen das christliche Leben an sich.

Wenn sich im fortgeschrittenen Denken Heideggers kaumnoch Spuren einer systematischen Auseinandersetzung mit derTheologie oder mit dem Christentum finden lassen, so ist dasam Beginn seiner Dozententätigkeit anders. Die phänomenolo-gisch-hermeneutische Erforschung der »Faktizität des Lebens«führt von sich zum Phänomen der »Geschichte«. Diese muss

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der Philosoph einer Destruktion unterziehen, einer Freilegungder ursprünglichen Gedanken, die im Verlauf der Geschichtedurch fortwährende, sich ablagernde Auslegungen verschüttetwurden. Im Zuge dieser hermeneutischen Wendung zur Ge-schichte schreibt Heidegger schon im Sommersemester 1920:

»Es besteht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzungmit der griechischen Philosophie und der Verunstaltung der christli-chen Existenz durch sie. Die wahrhafte Idee der christlichen Philoso-phie; christlich keine Etikette für eine schlechte und epigonenhaftegriechische. Der Weg zu einer ursprünglichen christlichen – griechen-tumfreien – Theologie.« (GA59, 91)

Der Fokus auf das Christentum ist die »christliche Existenz«,ein ohne Zweifel durch Kierkegaard beeinflusster Begriff. Sieunterliegt einer »Verunstaltung« durch die »griechische Philo-sophie«, die »destruktiv« zu beseitigen ist. Erst auf Grund einersolchen »Destruktion« kann die »wahrhafte Idee der christli-chen Philosophie« in den Blick genommen werden.

Das Motiv zur Bezugnahme auf die »christliche Existenz«ergibt sich aus der phänomenologisch-hermeneutischen Un-tersuchung des »faktischen Lebens«. Dieses erscheint als in»geschichtlichen Zusammenhängen« verstrickt. Die Absicht,»ein echtes und ursprüngliches Verhältnis zur Geschichte zugewinnen«, dient einer Erhellung der »Faktizität«. Heideggerkonturiert diese Absicht mit der methodischen Erkenntnis,dass es »eine Geschichte nur aus einer Gegenwart heraus gibt«.Wenn sich aus diesen Vorgaben eine Bezugnahme zur christli-chen Existenz ergibt, dann muss diese sowohl mit der Fragenach der Geschichte als auch mit der »Gegenwart« (GA 60,124f.), von der aus diese Frage gestellt werden muss und in wel-che sie stets zurückgebunden bleibt, zusammenhängen.

Das Verhältnis von »Geschichte« und »Gegenwart« betrifftnicht nur das methodische Problem, dass jede Auffassung des»Sinns der Geschichte« vom Standpunkt desjenigen abhängt,

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der ihn auffassen möchte. Dass die Gegenwart mit dem »Sinnder Geschichte« verknüpft ist, verweist auf das Verhältnis vonGeschichte und Zeit. Das Leben in der Geschichte ist ein in sichzeitliches Phänomen. Das leuchtet darum unmittelbar ein, weildie Geschichte Fakten und Daten enthält, die vergangen sind.Aber diese haben nicht bloß als Vergangenes eine Bedeutung.Indem wir uns aus der Gegenwart heraus mit der Geschichteauseinandersetzen, hat sie eine Bedeutung für das »faktischeLeben« hier und jetzt.

Die Frage nach der Geschichte wirft das Problem der »Zeit-lichkeit« des »faktischen Lebens« auf. Die phänomenologischeDenkweise gebietet, dieses Verhältnis von Geschichte und »Zeit-lichkeit« in der »ursprünglichen faktischen Erfahrung von Zeit-lichkeit« selbst zu explizieren. Diese »faktische Erfahrung« der»Zeitlichkeit« untersucht Heidegger im Blick auf die »urchrist-liche Religiösität«. Sie ist für ihn die »faktische Lebenserfah-rung« selbst. Denn: »Die faktische Lebenserfahrung ist histo-risch. Die christliche Religiosität lebt die Zeitlichkeit als sol-che.« (Ebd.,80) Der Schlüssel zur Interpretation der christlichenExistenz ist das Faktum, dass sich das urchristliche Leben als einVollzug der »Zeitlichkeit als solcher« und damit genuin als einLeben in der Geschichte darstellt.

Um diese Zusammenhänge deutlich werden zu lassen, führtHeidegger eine Interpretation der im Neuen Testament über-lieferten zwei Briefe an die Thessalonicher (ebd., 87 ff.), die erbeide dem Paulus zuschreibt, durch. Aus dieser Auslegungextrahiert Heidegger die Grundzüge einer »urchristlichen Reli-giösität« bzw. einer »christlichen Existenz«.

Das »Ziel« der »urchristlichen Religiösität« ist das »Heil«(soterıa) und das »Leben« (zoe). Aus diesen beiden Polen sei»die Grundhaltung des christlichen Bewußtseins« zu verste-hen. Der urchristliche Bezug zum Heil und zu dem aus diesemBezug entspringenden Leben sei nur aus einer spezifischen Situ-ation der Existenz zu verstehen. Das Heil wird »verkündigt«

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und mit ihm der Anspruch verbunden, das alltägliche, von vor-christlichen Gewohnheiten geprägte Leben hinter sich zu las-sen. In der »urchristlichen Existenz« geht es um einen »vollenBruch mit der früheren Vergangenheit, mit jeder nicht-christli-chen Auffassung des Lebens« (ebd., 69). Dieser »volle Bruch«betrifft die Vergangenheit der jeweiligen Existenz. Zugleichbesteht er in einer »absoluten Umwendung« (ebd.,95). Es gehtnicht nur darum, dasjenige, was einst als Gewohnheit galt, hin-ter sich zu lassen, sondern sich einer anderen Existenzweisezuzuwenden, indem diese als eine Möglichkeit des Lebens über-nommen und realisiert wird.

Mit diesem »vollen Bruch« erhält das christliche Leben eineganz eigentümliche Charakteristik. Die »absolute Umwen-dung« als »Bruch« ist nicht als sukzessive Veränderung zu ver-stehen. Im »Bruch« hört augenblicklich etwas auf, etwas an-deres beginnt. Das christliche Leben beginnt erst dann, wenndieser »Bruch« vollzogen wird. Dabei ist es nicht so, als würdedas anders angefangene Leben vom handelnden Subjekt her-stammen. Die »Faktizität« des christlichen Lebens kann »nichtaus eigener Kraft gewonnen werden«, sie »stammt von Gott«(ebd.,121). Die christliche Existenz ist sich dessen bewusst, dasssie der »Gnade« Gottes entspringt. Christ zu sein steht ur-sprünglich nicht im Vermögen des Menschen. Die christlicheExistenz ist eine Gabe Gottes, die nur durch jenen »Bruch«, dereine vergangene Zeit beendet und eine neue Gegenwart er-schließt, zu empfangen ist.

Diese Zuwendung zu einer neuen Gegenwart ist für die»urchristliche Faktizität« damit verbunden, dass Jesus Chris-tus seine Wiederkehr angekündigt hat. Dadurch entsteht in derGegenwart eine eigentümliche Spannung, die nicht nur Auswir-kungen auf das Zukünftige, sondern auf das Leben jetzt undhier hat. Das Heil ist nicht aus der Gegenwart allein zu gewin-nen. Es kommt vielmehr auch aus der Zukunft. Dadurch gerätdas Leben in der Gegenwart in eine »Bedrängnis«. Die »Erwar-

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tung der Wiederkunft des Herrn« bringt eine »Not« hervor.Alles, was in der Gegenwart getan wird und getan werden muss,steht unter dem Zeichen dieser »Wiederkehr«. Der Christ »lebtständig im Nur-noch, das seine Bedrängnis erhöht« (ebd.,119).Was getan werden muss, muss »noch« getan werden. Die christ-liche Existenz, die in einem »vollen Bruch« das vergangene,nicht-christliche Leben hinter sich gelassen hat, kann sich der»Bedrängnis« nicht entziehen. Es muss sich für die »Wiederkehrdes Herrn« durch ein »Sich-hinein-Stellen in die Not« (ebd.,98)offen halten. Die faktische Erfahrung der Zeit und der Ge-schichte besteht also in einer solchen »Not« hinsichtlich einerzukünftigen Erfüllung der Existenz.

Diese Art der »zusammengedrängten Zeitlichkeit« erlaubtes nicht, den Zeitpunkt der Rückkehr des Herrn genauer zuerfragen oder zu bestimmen. Die »faktische Erfahrung« dieserZeitlichkeit kennt keine »eigene Ordnung und feste Stellen«(ebd., 104). Sie ist weder eine objektive noch eine subjektiveZeiterfahrung. Die »Wiederkehr des Herrn« kann nicht »alszukünftig in der Zeitlichkeit stehendes abgehobenes Ereignis«(ebd., 114) erwartet werden. Die christliche Existenz bestehteinzig und allein im augenblicklichen Erleiden einer »Not«, diedem verkündeten Heil entspringt.

Diese »Not« wird durch eine besondere »faktische Erfah-rung« verstärkt. Im Zweiten Brief an die Thessalonicher sprichtdessen Verfasser von einer bestimmten Bedingung für die Rück-kehr Gottes. Erst müsse ein »Widersacher« (Zweiter Brief andie Thessalonicher 1, 4) erscheinen, bevor der Herr wieder er-scheine. Dieser »Widersacher« wird als »Satan« (1,9) bezeich-net. Es ist vielleicht charakteristisch für Heidegger, dass er die-sen Sachverhalt besonders ernst nimmt. Denn er folgert: »Werwahrhaft Christ ist, das wird dadurch entschieden, daß er denAntichrist erkennt.« (ebd., 110) Die besondere Zeiterfahrungder christlichen Existenz impliziert ein »Erkennen« des »Wi-dergöttlichen« (ebd., 155). Dieses »Erkennen« besteht darin,

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die vom »Antichrist« verbreiteten Lügen und Verführungen zudurchschauen. Das Heil kann nicht ohne diese Möglichkeit,sich in den Verführungen des »Widergöttlichen« zu verirren,erlangt werden. Die »Bedrängnis« der Gegenwart der christ-lichen Existenz wird von der Präsenz des »Antichristen« ent-scheidend bestimmt.

Die christliche Existenz, welche die »Zeitlichkeit als solche«»lebt«, kennt das »Widergöttliche«, das sich primär weder alsUrsünde noch als moralische Verfehlung, sondern in der realenGestalt des »Antichristen« darstellt. In einem Brief aus demJahre 1921 schreibt Heidegger an seinen Lehrer Rickert: »DieGewissenserforschung innerhalb der Phänomenologie ist un-umgänglich geworden.«5

5 Heidegger/Rickert 2002, S.57.

Diese Bemerkung steht ohne Zweifelin einem religionsphilosophischen Kontext. »Gewissenserfor-schung« wird in der christlichen Existenz nötig, weil in der»faktischen Erfahrung« der Zeitlichkeit das »Widergöttliche«hervorkommt. Vielleicht wird man die häufig formulierte Kri-tik an Heideggers vermeintlicher Taubheit für moralische oderethische Fragen insofern besser begründen können, als manerkennt, dass Heideggers Zugang zu den Verirrungen des »fak-tischen Lebens« eine Versubjektivierung von Moral und Ethikverbietet. Jedenfalls fasst Heidegger in den Analysen der christ-lichen Existenz das Böse nicht als eine subjektive Eigenschaftdes Menschen, sondern als einen Charakterzug der Geschichteselbst auf.

Heideggers phänomenologisch-hermeneutische Auseinan-dersetzung mit der christlichen Überlieferung des Glaubenssteht im Zeichen der Herausarbeitung einer urchristlich-fakti-schen Existenz, eines Christentums an seinem Ursprung. SeineAbsicht entspringt dem Programm der »phänomenologischenDestruktion« der Geschichte. Im Mittelpunkt dieser Freilegungsteht der Versuch, ein ursprünglicheres Verstehen des »fakti-

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schen Lebens« mit seiner Verstricktheit in Zeit und Geschich-te zu ermöglichen. Heideggers Auseinandersetzungen mit der»christlichen Existenz« fallen in den engen Zeitraum vom Be-ginn der zwanziger Jahre. In dieser Form ist er auf sie nie mehrzurückgekommen. Das freilich erlaubt es nicht, die Bedeutungdieser Analysen für Heideggers Denken zu unterschätzen. So istunbezweifelbar, dass Heideggers eigene Auffassung der Zeit-lichkeit in ihrer ganzen Breite eher von einem christlichen alsvon einem griechischen Zeitverständnis bestimmt worden ist.Das wichtigste Charakteristikum dieser Zeitauffassung bestehtsowohl im Vorrang der Zukunft vor der Vergangenheit undder Gegenwart als auch darin, dass das Verhältnis zu dieserZukunft eine besondere Bedeutung für die aktuelle Praxis hat,indem sie sie radikal verwandelt.

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1.3 Anfänge mit Aristoteles und Platon

Neben dem Christentum bildet die Philosophie und Dich-tung des antiken Griechenland die zweite wesentlicheÜberlieferung der europäischen Existenz. Der Versuch,diese Überlieferung zu verstehen, führt also notwendigdazu, auch diesen Traditionsstrang auszulegen. Im Ver-lauf dieser Interpretation wird deutlich, inwiefern dieBegrifflichkeit unseres Verstehens immer wieder unbe-merkt von der platonisch-aristotelischen Ontologie beein-flusst wird. Um diese unbemerkte Einfärbung des Verste-hens zu durchschauen, ist es unvermeidbar, den Ursprungdieser Tradition im Denken von Platon und Aristoteles zubetrachten. Dabei wird erkannt, dass das fundamentalstePhänomen, um das es dem Philosophen gehen muss, nichtdas Leben, sondern das Sein ist.

Heidegger geht davon aus, dass eine Erkenntnis der »Faktizitätdes Lebens« nur durch eine Auslegung seiner geschichtlichenHerkunft zu gewinnen ist. Die geschichtliche Herkunft »unse-rer« »Faktizität« bildet die »griechisch-christliche Lebensaus-legung«. Eine »Hermeneutik der Faktizität« muss sich darüberRechenschaft ablegen, dass ihre Begrifflichkeit und ihre prakti-sche Bedeutung von dieser »Lebensauslegung« bestimmt wird.

Die anthropologischen Selbstverständlichkeiten, die unserMenschenbild unthematisch prägen, entstammen einer christ-lichen Auslegung griechischer Quellen. Der Ausgangspunkteiner solchen Auslegung ist für Heidegger die Philosophie desAristoteles. Die christliche Auffassung des Menschen vor allemin der scholastischen Theologie des Mittelalters, die Heideggerdurch sein Studium der katholischen Theologie sehr genaukannte, besteht in einer spezifischen Rückübertragung christ-

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lich-theologischer Kategorien auf die aristotelische Philoso-phie. Daher lag es für Heidegger nahe, die Ausarbeitung der»Faktizität des Lebens« auf eine hinter die christlich-scholasti-sche Aneignung des Aristoteles zurückgehende ursprünglichereInterpretation dieser Philosophie zurückzuführen. Das frühes-te Dokument dieses Rückgangs ist ein Text, den HeideggerEnde 1922 auf Nachfrage des Philosophen Paul Natorp anfer-tigte, der den Text verlangte, um eine Grundlage für die Beset-zung einer in Marburg vakant gewordenen Professorenstelle(die Heidegger dann auch erhielt) zu haben. Dieser so genannteNatorp-Bericht fasst Resultate zusammen, die Heidegger ineben jenen Jahren in seinen Vorlesungen vortrug. Zudem bildeter die Keimzelle des fünf Jahre später erschienenen Buches Seinund Zeit. Er stellt sich als eine phänomenologische Auslegungvon aristotelischen Texten dar.

Die Besonderheit von Heideggers Zugang zur Philosophiedes Aristoteles besteht in dem Sachverhalt, dass der Philosophdie Texte des großen Mit-Initiators der abendländischen Philo-sophie vor allem als eine begriffliche Entfaltung des poetisch-praktischen Lebens auslegt. Entscheidend dabei ist die Ver-schiebung, die der Lebens-Begriff in dieser Interpretation er-fährt. Das Leben wird nun als das »Sein« aufgefasst, das Lebenwird »ontologisch« verstanden: »Es kommt auf Sein an, d. h.daß es ›ist‹, Seinssein, daß Sein ›ist‹, d.h. als Sein echt und nachseinem Belang (im Phänomen) da ist.« (GA 61, 61), schreibtHeidegger in einer Vorlesung dieser Zeit. In diesem Kontextwird das Leben als »menschliches Dasein«, d.h. als ein beson-deres »Seiendes« charakterisiert: »Leben = Dasein, in unddurch Leben ›Sein‹.« (ebd.,85) Der Gegenstand des philosophi-schen Denkens ist der »Seinscharakter« des »menschlichenDaseins«. Die hermeneutische Phänomenologie wird zu einer»ontologischen Phänomenologie« (ebd., 60). Damit stellensich die Weichen für die Begrifflichkeit von Sein und Zeit.

Diese Verschiebung des Lebens-Begriffs zur Frage nach dem

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»Sein« ist der entscheidende Schritt für Heideggers Philosophieüberhaupt. Die Frage nach dem »Sinn von Sein« (GA2, 1) wiees in Sein und Zeit heißen wird, hat Heideggers Denken um-getrieben und immer wieder angestoßen. Sie ist der Dreh- undAngelpunkt seiner eigentümlichen Wege. Ich werde darauf zu-rückkommen.

Die Uminterpretation des »Lebens« zum »Sein« geht zurückauf Anstöße, die Heidegger von der Philosophie des Aristotelesempfing. Dessen Ontologie entfaltet sich in seinen Vorlesungenüber die Natur bzw. über die Physik (physis= Natur) und überdas Seiende, das über die Natur hinausgeht und den Hin-tergrund der Natur bildet (das Seiende meta ta physika = dasSeiende »hinter« den Naturdingen). Am Beginn des vierten Bu-ches der Vorlesungen (1003a, 21) zur Metaphysik stellt Aristo-teles eine Wissenschaft (episteme) vor, die das Seiende als Seien-des (to on he on) betrachtet. Diese Theorie des Seienden ist mitkeiner anderen Wissenschaft vergleichbar, da diese anderenWissenschaften jeweils besonderes Seiendes, beispielsweise dasSeiende als Zahl, untersuchen, nicht aber allgemein vom Seien-den als Seiendem handeln. Da die Philosophie ein Fragen nachden ersten Ursachen (aıtia oder archaı) des Seienden ist, musseine Theorie des Seins nach den ersten Ursachen des Seiendenals solchem suchen.

Diese besondere Theorie des Seins unterscheidet das Denkendes Aristoteles von anderen Wissenschaften. Nicht alles Wissenhat es mit den ersten Gründen des Seins zu tun. So gibt es nebendem theoretischen Wissen (episteme theoretike) ein Wissen vonder Politik (episteme politike) vom Handeln (episteme prak-tike) und eines vom Hervorbringen (episteme poietike). Dastheoretische Wissen umfasst drei Seinsregionen: die natürli-chen Dinge (Physik), die Zahlen (Mathematik) und das Göttli-che (Theologie). Diese theoretischen Wissenschaften haben vorden anderen einen Vorzug. Unter diesen drei Seinsregionen ragtwiederum die des Göttlichen hervor. Die Theorie, die das Gött-

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liche thematisiert, ist folglich die erste Philosophie (prote philo-sophıa, 1026a, 24) von allen.

Das Seiende zu untersuchen, bedeutet zuerst, sich mit demWesen (ousıa) des Seienden zu beschäftigen. Das Wesen wirdvon Aristoteles dreifach differenziert (1069 a, 30). So gibt eszwei natürliche (bewegte), sinnlich wahrnehmbare Wesen, dievon einem dritten unbewegten unterschieden sind. Die zweinatürlichen Wesen sind erstens Lebewesen jeder Art, die verge-hen, so wie zweitens die Sterne, die ewig sind. Das unbewegteWesen ist das Göttliche (theıon) oder der Gott (theos). DieserGott ist nach Aristoteles ganz und gar Geist bzw. Denken(nous). Er ist die reine Wirklichkeit (energeia), er vollzieht diebeste aller möglichen Tätigkeiten, indem er unermüdlich zudenken vermag. Da er nur das Beste zu denken vermag, denkter immerwährend sich selbst. Darum kann Aristoteles diesesWesen als das sich selbst denkende Denken (noesis noeseos,1074 b, 34) bezeichnen. Diesem Göttlichen fällt zudem dieBedeutung zu, das All des Seienden in Bewegung gesetzt zuhaben. Es ist das Wesen, das Alles bewegt, ohne selbst bewegtzu werden (ti kinoun auto akıneton, 1072 b, 7). Dieses Wesenist das erste unbewegt Bewegende (proton kinoun akıneton).

Nun besteht nach Aristoteles die höchste Glückseligkeit desMenschen darin, dieses Göttliche zu betrachten. Eine solcheBetrachtung ist keine praktische und poetische, sondern einetheoretische Tätigkeit. Mit diesem Votum für die Theorie oderdie erste Philosophie als Theologie hat Aristoteles der europäi-schen Philosophie sowie der christlichen Theologie eine Rich-tung gegeben, die noch heute das Ethos und Pathos vieler Philo-sophen bestimmt.

Heidegger jedoch hat dieser aristotelischen Entscheidungwidersprochen. Im Mittelpunkt der konkreten Auslegung aris-totelischer Texte steht für Heidegger das Sechste Buch derNikomachischen Ethik, in dem Aristoteles die so genannten»dianoetischen Tugenden«, d. h. diejenigen Tugenden oder,

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dem griechischen Wort aretaı entsprechender, Bestheiten, diedas Denken und Erkennen leiten, erläutert. Von diesen Tugen-den werden zwei von Heidegger hervorgehoben: die Klugheit(phronesis) und das Wissen (sophıa).

Die phronesis ist nach Heidegger eine »fürsorgende Um-sicht« (NB, 255) für die praktischen Belange des alltäglichenLebens. Sie leitet den Umgang mit den Angelegenheiten, dieunser Leben betreffen, ohne dass schon die eigentlichen undletzten Fragen gestellt werden. Die phronesis ist eine Art desWissens, das uns in den täglichen Geschehnissen des Lebensweiterhilft. Sie kennt nicht die letzte Wahrheit des theoreti-schen Wissens, sondern eine Wahrheit, die eine praktischeBedeutung hat. Diese »Wahrheit der Praxis« findet sich im »je-weils unverhüllten vollen Augenblick des faktischen Lebens imWie der entscheidenden Umgangsbereitschaft mit ihm selbst«(ebd., 259). Dieser »volle Augenblick des faktischen Lebens«enthält den gesamten Bereich unseres nicht auf letzte Erkennt-nisgültigkeit ausgehenden Handelns. Da Heidegger in jenerZeit, als er eine tiefe Beschäftigung mit dem Denken des Aristo-teles beginnt, sich vor allem dem Phänomen des »faktischenLebens« widmete, wird verständlich, inwiefern er gerade diedianoetische arete der phronesis für eine entscheidende Ent-deckung des Aristoteles gehalten hat.

Dagegen geht Heidegger mit der sophıa anders um. Sie seiein »eigentliches, hinsehendes Verstehen« (ebd., 255), das sei-ne höchste Erfüllung in der Betrachtung der »Idee des Göttli-chen« (ebd., 263) finde. Anders als die phronesis, die sich mitder »Wahrheit der Praxis« auskennt, erkennt die sophıa diehöchste theoretische Wahrheit. Diese ist das Göttliche, dasAristoteles nicht in einer »religiösen Grunderfahrung zugäng-lich« wurde, sondern »in der ontologischen Radikalisierungder Idee des Bewegtseienden«. Dieses »Bewegtsein« bestehtnach Heidegger in einem »reinen Vernehmen«, das »frei vonjedem emotionalen Bezug zu seinem Worauf« ist. Gleichgültig,

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ob diese Interpretation Heideggers zutreffend ist oder nicht:Worauf Heidegger hinaus will, das sind »die ontologischenGrundstrukturen, die späterhin das göttliche Sein im spezifischchristlichen Sinne« bestimmt haben. Er will darauf aufmerk-sam machen, dass die christliche Theologie und die unter ihremEinfluss stehenden philosophischen Spekulationen etwa desDeutschen Idealismus, indem sie auf die erste Philosophie desAristoteles zurückgehen, »in erborgten, ihrem eigenen Seins-felde fremden Kategorien« sprechen. Dagegen betont Heideg-ger eine klare Differenz zwischen der griechischen Ontologieund der christlichen Predigt. Wir sahen bereits, wie der Philo-soph paulinische Texte des Urchristentums auslegt, ohne sich in»ontologische Grundstrukturen« zu verstricken, die durch dieAristoteles-Rezeption des Mittelalters in die christliche Theolo-gie eingedrungen sind.

Heideggers Auseinandersetzung mit der Philosophie desAristoteles wird von der Absicht getragen, in der Differenzie-rung von griechischer Philosophie und christlicher Religion einFundament für das eigene Denken zu finden. Er glaubt, dassder Verlauf des europäischen Denkens eine Traditionsverwir-rung hervorgebracht hat, in der das ursprüngliche Wissen vondem, was die Philosophie und was ein Philosoph ist, verlorenging. Im Rückgang auf die griechische Philosophie glaubte Hei-degger, sich ein solches Wissen erarbeiten zu können. Dies ver-suchte er jedoch nicht nur in einer Auseinandersetzung mitAristoteles, sondern auch mit Platon.

Von der Annäherung an die platonische Philosophie zeugtdie Marburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1924/25über den Dialog Sophistes. Heidegger geht auf Platons Denkenzu, indem er einen Rückgang zu ihm durch Aristoteles voll-zieht. Dessen Denken ist dem theologisch geschulten Heideggervertrauter. So hält er sich an den hermeneutischen Vorsatz,»daß man beim Auslegen vom Hellen ins Dunkle gehen soll«(GA19, 11). Der Bezug zu Platon soll tiefer in den Ursprung der

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europäischen Philosophie reichen. Von Platon will Heideggererfahren, was die ursprüngliche Bestimmung der Philosophieund des Philosophen ist.

Denn »die Aufgabe, zu klären, was der Philosoph sei« (ebd.,245), leiste derjenige Dialog, der erörtert, was ein Sophist imUnterschied zum Philosophen sei. Doch Heidegger will diesenUnterschied nicht einfach bloß mitteilen, sondern in einer Inter-pretation des Dialogs sorgfältig entfalten. Mit Platon geht esum eine »Vergegenwärtigung der Sachen«, die explizieren, wasein Sophist ist. So werde dieser Dialog zu einer »Probe«, ob diePhilosophie des 20. Jahrhunderts »über die Freiheit der Sach-lichkeit verfügt« (ebd.,257). In der Auseinandersetzung mit dergriechischen Philosophie soll sich erweisen, ob das Denken inder Moderne noch die Kraft aufbringt, »Philosophie« zu sein.

Dabei ist es offenkundig unmöglich, das Wesen des Philoso-phen zu erläutern, ohne danach zu fragen, was das Thema derPhilosophie ist. Heideggers Interesse an diesem Dialog giltbesonders den Passagen, in denen Platon dieses Thema zur Dar-stellung bringt. In diesem Sinne ist folgende Äußerung Platonsvon größter Wichtigkeit. Sie hat Heidegger später zum Mottovon Sein und Zeit gemacht: »Da nun wir keinen Ausweg wis-sen, so müsst ihr selbst uns zeigen, was ihr doch andeuten wollt,wenn ihr Seiendes (on) sagt. Denn offenbar wisst ihr dies seitlangem, wir aber glaubten es vorher zwar zu wissen, jetzt abersind wir ratlos.« (Stephanus-Zählung 244a) Die Frage nach derBedeutung des Seienden zu beantworten sei »das eigentlichzentrale Bemühen« »des ganzen Dialogs« (GA19, 447).

Die Auseinandersetzung um die Bedeutung des Seiendenwird von der Hauptfigur des »Sophistes«, von dem »Fremden«(xenos), etwas später als eine gigantomachıa perı tes ousıas(St.246a), als eine Riesenschlacht um das Sein bezeichnet. Hei-degger stellt sich dementsprechend die Frage, was der »Frem-de« mit diesem Hinweis auf diesen philosophischen Krieg umdas Sein sagen will. Um was handelt es sich bei dieser rätselhaf-

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ten Charakterisierung? Nach Heidegger geht es »um die Ent-deckung des Seienden, das dem Sinn von Sein eigentlich ge-nügt« (GA19, 466). Das ist eine Einsicht, die nicht nur eines derHauptwerke der Philosophie des 20. Jahrhunderts beherrscht,sondern darüber hinaus das gesamte Denken des Philosophen:Philosophieren heiße, die Frage nach dem »Sinn von Sein« zustellen. Die ganze europäische Philosophie sei im Grunde garnichts anderes als das Projekt, diese Frage stets unterschiedlichzu beantworten.

Entscheidend ist allerdings zu sehen, dass die europäischePhilosophie seit Platon diese Frage nach dem »Sinn von Sein«niemals explizit gestellt hat. Schon dieser große Lehrer abend-ländischen Denkens habe diese Frage nicht formuliert. Dasheiße jedoch nicht, dass Platon oder Aristoteles den »Sinn vonSein« nicht gekannt hätten. Platon und Aristoteles stellen dieFrage nach dem »Sinn von Sein« nicht, weil er ihnen zu »selbst-verständlich« war. Der »Sinn von Sein« bilde folglich so etwaswie einen unthematischen Hintergrund des griechischen unddamit des europäischen Philosophierens. Es gehe daher nundarum, diese »nicht befragte Selbstverständlichkeit« durcheine »nachkommende Auslegung ausdrücklich« zu machen.Heideggers Philosophie versteht sich selbst als diese »nach-kommende Auslegung«, wobei es darauf ankommt, deutlichwerden zu lassen, wo der Philosoph bei dieser »Auslegung« den»Sinn von Sein« soweit modifiziert, dass er den unmittelbarenEinfluss des platonisch-aristotelischen Anfangs der europäi-schen Philosophie verlässt.

Der »selbstverständliche« »Sinn von Sein«, der das griechi-sche Denken unbemerkt leite, wird von Heidegger prägnantauf den Begriff gebracht. Er laute kurz und knapp: »Sein =Anwesenheit«. Heidegger gelangt zu dieser Erkenntnis, indemer auf eine spezifische Bedeutung des griechischen Wortes ousıaverweist. Ousıa bedeutet nämlich im Griechischen keineswegsbloß »Sein« oder »Wesen«. So wie mit dem deutschen Wort

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»Anwesen« auch der »Besitz« oder das »Haus« gemeint seinkann, so bedeutet auch ousıa »Anwesen« im Sinne des »Besit-zes«. Wenn jemand auf seinen Besitz, auf seinen Grund undBoden verweist, dann bezieht er sich auf etwas, worauf er sichverlassen kann, auf etwas, das nicht erst werden muss oderschon vergangen ist, sondern ständig einfach anwesend ist. FürHeidegger ist dieser Sachverhalt der Hinweis, dass der »Sinnvon Sein« mit der Zeit zusammenhängt.

Der »Sinn von Sein« als »Anwesenheit« entspringe somitnicht einer abgehobenen philosophischen Idee, sondern – daszeigt die Bedeutung von ousıa als »Anwesen« in der Bedeutungvon Besitz oder Haus – dem »faktischen Dasein«. Da die Grie-chen und nach ihnen auch kein anderer Philosoph den unthe-matisch gebliebenen »Sinn von Sein« bedacht habe, dieser aberdas Zentrum der europäischen Philosophie sei, weil »darin dasganze Problem der Zeit und damit der Ontologie des Daseinsbeschlossen liegt« (ebd., 467), war es für Heidegger nötiggeworden, die Frage nach dem »Sinn von Sein« explizit zurHauptaufgabe der Philosophie zu machen.

Heideggers Denken ist mit der Verschiebung seines Themasvon der »Faktizität des Lebens« zum »Sinn von Sein« auf sei-ne Bahn gekommen. Für Heidegger bedeutet Philosophierenschlechthin, ihrer griechischen Prägung zu folgen. Immer wie-der ist er darum auf Aristoteles und Platon sowie auf das vor-platonische Dichten und Denken der Griechen zurückgekom-men. Dieser Schritt hin zur griechischen Prägung der europäi-schen Überlieferung der Philosophie hat ohne Zweifel dasgesamte Denken des 20. Jahrhunderts angeregt. Weder Hus-serls Phänomenologie noch der Neukantianismus hatten einauthentisches Verhältnis zum griechischen Anfang der Philoso-phie. Hannah Arendt hat das einmal so ausgedrückt: »Tech-nisch entscheidend war, daß z. B. nicht über Plato gesprochenund seine Ideenlehre dargestellt wurde, sondern daß ein Dialogdurch ein ganzes Semester Schritt für Schritt verfolgt und abge-

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fragt wurde, bis es keine tausendjährige Lehre mehr gab, son-dern nur eine höchst gegenwärtige Problematik. Heute klingtIhnen das vermutlich ganz vertraut, weil so viele es jetzt somachen; vor Heidegger hat es niemand gemacht.«6

6 Arendt/Heidegger 1998, S.182.

Heideggersständiger Rekurs auf die Griechen, sein Vermögen, ihr Denkenlebendig erscheinen zu lassen, hat Generationen von Philoso-phen und auch Philologen bis heute beeinflusst. Ein systemati-scher Gewinn an Auslegungsmöglichkeiten wesentlicher Phä-nomene der Welt des 20. Jahrhunderts aus dieser Quelle stehtaußer Zweifel. Dennoch müssen wir erkennen, dass sich Hei-degger mit der Entscheidung für die griechische Tradition desDenkens festgelegt hat: Philosophieren heißt nach dem »Sein«zu fragen.

Jahrzehnte später hat Heidegger einmal angemerkt, dass,wenn er »noch eine Theologie schreiben würde«, »in ihr dasWort ›Sein‹ nicht vorkommen« (GA 15, 437) würde. In seinerInterpretation des am Urchristentum erörterten »faktischenLebens« hatte Heidegger ein Phänomen vor Augen, das durchdie »ontologischen Grundstrukturen« des platonisch-aristote-lischen Denkens nicht zu fassen war. Die Bewegung des Heideg-gerschen Denkens vom »faktischen Leben« zum »faktischenDasein«, von der »Faktizität des Lebens« zum »Sinn von Sein«scheint kein notwendiger Fortschritt gewesen zu sein. WelcheMöglichkeiten verbergen sich noch in einer nichtontologischenHermeneutik des »faktischen Lebens«? Freilich soll mit dieserFrage keineswegs gesagt werden, dass Heideggers Ontologisie-rung der »Hermeneutik der Faktizität« zu einem Desinteressegegenüber den Phänomenen der »Faktizität« geführt hat. Inwesentlichen Gesichtspunkten sollte Sein und Zeit eine vehe-mente Erweiterung der Analyse dieser Phänomene erbringen.

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2 Die Frage nach dem Sein

2.1 Die Analytik des Daseins oder Existierenals Sein zum Tode

Das Leben ist, wenn alle biologischen oder biologieanalo-gen Interpretationen dieses Begriffs ausgeblendet werden,ein Sein. Diesen Grundansatz des Denkens übernimmtHeidegger von Platon und Aristoteles. Doch in seinem bisheute einflussreichen Buch Sein und Zeit macht er deut-lich, dass zwischen dem praktisch-technisch in einer Weltexistierenden Menschen und dem Sein selbst ein Unter-schied besteht. Die Dinge, mit denen wir täglich umge-hen, und wir selbst sind nicht schon das Sein, sondern wirbefinden uns in einem Bezug zum Sein. Gemäß diesemBezug sind die Dinge und die Menschen Seiendes. Da derMensch ein besonderes Seiendes ist, wird er als Daseinbezeichnet. Auffällig ist, dass sich in der Untersuchungdes Bezugs zwischen dem Dasein und dem Sein vor allemdie Zeit in den Vordergrund drängt. So ist es ein Haupt-merkmal des Daseins, nicht über eine unendliche Lebens-zeit zu verfügen, sondern sterben zu müssen.

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Als Heidegger im Jahre 1927 sein Werk Sein und Zeit erschei-nen lässt, hatte er seit elf Jahren nichts mehr publiziert. DasBuch veränderte die Diskussionslage zunächst der deutschenund dann der europäischen Philosophie – es gilt heute als einesder wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts.Selbst der Heidegger sehr kritisch begegnende Jürgen Haber-mas merkt zum Erscheinen von Sein und Zeit an: »Noch vonheute aus gesehen bildet dieser neue Anfang den wohl tiefs-ten Einschnitt in der deutschen Philosophie seit Hegel.«1

1 Jürgen Habermas, »Heidegger – Werk und Weltanschauung«, Vor-wort zu: Victor Farıas, Heidegger und der Nationalsozialismus,Frankfurt/M. 1989, S.13.

DochSein und Zeit beeinflusste nicht nur die Philosophie des Jahr-hunderts. Das Buch rief darüber hinaus sowohl eine theologi-sche als auch eine literaturwissenschaftliche Rezeption hervor.Künstler und Dichter ließen sich von ihm inspirieren.

Mit Sein und Zeit erscheint der Denker Heidegger auf dergroßen Bühne der Philosophie. Um die ungeheure Wirkungsge-schichte dieses Buches zu verstehen, reicht es nicht aus, alleindie sich in ihm ereignenden theoretischen Revolutionen zurKenntnis zu nehmen. Sein Erfolg ist ohne Zweifel auch mit demStil verbunden, in dem dieses Werk zu seinen Lesern spricht. Eshandelt sich um jenen charakteristischen Schreibstil, der seit-dem Leser ebenso verzaubert wie abschreckt. Der GermanistEmil Staiger beispielsweise spricht von »der finsteren Gewaltder Sprache« Heideggers, die ihn bei der ersten Lektüre vonSein und Zeit »unwiderstehlich« gefesselt habe. Zwar handelees sich um eine von der Öffentlichkeit »vielgeschmähte Spra-che«. Doch Staiger bekennt, dass sie ihm »als eine der größ-ten Leistungen auf dem Gebiet der philosophischen Prosa er-scheint«.2

2 Emil Staiger, »Ein Rückblick«, in: Otto Pöggeler (Hg.), Heideggerheute. Perspektiven zur Deutung seines Werks, Köln u. Berlin 1969,S.242.

Wie auch immer ein Leser Heideggers Schreibstil

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erfährt und beurteilt, wie auch immer wir das Verhältnis vonStil und Philosophie betrachten, ohne Zweifel stellt HeideggersProsa ähnlich wie Hegels oder Nietzsches Texte eine kostbareBesonderheit der deutschen Sprache dar.

Sein und Zeit ist Fragment geblieben. Die ersten sechs Aufla-gen trugen den Untertitel »Erste Hälfte«. Gemäß dem im § 8des Buches vorgestellten »Aufriß der Abhandlung« hat Heideg-ger von zwei vorgesehenen Teilen nicht einmal den ersten voll-endet. Die Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie enthält jedochden überarbeiteten dritten Abschnitt, den Heidegger als Schluss-abschnitt des ersten Teils vorgesehen hatte. Die Frage, ob Hei-degger bereits über Partien der nicht veröffentlichten Teile ver-fügte und sie vernichtete, weil er sie für unzureichend erachtete,ist legendär. Nach allen diese Frage betreffenden bekanntenZeugnissen müssen wir tatsächlich annehmen, dass der Denkereine Fortsetzung von Sein und Zeit zurückgehalten hat. DasSchicksal, Fragment geblieben zu sein, teilt Sein und Zeit mitanderen großen Werken des 20. Jahrhunderts wie den Roma-nen Kafkas oder Musils Der Mann ohne Eigenschaften.

In Sein und Zeit nimmt Heidegger den Faden, den er in sei-nem Natorp-Bericht sowie in seiner Vorlesung über PlatonsSophistes zu knüpfen begann, wieder auf. Er stellt die Fragenach dem »Sinn von Sein«, will sie auf ein »Fundament« brin-gen, sodass der Philosoph das Denken von Sein und Zeit »Fun-damentalontologie« nennt. Zum Ausgangspunkt seiner Ant-wort wählt Heidegger ein »exemplarisches Seiendes« (GA2, 9).Dieses »Seiende« ist eines, dem es »in seinem Sein um diesesSein selbst geht« (ebd., 16), ein »Seiendes«, das sich nicht nurum sich, sondern auch um das »Sein selbst« zu sorgen vermag,das sich also von allem anderen »Seienden« dadurch unter-scheidet, dass es »Seinsverständnis« hat. Dieses »Seiende« istder Mensch. Der Mensch »versteht« »Sein«, indem er nach ihmzu fragen vermag. Doch Heidegger gibt diesem »Seienden«

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einen eigenen Titel oder Namen. Das »Seiende«, das nach dem»Sein« zu fragen vermag – der Mensch –, ist das »Dasein«.

Mit dieser Bezeichnung hat es eine besondere Bewandtnis.Die Aussage, der Mensch bzw. das, was den Menschen als einensolchen ausmache, sein »Wesen«, sei, insofern er eben seins-verstehend sei, das »Dasein«, schließt nicht aus, dass das Wesendes Menschen auch anders bezeichnet werden könnte. Bei Pla-ton z.B. ist der Mensch das Lebewesen, das zu tanzen vermag(Nomoi, 653e), nach Aristoteles ist der Mensch das politischeoder das Sprache habende Lebewesen (zoon politikon bzw.zoon logon echon, Politeia, 1253a), im Christentum ist er dasGeschöpf (ens creatum) im Unterschied zum Schöpfer (ensincreatum). Dieser Galerie der Wesensdefinitionen in Bezug aufden Menschen könnten noch andere hinzugefügt werden.Daraus entsteht eine Beliebigkeit, die Heidegger mit seiner fun-damentaleren Wesensbestimmung als »Dasein« zu überwindensucht.

Sein und Zeit formuliert nicht die Aussage: der Mensch ist»Dasein«, sondern es sagt: das »Dasein« ist Mensch. Es istnicht der Fall, dass der Mensch als Grund verschiedener Defini-tionen fungiert, von denen eine »Dasein« heißt. Auch verstehtHeidegger das »Dasein« nicht als eine Eigenschaft des Men-schen. Vielmehr ist das »Dasein« der Grund, von dem aus derMensch der sein kann, der er ist. Indem das »Dasein« diesesFundament ist, kann sich der Mensch auch als politisches oderSprache habendes Lebewesen bestimmen.

Das »Dasein« ist keine Eigenschaft eines Gegenstandes»Mensch«. Das »Dasein«, so Heidegger, ist das »Sein des Da«(ebd.,316). Das »Da« dürfen wir nicht in dem Sinne verstehen,wie wir sagen können, »da« ist ein Mensch. Das »Da« ist keindeiktischer Begriff. Das »Da« kennzeichnet vielmehr die »Er-schlossenheit« oder »Offenheit« für das Verstehen des »Seins«überhaupt. Dass es ein Verstehen und Begreifen geben kann,das ermöglicht die »immer schon« aufgebrochene »Offenheit«

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des »Da«, die »Existenz« im Sinne der »Ausgesetztheit zumSeienden« (GA 65, 302). Wenn »Dasein« und Mensch zwarkeine identischen Phänomene sind, so wird doch von jener pri-mär aufgebrochenen »Offenheit« her deutlich, dass einzig undallein der Mensch es vermag, das »Dasein« zu sein. Tiere sindnach Heidegger nicht dazu in der Lage, das »Sein« zu verste-hen.

Heidegger versucht die Frage nach dem »Sinn von Sein« zustellen und sich einer Antwort anzunähern, indem er einbestimmtes »Seiendes«, und zwar das »Dasein«, zur Grund-lage seiner Untersuchung macht. Denn das »Dasein« ist dieOffenheit, die »Seinsverständnis« ermöglicht. Mit dieser Be-deutung ist es der Grund des Menschen, nicht der Menschselbst. Dieser Unterschied zwischen Grund des Menschseinsund Mensch ist wesentlich, denn er schlägt in der Geschichteder Philosophie ein neues Kapitel auf. Die neuzeitliche Philo-sophie hatte den Grund des Menschseins insofern mit demMenschen identifiziert, als sie vorgab, dass das Verstehen des»Seins« von den Erkenntnisvermögen des Menschen abhänge.Die neuzeitliche Philosophie seit Descartes fasste den Men-schen als den Grund des »Seins«, als das Subjekt, als dasjenige,was allem anderen zu Grunde liegt (subiectum = das Unterge-legte) auf. Das »Dasein« ist zwar als Grund des Fragens nachdem »Sinn von Sein« ein besonderes, oder wie Heidegger sagt,»ausgezeichnetes Seiendes«. Doch indem es in Hinsicht auf das»Sein« genau wie z. B. die Tiere und Pflanzen ein »Seiendes«bleibt, weil wir vom »Dasein« genauso wie vom Tier sagenmüssen, dass es »ist«, ist es nicht der Grund des »Seins«. Das»Dasein« ist nicht das »Subjekt«, es ist nicht diejenige Instanz,auf die alles andere »Seiende« wie auf einen universalen Maß-stab rückbezogen werden kann. Diese Unterscheidung von»Dasein« und »Subjekt« gilt in Sein und Zeit auch dann, wennHeidegger den Begriff des »Subjektes« an einigen Stellen affir-mativ zu verwenden scheint. Allerdings verweist dies auf die

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hier nicht weiter zu entwickelnde Tatsache, dass – trotz allerAbgrenzungen des »Daseins« vom »Subjekt« – von einer »Über-windung« der »Subjektivität« in Sein und Zeit noch nicht ge-sprochen werden kann.

Um die Frage nach dem »Sinn von Sein« stellen zu können,beginnt Heidegger seine Untersuchung beim »Dasein«. Am»Dasein« sollen Merkmale »analysiert« werden, die den »Sinnvon Sein« erhellen können. Heidegger nennt diese Merkmale»Seinsweisen« bzw. »Seinsmodi«. Die »Seinsweisen« des »Da-seins« zeigen sich, wenn dieses zum Gegenstand einer »Ana-lyse« gemacht wird. Das »Dasein« jedoch ist kein »Gegen-stand«, sodass eine solche Vergegenständlichung immer in derGefahr steht, das Untersuchte zu verfehlen. Deshalb schreibtHeidegger: »Die Zugangs- und Auslegungsart muß vielmehrdergestalt gewählt sein, daß dieses Seiende sich an ihm selbstvon ihm selbst her zeigen kann. Und zwar soll sie das Seiende indem zeigen, wie es zunächst und zumeist ist, in seiner durch-schnittlichen Alltäglichkeit.« (GA2, 23) Das »Dasein« soll sich»an ihm selbst von ihm selbst her zeigen«. In diesem gleichsamnatürlichen Zustand befindet sich das »Dasein« im Alltag. Die»Daseinsanalytik« beginnt folglich mit einer Thematisierungder alltäglichen Praxis.

Die Untersuchung der alltäglichen Praxis des »Daseins«bringt allerdings eine Voraussetzung ins Spiel, die äußerst weit-reichende Folgen hat. Heidegger will von vornherein das»Dasein« in seiner »Ganzheit« betrachten. Auf den ersten Blickist die »Ganzheit« ein eher abstraktes Merkmal des »Daseins«.Der Alltag erscheint uns diffus, wir finden uns in viele unzu-sammenhängende Tätigkeiten verstrickt (der an der Universi-tät unterrichtende Dozent kümmert sich um seine Kinder,bringt das Auto zur Reparatur, pflegt den Vorgarten etc.). Hei-degger spricht demnach von einer »phänomenalen Vielfältig-keit der Verfassung des Strukturganzen und seiner alltäglichenSeinsart« (ebd., 240). Doch bei aller Zerstreutheit bleibt das

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»Dasein« ein einheitliches »Strukturganzes«. Die »Ganzheit«des »Daseins« besteht in seiner »Zeitlichkeit«. Das »Dasein«ist »ganz«, wenn es gestorben ist. Insofern das »Dasein« seineZeit hat, insofern es endlich ist und sterben muss, weil es das»Sein zum Tode« (ebd., 314 ff.) ist, bildet es eine einheitliche»Struktur«. Die Rede von einer »Ganzheit« des »Daseins« ver-dankt sich demnach keiner theoretischen Erkenntnis. So dis-kontinuierlich das »Dasein« alltäglich erscheinen mag, es ver-sammelt sich doch in einer spezifischen Einheitlichkeit, weil eszu sterben hat. Ich werde diesen für Heidegger enorm wichti-gen Gedanken vom »Dasein« als einem »Sein zum Tode« imFolgenden differenziert darstellen. Ohne Zweifel gehört er zuden Gedanken, die Sein und Zeit über die Grenzen der Philoso-phie hinaus zu einem Ereignis haben werden lassen, das alleBereiche des kulturellen Lebens berührt.

Die alltägliche Praxis ist das zentrale Paradigma, an demHeidegger seine »Daseinsanalytik« ausrichtet. Im Hintergrunddieser Ausrichtung befindet sich der Kerngedanke von Sein undZeit. Indem das »Dasein« in seiner Alltäglichkeit untersuchtwird, erweist sich die »Zeitlichkeit« als sein »Sinn« (ebd.,24).Doch die »Zeitlichkeit« zeigt sich nur insofern als dieser»Sinn«, als wir durch ihn hindurch auf die Frage nach dem»Sinn von Sein« schauen können. Sie ist also der »Sinn« des»Daseins«, indem sie der erste und letzte »Horizont des Seins-verständnisses« ist. Die sich unmittelbar an der Alltäglichkeitdes »Daseins« abarbeitende Analytik hat daher mittelbar dasZiel, die Zeit als den »Horizont des Seins« (ebd., 577) zubetrachten. Dass von der »Zeitlichkeit« des »Daseins« zu sei-ner Endlichkeit nur ein kleiner Schritt zurückzulegen ist, ist evi-dent.

Die Orientierung der »Daseinsanalytik« folgt dem Phäno-men, das Heidegger früher die »Faktizität des Lebens« genannthat. In diesem Sinne ist es konsequent, dass jene die ganze Ana-lyse in Fahrt bringende Frage zuerst nicht nach einem allgemei-

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nen Subjekt der Alltäglichkeit Ausschau hält. Heidegger fragtnicht, »was« das alltägliche »Dasein« ist, sondern »wer ist es,der in der Alltäglichkeit das Dasein ist« (ebd., 114). Diese Ver-schiebung von der »Was«- zur »Wer«-Frage bezüglich des »Da-seins« hat Heidegger Jahre später wiederholt. Sie ist alles an-dere als ein Randphänomen. Ohne ausführlicher auf die Trag-weite dieser Verschiebung eingehen zu können, sei auf folgendeSituation aus dem Alltag hingewiesen:

»Wenn uns in unserem Bereich dergleichen wie ein Mensch als einBefremdliches begegnet, wie fragen wir ihm entgegen? Wir fragennicht unbestimmt, was, sondern wer er sei. Wir erfragen und erfahrenden Menschen nicht im Bereich des So oder Was, sondern im Bereichdes Der und Der, der Die und Die, des Wir.« (GA38, 34)

Wenn wir in Erfahrung bringen wollen, mit wem wir es im All-tag zu tun haben, fragen wir zunächst nicht danach, »was«jener auf uns zukommende Andere ist, sondern »wer« er ist. Ererscheint uns nicht als das Exemplar einer Gattung, als der Ein-zelfall eines Allgemeinen, sondern als etwas Besonderes undEinzigartiges.

Zu fragen, wer das alltägliche »Dasein« sei, setzt schon et-was Selbstverständliches voraus. Das »Dasein« ist nicht allein.All das, was das »Dasein« im Alltag tut, tut es nicht bloß fürsich selbst. Das »Dasein« ist »immer schon« mit Anderen imGespräch, in Berührung. Dieses »immer schon« (eine Art Apri-ori, das empirisch gegeben ist) besagt, dass das »Dasein« vonAnfang an in einer Welt leben muss, die es sich nicht aussuchenkonnte, die schon bestand, ehe es das jeweilige »Dasein« gab.Das »Dasein« wird also gemäß einer Redensart »ins kalte Was-ser geworfen«. Heidegger nennt dieses Merkmal des »Daseins«»Geworfenheit«. Demgegenüber ist es jedoch nicht bloß »ge-worfen«. Es hat Möglichkeiten, sich an der Gestaltung desBestehenden zu beteiligen. Neben der unvermeidlichen Aner-kennung der »Geworfenheit« hat das »Dasein« die Möglich-

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keit zum »Entwurf«. Es kann sich beispielsweise entscheiden,diesen oder jenen Beruf zu ergreifen.

Ein Moment des »Geworfenseins« besteht darin, dass das»Dasein« ursprünglich, d. h. »immer schon«, mit Anderenzusammen ist. Doch diese Ursprünglichkeit ist nicht so zu ver-stehen, als sei das »Dasein« ein Ursprung, von dem das Mitein-andersein logisch abgeleitet werden könnte. »Dasein« und Mit-einandersein sind schon im Ursprung beide zugleich gegeben.»Dasein« und »anderes Dasein« sind, um einen Begriff ins Spielzu bringen, der sich bereits im Denken Schellings finden lässt,»gleichursprünglich«. In Heideggers Worten: »Die Nachfor-schung in der Richtung auf das Phänomen, durch das sich dieFrage nach dem Wer beantworten lässt, führt auf Strukturendes Daseins, die mit dem In-der-Welt-sein gleichursprünglichsind: das Mitsein und Mitdasein.« (GA 2, 152) »Dasein« ist»immer schon« »Mitsein« und »Mitdasein«.

Diese Aussage kennzeichnet kein kontingentes Merkmal des»Daseins«. Es ist ein ontologischer Charakterzug des »Da-seins«, dass es »Mitsein« und »Mitdasein« ist. Es gehört vonAnfang an zum »Seinsverständnis«, dass das »Dasein« mit An-deren lebt. Das »Mitsein« ist ein Merkmal »des je eigenenDaseins«. Das »Mitdasein« kennzeichnet das andere »Da-sein«. Übrigens ist Heidegger nicht der Ansicht, das andere»Dasein« könne vom eigenen her interpretiert werden. Nurbeiläufig kann darauf verwiesen werden, dass für Heideggerder Andere keine »Dublette des Selbst« (ebd.,166) ist. Insoferndas »Dasein« ursprünglich »Mitsein« ist, kann es als »Mitda-sein« für Andere dasein, indem es für sie »sorgt«. Eine wesentli-che »Seinsweise« des »Daseins« ist die »Sorge« (ebd., 162).

Das »Dasein« verrichtet in der Alltäglichkeit irgendwelcheTätigkeiten, die seine Subsistenz ermöglichen. Es kümmert sichum Dinge, »besorgt« Angelegenheiten. Auch dieser Charaktermuss dem »Dasein« strukturell zugesprochen werden. Das»Dasein« ist nicht einmal »besorgend«, einmal wieder nicht,

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sondern »Dasein« ist durch und durch ein »Besorgen«. Die»Sorge« ist »das Sein des Daseins überhaupt«. Heidegger hatdarauf aufmerksam gemacht, dass »Sorge« hier nicht dasjenigePhänomen bedeutet, was für gewöhnlich als Besorgnis inter-pretiert wird. Das »Dasein« »macht sich keine Sorgen«, son-dern »besorgt« seine alltäglichen Sachen oder »sorgt« für dieAnderen.

Das wesentlichste Merkmal der »Sorge« ist, dass sie sich sel-ten auf vergangene Begebenheiten und Handlungen und nichtvordringlich auf gegenwärtige Situationen des »Daseins« be-zieht. Die »Sorge« hat eine Orientierungsfunktion für die Zu-kunft. In der »Sorge« nämlich reicht das »Dasein« gleichsamüber sich selbst hinaus zu dem, das sich ankündigt oder wo-möglich droht. Dass sich das »Dasein« im Alltag um seineAngelegenheiten kümmert, entspringt daher nicht einer jeweilsneu einsetzenden »Sorge«, sondern ist zurückgebunden aneinen Grundcharakter des »Daseins«. Wir sind grundsätzlich»sorgend« auf das bezogen, was aus der Welt auf uns zu-kommt. Diese eigentümliche Offenheit zur Zukunft charak-terisiert Heidegger stiltypisch folgendermaßen: »Das Sein desDaseins besagt: Sich-vorweg-schon-sein-in- (der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden). Dieses Sein erfülltdie Bedeutung des Titels Sorge [. . .].« (ebd.,256) Das »Dasein«ist sich stets »vorweg«, es ist immer auf solches bezogen, wassich nicht in seiner puren Anwesenheit erfüllt. Indem es sichselbst »vorweg« ist, ist es »bei« jenen Dingen, die es zu erledi-gen haben wird.

Dieses »Besorgen« seiner alltäglichen Angelegenheiten ok-kupiert das »Dasein« auf eine spezifische Weise. An dieserStelle der phänomenologisch-hermeneutischen Bestandsauf-nahme der Alltäglichkeit führt Heidegger einen Begriff oderbesser eine terminologische Differenzierung ein, die noch heuteAnlass zu Auseinandersetzung und Kritik bietet. Dabei seizunächst daran erinnert, dass Heidegger ja fragte, »wer« das

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»Dasein« im Alltag sei. Diese Frage findet nun eine Antwort.Das alltägliche »Besorgen« des »Daseins« findet stets in einerbestimmten »Seinsweise« statt. Wenn ich Bus fahre oder zumArbeitsamt gehen muss, wenn ich einen Kredit aufnehme odermir eine Hose kaufe, dann tue ich all das so, wie »man« es ebentut. Im Alltag bzw. in der alltäglichen Öffentlichkeit »besor-gen« wir unsere Angelegenheiten so, wie »man« seine Angele-genheiten »besorgt«. Im Alltag erscheint das »Dasein« in der»Seinsweise« des »Man« (ebd., 168 ff.). Diese »Seinsweise«unterscheidet Heidegger von der Möglichkeit, »eigentlich« zuexistieren. Alles, was uns wie die Liebe oder die Freundschaft,der Tod oder die Geburt »eigentlich« betrifft, wird nicht»besorgt« wie alltägliche Erledigungen. Das »Man« ist das»Neutrum« der alltäglichen Öffentlichkeit, das »eigentlicheSelbstsein« (ebd., 172) bietet die Möglichkeit, über die Alltäg-lichkeit hinaus zu leben.

Heidegger hat in Sein und Zeit der Beschreibung des »Man«viel Platz eingeräumt. Er hat es als zur »positiven Verfassungdes Daseins« gehörig (ebd.,172) bezeichnet. In der Tat scheintmir die Analyse des »Man« den »positiven« Versuch darzustel-len, den Alltag der Menschen in der neuartigen »Massengesell-schaft« des 20. Jahrhunderts samt ihrer Öffentlichkeit zubeschreiben. Mit dem »Begriff« des »Man« kommt Heideggerdem Phänomen von Funktionalisierungen und Neutralisierun-gen entgegen, die wir im Alltag »faktisch« anzuerkennen ha-ben. Das »Man« ist eine Deskriptionskategorie für Anonymi-sierungen, ohne die der Alltag von »Massengesellschaften«nicht denkbar ist. Im Grunde bietet das »Man« Anknüpfungs-punkte für eine politische oder soziologische Theorie der Öf-fentlichkeit. In dieser Hinsicht gehen Heideggers Erörterungenzum Beispiel sowohl über Rilkes Beschreibungen im MalteLaurids Brigge als auch über Adornos spätere Äußerungen zur»Kulturindustrie« hinaus.

Das »Man« ist dasjenige »Dasein«, das seine alltäglichen

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Angelegenheiten besorgt. Insoweit stellt es eine positive Be-schreibungsmöglichkeit der Alltäglichkeit dar. Das »Dasein«hat die Tendenz, im Alltag »aufzugehen«. Die Zerstreutheit desAlltags ist kein negatives Moment, sondern geradezu einegesuchte Lebensmöglichkeit. Das »Dasein« ist geneigt, sich im»Man« zu zerstreuen und zu verlieren. Heidegger schreibt:»Das Aufgehen im Man und bei der besorgten ›Welt‹ offenbartso etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentli-chem Selbstsein-können.« (ebd., 245) Das »Dasein« suchtMöglichkeiten, sich selbst aus dem Weg zu gehen. Eine dieserMöglichkeiten ist das Ausweichen in die Welt der Arbeit undder Unterhaltung, eine begrüßte Kapitulation vor der »Spaßge-sellschaft«. Heidegger nennt dieses Ausweichen »Verfallen«.Das »Dasein« ist »zunächst immer schon abgefallen« von sichselbst und an die Welt »verfallen«. Diese Tendenz zur Zerstreu-ung in den Besorgungen seiner Angelegenheiten gleicht einernatürlichen Verführung von Seiten des Alltäglichen. ObwohlHeidegger die Analogie nicht verwendet, ließe sie sich als die»Verfallenheit« an einen Anderen denken. Diese »Verfallen-heit« ist zweideutig, da sie einerseits als ein zwanghafterZustand aufgefasst wird, andererseits aber eine Art von Erfül-lung darstellt.

Das »Dasein« flieht vor sich selbst. Diese »Flucht« hat einenGrund. Denn indem sich das »Dasein« mit sich selbst konfron-tiert, stellt sich eine bestimmte »Befindlichkeit« ein. Diese»Befindlichkeit« ist die »Angst« (ebd.,247).

Die »Angst« ist eine »Befindlichkeit«, ja, eine »Grundbe-findlichkeit« des »Daseins«. Diese »Grundbefindlichkeit« un-terscheidet sich nach Heidegger von der »Furcht«. »Furcht«kommt auf, wenn uns »innerweltliches Seiendes« – beispiels-weise ein bissiger Hund – bedroht. Das »Wovor der Angst« seidagegen kein »innerweltliches Seiendes«. Um diesen Unter-schied zwischen »Furcht« und »Angst« zu verstehen, müssenwir uns eine »Angst«-Situation vergegenwärtigen.

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Wenn wir uns vor einem Hund fürchten, dann befindet sichdas Bedrohliche vor uns. Die Bedrohung ist ziemlich genau aus-zumachen. Wenn dieses Vieh dort mich hier beißt, wird dasunangenehme Folgen nach sich ziehen. In der »Angst« gibt esein solches Hier und Dort nicht. Ich nehme ein weiteres Beispielzur Hilfe. Wir ängstigen uns vor einer Prüfung. Wir haben diese»Angst« auch, ohne dass wir unmittelbar vor einer Prüfung ste-hen. Wir haben sie sogar selbst dann, wenn wir faktisch keinePrüfung zu absolvieren haben. Es genügt einfach, an die Prü-fungssituation zu denken. Die »Angst« hängt nicht von derAnwesenheit eines bestimmten Seienden ab. Dies ist nach Hei-degger ein wichtiges Charakteristikum der »Angst«: »Daßdas Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor derAngst.« (Ebd., 248) Wir können nicht sagen, an welchem Ortsich das befindet, wovor wir uns ängstigen. Dieser Sachverhaltist nicht etwa ein Einwand gegen die »Angst«, er macht geradeden positiven Gehalt des Phänomens aus. Es gehört zur»Angst«, dass wir ihr Objekt nicht lokalisieren können: »DasDrohende kann sich deshalb auch nicht aus einer bestimmtenRichtung her innerhalb der Nähe nähern, es ist schon ›da‹ – unddoch nirgends, es ist so nah, daß es beengt und einem dem Atemverschlägt – und doch nirgends.« (ebd.,248) Wer »Angst« hat,kann auf das, wovor er sich ängstigt, nicht zeigen. Es »beengt«,ist unsichtbar, ist überall und nirgends.

Dass jenes, wovor wir uns ängstigen, »nirgends« ist, ver-weist auf seinen ontologischen Status. Das, wovor wir »Angst«haben, ist kein Ding, keine Sache. Das kann Heidegger miteiner Redensart andeuten: »Wenn die Angst sich gelegt hat,dann pflegt die alltägliche Rede zu sagen: ›es war eigentlichnichts‹.« (ebd.,248) Das, wovor wir »Angst« haben, ist eigent-lich »nichts«. Was ist dieses »Nichts«? Zunächst erkennen wir,dass in der »Angst« kein Gegenstand erscheint. In der »Angst«gibt es nichts »Seiendes«. Doch dieses »Nichts« ist nicht etwasganz und gar nichtiges, es kann, obschon es nichts »Seiendes«

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ist, in der »Grundbefindlichkeit« der »Angst« erfahren wer-den. In dieser Erfahrung stellt sich das beängstigende »Nichts«als die »Welt« heraus.

»Im Wovor der Angst wird das ›Nichts ist es und nirgends‹ offenbar.Die Aufsässigkeit des innerweltlichen Nichts und Nirgends besagtphänomenal: das Wovor der Angst ist die Welt als solche. Die völligeUnbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeu-tet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt, daß das innerweltlich Sei-ende an ihm selbst so völlig belanglos ist, daß auf dem Grunde dieserUnbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer Weltlichkeitsich einzig noch aufdrängt.« (ebd.,248)

Das »Nichts und Nirgends«, um das es in der »Angst« geht,ist die »Welt als solche«, die gerade daher so bedrängend er-scheint, weil sich alles, was uns Halt verschaffen könnte, in»Nichts« auflöst. Gerade wenn wir den Boden unter den Füßenzu verlieren glauben, wird offenbar, wie sehr wir uns davorängstigen, auf ihm stehen zu müssen.

Die »Angst« reicht also tiefer als die »Furcht«. In der»Furcht« haben wir es mit bestimmtem »Seienden« zu tun (Hun-den, Spinnen etc.). In der »Angst« haben wir es eigentlich mit»Nichts« zu tun. Doch indem wir es mit dem »Nichts« zu tunhaben, indem wir eigentlich vor »Nichts« »Angst« haben, er-scheint gerade die »Welt als solche« oder, um einen Buchtitelvon Peter Handke zu zitieren, Das Gewicht der Welt3

3 Peter Handke, Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975– März 1977), Salzburg 1997.

. Dochdiese Welt ist nicht etwas außerhalb unseres Daseins. Heideg-ger schreibt: »Wenn sich demnach als das Wovor der Angst dasNichts, das heißt die Welt als solche herausstellt, dann besagtdas: wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-seinselbst.« (ebd.,249) Das »In-der-Welt-sein« ist das »Dasein«. Inder »Angst« haben wir »Angst«, da sein zu müssen. Dieses»Dasein« sind wir jeweils selbst, sodass wir sagen müssen, dass

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wir in der »Angst« uns vor uns selbst ängstigen. Das »Man«überlässt sich der Zerstreuung in den vielfältigen Unterhaltun-gen, weil es sich davor ängstigt, das »Gewicht der Welt«, mit-hin sich selbst tragen und ertragen zu müssen.

Heidegger betont, dass die »Angst« nicht nur ein »Wovor«,sondern auch ein »Worum« hat. Dasjenige, »wovor« und »wo-rum« wir uns ängstigen, ist identisch. Wenn das »Man« dieZerstreuung sucht, weil es »Angst« vor dem »Gewicht derWelt« hat, dann hat es »Angst«, diese Zerstreuung bietendeWelt zu verlieren: »Die Angst benimmt so dem Dasein die Mög-lichkeit, verfallend sich aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Aus-gelegtheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück,worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können.« (Ebd., 249) In der »Angst« sind das, »wovor« und»worum« wir »Angst« haben, dasselbe. Wir haben »Angst«vor unserem und um unser »In-der-Welt-sein-können«. Wirkönnen diese Differenz in der erfahrenen »Angst« kaum aus-einander halten. Es scheint ein Paradox zu sein, dass derjenige,der aus Kummer und Verzweiflung sich um sein Leben ängstigt,zugleich vor diesem »Angst« hat. Doch indem ein solchesLeben aus nichts anderem als aus Verzweiflung besteht, wirddeutlich, dass die »Angst«, das Leben zu verlieren, eben ausdiesem Leben selbst hervorgeht. In der »Furcht« übrigens kon-vergiert das »Wovor« mit dem »Worum« nicht. Wir fürchtenuns nämlich vor dem Hund und um unsere Hosen.

In der »Angst« wird uns deutlich, inwiefern wir uns zugleichum unsere und vor unseren Lebensmöglichkeiten ängstigen.Die »Angst« betrifft unser »Dasein«. Sie betrifft es aber nichtnur von Fall zu Fall. In »Angst« versetzt steht unser ganzes»Dasein« auf dem Spiel. Die »Ganzheit« des »Daseins«, dieHeidegger in der »Daseinsanalytik« von Sein und Zeit im Blickhat und zu beschreiben sucht, zeigt sich in der »Angst«. Dass esso etwas wie eine »Ganzheit« des »Daseins« gibt, erfahren wirin dieser »Grundbefindlichkeit«. Indem die »Sorge« eine zen-

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trale »Seinsweise« des »Daseins« ist, stets sich selbst voraus zusein, stets auf mehr aus zu sein als nur auf die Bestätigung derGegenwart, ist klar, dass die »Sorge« den Indikator der »Ganz-heit« des »Daseins«, die »Angst«, kennt.

Die »Angst« vor unserem und um unser »Dasein« zeigt an,wie dieses »Dasein« plötzlich als Ganzes auf dem Spiel stehenkann. Gerade noch schien uns alles möglich zu sein, nun be-drängt uns die Einsicht, dass einmal alles unmöglich sein wird,dass es zu unseren Möglichkeiten gehört, auf dasjenige Ereigniszu blicken, das alles unmöglich machen wird. Das »Nichts«,wovor sich das »Dasein« ängstigt, erweist sich als die »mögli-che Unmöglichkeit seiner Existenz« (ebd., 352). Die »Angst«gibt uns unmissverständlich zu erkennen, dass das »Dasein«dereinst »ganz« und damit vorbei sein wird. Das »Dasein«trägt in sich diese Bestimmung, es ist ein »Sein zum Tode«.

Das »Dasein« ist »Sein zum Tode«. Diese Bestimmung müs-sen wir genauer fassen, denn Heidegger hat sie bis in sein spä-testes Denken hinein bestätigt. Das »Dasein« ist nicht nebenvielem anderen auch sterblich. Das »Dasein« existiert ganz undgar als »Sein zum Tode«. Der Mensch ist, wie Heidegger spätersagen wird, »der Sterbliche«. Mit dieser Bestimmung knüpftHeidegger an einen uralten Gedanken an. So sprechen die grie-chischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides vomMenschen als dem Sterblichen (to thneton, ho brotos), dasMenschliche und das Sterbliche sind semantisch identisch.Diese Bestimmung, dass der Mensch im Unterschied zu denUnsterblichen, den Göttern, der Sterbliche ist, entstammt allerWahrscheinlichkeit nach dem für die griechische Philosophieüberaus einflussreichen Orakel von Delphi. Von dort aus ist derberühmte Spruch gnothi sauton (»Erkenne dich selbst!«) in dieeuropäische Geistesgeschichte eingegangen. Niemand andersals der Gott Apollon habe diesen Spruch zu den Menschengesagt. Er ist der vom Gott gegebene Wink, dass der Menschsich selbst im Unterschied zu den Unsterblichen erkennen und

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sein Handeln darum begrenzen solle. Das »Erkenne dich selbst«ist ein: »Erkenne, dass du im Unterschied zu mir, Apollon,begrenzt, verletzbar und sterblich bist.« Es ist unwahrschein-lich, dass Heideggers in Sein und Zeit eingeführte Bestimmungdes »Daseins« als »Sein zum Tode« schon auf diese Quellezurückgeht. Bekannt ist, dass er sich später auf diese tragischeBestimmung des Menschen ausdrücklich bezogen hat.

Das »Dasein« verhält sich zu seinem »je eigenen« »Sein zumTode« unterschiedlich. Das »Man«, jene sich in die Alltäglich-keit zerstreuende »Seinsweise« des »Daseins«, geht dem »Seinzum Tode« aus dem Weg. Es flieht die »Angst«, die aufsteigt,wenn wir uns der »Gewißheit« (ebd.,339f.) aussetzen, dass wirsterben werden. Das »eigentliche Dasein« hingegen setzt sichseinem eigenen »Sein zum Tode« aus. Es vollzieht ein »vorlau-fendes Freiwerden für den Tod« bzw. ein »Vorlaufen zum Tod«(ebd., 350). Weil dieser Vorgang das »uneigentliche Dasein«aus einer alltäglichen Selbstverdunkelung zu einem »eigentli-chen Dasein« befreit, kann Heidegger dieses »Vorlaufen zumTode« auch als »vorlaufende Entschlossenheit« (ebd., 404 ff.)beschreiben. Das »eigentliche Dasein« findet sich »entschlos-sen« in die absolute Grenze seiner Endlichkeit, seiner Sterblich-keit ein.

Heidegger lässt in Sein und Zeit keine Möglichkeit aufkom-men, über diese Grenze hinaus in ein Jenseits vorzudenken. Das»Sein zum Tode« ist ein »Sein zum Ende«, wobei der Philosophsich zu fragen verbietet, ob nach dem Ende noch »etwas« folgt(ebd.,327ff.). Damit widersetzt sich Heidegger einer ehrwürdi-gen philosophischen Tradition, welche gegenüber dem Sterbenstets die Unsterblichkeit der Seele behauptet hat. Ob Platon,der im Sterbedialog des Sokrates, dem Phaidon, eine Aussichtauf ein anderes Sein der Seele jenseits des Leibes eröffnet, oderAristoteles, der die Philosophie geradezu als eine Teilhabe ander Unsterblichkeit kennzeichnet; ob Kant, der die Unsterblich-keit der Seele als ein Zentralproblem der Vernunft bestimmt,

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oder Hegel, der im Umkreis seiner Lehre von der DreieinigkeitGottes den »Tod des Todes« betrachtet – immer wieder hat diemetaphysische Philosophie den Tod nicht als eine absoluteGrenze des Menschen verstanden. Die »Eigentlichkeit« des»Daseins« besteht nach Heidegger jedoch genau darin, sichweder über diese Grenze Illusionen zu machen, noch sie durchden Aufwand einer steilen Theorie wegzubeweisen. Das»eigentliche Dasein« erfährt im »Vorlaufen zum Tod« seineGrenze und das aus dieser Grenze entspringende Maß seinerZeit.

So sehr Heideggers Interpretation des »Daseins« als eines»Seins zum Tode« die Leser von Sein und Zeit über Generatio-nen hinweg beeindruckt hat, so sehr wurde diese Deutung auchkritisiert.

Max Scheler notiert noch im Erscheinungsjahr von Sein undZeit in fragmentarischen Aufzeichnungen einfühlsam: »Dieerste Wendung zum Welt-immanenten ist doch Eros, nicht Ab-stoßung, Angst, Flucht vor sich.« Ein andermal schreibt er:»Das, was uns die Welt aufschließt, ist ›Liebe‹ nicht Angst.«4

4 Max Scheler, Späte Schriften, hg.v. Manfred S. Frings, Bern u. Mün-chen 1976, S.294.

Die Stoßrichtung dieser Kritik wendet sich gegen eine be-stimmte Tendenz der »Daseinsanalytik«, das »Dasein« zu sehrzu vereinzeln, es zu stark vom Bezug zum Anderen zu isolieren.Der »Eros« beziehungsweise die »Liebe«, die leidenschaftlicheBeziehung zum Anderen, sei die »erste Wendung« zur Welt.

Dieser Kritik schließt sich Jahrzehnte später ein ehemaligerStudent Heideggers an. Emmanuel Levinas hebt hervor, dassnicht der »je meine« Tod der »erste Tod« ist, der mich betrifft.Er schreibt:

»Jemand, der sich durch seine Nacktheit – das Antlitz – ausdrückt, istjemand, der dadurch an mich appelliert, jemand, der sich in meine Ver-antwortung begibt: Von nun ab bin ich für ihn verantwortlich. All die

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Gesten des Anderen waren an mich gerichtete Zeichen. [. . .] Der Toddes Anderen, der stirbt, betrifft mich in meiner Identität selbst als ver-antwortliches Ich – eine Identität, die weder substantiell ist, noch ausdem einfachen Zusammenhang unterschiedlicher, identifikatorischerAkte besteht, sondern aus unsagbarer Verantwortung erwächst. MeinBetroffensein durch den Tod des Anderen macht gerade meine Bezie-hung zu seinem Tod aus. In meiner Beziehung, meinem Mich-Beugenvor jemandem, der nicht mehr antwortet, ist diese Affektion bereitsSchuld – Schuld des Überlebenden.«5

5 Emmanuel Levinas, Gott, der Tod und die Zeit, hg. v. Peter Engel-mann, Wien 1996, S.22.

Levinas protestiert geradezu gegen Heideggers Zentrierung desTodes und des Sterbens auf das »jemeinige Dasein«. Der Todbedrängt uns nicht von dem Faktum her, dass wir selbst ster-ben müssen, sondern dass der Andere sterben wird und wir die-sem Tod mit all unserer »Verantwortung« ausgesetzt sind. DerSkandal des Todes besteht nach Levinas eher darin, dass unsder oder die Geliebte entrissen wird, als dass wir selbst vom Todbetroffen werden.

Mit dieser ganz anders gearteten Phänomenologie des Todesbei Levinas wird ein neuer und kritischer Blick auf HeideggersAnalyse des »Seins zum Tode« möglich. Wird in Heideggers»Daseinsanalytik« der Tod des Anderen vernachlässigt? Wirsahen bereits, inwiefern Heidegger das »Dasein« nicht bloß als»Sein zum Tode«, sondern zugleich als »Mitsein« charakteri-siert. Eine Weise der »Sorge« ist dementsprechend die »Für-sorge«. Sie wird unter anderem als die »vorausspringend-befrei-ende Fürsorge« (ebd., 163) definiert. Diese »eigentliche Sorge«nimmt dem »Mitdasein« seinen Kummer nicht ab, sondern »ver-hilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und fürsie frei zu werden«. Dies vermag sie hinsichtlich des Sterbens zuleisten, indem sie den Anderen nicht beruhigt und falsch trös-tet, sondern ihm erst in die Härte dieses Geschehens, das jedes»Dasein« betrifft, hineinhilft. Die »eigentliche Sorge« soll dem

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Anderen die Möglichkeit nehmen, vor seinem Tod in Alltäg-liches auszuweichen und so sich selbst über seinen Tod hin-wegzutäuschen. Insofern ist Heidegger anders als Levinas derAnsicht, dass der »erste Tod« »je meiner« ist: »Keiner kanndem Anderen sein Sterben abnehmen. [. . .] Das Sterben mußjedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, soferner ›ist‹, wesensmäßig je der meine.« (ebd., 319) Für Heideggerist mein eigener Tod der »erste Tod«, ja, es hat den Anschein,als ob Heidegger das Wissen von meinem eigenen Tod wie eineBedingung der Möglichkeit denkt, vom Tod des Anderen über-haupt eine Ahnung zu bekommen. Und wirklich wäre es kaumzu verstehen, dass Andere sterben, wenn wir selbst unsterblichwären. Ob das »Antlitz des Anderen« oder »je meine« Gewiss-heit, sterben zu müssen, das erste Phänomen des Todes ist, isteine Frage, über die nachzudenken sich weiterhin lohnt.

Niemand anderer übrigens als Heidegger selbst hat in einemtieferen Sinne die Tragweite von Sein und Zeit eingeschränkt.Die Hauptfrage des Buches richtet sich auf den »Sinn vonSein«. Ich wies bereits darauf hin, dass der Denker diesen im»Horizont der Zeit« vermutet. Den Zugang zu diesem intensivim zweiten Abschnitt des Werks interpretierten Phänomennimmt Heidegger vom »Dasein« aus. Sein letzter Satz ist eineFrage: »Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?«(ebd.,577) Die Frage gibt einen Hinweis, der die »Daseinsana-lytik« in ihrer Bedeutung begrenzt. Wenn die Zeit der Anfangeiner Antwort auf die Frage nach dem »Sinn von Sein« ist,müsste sie dann nicht der unmittelbare Zugang zum »Sinn vonSein« sein? Müsste das Denken nicht bei der Zeit oder bei dem»Sein selbst« beginnen, um den »Sinn« von Sein und Zeit zuerfragen? Gewiss wäre es fraglich, das Verhältnis von »Sein«und »Dasein« auszusetzen, um das »Sein selbst« von seinemBezug zum Menschen zu isolieren – ein fragliches Unterneh-men, das Heidegger in seinem auf Sein und Zeit folgenden Den-ken hier und dort prüfte. Aber eine Gewichtsverlagerung inner-

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halb des Verhältnisses von »Dasein« und »Sein« auf die Seitedes »Seins« kündigt sich in den letzten Sätzen von Sein und Zeitan. Diese Gewichtsverlagerung hat Heidegger später selbst»Kehre« genannt. Das nach Sein und Zeit folgende DenkenHeideggers hat das Verhältnis von »Dasein« und »Sein« nie-mals endgültig verlassen. Aber es hat sich nicht mehr als »Da-seinsanalytik«, sondern als ein »Denken des Seins« verstanden.In diesem Zusammenhang hat man dann auch des Öfteren voneinem »Scheitern« des Fragment gebliebenen Buches Sein undZeit gesprochen. Doch auch wenn Heidegger in zum Teil nochunveröffentlichten Texten das Buch selbst destruiert, so ist esdoch stets eine Quelle geblieben, an die der Philosoph gernzurückgekehrt ist, um seine späteren Antworten auf die Fragenach dem »Sinn von Sein« zu klären.

2.2 Die Geschichtlichkeit des Daseins

Indem die Menschen sich selbst verstehen und sich inihrer Existenz auslegen wollen, kommen sie immer wie-der auf die Geschichte zurück. Sie ist der große Bedeu-tungsfundus, von dem das Dasein in all seinem prakti-schen und theoretischen Verhalten ausgeht. In diesemSinne ist zu sagen, dass das Dasein geschichtlich existiert.Die Frage nach dem Dasein in der Geschichte und nachder Geschichte des Seins ist das Hauptthema des Heideg-gerschen Denkens.

Heideggers frühes Philosophieren ist davon mitbestimmt, dieurchristliche Religiosität und die griechische Philosophietradi-tion in ihrer Bedeutsamkeit für die »Faktizität des Lebens« zu

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durchleuchten. Als Heidegger in Sein und Zeit darangeht, den»Sinn« der »Geschichte« im Rahmen seiner »Daseinsanalytik«auszuloten, steht die Wichtigkeit dieses Phänomens für ihnaußer Frage. Was Sein und Zeit leisten musste, war, den syste-matischen Zusammenhang zwischen dem »Dasein« und derGeschichte hinsichtlich der Frage nach dem »Sinn von Sein« zuerfassen und darzustellen.

Wir sahen, inwiefern die »Seinsweise« der »Sorge« der Indi-kator für die »Ganzheit« des »Daseins« ist. Das »Dasein« sorgtsich, indem es seine Angelegenheiten besorgt, um seine Zu-kunft. So ist es »immer schon« über sich hinaus auf etwas bezo-gen, was noch nicht ist. Auch die »Fürsorge«, die den Anderenzu sich selbst befreit, reicht in die Zukunft. Diese Bewegung des»Daseins«, dass es von dem, was es gewesen ist, zu dem, was essein wird, hinausreicht, ist das »Geschehen«, das Heideggerontologisch als Geschichte bzw. als die »Geschichtlichkeit« des»Daseins« interpretiert. Die »Zeitlichkeit« des »Daseins« istfolglich die »Bedingung der Möglichkeit« dafür, dass derMensch »geschichtlich« existiert (GA2, 27).

Diese Geschichtlichkeit des »Daseins« zeigt sich in zweifa-cher Hinsicht. Der Mensch kann sich zur Geschichte dadurch»eigentlich« verhalten, dass er sie reflektiert. Er kann in ihraber auch eine »uneigentliche« Lebensart annehmen und sichzerstreuen, sodass er schließlich seine Geschichtlichkeit ausdem Blick verliert.

Ein »entschlossenes« Verhältnis zu seiner Geschichte – unddas heißt zu seinen jeweiligen Lebensmöglichkeiten – findet das»Dasein«, insofern es in der Geschichte ein »Erbe« (ebd.,507)erkennt. Die Geschichte bietet den Menschen ein Bündel vonMöglichkeiten, sich und ihre Lage besser zu verstehen. Denndie »Situationen«, in denen das »Dasein« existiert, sind alle-samt erst geworden, sie haben ihre Anlässe in zurückliegendenEreignissen. Wenn sich das »Dasein« dieses Zurückliegende»überliefert«, beginnt es, sein Handeln zu klären. Diese Über-

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lieferung stellt sich als »Wiederholung« (ebd., 509) von Theo-rie- und Praxismöglichkeiten dar. »Wiederholung« bedeutethier aber nicht Repetition, sondern ein Zurückholen von etwas,was wir als wiederholbar betrachten und uns darum noch ein-mal vornehmen (die ganze Untersuchung von Sein und Zeitbeginnt mit einer »ausdrücklichen Wiederholung der Fragenach dem Sein«, ebd., 3). Dazu gehört natürlich nicht alles, wasbereits geschah. Es gibt ein kritisches Verhältnis zur Geschichteim »Widerruf« (ebd., 510). Das »Dasein« kann sich für sein»Erbe« als verantwortlich erweisen, indem es bestimmte zu-rückliegende Geschehnisse »widerruft«. Doch diese Beachtungdes »Erbes« ist nur der Beginn einer »eigentlichen Geschicht-lichkeit«. Indem das »Dasein« sich darauf besinnt, dass es ster-ben muss, dass es endlich ist, vertieft es sein Verhältnis zurGeschichte. Das »Vorlaufen zum Tode« ist der Grund der»eigentlichen Geschichtlichkeit«. Indem wir wissen, dass unsnicht alle Zeit der Welt zur Verfügung steht, bekommen wirjeweils im Bezug auf unsere Herkunft aus einem »Erbe« ein»Schicksal« (ebd.,507). Alles, was wir sind, sind wir geworden.Was wir noch tun werden, steht in einem bestimmten Verhält-nis zu dieser Herkunft. Selbst einen Bruch unserer Lebensliniekann es nur geben, wenn wir von dem, was wir geworden sind,Abschied nehmen. Lebenskontinuitäten und –diskontinuitätenbilden sich darüber hinaus nur in einem Kollektiv. Ein »Schick-sal« vermag das »Dasein« niemals nur für sich allein zu haben.Das »Dasein« lebt innerhalb einer »Gemeinschaft« oder ineinem »Volk«. Dieses selbst hat ein »Geschick«. Das einzelne»eigentliche Dasein« nimmt an diesem »Geschick« teil. Aufdiesen Punkt der Ausführung werde ich am Ende dieses Ab-schnittes noch einmal eingehen.

In der »uneigentlichen Geschichtlichkeit« übergeht derMensch die eben dargestellten Möglichkeiten, sich mit derGeschichte auseinanderzusetzen. Er sieht immer nur das»Heute«, das er gegen ein »Altes« absetzt (ebd.,517). So setze

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das »Dasein« ständig auf das »Moderne«, ohne sich für dieGenese seiner Praxis zu interessieren. Der Grund dieses Desin-teresses ist nach Heidegger das Verfehlen seiner Endlichkeit, dieFlucht vor der Erkenntnis, dass jedes »Dasein« ein Ende hat.Indem das »Dasein« der »Angst« vor seiner Endlichkeit ausdem Wege geht, vermag es nicht, die Geschichte als denjenigenHorizont zu erkennen, der seine Praxis »immer schon« mitdis-poniert.

Diese »fundamentalontologische« Erörterung der Geschich-te bzw. der Geschichtlichkeit des »Daseins« strahlt weit in diegesamte Philosophie Heidegger aus. Eine unmittelbare Folgedieser Theorie ist die tiefgehende Differenzierung zwischenGeschichte und Historie (ebd., 518 ff.). Die Historie erscheintals Vergegenständlichung einer fundamentalen »Seinsweise«des Menschen. Die »Geschichtswissenschaft« verobjektiviertdas, worin das »Dasein« »immer schon« existiert. Insofernspricht Heidegger ihr eine gewisse Notwendigkeit für dieSelbstverständigung des »Daseins« zu. Doch im weiteren Ver-lauf seines Denkens nimmt die Tendenz, dem Anspruch derHistorie, wahre Aussagen über die Geschichte machen zu kön-nen, die Berechtigung zu bestreiten, zu. So schreibt er ungefährzehn Jahre nach Sein und Zeit:

»Sie – die politisch-historische Auffassung des neuzeitlichen Men-schen – hat denn auch zur Folge, daß erst mit ihrer Hilfe der Historis-mus zur Vollendung gebracht wird. Historismus ist die völlige Herr-schaft der Historie als Verrechnung des Vergangenen auf ein Gegen-wärtiges mit dem Anspruch, dadurch das Wesen des Menschen alseines historischen – nicht geschichtlichen – Wesens endgültig festzu-machen.« (GA66, 168)

Wenn in Sein und Zeit noch die Absicht vorherrscht, die Histo-rie in die »Daseinsanalytik« zurückzubinden, spricht Heideg-ger ihr später jede Kompetenz, die Geschichte zu einem Gegen-stand der Erkenntnis machen zu können, ab. Eine der »Ge-

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schichtswissenschaft« eigene methodische Neigung, epochaleUnterschiede zu nivellieren (Sind uns Neandertaler und antikeGriechen gleich wichtig?), löst bei Heidegger eine Kritik aus,die zuweilen zur Idiosynkrasie übergeht. Der Denker nimmtdabei weniger an solchen Historikern Anstoß, die jene metho-dischen Schwierigkeiten reflektieren, als an denen, die sie leug-nen.

Eine weitere Konsequenz der ausführlichen Bezugnahme aufdie Geschichte besteht darin, dass Heidegger nach Sein undZeit die Geschichtlichkeit nicht mehr bloß als eine »Seins-weise« des »Daseins« betrachtet, sondern auf das »Sein selbst«bezieht. Bereits in Sein und Zeit heißt es, »daß das Fragen nachdem Sein [. . .] selbst durch die Geschichtlichkeit charakteri-siert« (GA 2, 28) ist. Wie sich das »Sein selbst« zur Sprachebringen lässt, wird »geschichtlich« entschieden. Dabei scheintes zunächst so zu sein, als würde Heidegger das »Sein« zu einerInstanz machen zu wollen, die sich jeweils in geschichtlichenEpochen verschieden »zuschickt« und als ein »Grund« der Ge-schichte betrachtet werden müsste. So heißt es in den Beiträgenzur Philosophie: »Nur im Wesen des Seyns selbst und das heißtzugleich in seinem Bezug zum Menschen, der solchem Bezuggewachsen ist, kann die Geschichte gegründet sein.« (GA 65,494) Doch ein solches Fundierungsverhältnis schließt sich imHinblick auf das »Sein« und die Geschichte darum aus, weiles nicht jenseits der »Zeitlichkeit«, das heißt jenseits der Ge-schichte lokalisiert werden kann. Eine solche Vorstellung führ-te auf die Hegelsche Differenzierung eines ewigen »Geistes«,der »in die Zeit fällt«, zurück. Bei Heidegger geraten »Sein«und »Geschichte« vielmehr in ein Verhältnis, in welchem nichtmehr genau zu sagen ist, ob die »Geschichte« ein Merkmal des»Seins« oder dieses ein Charakterzug von jener ist. Heideggersspätere Formulierung von der »Geschichte des Seins« lässt die-se Zweideutigkeit im Genitiv deutlich werden: Die Geschichteist im »Sein selbst« »gegründet« wie dieses in der Geschichte

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»gegründet« ist. Was sich den Menschen als Geschichte jeweilsverschieden epochal »zuschickt«, ist nichts anderes als ebendas, was ist.

Genauer betrachtet, wird damit das in Sein und Zeit vertre-tene Fundierungsverhältnis von »Zeitlichkeit« und »Geschicht-lichkeit« hinfällig. Die »Zeitlichkeit«, d. h. das »Sein«, kannnicht als die »Bedingung der Möglichkeit« von Geschichteinterpretiert werden, wenn sich unsere Auffassung von »Zeit-lichkeit« »geschichtlich« wandeln kann. Heidegger verweistin einer frühen Vorlesung auf das Phänomen, dass das Urchris-tentum die »Zeit selbst« »lebt«. Fasst das Urchristentum die»Zeitlichkeit« »eschatologisch«, also von der noch kommen-den Wiederkehr Gottes her auf, so verfolgen die Griechen eherkreisläufige Zeitvorstellungen. Selbst eine naturwissenschaftli-che Vorstellung von der Zeit wäre epochal zu deuten – undnicht als der einzig wahre Zugang zu ihr. So gesehen wäre alsodie Geschichte die »Bedingung der Möglichkeit« für ein jeweilssich wandelndes Verständnis von »Zeitlichkeit«. Es hat denAnschein, als habe Heideggers späteres Denken diese Möglich-keit, unsere Auffassung der »Zeitlichkeit« an einen in sichselbst zeitlichen Horizont zurückzubeziehen, favorisiert. Die-ser Gedanke verweist auf das, was Heidegger ungefähr seitMitte der dreißiger Jahre »das Ereignis« nennt.

Ich hatte vorhin angekündigt, noch einmal auf HeideggersCharakterisierung der »Geschichtlichkeit« des »Daseins« als»Erbe«, »Schicksal« und vor allem als »Geschick« zurückkom-men zu wollen. Wie bekannt, hat sich Heidegger in einer be-stimmten Phase seines Denkens dem Nationalsozialismus ver-pflichtet gefühlt. Am 21. April 1933 wird Heidegger zum Rek-tor der Freiburger Universität ernannt. Ende Februar 1934erklärt er seinen Rücktritt. Doch noch im November desselbenJahres hält er einen mehr oder minder affirmativen Vortrag inKonstanz am Bodensee. Heidegger hat sich vom revolutionä-ren Elan Hitlers, »endlich« mit den unklaren Verhältnissen der

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»Weimarer Republik« »aufräumen« zu wollen und eine sozialausgeglichene, durch das »Führerprinzip« getragene »Volksge-meinschaft« zu gründen, sowie von seinem entschieden vorge-tragenen Nationalismus (der sich später als verlogen heraus-stellen sollte) ohne Zweifel angezogen gefühlt.

Es ist klar, dass dieses Engagement viel Kritik und Empörunghervorgerufen hat und noch immer hervorruft.6

6 Vgl. das vor allem aus dem Geist der Rache geschriebene Buchvon Victor Farıas, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frank-furt/M. 1989.

Selbst HannahArendt bezeichnete Heidegger vor ihrer wiederholten Begeg-nung im Jahre 1950 Karl Jaspers gegenüber als »potentiellenMörder«7

7 Hannah Arendt/Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg.v. LotteKöhler u. Hans Saner, München u. Zürich 1993, S.84.

. Wollte man diese politische Option des Denkers ver-stehen, wäre meines Erachtens ein bestimmter Zug von Hei-deggers Interpretation der Geschichtlichkeit des »Daseins« zubeachten. In Sein und Zeit schreibt Heidegger:

»Die Entschlossenheit konstituiert die Treue der Existenz zum eigenenSelbst. Als angstbereite Entschlossenheit ist die Treue zugleich mögli-che Ehrfurcht vor der einzigen Autorität, die ein freies Existierenhaben kann, vor den wiederholbaren Möglichkeiten der Existenz.«(GA2, 516)

Das »Geschick« Deutschlands war für Heidegger eine dieser»wiederholbaren Möglichkeiten«. Wird dieses in einem Mo-ment zur »einzigen Autorität«, dann kann verstanden werden,inwiefern Heidegger in der revolutionären MachtergreifungHitlers eine »Entscheidung« vermutet hat, von der sich zurück-zuhalten bedeutet hätte, das »Geschick« des Volkes zu ignorie-ren. Wie verblendet diese Affirmation des Nationalsozialismusgewesen ist, hat später kein anderer als Heidegger selbst vorallem in seinen Vorlesungen und Aufsätzen über HölderlinsDichtung deutlich werden lassen. Den Missbrauch einer deut-

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schen Identität von Seiten der Nazis hat er hier unmissverständ-lich vorgeführt.

In diesem Zusammenhang hat Heideggers programmatischeRede bei Antritt des Rektorats im Mai 1933 mit dem Titel DieSelbstbehauptung der deutschen Universität eine ambivalenteBedeutung. Diese Rede enthält das klare Bekenntnis zum »ge-schichtlichen Auftrag« (GA16, 117) des deutschen Volkes, denHeidegger in der Machtübernahme durch Hitler erkennenwollte. In diesem Sinne ist die Idee der »drei Bindungen«»durch das Volk an das Geschick des Staates im geistigen Auf-trag« »Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst« (ebd.,114) der Versuch, der totalitären nationalsozialistischen Auf-fassung des Staates entgegenzukommen. Andererseits kannman nicht verkennen, dass Heideggers Scheitern als Rektorsich in dieser Rede an vielen Stellen bereits ankündigt. DieseStellen nämlich enthalten Gedanken, die nicht nur den Natio-nalsozialisten, sondern sogar konservativen Universitätspro-fessoren nicht genehm oder fremd sein mussten. So musste Hei-deggers Hinweis, dass »alle Wissenschaft« an und für sich Phi-losophie sei und damit dem griechischen »Anfang der Philoso-phie verhaftet« (ebd.,109) bleibe, die große Mehrheit der zuhö-renden Wissenschaftler befremden. Auch der folgende Satzmusste die Anwesenden vor den Kopf stoßen:

»Und wenn gar unser eigenstes Dasein selbst vor einer großen Wand-lung steht, wenn es wahr ist, was der leidenschaftlich den Gottsuchende letzte deutsche Philosoph, Friedrich Nietzsche, sagte: ›Gottist tot‹ –, wenn wir Ernst machen müssen mit dieser Verlassenheit desheutigen Menschen inmitten des Seienden, wie steht es dann mit derWissenschaft?« (ebd.,111)

Dass der Rektor einer berühmten Universität in einer program-matischen Rede solche Gedanken vorträgt und solche Fragenstellt, musste nicht nur das Freiburger Publikum im Mai 1933einigermaßen verwirren. Es würde zu allen Zeiten an allen Uni-

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versitäten der Welt Ratlosigkeit hervorrufen. Den Nationalso-zialisten, die eine den Zeitbedürfnissen dienende Universitätforderten, war die »Verlassenheit des heutigen Menschen«fremd und gleichgültig.

Aber es ist nicht nur dieses vorübergehende politische Enga-gement, dieses Einverständnis, sich zum Instrument der Politikmachen zu lassen, das die Öffentlichkeit Heidegger bis heuteverübelt. Es wird dem Denker vielmehr vorgeworfen, sich nieöffentlich zur Vernichtung des jüdischen Volkes, zur Shoahgeäußert zu haben. Eine der klügsten Äußerungen zu dieserTatsache scheint mir Jacques Derridas kurzer Text HeideggersSchweigen zu sein. Dort schreibt der französische Philosoph:

»Ohne Heideggers furchtbares Schweigen würden wir das Gebotnicht verspüren, das sich an unser Verantwortungsbewußtsein richtet,die Notwendigkeit, Heidegger so zu lesen, wie er sich selbst nicht gele-sen hat. Wenigstens hat er dies nicht beansprucht. Oder vielleicht hater es beansprucht und sich deswegen, wie ich vermute, in Schweigengehüllt. Vielleicht hat er beansprucht, daß er bereits auf seine Weisegesagt hat, ohne sich dabei zu bequemen Sätzen verleiten zu lassen,was sich im Nationalsozialismus korrumpieren mußte.«8

8 Jacques Derrida, »Heideggers Schweigen«, in: Günther Neske undEmil Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger im Gespräch,Pfullingen 1988, S.160f.

So gesehen wäre Heideggers vermeintliches »Schweigen« einStachel für das Philosophieren der Gegenwart, eine ständigeHerausforderung, sich der Verstrickung des Denkens in dieGeschichte, in der so etwas wie die Shoah geschehen konnteund wieder geschehen kann, auszusetzen. Heideggers »furcht-bares Schweigen« wäre der Anlass, sich des deutschen »Ver-waltungsmassenmordes« (Hannah Arendt) wiederholt zu erin-nern.

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2.3 Die ontologische Differenz

Zwischen dem Dasein als einem besonderen Seiendenund dem Sein besteht eine Differenz. Sie ermöglicht, überdie vorhandenen Dinge, mit denen wir uns alltäglichbeschäftigen, hinauszugehen. So leben wir miteinanderin einer Welt, die kein Ding ist. Sie eröffnet vielmehr zwi-schen mir und den Anderen sowie zwischen mir undden Dingen einen nie zu vergegenständlichenden Frei-raum. In der europäischen Philosophietradition ist zwarDifferenz als ein ernstzunehmdes Phänomen beachtet,zumeist aber die Herstellung von Identität (A=A) als letz-tes Ziel des Denkens behauptet worden. Indem Hei-degger dagegen erklärt, dass nicht die Identität oderTotalität, sondern dass die Differenz der Anfang der Frei-heit ist, bringt er sich zu dieser Tradition in einen Ab-stand und hat vor allem der Ethik neue Impulse ge-geben.

Die drei wesentlichsten Grundbegriffe in Heideggers Denkenhaben wir inzwischen kennen gelernt. Es handelt sich um dieBegriffe des »Seins«, des »Seienden« und – als eines »ausge-zeichneten Seienden« – des »Daseins«. Offensichtlich gehörensie zusammen, bilden eine Einheit. Doch zugleich zeigt sich einUnterschied. Das »Sein« ist kein »Seiendes«. Diesen Unter-schied bezeichnet Heidegger als »ontologische Differenz«. Erbildet die eigentliche Grundstruktur von Heideggers Philoso-phie. In den folgenden Ausführungen werde ich mich mit dieserfür Heideggers Denken so wichtigen Struktur beschäftigen. Daes sich dabei scheinbar um eine bloße Denkform handelt, könn-ten diese Erläuterungen den Leser hier und da ein wenig quälen.Eine Berücksichtigung dieser ersten und letzten Differenz ist

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aber nicht zu umgehen, weil sie nach Heidegger das gesamteeuropäische Denken fundiert.

Von Heideggers ersten Auseinandersetzungen mit der »onto-logischen Differenz«, also mit der Unterscheidung des »Seins«vom »Seienden«, berichten seine Marburger Vorlesungen DieGrundprobleme der Phänomenologie, die Einleitung in diePhilosophie sowie sein Aufsatz Vom Wesen des Grundes. In derMarburger Vorlesung aus dem Jahre 1927 heißt es:

»Das Problem des Unterschiedes von Sein überhaupt und Seiendemsteht nicht ohne Grund an erster Stelle. Denn die Erörterung diesesUnterschiedes soll erst ermöglichen, eindeutig und methodisch sicherdergleichen wie Sein im Unterschied von Seiendem thematisch zusehen und zur Untersuchung zu stellen. Mit der Möglichkeit eines hin-reichend klaren Vollzuges dieser Unterscheidung von Sein und Seien-dem und demnach mit der Möglichkeit des Vollzuges des Überschrittsvon der ontischen Betrachtung des Seienden zur ontologischen The-matisierung des Seins steht und fällt die Möglichkeit der Ontologie,d.h. der Philosophie als Wissenschaft.« (GA24, 322)

Die Frage nach dem »Sinn von Sein« nimmt nichts »Seiendes«in den Blick. Doch in Sein und Zeit hatte Heidegger behauptet,um die Frage beantworten zu können, müsse man mit der Ana-lyse eines »exemplarischen Seienden« beginnen. Wie geschiehtdann aber der »Überschritt« von einer Analyse des »Seienden«zur eigentlich »ontologischen Thematisierung des Seins«? DiePhilosophie als »Ontologie« ist keine »Wissenschaft« alleindes »Seienden«, sondern des »Seienden« in seinem Bezug zum»Sein«. Mit dieser Unterscheidung scheint Heidegger den aris-totelischen Gedanken einer »ersten Philosophie« (prote philo-sophıa) zu reformulieren. Sie ist für Aristoteles die Wissen-schaft der Wissenschaften, weil sie, wie er in seinen Vorlesun-gen zur Metaphysik (1025b, 1) erklärt, nicht bloß das sinnliche»Seiende«, sondern auch dessen Prinzipien und Ursachen (haıarchaı kaı ta aıtia) untersucht.

Gemäß dem methodischen Ansatz von Sein und Zeit beginnt

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eine solche Ontologie mit der Bezugnahme auf ein bestimmtes»Seiendes«, und zwar auf das »Dasein«. Dessen »Seinsweise«,das hatte Sein und Zeit betont, gründe in der »Zeitlichkeit«. Soführen die ersten Schritte der Auseinandersetzung mit derFrage nach der »ontologischen Differenz« dazu, diese spezi-fische »Seinsweise« des »Daseins«, die »Zeitlichkeit« bzw.»Temporalität« (GA24, 402), zu betrachten.

Im Verlauf der Klärung der »Zeitlichkeit« in ihrem Verhält-nis zum »Dasein« zeigt sich für Heidegger die Notwendigkeit,die »Grundbedingung für die Erkenntnis von Seiendem sowohlwie für das Verstehen von Sein« (ebd.,402) zu erörtern. Bei die-ser Erörterung beruft er sich auf Platons im 6. Buch seiner Poli-teia dargestellten Sonnengleichnis. Es deutet sich an, dass der»Überschritt von der ontischen Betrachtung des Seienden zurontologischen Thematisierung des Seins« in einem Grundge-danken der platonischen Philosophie, nämlich dass das Gutenoch über das Sein selbst hinausgeht, also sich »jenseits desSeins« befindet, anklingt. So kann Heidegger sagen: »Was wirsuchen, ist das epekeina tes ousıas.« (ebd., 404) Die Wieder-kehr dieses platonischen Gedankens in der Klärung der »onto-logischen Differenz« ist sehr wichtig. In seinem einflussreichenBuch Platons Ideenlehre hatte Paul Natorp den Gedankeneines Bereiches »jenseits des Seins«, das heißt nach Heidegger»jenseits des Seienden«, mit dem »Begriff des Transzendenta-len«9

9 Paul Natorp, Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealis-mus, Hamburg 1994, S.463.

im Sinne Kants in Verbindung gebracht. Dies hinterließ inHeideggers Denken der »ontologischen Differenz« Spuren.Dass Heidegger in Marburg die Grundlegung einer Philosophieals »Ontologie« in einer Auseinandersetzung mit Platon undmit Kant bewerkstelligen zu können glaubte, ist, wie ich denke,kein Zufall, sondern bezeugt eine Wirkung von Natorps Buch.

»Grundbedingung«, die es dem »Dasein« ermöglicht, nicht

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nur »Seiendes«, sondern das nichtseiende »Sein selbst« zu ver-stehen, ist, dass es eine Sphäre gibt, die über das »Seiende«hinausgeht, die sich »jenseits des Seienden« erst öffnet. DieSphäre eines solchen »Seins« »jenseits des Seienden« kann Hei-degger »Welt« nennen. In jener anderen Marburger Vorlesung,der »Einleitung in die Philosophie«, erläutert er, inwieferndie »Seinsfrage« mit der Frage nach der Welt verflochten ist(GA27, 394). Wie sich das »Dasein« »immer schon« in einem»Seinsverständnis« befindet, so charakterisiert es sich durchein »vorgängiges Verständnis von Welt, Bedeutsamkeit« (GA24, 420f.). Dieses Verständnis, dass sich das »Dasein« in einemSpielraum bewegt, der das vorhandene »Seiende« übersteigt,ist in sich der »echte ontologische Sinn von Transzendenz«(ebd., 425). Dieser bedeutet, dass das »Dasein« in seinem »In-der-Welt-sein« über sich selbst hinaus gehen und das nur Vor-handene »übersteigen« (GA9, 137) kann.

Doch noch ein anderes wesentliches Moment der platoni-schen Philosophie zeigt eine strukturelle Analogie zum Gedan-ken der »ontologischen Differenz«. Der vor allem im DialogPhaidon thematisierte Begriff des chorismos (St. 67d), der dieTrennung, die Unterscheidung der Seele vom Leib anzeigt,ermöglicht es, die Unsterblichkeit der nichtkörperlichen Seeleim Verhältnis zu einem offensichtlich zerfallenden Leib zu be-haupten. Der Begriff der »ontologischen Differenz« ist gleich-sam ein Echo auf diese Grunddifferenz in der platonischenIdeenontologie. Der chorismos ist, wie auf eine andere Weise dasepekeina tes ousıas, eine Bedingung der »Transzendenz«. Mitihnen öffnet sich ein Raum, in den hinein das »Dasein« das vor-handene »Seiende« »übersteigen« und hinter sich lassen kann.

Was so als »Transzendenz« gedacht wird, will Heidegger zu-gleich von Kant her und gegen Kants Bestimmung des »Trans-zendentalen« verstanden wissen. Kant habe im »Transzenden-talen« zwar das »Problem der inneren Möglichkeit von Onto-logie überhaupt erkannt«, doch die von Kant angenommene

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»wesentlich« »kritische« Bedeutung« des »Transzendentalen«habe ihn davon abgehalten, »mit einer radikaleren und univer-saleren Fassung des Wesens der Transzendenz« »eine ursprüng-lichere Ausarbeitung der Ontologie und damit der Metaphy-sik« (GA9, 139) begründen zu können. Eine weitergehende Er-hellung dessen, wie Heidegger Kant gedeutet hat, ist hier nichtnotwendig. Festzuhalten ist bloß, dass in der ersten Ausarbei-tung der Bedeutung der »ontologischen Differenz« Platon undKant die beiden Denker waren, mit denen Heidegger sich ausei-nandersetzte.

Die erste Bestimmung, der Ausgangspunkt aller weiterenVeränderungen der »ontologischen Differenz« ist gefunden.Heidegger schreibt richtungsweisend in seinem Aufsatz »VomWesen des Grundes«: »Diesen Grund der ontologischen Diffe-renz nennen wir [. . .] die Transzendenz des Daseins.« (Ebd.,135) Die Unterscheidung des »Seins« vom »Seienden« gibt dieSphäre des »Jenseits des Seins« frei, die Dimension der Weltoder der Transzendenz des »Daseins«.

Heideggers Klärung der »ontologischen Differenz« hat zudieser Zeit eine epistemologische Funktion. So interessiert ersich für eine Grundlegung der Philosophie als einer »absolutenWissenschaft vom Sein« (GA24, 15) oder als einer »universalenOntologie« (ebd., 16). Diese »absolute Wissenschaft« sei die»transzendentale Wissenschaft« (ebd., 460), weil ihr Gegen-stand die Welt bzw. das »Sein« als die Offenheit des »Daseins«,die Transzendenz, ist. Die Methode dieser Wissenschaft soll diePhänomenologie (ebd.,27ff.) sein.

Die Bestimmung einer »absoluten Wissenschaft« als Phäno-menologie und umgekehrt ist der Heideggerschen Philosophieam Ende der zwanziger Jahre eine Selbstverständlichkeit. In ihrspricht sich das überlieferte Selbstverständnis der Philosophievon der theorıa des Aristoteles bis zur »absoluten Wissen-schaft« Hegels aus. Bereits in Sein und Zeit wird die »Funda-mentalontologie« als eine Grundlegung aller Wissenschaften

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des »Seienden« betrachtet (GA 2, 14). Doch so deutlich dasProgramm einer wissenschaftlichen Philosophie an dieser Stellevon Heideggers Denken erscheint, so deutlich ist das Problemzu erkennen, welches das Programm in eine Krisis getriebenhat. Dieses Problem verbirgt sich im Charakter oder besser: imGegenstand der »absoluten Wissenschaft« als Ontologie. Hei-degger betrachtet nämlich das »Sein« als den Gegenstand die-ser »absoluten Wissenschaft«. Kann das »Sein« aber zum Ge-genstand einer solchen Wissenschaft gemacht werden?

Die Begründung einer »absoluten Wissenschaft vom Sein«ist problematisch, weil die Weise, wie das »Sein« ist, den Cha-rakter des »Entzugs« oder der »Verbergung« hat. Bereits imJahre 1923 notiert Heidegger: »Sollte es sich herausstellen, daßes zum Seinscharakter des Seins, das Gegenstand der Philoso-phie ist, gehört: zu sein in der Weise des Sich-verdeckens undSich-verschleierns – und zwar nicht akzessorisch, sondern sei-nem Seinscharakter nach –, dann wird es eigentlich ernst mitder Kategorie Phänomen.« (GA 63, 76) Heidegger behauptet,dass das »Kategorie Phänomen«, also das Erscheinen an sich,erst dort zu einem philosophischen Problem wird, wo ein»Sich-verdecken«, ein Nichterscheinen, geschieht. Der Ge-danke ist paradox. Er kehrt wieder in Sein und Zeit, wenn Hei-degger schreibt, dass das Phänomen etwas ist, »was sich zu-nächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, wassich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist« (GA 2, 47).Diese »Verbergung« im Erscheinen, dieses »Sich-verschleiern«als Phänomen zu erblicken sei die grundlegende Aufgabe derPhänomenologie. Ist die Transzendenz der Gegenstand der»transzendentalen Wissenschaft« als Phänomenologie, so istihr Gegenstand – ein Nicht-Gegenstand, ein Nicht-Phänomen.

Diese Verdeckung im Phänomen, das »Sich-verschleiern«des Seins ist das Hauptmerkmal der »ontologischen Diffe-renz«. Wie sie das vorliegende »Seiende« vom sich verschlei-ernden »Sein« trennt oder unterscheidet, so integriert sie das

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Vorliegen und die Verdeckung in einer Einheit. Diesen Sachver-halt, dass sich in der Mitte der »ontologischen Differenz« eineSpannung von Erscheinung und Verdeckung entfaltet, hat Hei-degger am Ende der zwanziger Jahre, indem er die Differenz alsTranszendenz dachte, zum Gegenstand einer »universalen On-tologie« machen wollen. Dabei war es gerade die »ontologischeDifferenz«, welche die Begründung einer Phänomenologie als»absoluter Wissenschaft vom Sein« von innen her zerbrechensollte.

Der Schritt zu der Grundlegung einer »transzendentalenWissenschaft« durch die Erörterung der »ontologischen Diffe-renz«, d.h. der Differenzierung eines »ontischen«, auf das »Sei-ende« bezogenen, von einem »ontologischen«, also erst eigent-lich philosophischen, weil auf das »Sein selbst« bezogenenDenkraums, hat sich Heidegger in einem Umbruch seines Phi-losophierens als ein notwendiger Kurzschluss herausgestellt.Dieser lässt sich als notwendig nachvollziehen, weil sich vonihm aus die weiteren Verwandlungen der »ontologischen Diffe-renz« und der Heideggerschen Philosophie als der »Überwin-dung der Metaphysik« erläutern lassen. Der Begründungsver-such einer »absoluten Wissenschaft vom Sein« musste sich alsein Kurzschluss herausstellen, weil er die Bestimmung des»Seins selbst«, dass es nämlich kein verobjektivierbares »Seien-des« ist, nicht zureichend erkannt hat.

Eine gründliche Modifikation des Gedankens der »ontologi-schen Differenz« von der »Transzendenz des Daseins« wirdvon einer Einsicht motiviert, die bereits in den letzten Paragra-fen von Sein und Zeit anklingt. Dort nämlich spricht Heideggervom »ontologischen Rätsel der Bewegtheit des Geschehens«(ebd.,514), vom »ontologischen Rätsel« der »Geschichte«. DieRätselhaftigkeit ihrer »Bewegtheit« hat Heidegger veranlasst,eine Grundlegung der »Ontologie« auf den Fundamenten einesplatonisch-aristotelischen Philosophieverständnisses wieder-holt zu überdenken. Dabei kamen ihm Zweifel, ob dieses Philo-

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sophieverständnis den eigentlichen Intentionen seines Denkensentsprechen konnte. Dieser Zweifel brachte ihn dazu, ein Den-ken vorzutragen, welches das abendländische Philosophievers-tändis als Wissenschaft von den ersten Ursachen, als »Meta-physik«, zu »überwinden« trachtet. Die »Überwindung derMetaphysik« (vgl. Kapitel 3.3) ist derjenige Themenbereich,von welchem aus die erheblichen Verwandlungen der »ontolo-gischen Differenz« zu erhellen sind. Dabei liegt es aber imeigentümlichen Sinn der Sache selbst begründet, dass nicht zuentscheiden ist, ob die »Überwindung der Metaphysik« dienoch zu erläuternde »Überwindung der ontologischen Diffe-renz« bestimmt oder ob es sich andersherum verhält.

Die beiden größten und bedeutsamsten Zeugnisse, die deneinzigartigen Versuch einer »Überwindung der Metaphysik«,nämlich den Versuch, die gesamte Geschichte des abendländi-schen Denkens in neue, andere Bahnen zu leiten, zur Sprachebringen, sind die Beiträge zur Philosophie und die sich an dieseanschließenden Erörterungen der Besinnung. In den Beiträgenzur Philosophie heißt es bezüglich der »Unterscheidung« von»Sein« und »Seiendem« selbstkritisch: »Diese Unterscheidungist seit ›Sein und Zeit‹ als ›ontologische Differenz‹ gefaßt, unddieses in der Absicht, die Frage nach der Wahrheit des Seynsgegen alle Vermischung sicherzustellen. Aber sogleich ist dieseUnterscheidung auf die Bahn gedrängt, aus der sie herkommt.Denn hier macht sich die Seiendheit geltend als die ousıa, idea,und in ihrem Gefolge die Gegenständlichkeit als Bedingung derMöglichkeit des Gegenstandes.« (GA65, 250) Die Klärung der»ontologischen Differenz« als der »Transzendenz des Daseins«hat den Bereich nicht erreicht, den Heidegger jetzt als »ihrenUrsprung selbst und d. h. [als] ihre echte Einheit« (ebd., 250)denkt. Festgehalten von der »Seiendheit des Seins«, von derVorstellung eines »allem Seienden Gemeinsamen« (ebd., 425),blieb das »Sein selbst« (das Heidegger jetzt »Seyn« nennt) ver-stellt. Indem Heidegger sich in seinem ersten Klärungsversuch

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der »ontologischen Differenz« einerseits an dem platonischenGedanken des epekeina tes ousıas und andererseits an der kan-tischen Theorie des »Transzendentalen« orientierte, hat sichihm jenes entzogen, wohin sein Denken unterwegs war: der»Ursprung« der »ontologischen Differenz«, den Heideggernun als die »Wesung des Seyns« (ebd.,465) bezeichnet.

Indem Heidegger jetzt platonische und kantische Gedankenzurückweist, weil diese den »Ursprung« oder die »echte Ein-heit« der »ontologischen Differenz« verstellen, setzt er in derKlärung eigener philosophischer Intentionen früher, vor derÄra der platonisch-aristotelischen Philosophie an. Er zeigt,inwiefern bereits diese Initiatoren der europäischen Philoso-phie einer eigentümlichen »Vergessenheit« unterliegen. Sie ver-mochten es schon nicht mehr, das »Sein« als es selbst und nichtetwa als ein besonderes »Seiendes« zu verstehen. Dabei ist eseiner der Hauptgedanken von Heideggers Philosophie, dassdiese »Vergessenheit« nicht von einer Amnesie der Philosophenverschuldet, sondern von einem sich selbst entziehenden undverbergenden »Sein« aus möglich wurde.

Durch diese Erläuterung könnte der Eindruck entstehen,dass Heidegger im Zuge eines ontologischen Fundamentalis-mus diese »Differenz« nun einfach in einer »reinen« Form re-habilitieren wollte. Doch indem Heidegger den »Ursprung« der»ontologischen Differenz« bedenkt, modifiziert er nur ihreStruktur. Es geht keineswegs darum, die beiden Seiten der Un-terscheidung, das »Sein« und das »Seiende«, »reiner« zu tren-nen. Die »Wesung des Seyns« als der »Ursprung« der Differenzist jenes, was »zwischen« dem »Sein« und dem »Seienden« ist(GA 9, 123). Es geht um die Erkenntnis einer dritten Instanz,die bisher noch gar nicht bemerkt wurde. Bei der Betrachtungder Unterscheidung zwischen dem »Sein« und dem »Seienden«geht es weder um das »Sein« noch um das »Seiende«, sondernum den Bereich, der »zwischen« ihnen liegt.

Mit der Entdeckung dieses »Zwischen« hat Heidegger eine

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Dimension erreicht, in der die gängigen ontologischen Erklä-rungskategorien kaum noch zureichen. Der Philosoph sprichtdaher einfach von einer »Differenz als Differenz«10

10 Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957, S.37.

. Sie sei »derGrundriß im Bau des Wesens der Metaphysik«, ohne doch vondieser als sie selbst gedacht werden zu können. Mit der Freile-gung dieses »Grundrisses« hat die »Überwindung der Meta-physik« ihren leitenden Gedanken gefunden.

Um die Bedeutung, die einem Denken der »Differenz als Dif-ferenz« zukommt, ganz zu verstehen, müssen wir das Wort»Grundriss« genauer betrachten. Einerseits will Heidegger ge-treu seinen Ausführungen über die »ontologische Differenz«,die er, wie wir sahen, anfangs mit platonischen und kantischenGedanken in Verbindung bringen kann, andeuten, dass die»Differenz« zwischen dem »Sein« und dem »Seienden« in dereuropäischen Geschichte der Philosophie den »Grundriss« fürdie Unterscheidung des Übersinnlichen vom Sinnlichen lieferte.Weil es die »ontologische Differenz« gibt, sei es in der Ge-schichte der Philosophie erst möglich, zum Beispiel »Idealis-mus« von »Materialismus« zu unterscheiden.

Doch das Wort »Grundriss« hat noch eine andere, sozusagen»wörtlichere« Bedeutung. Der »Grund« des »Seins«, auf demwir als »Dasein« existieren müssen, wird von einem »Riss« cha-rakterisiert – oder der »Grund« ist ein »Riss«. Mit dem Gedan-ken von der »Differenz als Differenz« möchte Heidegger daraufhinweisen, wie wenig selbstverständlich es ist, dass es eine nichtzu vereinheitlichende »Differenz« überhaupt gibt. Diese »Diffe-renz« ist der Identität nicht mehr unterzuordnen – was die Tra-dition der europäischen Philosophie stets versuchte –, sondernist, insofern es überhaupt »Seiendes« gibt, bei allem, was derMensch tut und denkt, im Spiel. Wollte man den »Riss« im»Grund« verschwinden lassen, würde man den »Grundriss«der gesamten Geschichte der Philosophie vernichten müssen.

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Was scheinbar nur ein Wortspiel ist, enthält eine weitrei-chende Bedeutung für das zeitgenössische Denken. In dem ver-meintlich bloß formalen Gedanken der »Differenz als Diffe-renz« steckt, auch wenn es zunächst nicht einfach zu erkennenist, insbesondere ethisches Potenzial. Jacques Derrida hat inseinem Vortrag Die differance aus dem Jahre 1972 bemerkt,dass die von Heidegger geforderte schwierige Aufgabe, die»ontologische Differenz« zu bedenken, bedauerlicherweise»fast ungehört verblieb«.11

11 Jacques Derrida, »Die differance«, in: ders., Randgänge der Philo-sophie, Wien 1988, S.48.

Fünf Jahre früher hatte er in seinemAufsatz Gewalt und Metaphysik gegen Emmanuel Levinasgezeigt, inwiefern ohne die »ontologische Differenz« bzw. das»Denken des Seins« »keine Ethik« und erst recht »keine Ethik«im Sinne von Levinas gefunden werden kann.12

12 Jacques Derrida, »Gewalt und Metaphysik«, in: ders., Die Schriftund die Differenz, Frankfurt/M. 1976 (Paris 1967), S.208.

Kritisch betontDerrida, dass sie im Vergleich zur »Differenz« zum Andereneine »ursprünglichere Differenz«13

13 Ebd., S.138.

sei. Die »Differenz als Diffe-renz« wird als der »Grundriss« gedacht, der Andere auseinan-der hält und zusammenbringt.

Wenn wir uns die Philosophie der letzten Jahrzehnte an-schauen, kann man zu dem Schluss kommen, dass HeideggersThematisierung der »ontologischen Differenz«, die zuletzt inein Denken der »Differenz als Differenz« einmündete, vor al-lem in der französischen Phänomenologie (im weitesten Sinne)sehr einflussreich war. Dabei hat es besonders der Ethik An-stöße vermitteln können. Die ethische Bedeutung eines solchenDenkens der »Differenz« besteht darin, dass, anders als in derÜberlieferung der europäischen Philosophie seit Platon, »Dif-ferenz« im Verhältnis zur »Identität« nicht mehr als defizitärverstanden werden kann. Immer wieder haben die klassischeneuropäischen Philosophien das Phänomen des Anderen und

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Andersartigen als etwas aufgefasst, das in einer ersten und letz-ten »Identität«, in einer alles vereinigenden »Totalität« über-wunden werden müsse. Diese Einsicht scheint nicht nur Derri-das und Levinas’ Denken beeindruckt zu haben. Ein weiteresBeispiel für die Rezeption von Heideggers Gedanken zur »Dif-ferenz« bildet die Ethik der sexuellen Differenz14

14 Luce Irigaray, Ethik der sexuellen Differenz, Frankfurt/M. 1984.

der von demfranzösischen Freud-Schüler Lacan ausgehenden Luce Irigaray,die ihre Untersuchungen unter anderem in eine Nähe des Hei-deggerschen Differenzdenkens bringt. Auch der pluralistische»Pragmatismus« eines Richard Rorty15

15 Vgl. Richard Rorty, »Habermas, Derrida und die Aufgaben derPhilosophie«, in: ders., Philosophie und die Zukunft. Essays,Frankfurt/M. 2000, S.26–53.

hat sich von ihm beein-flussen lassen. Dass jedoch ein Denken, das auf universalisti-sche Geltungsansprüche der Vernunft nicht verzichten will, wiezum Beispiel dasjenige Jürgen Habermas’, mit Heideggers Ver-such, die »Differenz« gegenüber dem Universalismus des euro-päischen Denkens zu emanzipieren, Probleme haben kann,liegt auf der Hand.

88 Die Frage nach dem Sein

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3 Die Geschichte des Seins

3.1 Zur Struktur des »Ereignisses«

Ungefähr ein Jahrzehnt nach Sein und Zeit entstehen dieBeiträge zur Philosophie. Sie thematisieren eine Relati-onsstruktur, die der Philosoph Wahrheit des Seyns nennt.Die Bedeutung des Seins ist die Wahrheit, die als einGeschehen von Verbergung und Erscheinung verstandenwird. Eine sich totalisierende Technik, die Heideggermehr und mehr in der Politik der Nationalsozialistenerkannte, wird als das Anzeichen wachsender Verstel-lung, die zugleich auf die sie zulassende Offenheit ver-weist, interpretiert. Diese Interpretation ist kein theoreti-scher Akt, sondern eine Entscheidung. Der Mensch kannsich der wachsenden Verbergung überlassen oder, indemer zum Da-sein wird, in der aller Verbergung vorgängigenOffenheit sein Eigenes empfangen. Weil es sich bei derdem Sein immanenten Wahrheit für den Menschen umdie vom Sein ausgehende Möglichkeit handelt, sein Eige-nes zu finden oder zu verfehlen, nennt Heidegger dasGanze dieses Geschehens das Ereignis.

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Die Phase des Heideggerschen Denkens nach Sein und Zeit istdadurch gekennzeichnet, die über die bloße »Daseinsanalytik«hinausweisenden Gedanken des Buches aufzunehmen undvoranzutreiben. Vor allem zwei bereits im ersten Hauptwerkanklingende Leitmotive werden immer wichtiger. Wiederholtbetont Heidegger, dass die Analysen des »Daseins« ihre Bedeu-tung einzig und allein im Horizont der Frage nach dem »Sinnvon Sein« erhalten. Dieser habe die Aufmerksamkeit des Den-kens zu gehören. Daneben wird die Erkenntnis wichtig, dassdie im »Sein« gegebene »Zeitlichkeit« sich als Geschichte zurErscheinung bringt. Das »Denken des Seins« muss gemeinsammit dem Phänomen der Zeit stets die Geschichte im Blick behal-ten. Über die Geschichte nachzudenken bedeutet aber für Hei-degger zugleich, sich philosophisch über sich selbst in der fak-tisch geschehenden Geschichte zu verständigen. Die Philoso-phie wird zur »Besinnung auf ihre ›Zeit‹« (GA 66, 46), wobeiwir schon hörten, dass eine solche »Besinnung« nicht histo-risch angelegt ist, sondern das Geschehende aus dem weiterenBereich eines geschichtlichen Erbes zu verstehen sucht.

Zudem zeigt sich mit dem fortschreitenden Anwachsen vonHeideggers Texten in der »Gesamtausgabe« immer mehr dieMöglichkeit, sehr viele von Heideggers Schriften aus den Jah-ren nach 1934 als eine Art philosophischer Selbstkritik seinerphilosophisch-politischen Verstrickung in den nationalsozia-listischen Totalitarismus zu lesen. So verstanden, wäre dieseVerstrickung als eine Selbstverfehlung der Heideggerschen Phi-losophie zu deuten. Ich möchte behaupten, dass jeder spätereText Heideggers ein Denken gegen den Totalitarismus darstellt;wobei diese These nur dann sinnvoll verstanden werden kann,wenn der Totalitarismus nicht als ein historisches Phänomen,das von 1933 bis 1945 andauerte und dann mehr oder wenigerspurlos verschwand, aufgefasst wird.

Diese Intentionen finden nach Sein und Zeit in den erst imJahre 1989 veröffentlichten Beiträgen zur Philosophie (Vom

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Ereignis) ihre vielleicht reifste Gestalt. Dieser Text wird inzwi-schen von den meisten Forschern als Heideggers »zweitesHauptwerk« betrachtet. In ihm können wir sehen, wie wesent-liche Modifikationen der Elemente von Heideggers Denken zurSprache und so in eine für sein weiteres Denken gültige Formgebracht werden.

Die Beiträge zur Philosophie gehen, grob gesagt, die Fragenach dem »Sinn von Sein« oder, wie es jetzt heißt, nach dem»Sinn des Seyns« nicht mehr im Durchgang durch eine »Analy-tik« des »Daseins« an. Sie beanspruchen, »das Seyn selbst inseiner Wesung zu denken, ohne vom Seienden auszugehen«(GA65, 429), ohne das »ausgezeichnete Seiende« »Dasein« alsSprungbrett für das eigentliche Thema zu nehmen. Ein solchesDenken, das Heidegger ein »Er-denken des Seyns« nennt, hatden Charakter eines »Versuchs« (ebd., 8), der als »Lehre«(ebd., 7) nur missverstanden werden kann. Aus den Beiträgenzur Philosophie scholastisch Grundsätze von Heideggers Philo-sophie extrahieren zu wollen, geht an der ganz und gar außer-gewöhnlichen Anlage dieses Denkens genauso vorbei, wie zumeinen, die Beiträge zur Philosophie seien ein bloßes Experi-mentierfeld.

Die Grundstruktur der »Fundamentalontologie« von Seinund Zeit ist, wie im letzten Kapitel gezeigt, die »ontologischeDifferenz« zwischen »Sein« und »Seiendem«. Sie markiert diebeiden Pole, zwischen denen sich die Frage nach dem »Sinn vonSein« bewegt. Ihr Ausgangspunkt ist das zirkuläre Begrün-dungsverhältnis von »Seiendem« und »Sein«. Was Sein undZeit leistet, ist, im Durchgang durch die »Daseinsanalytik« aufdas »Sein« zuzufragen. Eine wesentliche Modifikation diesesVorgehens könnte darin bestehen, diesen Zugang zur »Seins-frage« einfach umzudrehen. Doch Heidegger erkennt, dass einsolches Vorgehen die eigentliche Intention, das »Sein selbst«zu untersuchen, nicht erfüllt. Eine bloße »Umdrehung« der»ontologischen Differenz« verbleibe in einem geschichtlichen

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Denkschema, das – bei aller Berechtigung zu einer solchen»Umdrehung« – den entscheidenden Schritt zum »Sein selbst«verstelle. In den Beiträgen zur Philosophie betont Heidegger,»ins Außerhalb jener Unterscheidung von Seiendem und Sein«zu gelangen, indem nun ein ganz anderer »Entwurf« des Den-kens angestrebt werde. Dies sei der Grund dafür, das »auch dasSein jetzt als ›Seyn‹« geschrieben werde. Das nämlich sollebesagen, »daß das Sein hier nicht mehr metaphysisch gedacht«(ebd.,436) werde. Die »Metaphysik« wird von Heidegger »un-bedenklich« als »Name« »zur Kennzeichnung der ganzen bis-herigen Geschichte der Philosophie gebraucht« (ebd., 423).Diese habe innerhalb des als solchen unreflektierten Denksche-mas der »Unterscheidung von Seiendem und Sein« das »Seinselbst« immer nur als das allgemeine Wesen des »Seienden«, als»Seiendheit«, oder als »Apriori« denken können. Das »Seyn«aber soll in den Beiträgen zur Philosophie auf eine andere Artund Weise zur Sprache kommen.

Eine wesentliche Modifikation von Heideggers Denken inSein und Zeit stellt die lapidare, häufig wiederholte Mitteilungdar: »Die Seinsfrage ist die Frage nach der Wahrheit des Seyns.«(ebd.,6) Bereits in Sein und Zeit konnte Heidegger demonstrie-ren, inwiefern die traditionellen Auffassungen der Wahrheit alslogische Adäquation oder Korrespondenz zwischen Denkenund Sache ein ursprünglicheres Wahrheitsverständnis verges-sen hat. Die Möglichkeit, richtige oder falsche Aussagen über»Seiendes« zu machen, setzt voraus, dass »Seiendes« über-haupt erst erscheinen könne. Diese Möglichkeit charakterisieredas griechische Wort für Wahrheit, aletheia, das Heidegger mit»Unverborgenheit« übersetzt. Das traditionelle Denken der»Metaphysik« habe die Wahrheit vom Vorrang der »Logik«her lediglich als Aussagerichtigkeit aufgefasst, ohne zu sehen,inwiefern eine solche Auffassung auf der Wahrheit als »Unver-borgenheit« basiere. Die in den Beiträgen zur Philosophie auf-geworfene »Frage nach der Wahrheit des Seyns« fasst die

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Wahrheit nun nicht mehr als »Aussagewahrheit«, sondern ur-sprünglich als das Geschehen von Wahrheit selbst auf. Gleich-zeitig wird die so verstandene »Wahrheit« mit dem »Seyn«selbst identifiziert: »Das Wesen der Wahrheit liegt darin, als dasWahre des Seyns zu wesen und so Ursprung zu werden für dieBergung des Wahren im Seienden, dadurch dieses erst seiendwird.« (ebd.,348) Wahrheit wird weder als ein Kriterium rich-tiger oder falscher Urteile noch als etwas begriffen, das zum»Sein« hinzukomme, sondern sie »west« bzw. geschieht als ein»Ursprung« für »Wahres«.

Weil das »Dasein« durch eine »Erschlossenheit« charakteri-siert ist, in der es sich selbst durchsichtig und anderes »Seien-des« »im Licht zugänglich« (GA2, 177) wird, bezeichnete Hei-degger es in Sein und Zeit als »Lichtung«. Mit dem im Jahre1930 gehaltenen Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« kommtder Gedanke auf, dass diese »Lichtung« die Wahrheit bzw. die»Unverborgenheit« (aletheia) ist. In den Beiträgen zur Philoso-phie gibt Heidegger zu beachten, dass die »Wahrheit des Seyns«nicht mehr nur »die Aufhebung des Verborgenen und seineFreistellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern ge-rade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verber-gung (die zögernde Versagung)« (GA 65, 352) sei. Der Begriffder »Wahrheit des Seyns« als »Lichtung der Verbergung« machtmöglich, im »Wesen« oder der »Wesung« der Wahrheit »ge-rade« Verdeckungen und Verstellungen zu erfassen, die nichtnur Merkmale des »Seienden«, sondern des »Seyns« selbersind.

Es ist wichtig, zu verstehen, warum Heidegger in seinemWahrheitsverständnis die Dimension der Verbergung so sehrbetont. Alles, was erscheint, zeigt sich niemals völlig. Das lässtsich unmittelbar an selbstverständlichen Dingen aufweisen.Von den wahrnehmbaren Dingen etwa sehen wir zunächst im-mer bloß diejenige Seite, die uns zugewandt ist. Die Rückseiteoder der Innenbereich eines geschlossenen Schranks sind unse-

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rer Wahrnehmung entzogen. Dieses Phänomen charakterisierteschon Husserl als »Abschattung«. Doch Heidegger geht bei sei-ner Erläuterung der Verbergung über dieses Merkmal derErscheinung von Dingen hinaus. Es sind nicht nur Momenteder Dinge oder des »Seienden«, die unserer Wahrnehmung ent-zogen sind, sondern es handelt sich bei der Verbergung um denEntzug derjenigen Dimension selbst, in welcher das »Seiende«zur Erscheinung kommt. Die »Lichtung«, welche die Dingehervorkommen lässt, sie ist es selbst, die sich »verbirgt«. Mitanderen Worten: Das Erscheinen, das uns deshalb so selbstver-ständlich ist, weil Dinge erscheinen, erscheint selbst geradenicht. Sowohl bezüglich der erscheinenden Dinge als auchbezüglich der Dimension, in welcher die Dinge erscheinen, der»Lichtung«, ist stets Verbergung mit im Spiel. Insofern wirsozusagen die »ganze Wahrheit« verstehen wollen, dürfen wirsie nicht nur einseitig als »Lichtung«, sondern als »Lichtungder Verbergung« begreifen, als eine positive Erkenntnismög-lichkeit also, für welche die Grenze der Erkenntnis konstitutivist.

Damit hängt der in den Beiträgen zur Philosophie formu-lierte Gedanke zusammen, dass die »Wahrheit des Seyns« aufGrund des Zusammenspiels von Erscheinung und Verdeckungin der »Lichtung der Verbergung« sich selbst entziehen unddarum in der Geschichte Epochen freigeben kann, die vom Ver-lust des »Seyns« – von der »Seynsverlassenheit« – geprägt sind.So heißt es: »Diese Wahrheit des Seyns ist gar nichts vom SeynVerschiedenes, sondern sein eigenstes Wesen, und deshalb liegtes an der Geschichte des Seyns, ob es diese Wahrheit und sichselbst verschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seineGeschichte das Abgründige bringt.« (ebd.,93) Um die Beiträgezur Philosophie nicht misszuverstehen, ist es nötig, diese »Ver-weigerung« von Wahrheit nicht als ein Defizit anzusehen. Die»zögernde Versagung« von Wahrheit ist ein positives Charak-teristikum des »Seyns«, das in der Geschichte als das »Abgrün-

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dige« die vielfältigen Missverständnisse und Verfehlungen desMenschen erst ermöglicht.

Gleichwohl philosophiert Heidegger in den Beiträgen zurPhilosophie im Horizont der »Grunderfahrung«, dass die»Verweigerung« des »Seyns« einen derartig ausschließlichenVorrang des »Seienden«, d.h. des Gegenständlichen und seinerinstrumentellen Bearbeitung, manifestiert hat, in welchem we-sentliche Momente einer menschenwürdigen Existenz zu ver-schwinden drohen. Alle Dinge, seien sie natürlich oder herge-stellt, würden lediglich in der Perspektive der Verfügung unddes Verbrauchs betrachtet. Der Mensch selbst erfasse sich nurnoch als ein »technisiertes Tier« (ebd., 98). Da in dieser »We-sung des Seyns« alles »Seiende« einzig und allein vom »Ma-chen« bzw. von der »Machbarkeit« her aufgefasst wird, be-zeichnet sie der Philosoph als »Machenschaft«. Der Anspruchdes »Er-denkens des Seyns« besteht darin, diesen Umgang,diese Vernachlässigung des »Seienden« zu erhellen, um ihr zuwidersprechen. Es bleibe »die Aufgabe: Die Wiederbringungdes Seienden aus der Wahrheit des Seyns« (ebd.,11) zu ermögli-chen, also dem zerstörerischen Umgang des Menschen mit denDingen und sich selbst philosophischen Widerstand zu bieten.Ein solcher Widerstand kann nach Heidegger nicht daraufhinauslaufen, »utopische« Rezepte zur Verbesserung der Weltzu verschreiben, sondern die »Verweigerung« des »Seyns« alssolche zunächst einmal zur Sprache kommen und so »erfahr-bar« werden zu lassen. Ohne einzig darauf festgelegt zu sein,spielt in diese Geschichtsdiagnose gewiss die Erfahrung des sichtotalisierenden Machtapparates der völlig hemmungslos alleMittel der Technik nutzenden Nationalsozialisten hinein.

Diese »Grunderfahrung« der »Geschichte«, dass die Weltimmer mehr aus den Fugen gerät, hat Heidegger als »Not« cha-rakterisiert. Die »Not« ist ein Zustand, in dem wir etwas brau-chen, das uns »verweigert« wird. Die »Not« wäre mit den Be-griffen von Sein und Zeit als eine »Seinsweise« des »Daseins«

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zu bezeichnen. Das Verhalten der Menschen in der Gegenwartstellt sich für Heidegger hingegen als »Notlosigkeit« dar. Siebesteht in »der ungebrochenen Zufuhr des Nutz- und Genieß-baren, dem schon Vorhandenen, das durch den Fortschritt eineVermehrung zuläßt« (ebd., 113). Die »Nötigung«, die von der»Verweigerung« der »Wahrheit des Seyns« ausgeht, wird voneiner alltäglichen »Notlosigkeit« verstellt. Da eine solche»Notlosigkeit« jeden Gedanken, der sich nicht an der Verwal-tung des »schon Vorhandenen« orientiert, meidet, muss diesersaturierte Zustand selbst als »Not« verstanden werden. Fürden, der über die etablierten Bedingungen der Gegenwart, auchüber die gesellschaftlich-politischen Bedingungen, hinausden-ken will, geht es darum, die »Not der Notlosigkeit«, ihren»Anfall« (ebd., 113), zu erfahren. So werde die »Not der Not-losigkeit« die »Nötigung«, das von der Gegenwart »Verwei-gerte« zu bedenken. Die »Not« lässt durch den »Schrecken«,der uns ergreift, wenn wir verstehen, was uns durch die latenteund reale Totalisierung bürokratisch-technischer Tendenzen»verweigert« wird, ein Nachdenken über ein anderes Mitein-andersein entstehen. Es wäre möglich, diese »Not« als denHauptimpuls des Heideggerschen Denkens zu bezeichnen – alsdie »Not«, dasjenige, was wir »brauchen«, nicht empfangen zukönnen, weil sich stets etwas mit »Macht« und »Gewalt« vordas Gebrauchte schiebt und schon geschoben hat.

Daher kann es nicht verwundern, dass dem »Dasein« in derGefahr, all das, was Geschichte überhaupt ausmacht, zu verlie-ren, eine besondere Bestimmung und Aufgabe zuwächst. Eswurde schon darauf hingewiesen, dass bereits in Sein und Zeitdas »Dasein« nicht einfach mit dem Menschen zu identifizie-ren, sondern vielmehr als seine ursprünglichste Existenzmög-lichkeit aufzufassen ist. Diese Differenzierung von »Mensch«und »Dasein« wird in den Beiträgen zur Philosophie ver-schärft, indem sie auf die Geschichte projiziert wird. Die her-kömmliche – und das heißt für Heidegger immer »metaphysi-

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sche« – Bestimmung des Lebewesens »Mensch« lautet »animalrationale«. Der Mensch wird von den großen Philosophen seitPlaton und Aristoteles als ein Wesen gedeutet, das zwischendem Sinnlichen und dem Übersinnlichen steht. So hat es wie dieTiere einen Körper mit sinnlichen Bedürfnissen, mit dem es,anders als die Tiere, sich dem Übersinnlichen wie den »Ideen«,der »Sprache« oder der »Vernunft« (logos) zuwendet. Dement-sprechend bestimmt Aristoteles den Menschen als das Tier, dasSprache hat (zoon logon echon). Diese Deutung hat sich in derNeuzeit seit dem cartesianischen Substanzen-Dualismus von»Denken« (res cogitans) und »Ausdehnung« (res extensa) nochverstärkt. Daher setzt Heidegger der Bestimmung des Men-schen als eines »vernünftigen Tieres« das »Dasein« entgegen.

Aber Heidegger begreift diese Entgegensetzung nicht bloßals eine subjektive Idee. Er ist vielmehr der Ansicht, dass sicheine mögliche »Verwandlung« des »vernünftigen Tieres« zum»Dasein« von der Geschichte aus anbietet. In der »Verweige-rung« der »Wahrheit des Seyns« zeigt sich die Möglichkeit zueiner solchen »Verwandlung« von selbst. Mehr noch: Die »Ver-weigerung« erscheint als eine Art Auftrag, eine »Zuweisung«,das »Dasein« zu »gründen« (ebd.,240).

Der Gedanke einer »Gründung« des »Daseins« stellt klar,dass das »Dasein« nun weder als ein vorhandenes Ding nochals eine »immer schon« vorliegende Existenzmöglichkeit ver-standen werden darf. Allerdings legt der Begriff der »Grün-dung« nahe, an eine willentliche Aktion des Menschen zu den-ken, benutzen wir doch diesen Begriff beispielsweise dann,wenn ein Staat »gegründet« wird. Diese Interpretation verliertindes den von Heidegger wiederholt betonten Sachverhalt ausdem Blick, dass diese »Gründung« von der »Verweigerung«der »Wahrheit des Seyns«, die sich in der völlig ungehemmten»Macht« der Technik präsentiert, dem Menschen »zugewiesen«oder »zugespielt« wird. Wie demnach einerseits der Mensch das»Dasein« »gründen« kann, so wird ihm diese »Gründung«

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andererseits angeboten. Die »Gründung« des »Daseins« ist da-rum keine Aktion, sondern entspringt eher einer Art von »Sich-fügen« (ebd., 310). An diesem Punkt zeigt sich ein spezifischerBegriff von Praxis, dem ohne Zweifel eine ethische Bedeutungzukommt. Das Handelnkönnen wird von Heidegger nicht mehrals das subjektive Vermögen einer selbstbezogenen »Spontanei-tät« betrachtet, sondern gleichsam als ein Verhalten zwischenEigeninitiative und Hingabe interpretiert. Das »Dasein« lässtsich handelnd auf etwas ein, das zugleich sein Handeln selbstermöglicht, über das es demnach nicht verfügt und das es den-noch erst handelnd zur Erscheinung verhilft. In einer solchenEthik der Antwort und der Entsprechung muss folglich stetsberücksichtigt werden, dass der Handelnde sich keineswegseinfach aufgibt, sondern von dem, was das »Dasein« »braucht«,selbst »gebraucht« wird, damit das, was durch das Handelnhervorkommen soll, erscheinen kann.1

1 Vgl. zur Phänomenologie einer »Responsivität« Bernhard Walden-fels, Antwortregister, Frankfurt/M. 1994.

Dieses Geschehen der »Verweigerung« der »Wahrheit desSeyns« und die daraus entspringende Möglichkeit einer »Ent-rückung in die Wahrheit des Seyns« nennt Heidegger »Ereig-nis«. In diesem Wort spielt das Phänomen des »Eigenen« unddas mit diesem zusammenhängende Zeitwort »eignen« zwarnicht die einzige, aber sicherlich die tragende Rolle. Der Philo-soph hört in dem Wort »Ereignis«, das auf Grund seiner »Ein-zigkeit« nur im Singular verwendet wird, den transitiven Vor-gang des »ins Eigene kommen lassen«: das »Ereignis« »ereig-net«. Was? Den Menschen zum »Dasein«.

Die »Verwandlung« des Menschen in das »Dasein« wird alsein »Ins-Eigene-Kommen« aufgefasst. Um dieses Geschehen inseiner Struktur zu begreifen, ist es nötig, zu sehen, dass das»Ereignis« und das, was »ereignet« wird, nicht als ein »Ob-jekt«, das ein »Subjekt« gleichsam anzieht, verstanden wird.

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Das »Ereignis« oder, wie Heidegger auch sagt, das »Seyn«, istnichts anderes als das »Dasein«, weil es jene Einheit von Iden-tität und Differenz bildet, die wir bereits hinsichtlich der ent-wickelteren Erörterung der »ontologischen Differenz« kennengelernt haben. Einerseits ist das »Ereignis« mit dem »ereigne-ten« »Dasein« identisch, andererseits entfaltet es in der ihmimmanenten »Verweigerung« eine Differenz.

Was es ermöglicht, diese beiden Aspekte zusammenzuden-ken, ist die Grundstruktur des gegenseitigen »Brauchens«. Inder »Grunderfahrung« der »Not«, die Heidegger als »Verwei-gerung« oder auch »zögernde Versagung« anspricht, gibt esnämlich einen Appell an den Menschen, einen initialen »Zu-ruf«, von dem er sich »anrufen« lässt. In der »Not« spricht sichdem Menschen dasjenige zu, was er braucht, um die »Not« zuüberstehen. Erst indem so das Eine mit dem Anderen in ein Ver-hältnis tritt, entsteht die Einheit des »Ereignisses«. Die Mitteoder der Angelpunkt dieser Gegenseitigkeit ist die »Kehre«(ebd., 407). In der sehr eigentümlichen, zuweilen forciertenSprache der Beiträge zur Philosophie lautet das folgenderma-ßen:

»Was ist diese ursprüngliche Kehre im Ereignis? Nur der Anfall desSeyns als Ereignung des Da bringt das Da-sein zu ihm selbst und sozum Vollzug (Bergung) der inständlich gegründeten Wahrheit in dasSeiende, das in der gelichteten Verbergung des Da seine Stätte findet.«(Ebd.,407)

Die »dialogische« (mit Heideggers Wort »kehrige«) Strukturbesteht darin, dass das Eine – das »Ereignis« oder das »Seyn« –erst geschieht, wenn sich zwei Elemente aufeinanderzu- bzw.voneinanderwegbewegen. Das Modell des hin und her gehen-den Gesprächs, das ja, wenn es ein wirkliches Gespräch seinsoll, eine jeweilige Einheit z. B. in einem Thema finden muss,kann zum Verständnis des »in sich gegenschwingenden Ereig-nisses« (ebd.,261) helfen. So gehört auch der Dissens oder die

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»Aus-einander-setzung«, wie Heidegger häufig schreibt, zumGespräch hinzu. Das völlige Scheitern des Gesprächs sind kei-neswegs die in ihm zu Tage tretenden Unterschiede, sonderndies, dass die Sprechenden aufhören, sich zu verständigen. Vorder Möglichkeit eines völligen Auseinanderbrechens der »dia-logischen« Struktur der Geschichte befindet sich nach Heideg-ger der Mensch unserer Zeit.

Diese »Kehre« in der (sozusagen »dialogischen«) Strukturvon »Dasein« und »Seyn« wurde häufig zum Angelpunkt vonHeideggers Denken gemacht, wobei von einem Denken »vor«und »nach« der »Kehre« gesprochen wird. Sicherlich ist einUmbruch in Heideggers Denken nach Sein und Zeit festzu-stellen. Doch die »Kehre« allein mit diesem Strukturumbau zuidentifizieren, geht an der Sache vorbei. Heideggers Philo-sophie ist kein Denken »vor« und »nach«, sondern »in« der»Kehre«. Stets ist sie an dem Punkt interessiert, an dem etwas –die Existenz, die Geschichte, die Wahrheit, die Welt etc. – sichwendet. Immer sind es die Brüche und Verwandlungen, wohinsie auch immer führen, die Heideggers Aufmerksamkeit bean-spruchen.

Die Schwierigkeit und Missverständlichkeit des »Ereignis«-Denkens liegt in der Frage, ob das »Eigene« eine Art realisier-bares Ideal ist oder ob Heidegger die »Verweigerung« der»Wahrheit des Seyns« als eine grundsätzliche Eigenschaft des»Ereignisses« denkt. Im ersten Fall orientierte sich diese Phi-losophie an einem eschatologischen Modell der Zeit, wie wirsie von der christlichen »Heilsgeschichte« her kennen. DerMensch fände in seinem »Eigenen« einen ihm angemessenenOrt, wobei Heidegger durchaus in der Lage ist, dieses »Eigene«in der jeweiligen Endlichkeit der Einzelnen (unterschiedlicheVölker mit unterschiedlichen Gewohnheiten) aufzufinden. Die-ses Geschehnis wäre so etwas wie eine Verwandlung der Weltnicht nur in bestimmten Teilbereichen, sondern auch innerhalbder die Welt »regierenden« Systeme Wirtschaft und Wissen-

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schaft. Es wäre eine Welt, in welcher der Mensch sich von denaus der Neuzeit entspringenden und mit den Totalitarismenanwachsenden Beschädigungen und Vernichtungen als befreitvorfände. Andererseits legen viele Äußerungen Heideggersauch den Gedanken nahe, dass das »Ereignis«-Denken viel-mehr deskriptive als gleichsam theo-normative Züge hat. Sobetont er sehr häufig, dass es an der »Geschichte des Seyns«selbst liege, »ob es diese Wahrheit [des Seyns] und sich selbstverschenkt oder verweigert und so erst eigentlich in seineGeschichte das Abgründige bringt« (ebd.,93). Das ermöglichtuns, diese gegenstrebige Struktur von »Verschenkung« und»Verweigerung« als den wichtigsten Charakter von Geschichteaufzufassen. Dabei muss auch hier keineswegs ausgeschlossenwerden, dass dem Menschen in einer Ethik der »Bereitschaft«für das »Verweigerte« ein bestimmtes Denken und Handelnoffen steht. Ich werde auf dieses Problem zurück kommen,wenn ich mich Heideggers Äußerungen über die »Götter« unddem von ihm so apostrophierten »letzten Gott« zuwendenwerde.

3.2 Der Streit von Welt und Erde

Zwei wesentliche Sphären, in denen wir leben, sind dieWelt und die Erde. Die Welt ist das Offene für alle inter-subjektiven Bezüge, der Raum, in dem unsere Existenz inErscheinung tritt. Die Erde ist der Boden, der uns trägt.Sie ist der Ursprung des Organischen, mithin wird sie mitder Natur schlechthin identifiziert. Anders als die Weltverschließt sie sich, bleibt dunkel, selbst wenn die Natur-wissenschaft sie erforscht. Da sich die Öffnungstendenz

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der Welt und die Verdunkelungsneigung der Erde über-kreuzen, spricht Heidegger von einem Streit zwischenWelt und Erde. Er wird als ein Element des Ereignissesbetrachtet. Nach Heidegger wird die Naturwissenschaftvon dem Willen angetrieben, die Selbstverschließung derErde mit Gewalt zu durchbrechen und sie dem Licht völ-lig zugänglich zu machen, um so letztlich den Streit ausder Welt zu schaffen.

Eine der wichtigsten »existenzialen Bestimmungen« des »Da-seins« ist, so Heidegger in Sein und Zeit, das »In-der-Welt-sein«. Das »Dasein« hat »gemäß einer zu ihm gehörigen Seins-art die Tendenz, das eigene Sein aus dem Seienden her zu verste-hen, zu dem es sich wesenhaft ständig und zunächst verhält«(GA2, 21). Das ist die »Welt«. Wenn das »Dasein« diese »Ten-denz« hat, ist es für die »Fundamentalontologie« notwendig,den »Dasein« mitbegründenden »ontologischen Begriff« der»Weltlichkeit von Welt überhaupt« (ebd.,86) einzuführen. Zudiesem »Existenzial« gehört eine spezifische »Vieldeutigkeit«.Diese »Vieldeutigkeit« gliedert sich in vier verschiedene Be-griffe der Welt. Der erste entfaltet die »ontische«, das heißt hierdingliche Bestimmung der Welt als »All des Seienden, das inner-halb der Welt vorhanden sein kann«. Der zweite gibt die »onto-logische« Bestimmung der Welt als den »Titel einer Region, dieje eine Mannigfaltigkeit von Seiendem umspannt« an. Derdritte Welt-Begriff deutet die Welt »als das, ›worin‹ ein fakti-sches Dasein als dieses ›lebt‹« (ebd.,87). Der vierte schließlichbegreift die Welt als »Weltlichkeit«. Gemäß der Intention vonSein und Zeit, die »Weltlichkeit der Welt überhaupt« zu analy-sieren, gelangt zumeist der dritte Begriff der Welt in den Blick.Wo dieser nicht beansprucht wird, leitet der erste die Untersu-chung.

102 Die Geschichte des Seins

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Das Milieu, »›worin‹ ein faktisches Dasein ›lebt‹«, ist seine»Umwelt« (ebd.,89). In ihr geht es dem »Dasein« um das »um-weltliche Besorgen« (ebd., 90) des »Zeugs« (ebd., 92). Jedes»Zeug« wird durch ein jeweiliges »Um-zu« charakterisiert.Dass ein »Zeug« jeweils verwendet wird, »um zu. . .«, ist eine»Verweisung«. Diese »Verweisung« erweist sich bei nähererBetrachtung als die jeweilige »Bewandtnis« (ebd., 112) eines»Zeugs«. Diese »Bewandtnis« ist »das Wozu der Dienlichkeit,das Wofür der Verwendbarkeit«. Dieses »Wozu« und »Wofür«des »Zeugs« bildet den Zusammenhang einer »Bewandtnis-ganzheit«. Jede »Bewandtnis« ist im vorhinein »je nur ent-deckt« in dem Horizont einer »Bewandtnisganzheit«. Dass das»Dasein« sich »immer schon« in einer solchen vorfindet undorientiert, »birgt einen ontologischen Bezug zur Welt in sich«(ebd.,114). Nicht nur das »Zeug«, sondern jegliches »Seiende«scheint von einer solchen im vorhinein eröffneten »Bewandt-nisganzheit« bestimmt zu sein. So kann Heidegger schreiben:»Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhindes Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Be-wandtnis ist das Phänomen der Welt.« (ebd., 115f.) Wahr-scheinlich hat Heidegger in Sein und Zeit das »Zeug« und des-sen Integration in die »Bewandtnisganzheit« als das Paradigmades »Seienden« schlechthin verstanden. Es hat sich ihm aberspäter gezeigt, dass sich die Analyse der »Weltlichkeit von Weltüberhaupt« im Ausgang vom »Zeug« auf eine methodischeVorentscheidung – nämlich dass sozusagen das in der Welt erstebegegnende »Seiende« das »Zeug« und nicht etwa das Kunst-werk oder gar der Andere ist – stützt, welche die Entfaltung desVerständnisses von Welt durchaus beeinflusst hat.

Im Verlauf der phänomenologischen Ausarbeitung undKonzentration der Frage nach der Welt als eines wichtigen Pro-blems seines Denkens stellt Heideggers erste Vorlesung überdie Dichtung Friedrich Hölderlins aus dem Wintersemester1934/35 eine Zäsur dar. Von dieser vertieften Auseinanderset-

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zung mit dem Dichter haben Heideggers Erörterungen über denUrsprung des Kunstwerkes auch in Bezug auf die Frage nachder Welt wesentliche Anregungen erhalten.

Im Horizont der Hymnen Hölderlins kommt die Beobach-tung auf, dass dem Phänomen der Welt Eigenschaften imma-nent sind, die einzig mit Hilfe der Dichtung zur Sprachegebracht werden können. Es sind dies Phänomene wie »Bo-den«, »Land« oder auch »unter dem Himmel« (GA 39, 93).Diese örtlichen Bestimmungen beziehen sich allesamt auf die»Erde«. Der Mensch, der in der Welt lebt, wohnt auf der Erde.Diese erweist sich als eine besondere »Macht« (ebd., 88). Sieerst gibt den Menschen in ihrer Welt Orte. Denn der Erde ent-sprechend ist es nicht gleichgültig, wo sich die Welt als eingeschichtlich »waltendes« Geschehen entfaltet. Die »Machtder Erde« besteht also darin, dass die Welt zur »Heimat« wer-den kann. Diese Möglichkeit der Welt, »Heimat« sein zu kön-nen oder nicht, begleitet Heideggers Erörterung des Welt-Phä-nomens bis zuletzt. Noch in seinen späteren Aufzeichnungenzur »Gelassenheit« aus dem Jahre 1959 wird deutlich, wie dasWelt-Phänomen in Bezug zu der Frage, ob und wie der Menschin seiner Welt »heimatlich« wohnen könne, bedacht wird (vgl.auch Kapitel 5.3).

In der Welt, auf der Erde zu existieren, spezifiziert den Cha-rakter des »Daseins« weiter. Das Verhältnis von Welt und Erdebildet kein starres axiales Koordinatensystem, sondern einenZusammenhang, der – wie alle von Heidegger erörterten Ele-mente des »Seyns« – zeitlich-geschichtlich veränderbar ist.Welt ist, so Heidegger in seinem Aufsatz vom Ursprung desKunstwerkes, »die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnender einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschickeines geschichtlichen Volkes« (GA 5, 35). Die Erde ist »das zunichts gedrängte Hervorkommen des ständig Sichverschließen-den und dergestalt Bergenden«. Die Welt ist die »Offenheit«, inwelche hinein sich das »Hervorkommen« der Erde entfalten

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kann. Die Erde ist das »Bergende«, worauf sich die Welt »grün-den« kann.

Es gibt also in diesem Welt-Erde-Verhältnis eine auffälligeBewegung. Die Erde drängt ins Offene, indem sie z.B. Pflanzenwachsen lässt, deren Wurzeln in die Tiefe treiben. Die Welt, dieden Raum für die Praxis und die Poiesis freigibt, »braucht«einen Grund, auf den sie sich verlassen kann, indem sie »auf ihnbauen kann«. Die Bewegung, die daraus erwächst, ist eine ge-genseitige Durchdringung, ein »Gegeneinander«. Dieses »Ge-geneinander« hat zwei Bedeutungen. Einerseits brauchen beideeinander, um sich in entgegengesetzter Weise ausweiten zu kön-nen. Andererseits grenzen sie sich voneinander ab und aus. Das»Sichverschließende« lässt keine »Offenheit« zu, will die »Of-fenheit« in sich zurücknehmen, die als solche wiederum der»Verschlossenheit«, die im Wachsen der Pflanzen sich auszu-dehnen sucht, entgegensteht. Das »Gegeneinander« von Erdeund Welt ist demnach ein »Streit«. Dieser »Streit« wird vonHeidegger als ein Merkmal der »Wahrheit des Seyns« betrach-tet. Denn den »Streit zwischen Welt und Erde« (ebd., 42) gibtes nur, »sofern die Wahrheit als der Urstreit von Lichtung undVerbergung geschieht«. »Urstreit« und »Streit« bilden zwarkeineswegs einen Kausalnexus, so als ob eine ontologischeBewegung die Bedingung der Möglichkeit einer Bewegung im»Seienden« erst bereitstellen müsste. Dennoch erhält der »Ur-streit von Lichtung und Verbergung« als der Horizont derGeschichte einen Vorrang im »Ereignis« zugesprochen, ohneschon das Ganze dieser Geschichte zu sein.

Heideggers Begriff der Erde ist zwar von Hölderlins Dich-tung maßgeblich beeinflusst worden, geht aber zurück auf dengriechischen Begriff der physis. Das Wort physis verweist aufdas Verbum phyein, »wachsen«. Die lateinische Übersetzungvon physis mit natura rekurriert auf das Verb nasci, »Geboren-werden«. Beide Wörter stehen im Bezug zu einem bestimmtenPhänomen. Sowohl was wächst als auch was geboren wird

105Der Streit von Welt und Erde

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kommt aus einem Dunkel ans Licht, erscheint aus einer Verber-gung und entfaltet sich in einer Offenheit. Dementsprechendübersetzt Heidegger das griechische Wort physis mit »das auf-gehend-verweilende Walten« (GA 40, 16). Bei dieser Überset-zung wird jedoch sogleich deutlich, dass der Begriff der Erdemit dem der physis nicht gänzlich übereinstimmt.

So sei das »aufgehend-verweilende Walten« nicht nur das,was wir als Natur, zu der wir die Erde rechnen, charakterisie-ren. Natur ist für uns ein spezifischer Bereich, mit dem wir aufverschiedene Weisen zu tun haben. Wir haben einen von Krank-heit bedrohten Leib, pflanzen uns fort, fahren in ländlicheGebiete in den Urlaub oder wundern uns über die Erfolge derNaturwissenschaft. Das »aufgehend-verweilende Walten« derphysis geht über diesen Bereich hinaus. Physis »meint daherursprünglich sowohl den Himmel als auch die Erde, sowohlden Stein als auch die Pflanze, sowohl das Tier als auch denMenschen und die Menschengeschichte als Menschen- undGötterwerk, schließlich und zuerst die Götter selbst unter demGeschick« (ebd., 17) – kurz gesagt, die physis ist das »Seinselbst«. Demnach dürfen wir die »Erde« als physis-haft, abernicht als mit der physis ganz und gar identisch betrachten. Dassdie Erde auf diese Weise zur physis gehört, prägt allerdingsihren Charakter auf entscheidende Weise.

Wir sind gewohnt, uns die Erde als einen Gegenstand vorzu-stellen. Danach ist die Erde Materie und Material, wobei wirbei dieser Betrachtung das im lateinischen materia mitzuhö-rende Mütterliche meist vergessen. Bei dieser Auffassung derErde geht der ihr von Heidegger zugesprochene physis- oder»seins«-hafte Charakter verloren. Die Erde ist so verstandennicht »das zu nichts gedrängte Hervorkommen des ständigSichverschließenden und dergestalt Bergenden«. Aus diesemBedeutungsschwund der Erde im modernen Bewusstsein lässtsich Heideggers Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft, diezuweilen in unverhohlene Ablehnung umschlägt, begreifen. In

106 Die Geschichte des Seins

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der Auffassung der Erde als Materie wird das Phänomenale,was jeder Mensch von der Natur her kennt, abgedrängt. Diesgeschieht auch und erst recht dann, wenn die Naturwissen-schaft die atomare und subatomare Dimension der Materieerreicht. Außerdem erkennt der Philosoph in dem oft auf Nut-zung und Vernutzung reduziertem Verhalten des Menschen zurNatur ein weiteres Anzeichen für die Totalisierung der Technik.Nach Heidegger weist der im Zeitalter der modernen Technikauftauchende Bedeutungsverlust des Phänomens Erde daraufhin, dass sich die Welt von ihr zu weit entfernt hat. In den Bei-trägen zur Philosophie schreibt er: »Warum schweigt die Erdebei dieser Zerstörung? Weil ihr nicht der Streit mit einer Welt,weil ihr nicht die Wahrheit des Seyns verstattet ist.« (GA 65,277f.) Bei dieser Erklärung ist zunächst nicht klar, was Heideg-ger mit dem »Schweigen« der Erde und der Verhinderung des»Streites mit einer Welt« meint.

Dieser Gedanke wird einleuchtender, wenn wir zu verstehenversuchen, was Heidegger unter dem Begriff der »Bergung«versteht. Das »Bergen« der Erde hängt damit zusammen, dasssie sich vor der »Offenheit« der Welt »verschließt«. In dem Vor-trag Der Ursprung des Kunstwerkes aus dem Jahre 1936 er-wähnt Heidegger das Phänomen, dass wir bei der Zertrümme-rung eines Steines (GA5, 33) nur wieder Steine vorfinden. DieErde lässt sich nicht »öffnen«, sondern zeigt immer nur ihrdunkles Inneres. Gleichzeitig lässt sie das, was von ihr stammt,Felsen, Pflanzen, Tiere und Menschen, sowohl aus sich hervor-kommen als auch auf ihr einen Platz finden. Dass das, was ausund auf der Erde erscheint, in ihr dunkles Inneres zurückreicht,während es aus ihm hervorkommt, bezeichnet Heidegger als»Bergung«. Nach Heidegger hat die Welt aber die Tendenz, dasErscheinende lediglich von der Seite des Hellen und des Lichtesher aufzufassen. In dem Moment, in welchem wir etwa denmenschlichen Körper einseitig als einen bloßen, vollkommenzu durchleuchtenden Gegenstand (als das »Genom«) auffas-

107Der Streit von Welt und Erde

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sen, haben wir die Dimension der »Bergung« bzw. die Erde ver-gessen. Der »Streit von Welt und Erde« findet nicht mehr statt.

Warum soll das aber zu kritisieren sein? Wozu brauchenwir so etwas wie die »Bergung« der Erde? Ich erklärte bereits,wie Heideggers Wahrheitsverständnis als »Lichtung der Ver-bergung« damit zusammenhängt, dass sich sowohl alles, wassich zeigt, als auch der Bereich selbst, in dem es sich zeigt, ver-bergen. Die »Verbergung« scheint etwas zu sein, was zur ur-sprünglichen Weise, wie Wahrheit geschieht, hinzugehört. Wennwir im Horizont unseres »In-der-Welt-seins« mit den erschei-nenden Dingen lediglich von der Möglichkeit ausgehen, sie völ-lig erklären zu wollen, totalisieren wir ihre »Offenheit« undvergessen, dass sich der gemäße Charakter dieser »Offenheit«gerade darin äußert, sich zu verbergen. Wenn wir die Dingeaber bloß als prinzipiell zu durchschauende Gegenstände auf-fassen, entreißen wir sie ihrer ursprünglichen Verbundenheitmit dem Dunklen. Nach Heidegger ist das der Vorgang, in demsich die Technik als einziges maßgebliches Verhältnis zu denDingen vor allen anderen möglichen Verhältnissen – vor demreligiösen oder künstlerischen, dem philosophischen oder poe-tischen – durchsetzt.

Die »Bergung« (GA65, 389ff.) steht mit der »Verbergung«in einer Relation, meint aber nicht das gleiche Phänomen. Indem, was Heidegger »Bergung« nennt, kommt das »Dasein«von der Welt, vom »Offenen« her der Verschlossenheit der Erdeentgegen. Die »Bergung« lässt den Dingen den eigenen Charak-ter der »Verbergung« zum Beispiel in einem Kunstwerk, in ei-nem Gedicht oder in dem nicht nach Wissen suchenden Gottes-glauben zukommen. Auch in der Liebe ist die »Bergung« dieMöglichkeit, auf Rationalisierungen zu verzichten, nicht nachGründen zu fragen, warum wir den Anderen lieben. Wir über-lassen eventuelle Gründe der »Verbergung«, weil eine erklär-bare Liebe keine mehr ist. Diese dem »Dasein« mögliche »Ber-gung« gibt es nur im »Streit von Erde und Welt«, weil die »Ber-

108 Die Geschichte des Seins

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gung« nur dort geschieht, wo Erde und Welt sich gegenseitigdurchdringen.

Die Frage, wozu wir so etwas wie das »Bergen« unseresHandelns und Herstellens im Verhältnis zur Erde benötigen,kann also mit Heideggers Frage: »Warum schweigt die Erde beidieser Zerstörung?« geklärt werden. Nach ihm ruft ein einseiti-ger und ins Totale getriebener technischer Zugang zu den Din-gen und Menschen die Gefahr einer »Zerstörung« sowohl derErde als auch der Welt hervor. Mir scheint vor allem vor demHintergrund der immer dringlicher zu bedenkenden Möglich-keiten der Humangenetik Heideggers Gedanke bemerkens-wert, dass es unheilvoll sein könnte, alles, was gewusst undgemacht werden kann, der »Verbergung« zu entziehen, ohnedanach zu fragen, ob in dieser nicht Quellen enthalten sind, diewir benötigen, um uns selbst und daher auch den Anderen ver-stehen zu können.

3.3 Die Überwindung der Metaphysik

Die Geschichte der Philosophie ist nicht nur eine Spur the-oretischer Entscheidungen. Sie eröffnet vielmehr dieMöglichkeit, über Jahrhunderte habitualisierte Praktikendes Menschen zu verstehen. Die Geschichte des Denkens– und das heißt auch die Geschichte der Politik – wirddurch wenige Vorentscheidungen in der Philosophie Pla-tons und Aristoteles’ festgelegt. Sie ist eine Geschichte derMetaphysik. Die europäische Philosophietradition gehtdavon aus, dass sich die Frage nach der Wahrheit auf denBereich der Aussage, das heißt der Logik einschränkenlässt. Im Verlauf der abendländischen Vernunftgeschichte

109Die Überwindung der Metaphysik

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stellt sie sich als ein indifferentes Instrument heraus, Men-schen und Dinge zu beherrschen. Motiviert durch denimmer wichtiger werdenden Willen eines egoistischenSubjekts wird sie zu einem totalen Medium, mit dem allesNicht-Logische marginalisiert wird. Aus diesem Grundspricht Heidegger von einer notwendigen Überwindungder Metaphysik. Eine vor allem ethische Intention bringtihn dazu, ein anderes Fragen vorzubereiten.

In seinen frühen Vorlesungen sowie in Sein und Zeit sprichtHeidegger von der Aufgabe, eine phänomenologisch-herme-neutische »Destruktion der Geschichte der Ontologie« (GA2,27 ff.) durchzuführen. Diese Destruktion hat die Bedeutung,durch die lange Kommentar- und Interpretationsgeschichte der»ontologischen Grundbegriffe« hindurch »auf die ursprüng-lichen Erfahrungen« (ebd., 30), in welchen sich diese »Grund-begriffe« konstituierten, zurückzugehen, um ihren anfängli-chen Sinn freizulegen. Die Destruktion habe nicht den »negati-ven Sinn einer Abschüttelung der ontologischen Tradition«(ebd.,31). Das Destruieren gleicht also nicht dem Zertrümmerneines Steins mit einem Hammer (das übrigens auch NietzschesPhilosophieren »mit dem Hammer« nicht bedeutet), sonderneher dem Schütteln eines Goldgräbersiebs, in dem nach undnach der kostbare Fund zum Vorschein kommt, während dieihn verdeckenden Stücke entfernt werden. Dennoch bleibt ein»negativer« Sinn im Spiel. Die Destruktion richtet sich zerstö-rend gegen die »herrschende Behandlungsart der Geschichteder Ontologie«. Diese Bedeutung leitet sich von ihrer fragwür-dig gewordenen Funktion ab. Wenn es philosophisch notwen-dig wird, auf die anfänglichen Bedeutungen der »ontologischenGrundbegriffe« zurückzukommen, dann haben sich die aktuel-len als unzureichend, als sinnverzerrend erwiesen.

110 Die Geschichte des Seins

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Die »Destruktion der Geschichte der Ontologie« lässt dieGeschichte der Philosophie nicht verschwinden. Im Gegenteil,sie hat die entscheidende Bedeutung, die Geschichte der Grund-texte und ihrer Auslegungen erst zur Erscheinung zu bringen.Mit ihrer Destruktion eröffnet Heidegger der Philosophie einenunausschöpfbaren Horizont von hermeneutischen Auseinander-setzungen. Die hermeneutische Philosophie eines Hans-GeorgGadamer hat von Heideggers Programm und seiner Ausführungunübersehbar gezehrt. Auch die Philosophie Jacques Derridaslässt sich schlechthin als eine destruierende (»dekonstruktive«)Interpretation von Haupttexten der europäischen Denktradi-tion charakterisieren.

In seiner Vorlesung vom Sommersemester 1934 Logik als dieFrage nach dem Wesen der Sprache spricht Heidegger von der»Grundaufgabe«, die »Logik von Grund auf zu erschüttern«.Zudem gibt er an, dass die »Erschütterung der Logik«, »an derwir seit zehn Jahren arbeiten«, »auf einer Wandlung unseresDaseins selbst gründet« (GA 38, 11). In der ein Jahr spätergehaltenen Vorlesung Einführung in die Metaphysik betontHeidegger, die Logik »von ihrem Grund her aus den Angelnzu heben« (GA40, 197). So knüpft Heidegger Mitte der dreißi-ger Jahre an der »Destruktion der Geschichte der Ontologie«an. Die Absicht des Projekts hat sich jedoch modifiziert. Die»Erschütterung der Logik« geschehe im Zuge einer geschichtli-chen »Wandlung unseres Daseins selbst«. Sie ist das Elementeiner geschichtlichen »Verwandlung« des Denkens und Han-delns schlechthin.

Die Notwendigkeit dieser Verwandlung lässt sich nur durchspezifische Erfahrungen legitimieren, die Heidegger Anfangder dreißiger Jahre zur Einsicht führten, dass die Welt bzw. derin ihr handelnde und denkende Mensch, d. h. die Geschichteauf Abwege geraten war. Es ist schon darauf verwiesen worden,dass zu diesen Erfahrungen Heideggers eigene Verirrung in denNationalsozialismus gehört.

111Die Überwindung der Metaphysik

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Der Gedanke, dass eine Destruktion oder »Erschütterung«von »ontologischen Grundbegriffen« eine Bedeutung für dasHandeln und Denken der Menschen habe, setzt voraus, dassdie Geschichte der Philosophie für diese überhaupt relevant ist.Und in der Tat geht Heidegger von einem solchen Konnex aus.Die politische Geschichte ist für ihn ein Echo dessen, was inden Texten der Philosophen geschieht, dessen, was Philoso-phen denken, sie ist ein Reflex auf das Wirkliche. Philosophi-sche (und auch poetische) Texte zu interpretieren ist darum fürHeidegger keine Elfenbeinturmbeschäftigung, sondern eineAuseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Menschen han-deln und denken.

Diese Bedeutung der Destruktion lässt sich hinsichtlich der»Erschütterung der Logik« wie folgt skizzieren: »Logik« ist die»Wissenschaft vom logos«. Der aristotelisch gefasste logos alslogos apophantikos zeigt auf und sagt aus, »wie eine Sache istund wie eine Sache sich verhält« (GA38, 1). Der logos ist eine»Aussage« über Seiendes. Wir tätigen Aussagen nicht nur imengeren Sinne des Aussprechens, sondern indem wir denken.Das Denken kann aber wahr oder falsch sein, je nach der Wahr-heit oder Falschheit seiner Aussagen. Ob das Denken wahroder falsch ist, regeln bestimmte Denkgesetze. Damit wir wis-sen, wie richtig oder falsch gedacht wird, gibt es die Logik.Logik als »Wissenschaft vom logos« ist daher zunächst die»Herausstellung des Formenbaues des Denkens« und die »Auf-stellung seiner Regeln« (GA40, 129).

Die Logik »zerlegt« das Denken als Aussagen in »Grundele-mente«. Daneben gibt sie an, wie mehrere solcher »Grundele-mente« richtig »verflochten« oder »zusammengebaut« werdenkönnen. Sie gibt die Bedingungen an, wie richtig zu schließen,richtig zu urteilen sei. Die drei grundsätzlichen Regeln sind derSatz der Identität, der Satz des Widerspruchs und der Satz vomGrund (GA38, 10).

Die Logik als philosophische Wissenschaft ist jedoch nicht

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das Ganze der Philosophie. Sie wird von früh an von zwei wei-teren »Wissenschaften« flankiert. Die Philosophie als ganzeteilt sich in die klassischen Disziplinen Logik, Ethik und Phy-sik.2

2 Vgl. z.B. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,in: ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. IV – Schriften zurEthik und Religionsphilosophie, Darmstadt 1956, BAIII.

Wenn wir aber bemerken, dass sowohl im Bereich desEthischen als auch auf dem Gebiet der Naturforschung not-wendig gedacht wird, ergibt sich eine bestimmte Vorrangstel-lung der Logik als eines Nachdenkens über das Denken, dasalle Handlungen des Menschen begleitet, indem es sie zum Bei-spiel begründet oder kritisiert, reglementiert oder befreit.

Doch damit ist der Sinn dessen, was unter Logik verstandenwird, noch nicht erschöpft. In der alltäglichen Welt gibt es»Redensarten«, die nicht zu Unrecht das wissenschaftliche Ver-ständnis der Logik auf alltäglich Geschehendes übertragen. Sofasst man das als »logisch« auf, was »folgerichtig« ist. Hier istnicht die Wissenschaft der Logik gemeint, sondern »wir meinenvielmehr die innere Folgerichtigkeit einer Sache, einer Lage,eines Vorgangs« (GA 55, 186 ff.). Diese »Folgerichtigkeit« imalltäglichen Leben ist ein ins Gewöhnliche abgesunkener Mo-dus der wissenschaftlichen Logik. Die »indifferente Normal-form der Aussage«, »a ist b«, ist ein »Grundzug des alltäglichenDaseins« hinsichtlich seines »unterschiedslosen Verhaltens zumSeienden als dem eben Vorhandenen« (GA 29/30, 438). An-dersherum ist die wissenschaftliche Logik eine ausdrücklicheFormalisierung alltäglicher Denkvollzüge. Die Logik formali-siert die in sich formale »Folgerichtigkeit« des praxisbezoge-nen Denkens.

Zwischen der »Logik der Sachen und der Logik des Den-kens« gibt es folglich einen Zusammenhang. Denken und Sa-chen sind »ineinandergekehrt«, »eines kehrt im anderen wie-der«, »eines nimmt das andere in den Anspruch« (GA55, 196).

113Die Überwindung der Metaphysik

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Diese »Ineinandergekehrtheit« von Gedanke und Sache ist vordem Hintergrund einer sich nach der Vernunft richtenden Welt-gestaltung des Menschen eine Selbstverständlichkeit. Die Ver-nunft als ein »Ineinandergekehrtsein« von Gedanke und Sacheist auch da noch wirklich, wo Leidenschaften die Welt schein-bar durcheinander bringen. Im weltgeschichtlichen Kontextleitet nach Hegel eine »List der Vernunft«3

3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophieder Weltgeschichte. Bd. 1 – Die Vernunft in der Geschichte, hg. v.Johannes Hoffmeister, Hamburg 6/1994, S.105.

noch die leiden-schaftlichsten Handlungen. Die »Ineinandergekehrtheit« vonGedanke und Sache ist die Bedingung dafür, dass solches, »wasvernünftig ist, [. . .] wirklich; und was wirklich ist, [. . .] vernünf-tig«4

4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie desRechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse,Werke7, S.24.

sein kann.Wenn der Mensch notwendig sowohl im Ethischen als auch

im Bereich der Natur denkt, dann lässt sich zeigen, dass sich dieLogik als ein »Denken über das Denken« zu den zwei anderenBereichen der Philosophie anders verhält als diese zu jener.Weder das Ethische noch das Physische scheinen in der Logikvon Bedeutung zu sein, während die Logik Denkregeln formu-liert, die sowohl in der Ethik als auch im Bezug zur Natur gel-ten. Es hat den Anschein, als gebe es bezüglich der Ethik undder Physik einen Vorrang der Logik. Die Logik scheint eineWissenschaft zu sein, die in formaler Hinsicht die Regeln an-gibt, wie das vernünftige Lebewesen »Mensch« ständig undüberall denkt. Dieser Vorrang der Logik hat sich nach Heideg-ger in der Neuzeit insofern verschärft, als die Form des Den-kens in der Wissenschaft mehr und mehr als ein Vorbild für dasalltägliche Handeln zu gelten begonnen hat. Eine solche Vor-bildfunktion der Wissenschaft hat für die Ethik fatale Folgen.Setzt diese nämlich stets auf diese oder jene Weise voraus, dass

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der andere Mensch als solcher die Intentionen unseres Han-delns zu bestimmen hat, so ist es in der Wissenschaft eine bloßformale »Richtigkeit« der Aussage über einen beliebigen Ge-genstand.

Hannah Arendt hat diesen Sachverhalt folgendermaßenpointiert: Eines der »psychologischen Symptome« des »radikalBösen« sei die »Konsequenz alles rein Logischen, die letztenFolgerungen aus den einmal angenommenen Prämissen [zu]ziehen und die Anderen mit dem Argument: Wer A gesagt hat,muss auch B sagen, bei der Stange [zu] halten«.5

5 Hannah Arendt, Denktagebuch 1950–1973. Erster Band, hg. v.Ursula Ludz u. Ingeborg Nordmann, New York u. München 2002,S.128.

Eine solche»Konsequenz des Arguments« führe »in der Politik sofort insUnmenschliche«.6

6 Ebd., S.34.

Wir dürfen aber – ohne überzuinterpretie-ren – hinzufügen, dass auch auf der Ebene der Ethik ein Han-deln, das sich an der rein formalen »Konsequenz des Argu-ments« orientiert, unmenschlich ist.

Hier zeigt sich also im Heideggerschen Denken eine Ten-denz, die man oft als »Kritik an der abendländischen Rationali-tät« bezeichnet hat. Das abendländische Denken mit seiner imIdeal der »Wissenschaftlichkeit« verkörperten Betonung der»Folgerichtigkeit« und des »Arguments« führt zu einer Instru-mentalisierung, der sich zuletzt auch der Mensch selbst ausge-liefert habe. Wenn Heidegger in seinem späteren Heraklit-Auf-satz sagt, dass eine »Erschütterung der Logik« eine »Erschütte-rung des Menschen« (GA7, 218) sei, dann verweist er darauf,dass all unser Handeln und unsere ethische Orientierung aufdem Denken bzw. auf dem, was wir unter »Denken« verstehen,basiert. »Wandelt« sich dieses Verständnis, so kann sich dem-entsprechend auch unser Handeln »wandeln«.

Die »Destruktion der Geschichte der Ontologie« bzw. die

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»Erschütterung der Logik« findet ihre endgültige Gestalt in derso genannten »Überwindung der Metaphysik«. In einem zwi-schen den Jahren von 1936 bis 1946 entstandenen Text mit die-sem Titel wird eine kritische Tendenz Heideggers unmittelbardeutlich. Der Mensch als das »animal rationale« sei »jetzt« das»arbeitende Tier« geworden, dass die »Wüste der Verwüstungder Erde durchirren muß«. Es habe sich ein »Untergang«»ereignet«, dessen »Folgen« »die Begebenheiten der Weltge-schichte dieses Jahrhunderts« seien. Dieser »Untergang« ent-springe der »Vollendung der Metaphysik« im Denken Nietz-sches. Diese »Vollendung« gebe »das Gerüst für eine vermut-lich noch lange dauernde Ordnung der Erde« (ebd.,81) ab. Eine»Folge« des Geschichtsganges der »Metaphysik« sei die Pro-klamierung eines »Übermenschentums«, dem das »Untermen-schentum – metaphysisch verstanden – zugehört«. Hier sei derMensch zum »wichtigsten Rohstoff« seiner eigenen »Herstel-lung« geworden. Heidegger stellt inzwischen weniger prophe-tisch in Aussicht, »daß auf Grund der heutigen chemischen For-schung eines Tages Fabriken zur künstlichen Zeugung vonMenschenmaterial errichtet werden« (ebd.,93).

»Metaphysik« ist Heideggers Bezeichnung für die Epocheund die Globalisierung des europäischen Denkens von Platonbis Nietzsche. Dieses Denken basiere auf der grundsätzlichenIndifferenz gegenüber der »Unterscheidung des Seins vom Sei-enden«. Heidegger schreibt:

»Die Unterscheidung des Seienden und des Seins wird in die Harmlo-sigkeit eines nur vorgestellten Unterschiedes (eines ›logischen‹) abge-schoben, wenn überhaupt innerhalb der Metaphysik dieser Unter-schied selbst als ein solcher ins Wissen kommt, was strenggenommenausbleibt und ausbleiben muß, da ja das metaphysische Denken nurim Unterschied sich hält, aber so, daß in gewisser Weise das Sein selbsteine Art des Seienden ist.« (GA65, 423)

Wenn die »Metaphysik« Platons und in seinem Gefolge dieeuropäische Philosophie das Sinnliche vom Übersinnlichen,

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den Materialismus vom Idealismus unterscheidet, so »hält siesich im Unterschied« des Seins vom Seienden, ist aber nicht inder Lage, den »Unterschied« selbst zu interpretieren. Anstattdas »Sein selbst« und das »Seiende« in ihrem »Unterschied« zuverstehen, kann das metaphysische Denken stets nur Derivatedieser drei eine Einheit konstituierenden Elemente hervorbrin-gen (vgl. Kapitel 2.2).

Wenn die »Metaphysik« das »Gerüst für eine vermutlichnoch lange dauernde Ordnung der Erde« abgibt, ist der Titel»Überwindung der Metaphysik« problematisch. Heideggerhat diese Schwierigkeit gesehen. Die »Metaphysik« lasse sich»nicht wie eine Ansicht abtun«, man könne sie nicht wie »einenicht mehr geglaubte und vertretene Lehre hinter sich bringen«(GA 7, 69). Wenn der Begriff der »Überwindung« suggeriert,man könne wie über eine imaginäre Grenze von einer Ge-schichte in eine andere überwechseln, dann betont Heideggerdie »Dauer« des Vorgangs, der in einer ständigen Auseinander-setzung mit der »Metaphysik« bestehe. Danach ergibt sich dasParadox, dass die »Überwindung der Metaphysik« gerade da-rauf hinausläuft, die »Metaphysik« bzw. ihre »Grundbegriffe«immer wieder zu thematisieren; allerdings nicht auf beliebigeWeise, sondern hinsichtlich der nicht mehr einfach nur philoso-phischen, sondern »geschichtlichen Notwendigkeit«, durch siehindurch zu einem »anderen Fragen« oder einem »anderenDenken« zu gelangen. Insofern lässt sich nach Heidegger die»Überwindung der Metaphysik« besser als eine »Verwindung«(ebd., 77) begreifen. Der Begriff der »Verwindung« deutet an,dass etwas nur durch eine länger andauernde Auseinanderset-zung zum Verschwinden gebracht werden kann. So besteht die»Verwindung« einer Verletzung in einer länger andauerndenHeilung, während der sich der Verletzte nicht gleichgültig zusich selbst verhält, sondern sich mit sich selbst befasst, weil erauf seine Verletzung Rücksicht nehmen muss. Die »Verwin-dung« wäre so gesehen eine fortgesetzte Thematisierung der

117Die Überwindung der Metaphysik

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»Metaphysik«, in welcher und durch welche diese eventuell»vergeht«.

Gewiss ist bezüglich der »Überwindung der Metaphysik«die Frage zu stellen, ob es überhaupt möglich ist, denkend einenBereich zu verlassen, der fundamentale Bestimmungen diesesDenkens erst zur Verfügung stellt. Kann es ein Denken jenseitsder Differenz von Sinnlichem und Übersinnlichem, jenseits derUnterscheidung von Allgemeinem und Besonderem, von Gan-zem und Teil oder von Identität und Differenz geben? In Kennt-nis dieser Fragwürdigkeit hat Heidegger mit Bedacht niemalsvon einem »nachmetaphysischen«, sondern stets von einem»übergänglichen Denken« für die »Vorbereitung des anderenFragens« (GA 65, 430) gesprochen. So betrachtet wäre die»Überwindung der Metaphysik« ein Bedenken ihrer Grenze andieser Grenze, doch niemals einfach ein Denken in ihrem Jen-seits.

118 Die Geschichte des Seins

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4 Denken und Dichten

4.1 Die Frage nach der Sprache

Die Philosophie wird insofern von der Logik beherrscht,als diese indifferent-formale Gesetze liefert, die in allenBereichen des Denkens und Lebens Geltung beanspru-chen. Vor allem die Sprache wird von der Logik aus unter-sucht und nach ihrem Modell vorgestellt. Andererseitsverweist Heidegger darauf, dass die Logik ein ontologi-sches Fundament in einer spezifischen Auffassung desSeins hat. Indem Heidegger das Sein anders zu denkenversucht als die anderen überlieferten Denker wird dielogisch-kybernetische Definition der Sprache destruiertund zur Bestimmung, sie sei das Haus des Seins, modifi-ziert.

Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass Heidegger seineakademische Laufbahn als »Logiker« begann. Sowohl seineDissertation als auch seine Habilitationsschrift widmen sichFragen der Logik. In dieser Disziplin erwartet sein LehrerRickert noch »große Verdienste« von ihm. So setzt sich Heideg-ger in den Vorlesungen der zwanziger Jahre immer wieder mit

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der Frage auseinander, wie wir das Urphänomen der Logik, denlogos selbst, adäquat zu verstehen haben. Dabei orientiert sichHeidegger zunächst an den Texten Platons und Aristoteles’,später, in den dreißiger Jahren, tritt der logos-Begriff Heraklitsin den Vordergrund.

In Sein und Zeit verdichtet sich eine Auseinandersetzung mitdieser Frage, die bereits über eine Dekade anhält. Der logoswird hier als das »Existenzial« der »Rede« vorgestellt. DieseÜbersetzung bezieht ihr Recht aus dem Sachverhalt, dass derlogos bei Aristoteles als ein deloun, als ein Offenbarmachenvon dem, »wovon in der Rede ›die Rede‹ ist«, gedacht wird.Davon ausgehend hat Heidegger das Phänomen der »Sprache«in den Blick genommen. Ihr »existenzial-ontologisches Funda-ment« sei die »Rede« (GA2, 213). »Sprache« sei bloß die »Hin-ausgesprochenheit der Rede« (ebd., 214). »Bedeutungen« kä-men in der Sprache »zu Wort«: »Den Bedeutungen wachsenWorte zu. Nicht aber werden Wörterdinge mit Bedeutungenversehen.«, schreibt Heidegger, ohne zu erklären, wie es eigent-lich zu dieser Differenz zwischen »Wort« und »Bedeutung«kommen kann.

Die »Rede« sei »das ›bedeutende‹ Gliedern der Verständlich-keit des In-der-Welt-seins, dem das Mitsein zugehört«. Insofernist die »Rede« all das, was in der Begegnung mit dem Anderensprachlich geschieht. Auch und sogar auf besondere Weise ge-hört das »Hören und Schweigen« zu dieser Begegnung. Sicher-lich bringt Heideggers phänomenologische Analyse der »Rede«eine ganze Menge von Resultaten hervor. Doch es wird nichtdeutlich, inwiefern diese Analyse das »Fundament« für eine»vollzureichende Definition der Sprache« liefern kann.

Wenn wir in Sein und Zeit kein wirkliches Ergebnis aus derFundierung der Sprache in der »Rede« finden können, wirdeine Intention dieser Verhältnisbestimmung, die erst später ihreganze philosophische Bedeutsamkeit entfaltet hat, erkennbar.Heidegger erklärt, dass die »Grammatik« der (indo-europäi-

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schen) Sprachen ihr »Fundament« in der griechischen Logikhabe. Diese Logik wiederum fuße in einer »Ontologie des Vor-handenen« (ebd.,220). Damit zeichnet sich eines der Problemeab, die Heidegger immer wieder dazu gebracht haben, das»Wesen der Sprache« zu bedenken. Die »Ontologie des Vor-handenen« als »Fundament« der Grammatik basiere auf derUnterscheidung einer zu Grunde liegenden vorhandenenSache, der verschiedene Eigenschaften zugesprochen werden.Was Aristoteles hypokeımenon (wörtlich: das Zugrundelie-gende) nennt, dem symbebekota (Eigenschaften) zugeschrie-ben werden, kehrt in der Grammatik unserer Sprache als dieUnterscheidung von Subjekt und Prädikat wieder. Das Verbal-substantiv »Sein« wird grammatisch als Kopula bezeichnet, alsdas »Bändchen«, das Subjekt und Prädikat (S est P) verbindet.Nach Heidegger ist das »Sein« jedoch weder eine »Sache«, dem»Eigenschaften« zugeschrieben werden können – dann wäre esein »Seiendes« –, noch ist es reduzierbar auf die Kopula-Funk-tion. Wie aber kann eine Sprache, für die das Subjekt-Kopula-Prädikat-Verhältnis grundlegend ist, mit einem »Sein« umge-hen, das sich diesen Bestimmungen entzieht? Wie können wirüber etwas sprechen, für das in der Grammatik der Sprache garkein Platz vorgesehen ist?

In den Beiträgen zur Philosophie hat Heidegger dieses Pro-blem markant ausgesprochen:

»Mit der gewöhnlichen Sprache [. . .] läßt sich die Wahrheit des Seynsnicht sagen. Kann diese überhaupt unmittelbar gesagt werden, wennalle Sprache doch Sprache des Seienden ist? Oder kann eine neue Spra-che für das Seyn erfunden werden? Nein.« (GA65, 78)

Die »Sprache des Seienden« basiert auf derjenigen Grammatik,die auf eine »Ontologie des Vorhandenen« zurückgeht. DiesesProblem hat Heidegger bis in sein spätestes Denken umgetrie-ben. Noch im Jahre 1962 beschließt Heidegger einen seinerletzten Vorträge mit dem Hinweis, dass das »Sagen vom Ereig-

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nis in der Weise eines Vortrags« ein »Hindernis« sei, weil er»nur in Aussagesätzen gesprochen«1

1 Heidegger 1969, S.25.

habe. Wie hat Heideggeraber dieses grundsätzliche Problem einer dem »Sein« nurschwer korrespondierenden Sprache wenn nicht gelöst, sodoch zu lösen versucht?

Heideggers schon angesprochene Ausführungen in den Bei-trägen zur Philosophie setzen sich mit folgenden Gedankenfort: Eine »Sprache des Seyns« müsse eine »sagende« sein. Einerätselhafte Auskunft, die auch durch Heideggers weitere Erklä-rungen nicht deutlicher wird: »Alles Sagen muß das Hörenkön-nen mitentspringen lassen. Beide müssen des selben Ursprungssein.« Diese »Verwandlung der Sprache« führe zu einem »ge-wandelten Sagen«. Der Hinweis auf das »Hörenkönnen«ermöglicht uns den Einstieg in das Verständnis dieser skizzen-haften Auskünfte. »Können« bedeutet hier zweierlei. Erstens,und das scheint mir die natürliche Bedeutung zu sein, verstehenwir unter »Können« eine Befähigung. Jemand »kann« ein gu-tes Steak zubereiten, vielleicht hat er es in einer Ausbildunggelernt. Doch auch die zweite Bedeutung von »Können« ist unsnicht unvertraut. Jemand »kann« eine besonders expressiveKomposition aus dem Bereich der Neuen Musik verstehen, er»hat dafür ein Ohr«. Dieses »Können« ist keine Befähigung,selbst wenn man Vieles über die Neue Musik lernen kann, mussman noch keineswegs Verständnis für sie entwickeln. Das sogedachte »Können« ist eine Art von nicht erlernbarer Disposi-tion zu etwas: Jemand »kann« das – oder eben nicht. Das»Hörenkönnen«, an das Heidegger denkt, entspricht der zwei-ten Bedeutung. Es charakterisiert die Disposition, die »Sprachedes Seyns« verstehen zu können.

Offenkundig wäre dieser Gedanke kaum diskutierbar, wennHeidegger diese Disposition als eine bloß subjektive Möglich-keit von auserwählten Einzelnen fassen würde. Im Denken zäh-

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len bloß subjektive Dispositionen nicht, die Philosophie erhebtden Anspruch und muss ihn erheben, Aussagen zu machen, diepotentiell jeder nachvollziehen kann. Also muss Heidegger aneine andere Art von Disposition denken. Das »Sagen« und das»Hörenkönnen« müssen sich in einem bestimmten Verhältnisbefinden. Sie »müssen des selben Ursprungs sein«, d.h. sie müs-sen sich insofern »entsprechen«, als sie sich auf einem gemein-samen Grund befinden. Solange die Sprache nur von der logi-schen Funktionalität ihrer Grammatik her verstanden wird,kann es in Bezug auf das »Sein« kein »Sagen« geben, dem eineDisposition zu einem »Hören« entspricht. Nach Heideggerkann es eine Annäherung an eine »Sprache des Seyns« nur danngeben, wenn wir die Sprache überhaupt anders auffassen bzw.unser Verhältnis zur Sprache grundlegend modifizieren.

In dem Buch Unterwegs zur Sprache aus dem Jahre 1954 hatHeidegger wichtige Vorträge und andere Texte, die sich mit denoben erläuterten Problemen hinsichtlich der Sprache auseinan-dersetzen, gesammelt. Es ist vielleicht sein schönstes, vom Duk-tus und Ton des Denkens her gesehen reifstes Buch. In ihm fin-den sich die folgenden, häufig zitierten und kritisierten Sätze:»Die Sprache spricht. / Der Mensch spricht, insofern er derSprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören.« (GA 12, 30)Der Gedanke, dass »die Sprache spricht«, ist die Radikalisie-rung einer selbstverständlichen Erfahrung, nämlich derjenigen,dass die Sprache ein lebendiges System von Bedeutungen ist,das es dem jeweils in einer Sprache aufwachsenden und existie-renden Menschen ermöglicht, sich auf die eine oder andere Artund Weise auszudrücken, ohne dass der jeweilige Einzelne dieSprache »gemacht« hat. Wenn wir von der französischen Spra-che reden, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass diejetzt lebenden Franzosen sie ebenso wenig »hergestellt« habenwie derjenige, der französisch sprechen will, sie »machen«kann. Vielmehr muss er beginnen, eine schon bestehende Spra-che zu erlernen. Insofern geht die Sprache den jeweilig spre-

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chenden Menschen voraus. Andererseits gibt es keine Spracheohne die sie sprechenden Menschen. Deshalb betont Heideggeran anderer Stelle: »Der Satz ›die Sprache spricht‹ [. . .] ist nurhalb gedacht, solange der folgende Sachverhalt übersehenwird: Um auf ihre Weise zu sprechen, braucht die Sprache dasmenschliche Sprechen, das seinerseits gebraucht, d.h. verwen-det ist für die Sprache in der Weise des Entsprechens [. . .].«(GA 75, 201) Wie in der schon ausgeführten »dialogischen«Struktur des »Ereignisses« (vgl. Kapitel 3.1) geht Heideggervon einem solchen Verhältnis eines gegenseitigen »Brauchens«in Bezug auf die Sprache aus. Das Sprechen ist kein bloßes Ver-mögen des Menschen, sondern ein »Entsprechen«. Wenn derMensch das sprechende Lebewesen ist, dann hat er diese ihnvor allen anderen Lebewesen auszeichnende Eigenschaft nichtsich selbst gegeben, sondern von der Sprache her empfangen.

Mit dieser Erläuterung ist allerdings noch nicht geklärt,inwiefern eine solche Auffassung der Sprache dem »Sein« eher»entspricht« als eine, die sich von der Logik her begründet.Wenn Heidegger darauf verweist, dass das »Entsprechen« ein»Hören« sei, dann müssen wir danach fragen, was in einem sol-chen »Entsprechen« gehört wird. Das Seltsame ist, dass wir im»Hören« auf die Sprache keine gesprochenen Laute verneh-men, sondern gleichsam durch alle Worte hindurch an eineStelle gelangen, von der her sich uns die Worte erst zusprechen.Wenn wir beispielsweise einen Text schreiben, sei es ein Brief,ein Gedicht oder auch eine akademische Arbeit, wird uns das,was wir aufschreiben, nicht von einer empirisch aufweisbarenStimme diktiert. Vielmehr suchen wir nach Formulierungenund kommen dadurch an einen Ort, an dem sie sich uns zeigen.Gäbe es diese Stelle nicht, könnte wohl niemand »um Worteringen«. Dieser Horizont, von dem her uns die Worte und Sätze»zufliegen«, von dem her uns die Worte »einfallen«, ist keineangebbare Sache. Er bleibt vielmehr stets im Hintergrund, ohnedass wir wirklich sagen könnten, wie er aussieht beziehungs-

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weise was für ein »Gegenstand« er ist. Heidegger nennt dieseQuelle, die keine Quelle ist, das »Geläut der Stille« (GA12, 29).Der »Ursprung« des »Sagens« und des ihm entsprechenden»Hörenkönnens« ist also die Sprache als »Geläut der Stille«.Mit dieser Charakterisierung glaubt Heidegger, das Verständ-nis der Sprache, das sie von der Logik her zu fassen versucht,hinter sich gelassen zu haben.

Mit der Zurückweisung der Auffassung der Sprache von derLogik her läuft allerdings noch eine weitere Intention Heideg-gers zusammen. In dieser Auffassung wird die Sprache als einformales Gebilde betrachtet, das gegen den in ihm auftauchen-den »Inhalt« indifferent ist. Das Modell »S est P« sagt nichtsdarüber aus, was hier »S« und was »P« ist. Es soll lediglich eineForm angegeben werden, mit der alles, was es nur gibt, ausge-sagt werden kann. Versetzt man diese Formalisierung in die unsalltäglich geläufige Zweck-Mittel-Verbindung, so könnte manbehaupten, dass die Sprache dazu da sei, uns »Inhalte« zu ver-mitteln. In dieser Auffassung wird die Sprache als ein »Instru-ment« interpretiert, mit dem wir uns »Informationen« zukom-men lassen. Diese Ende der vierziger Jahre von Norbert Wie-ner2

2 Norbert Wiener, Cybernetics, or control and communication in theanimal and the machine, Paris 1958.

konzipierte mathematisch-kybernetische Auffassung derSprache hält Heidegger für grundsätzlich verfehlt. Mit ihr wer-den wesentliche Elemente der Sprache, die wir nicht zuletzt inder Dichtung erkennen, technologisch aus dem Weg geräumt.In der Dichtung begegnet uns ein Sprechen, das nicht aufmathematisch formalisierbare »Informationen« reduziert wer-den kann. Gegen dieses Verständnis von Sprache wendet sichHeidegger, wenn er die berühmten Sätze schreibt:

»Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Men-schen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringtihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar.

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Dieses Darbringen besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprachekommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohntder Mensch.« (GA9, 313)

Die Sprache ist kein »Instrument«, über das der Mensch ver-fügt, mit dem er die Dinge und sich selbst beherrschen kann,indem er sich »informiert«. Das Denken kommt zu anderenErgebnissen. Die Philosophie Heideggers fasst die Sprache alseine »Behausung« auf, in welcher der Mensch »wohnt«. DerDenker behauptet, dass zwischen unserer Art und Weise, in derWelt zu leben, und unserer Auffassung der Sprache ein Verhält-nis besteht. So gesehen zeigt sich eine Differenz zwischen derAuffassung der Sprache als »Information« und derjenigen vom»Haus des Seins« – eine Differenz, die für das »Wohnen« desMenschen entscheidend ist. Auch an dieser Stelle unserer Ein-führung in die Philosophie Martin Heideggers zeigt sich alsoeine ethische Tendenz seines Denkens.

4.2 Hölderlin

Die Logik stellt sich als ein verkürztes, weil verkürzendesVerständnis der Sprache dar. Sie kann nicht erfassen,inwiefern Sprache die Kraft hat, eine Welt zu stiften. Die-ses Vermögen hat die Dichtung. Die weltstiftende Kraftder Dichtung gilt zwar universal, zeigt sich aber notwen-dig an jeweils bestimmten Orten und zu bestimmten Zei-ten, das heißt je hinsichtlich eines spezifischen Volkes.Wie Homer den Griechen die Habitualitäten ihrer Identi-tät stiftete, so ist es für Heidegger Hölderlin, der für dieDeutschen eine analoge Bedeutung haben könnte. Heideg-gers Hölderlin-Auslegung ist der Versuch, sich von der na-

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tionalsozialistischen Instrumentalisierung des »Deutsch-tums« abzusetzen und dagegen ein anderes Verständnisvon Deutschland zur Sprache zu bringen.

Es gibt zwei Gründe, die Heidegger dazu veranlassen, im Win-ter 1934/35 seine erste Vorlesung über die Dichtung FriedrichHölderlins zu halten. Der erste besteht in dem für Heideggerimmer labiler werdenden Verhältnis von Philosophie und derklassischen, auf Aristoteles zurückgehenden Logik. Der zweiteist politisch-ethischer Natur.

Im Sommersemester 1934 hält Heidegger eine Vorlesungüber Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. In ihrführt er aus, inwiefern das von Aristoteles her kommende Ver-ständnis der Logik dem »Wesen der Sprache« nicht gerechtwird, obwohl ganz offenkundig der logos und die auf ihm auf-gebaute Logik für die Sprache eine fundamentale Bedeutunghaben. So hatte Heidegger bereits in Sein und Zeit darauf hin-gewiesen, dass sich die Grammatik der indo-europäischenSprachfamilie aus der griechischen Logik herleite. Die Inadä-quatheit von Logik und Sprache verweist Heidegger darauf,das »Wesen der Sprache« neu, d. h. nun nicht mehr von derLogik her zu bestimmen. Dies leistet für ihn die »Dichtung«. Inihr erkennt Heidegger die Möglichkeit, die Auffassung derSprache aus ihrer Reduktion auf formale logische Denkgesetze,etwa den Satz vom Widerspruch, zu befreien. Das wiederumwird nur dann verständlich, wenn wir das durch Hölderlinmotivierte Verständnis der Dichtung bei Heidegger betrachten.

Unmittelbar wird die Dichtung als eine kreative Tätigkeitaufgefasst, die »ihre Werke im Bereich und aus dem ›Stoff‹ derSprache« »schafft« (GA 4, 35). Gedichte werden als Kunst-werke rezipiert, die subjektive Erfahrungen des Dichters mittei-len. Zugleich zeigt uns die europäische Kulturtradition, dass

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die Dichtung über eine solche Definition hinausgehen kann.Seit den homerischen Epen wird die Dichtung nicht nur als eineKunstgattung im Material der Sprache, sondern als ein identi-tätsstiftender Zusammenhang von Bedeutungen aufgefasst.Von ihm her erhielten die Griechen eine Orientierung in derWelt. Insbesondere die homerischen Geschichten über die Göt-ter galten ihnen als verbindlich. Noch Platon muss die Philoso-phie als eine authentische Art und Weise, sich im Kosmos zuorientieren, in einer Auseinandersetzung mit Homer erst eman-zipieren. Auch der christliche Orbis muss sich in seiner Selbst-verständigung auf die Dichtung verlassen, sind doch seine fürden Christen konstitutiven Texte allesamt große Dichtungen.

In diesem Sinne ist die Dichtung mehr oder etwas anderes alsdie schöpferische Tätigkeit eines sich ausdrückenden Subjekts.Sie bietet einer Gemeinschaft die Möglichkeit, sich über sichselbst zu verständigen. Diese Bedeutung hat Heidegger in seinerVorlesung aus dem Sommer 1934 gerade der Sprache zukom-men lassen: »Kraft der Sprache und nur kraft ihrer waltet dieWelt – ist Seiendes.« (GA 38, 168) Diese allgemeine Bestim-mung des »Wesens der Sprache« lässt sich in der Bedeutung,die zum Beispiel die homerischen Epen für die griechische Kul-tur hatten, wiederfinden. So legt sich der Gedanke nahe, dasssich in dem sprachlichen Sonderphänomen der Dichtung die-selbe Bestimmung wiederfinden lässt. Indem Dichtung einebesonders verdichtete Erscheinung der Sprache ist, kann sie dieRolle einer kollektiven Weltorientierung übernehmen. Deshalbschreibt Heidegger: »Dichtung ist die worthafte Stiftung desSeins.« (GA4, 41) Die Dichtung »stiftet« den Horizont, in des-sen Bedeutungen sich die Menschen »immer schon« handelndbewegen.

Bei dieser Erläuterung der Dichtung gehen wir davon aus,dass das Dichten, weil es ein sprachliches Phänomen ist, in derSprache fundiert ist. So interpretierten wir die Dichtung als diebesondere Erscheinungsform eines Allgemeinen. Doch Heideg-

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ger lehnt diese Verhältnisdefinition ab. Wenn die Dichtung»worthafte Stiftung des Seins« ist, dann ist sie »jenes, wodurcherst all das ins Offene tritt, was wir dann in der Alltagssprachebereden und verhandeln« (ebd., 43). Die Dichtung geht derSprache voraus, sie ist »Ursprache«. Folglich können wir nichtaus dem »Wesen der Sprache« erfahren, was die Dichtung ist,sondern wir müssen, wenn wir wissen wollen, was die Spracheist, auf das ursprünglichere Phänomen der Dichtung eingehen.

Nun lässt sich für diese Umdrehung der Relation von Spra-che und Dichtung eigentlich kein echtes Argument finden. Dassdie Dichtung eine besondere Erscheinungsform der Sprache istund nicht umgekehrt, lässt sich auch dann nicht bezweifeln,wenn bestimmte Verse großer Dichtungen zu alltäglichen Re-densarten geworden sind. Heideggers Umkehrung dieser Rela-tion muss darum einen anderen Grund haben. Worauf Heideg-ger hinaus will, ist, dass wir anhand der Dichtung deutlicherverstehen, was die Sprache für den Menschen wenn nicht ist, sodoch sein kann. In der Dichtung hat der Mensch die Möglich-keit, unabhängig von logischen Denkgesetzen, d.h. unabhängigvon der Frage, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, eine »wort-hafte« Weltorientierung zu finden. Um diesen Gedanken besserdarzustellen, beziehen wir uns auf ein paar Verse von Hölder-lin. In der zweiten Strophe der erst im Jahre 1954 veröffentlich-ten großen Hymne Friedensfeier heißt es:

»Ein Weiser mag mir manches erhellen; wo aberEin Gott noch auch erscheint,Da ist doch andere Klarheit.«

Diese auf eine Paulus-Sentenz verweisenden Verse sind zwargrammatisch richtig gebaut und widersprechen auch keinerlogischen Regel, doch die Frage, ob sie dies tun oder nicht, istfür ihr Verständnis irrelevant, ja, würde jemand diese Frage beider Interpretation von Gedichten stellen, würde er sie verfeh-len. Eine Interpretation von Gedichten hat ausschließlich das

129Hölderlin

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Mitgeteilte selbst im Blick. Der Wahrheitsanspruch der Dich-tung hat mit der Frage, ob die jeweiligen Aussagen formal rich-tig sind, nichts zu tun. Selbst wenn ein Gedicht offensichtlicheWidersprüche enthielte, würde der Leser das Problem, inwie-fern dem Gedicht Wahrheit zukomme, anders als formal auf-fassen. Es lässt sich mithin »logisch« nicht klären, ob ein Leserdieser Verse das in ihnen Gesagte wirklich für verbindlich hältoder es als unannehmbar zurückweist. Ob wir der Ansicht seinkönnen, dass die Philosophie »manches erhellen« kann, dieEpiphanie eines Gottes »aber« über dieses philosophische Ver-mögen hinausgeht, indem sie sich in der Dichtung mitteilenlässt und daher die Dichtung vor der Philosophie auszeichnet,lässt sich urteilend und schließend nicht erfassen. Die Wahrheitdieser Ansicht erweist sich nicht formal-theoretisch, sonderndadurch, dass wir ihr gemäß leben.

Mit der Charakterisierung der Dichtung als einer »Urspra-che« verfolgt Heidegger nicht so sehr die Intention, die Spracheals eine abgeleitete Spielart der Dichtung darzustellen. Die Be-zeichnung der Dichtung als »Ursprache« zielt auf eine weiter-gehende Absicht. Ich habe an vielen Stellen dieser Einführungbereits darauf hingewiesen, dass Heidegger die auf der plato-nisch-aristotelischen Logik begründete und als Metaphysikbestimmte Denkform der europäischen Philosophie für mo-difikationsbedürftig erachtet. Das »Seyn« sei mit einer »Spra-che des Seienden« nicht zu denken. Aus dieser Schwierigkeitentsteht bei Heidegger der Versuch, eine andere Art von Den-ken zu finden. Diese Absicht lässt sich aus einer Äußerung inden Beiträgen zur Philosophie gut erfassen: »Wer sagt dennund wer hat je bewiesen, daß das logisch gemeinte Denken das›strenge‹ sei? Das gilt ja, wenn es überhaupt gilt, nur unter derVoraussetzung, daß die logische Auslegung des Seins die einzigmögliche sein könne; was aber erst recht ein Vorurteil ist.«(GA65, 461) Gegen dieses »Vorurteil« wendet sich Heidegger,indem er das Denken in eine »Zwiesprache« mit dem Dichten

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versetzt. »Denken und Dichten« wird für den Philosophen dasSchibboleth für eine Revision der formalen Grundlagen deseuropäischen Denkens. Von der »Ursprache« der Dichtung ausversucht Heidegger, dem Denken eine »andere« Sprache zu ge-ben. Diese Intention ist der Fluchtpunkt der wiederholten Aus-einandersetzung mit dem Verhältnis von »Denken und Dich-ten«.

Der zweite Grund, der Heidegger nach 1933 dazu veran-lasst, sich öffentlich mit Hölderlins Dichtung zu beschäftigen,weist in eine andere Richtung. Der ganze Satz, in welchem Hei-degger in seinem Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dich-tung die Dichtung als »Ursprache« kennzeichnet, lautet: »Dich-tung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes.« (GA4, 43)Damit erhält die Bezugnahme auf Hölderlins Dichtung eineandere Richtung.

Als Heidegger Ende Februar 1934 vom Rektorat der Frei-burger Universität zurücktritt, befindet sich Deutschland ineinem tiefgreifenden Umbruch. Die Nationalsozialisten sindnicht nur auf dem Weg, den Staat in all seinen Funktionen zuokkupieren, sie reklamieren auch zu wissen, welches »Schick-sal« das deutsche Volk bestimme bzw. bestimmen solle. Es istganz eindeutig zu erkennen, dass Heidegger mit seiner erstenHölderlin-Vorlesung im Wintersemester 1934/35 die Diskus-sion, was eigentlich als »deutsch« zu verstehen sei, aufnimmt.

In einem Vortrag vom November 1934, in der Zeit also, inwelcher Heidegger seine erste Vorlesung über Hölderlins Hym-nen Germanien und Der Rhein hält, wird Hölderlin knapp alsder »Deutscheste der Deutschen« (GA16, 333) charakterisiert.Der Superlativ lässt sich dadurch rechtfertigen, dass für Hei-degger Hölderlins Dichtung die einzige Quelle ist, aus der zu er-fahren sein soll, was das »Deutsche« ist und »wer« die »Deut-schen« sind. Hölderlin ist derjenige Dichter, der die »Geschich-te« der »Deutschen« »stiftet«, er ist »der Stifter des deutschenSeyns« (GA39, 220).

131Hölderlin

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Bei diesen Bezeichnungen für Hölderlin und seine Dichtungist entscheidend, dass Heideggers Versuch, in der allgemeinendeutschen Umbruchsituation ein Wort mitzureden, nicht alskonformistisch einzuschätzen ist. Bereits der Beginn der erstenHölderlin-Vorlesung lässt kritische Töne anklingen. Heideggerzitiert dort folgendes Hymnen-Bruchstück:

»Einst hab ich die Muse gefragt, und sieAntwortete mirAm Ende wirst du es finden.Vom Höchsten will ich schweigen.Verbotene Frucht, wie der Lorbeer, aber istAm meisten das Vaterland. Die aber kost’Ein jeder zulezt.«

Diese Verse kommentiert der Philosoph mit folgenden Worten:»Das Vaterland, unser Vaterland Germanien – am meisten ver-boten, entzogen der Eile des Alltags und dem Lärmen des Be-triebs. Das Höchste und daher Schwerste, das Letzte, weil imGrunde das Erste – der verschwiegene Ursprung.« (GA 39, 4)In einem Brief an Elisabeth Blochmann hat Heidegger davongesprochen, »jede falsche Zeitgemäßheit« in der Auslegung derHymne »Germanien« »abzuwehren«3

3 Martin Heidegger/Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969,hg.v. Joachim W. Storck. Marbach am Neckar 1990, S. 83.

. Doch es handelt sich beidieser Feststellung nicht bloß um die Rettung der Hölderlin-schen Dichtung vor politischem Missbrauch. Das »Höchste«,das »Vaterland« ist der »verschwiegene Ursprung«. Es sei »ammeisten verboten«. Mit dieser rätselhaften Mitteilung provo-ziert Heidegger diejenigen, die unmittelbar erfahren und wis-sen wollen, was das »Vaterland Germanien« sei. Das »Vater-land« oder der »verschwiegene Ursprung« sind nicht zu ver-wechseln mit dem damals real existierenden »Deutschland«.Heidegger will den Missbrauch der Hölderlinschen Dichtungfür chauvinistische Zwecke verhindern.

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Heidegger hat in all seinen folgenden Vorlesungen und Vor-trägen zu Hölderlin, durch dessen Dichtung angeregt, die Fragegestellt, wie sich das »Deutsche« fassen lasse, und ist nicht da-von abgegangen, zu betonen, dass das »Vaterland« oder das»Vaterländische« nichts Vorhandenes sei. Mit dieser Betonungbefindet sich Heidegger auf einer Interpretationslinie von Höl-derlins Dichtung, die wir bei Norbert von Hellingrath,4

4 Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen, in: ders.,Hölderlin-Vermächtnis, München 2/1944, S.119-150.

demHerausgeber der ersten historisch-kritischen GesamtausgabeHölderlins, und vor allem bei Stefan George5

5 Stefan George, Das Neue Reich, Sämtliche Werke, Bd.IX, Stuttgart2001, S.45ff.

finden, der alsInaugurator dieser Interpretation betrachtet werden muss. Ge-mäß dieser Auslegung ist Hölderlin der Dichter eines »Gehei-men Deutschlands«, einer Überlieferung, der sich auch der spä-tere Hitler-Attentäter Claus von Stauffenberg6

6 Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brü-der, Stuttgart 1992, S.61ff.

verbunden fühlte.Doch die vor dem Hintergrund der Hölderlinschen Dich-

tung beantwortete Deutschland-Frage hat für Heideggers Den-ken noch eine andere Bedeutung. Es lässt sich zeigen, dass imDurchgang durch die Deutung von Hölderlins Dichtung sichHeideggers Philosophie »europäisiert«. Dazu verhilft ihm dieAuseinandersetzung mit dem Gedanken der so genannten »va-terländischen Umkehr«. Unter dieser Bezeichnung fasst manden Hölderlinschen Gedanken einer wechselseitigen Verwie-senheit von Griechenland und Deutschland. Gleichsam im Ver-lauf der Auslegungen dieser »vaterländischen Umkehr« durch-quert Heideggers Denken Europa, trifft auf das Phänomen,dass von »Eigenem« nur dort zu sprechen ist, wo es sich mitdem »Fremden« berührt, und erreicht selbst die Grenze Euro-pas, an der dem Denker die Wichtigkeit einer Begegnung mitder asiatischen Weisheit aufgeht.

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Die politisch-ethische Bedeutung der Hölderlin-Interpreta-tionen erschöpft sich nicht in der wiederholten Frage, werdie Deutschen sind. Heidegger hat versucht, sowohl von Höl-derlins Dichtung aus als auch im Rekurs auf die Tragödiendes Sophokles Kriterien eines spezifischen Politik-Verständnis-ses zu erarbeiten. In seiner Vorlesung aus dem Wintersemester1934/35 deutet er diesen Zusammenhang an, wenn er hinsicht-lich des »Dichters der Deutschen« bemerkt, dass dieser »nochnicht die Macht in der Geschichte unseres Volkes geworden«sei. Anschließend betont er: »Weil er das noch nicht ist, muß eres werden. Hierbei mitzuhalten ist ›Politik‹ im höchsten undeigentlichen Sinne, so sehr, daß, wer hier etwas erwirkt, nichtnötig hat, über das ›Politische‹ zu reden.« (GA 39, 214) So istdie Hölderlin-Interpretation der Ort und der Rahmen, in demsich Heideggers Politik-Verständnis darstellt. Dabei ist die Dif-ferenz zwischen der »›Politik‹ im höchsten und eigentlichenSinne« und dem »Politischen« ohne Zweifel nicht selbstver-ständlich.

Mit dieser Unterscheidung weist Heidegger die faktische Po-litik der Nationalsozialisten zurück. In ihr identifiziert er diesich totalisierende Gewalt der technischen Organisation, dieauf Eroberung und Vernichtung von Völkern ausgehende»Machenschaft«. Die Tendenz zur gewalthaften Totalisierungbestimmter ideologischer Zwecke und Mittel lässt sich aller-dings nicht auf das Phänomen des Nationalsozialismus begren-zen. Für Heidegger ist das 20. Jahrhundert insgesamt von einerTotalisierung betroffen, die sich darin zum Vorschein bringt,dass bloß funktional-ökonomische bzw. technische Konzeptelebensweltlich bedeutsam sind. Diese Totalisierung, die sich ineiner faktischen Ordnung der Welt manifestiert, ist immer dazuunterwegs, gänzlich total zu werden. Das aber kann sie darumnicht, weil sie eine Erkenntnis der Totalität des Technischenverhindern würde. Diese Totalität hätte jede Möglichkeit, sichüber sich selbst zu verständigen, absorbiert. Um folglich jene in

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der Geschichte faktisch geschehenden Totalisierungen über-haupt thematisieren zu können, muss es einen Riss in derGeschichte geben, der es ermöglicht, von einem anderen Stand-punkt aus die Totalisierungen zu beobachten. Dieser Riss oderdiese Differenz in der Ordnung der Geschichte ist für Heideg-ger die Dichtung Hölderlins. Diese setzt Heidegger der Totali-sierung von Ökonomie und Technik entgegen: »Voll Verdienst,doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde.«

Zwar »wohnen« die Menschen »voll Verdienst«, indem sieihre täglichen Geschäfte erledigen, »doch« das »Wohnen« ist»dichterisch«. Das »Dichterische« ist nach Heidegger die Fä-higkeit, einem »Maß« entsprechend »auf dieser Erde« zuleben. Die Dichtung weiß um die Endlichkeit des Menschenund seiner Leistungen, sie kennt die Möglichkeit, die Welt undsich selbst in der Hybris zu verfehlen. In diesem Zusammen-hang verweist Heidegger auf das bei Sophokles im zweitenChorlied der Antigone vorgetragene Wissen von der polis(GA53, 63 ff.). Dort hatte der Tragiker den Menschen als dasalle andere Lebewesen übersteigende »Ungeheure« beschrie-ben, dem es nicht gelinge, das »Maß« treffend in der polis zu»wohnen«.

Heideggers Hölderlin-Interpretation ist von wichtigen Ver-tretern der Hölderlin-Philologie sehr reserviert aufgenommenworden.7

7 Jochen Schmidt, »Hölderlin im 20. Jahrhundert. Rezeption undEdition«, in: Gerhard Kurz, Valerie Lawitschka u. Jürgen Werthei-mer (Hg.), Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme,Tübingen 1995, S.105–125.

Bei der Beurteilung der literaturwissenschaftlichenRezeption der Heideggerschen Hölderlin-Auslegung ist zu be-achten, dass eine philosophische Interpretation von Dichtungmit Prämissen operiert, die sich eine literaturwissenschaftlichePerspektive auf denselben Gegenstand nicht aneignen kann.Dies bedeutet aber, dass das literaturwissenschaftliche Urteil

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über eine philosophische Hölderlin-Auslegung nur dann an-gemessen ist, wenn sie die im hermeneutischen Charakter derPhilosophie selbst liegende Voraussetzungshaftigkeit der Aus-legungen nicht von vornherein für unangebracht hält.

4.3 Die Götter und der Gott

Nach Heidegger ist Friedrich Nietzsches Bemerkung Gottist tot ein verbindliches Kriterium für den religiösen Sta-tus des 20. Jahrhunderts. Aus dem Tode Gottes wächstder Nihilismus, die Lebenseinstellung, nach der es nichtsmehr gibt, was den Willen zur Arbeit und zum Konsuman Orientierungskraft überragt. Auch in Hölderlins Dich-tung hat sich die Spur einer Flucht der Götter eingeschrie-ben. Anders als Nietzsche hat der Dichter die Ankunfteines anderen Gottes für möglich gehalten. Das Zeitalterdes Nihilismus kann nach Heidegger der Mensch nichtaus eigener Kraft hinter sich lassen. Nur ein aus der Ferneerscheinender letzter Gott kann die internen Bestimmun-gen der nihilistischen Lebensweise fraglich werden lassen.

Die von Heidegger häufig interpretierte Hölderlinsche ElegieBrod und Wein enthält die Verse:

»Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten,Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns.«

Heideggers Auseinandersetzung mit Hölderlins Dichtung wirddavon begleitet, dass der Denker nicht nur in den Hölderlin-

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Interpretationen selbst, sondern auch in seinen sonstigen Tex-ten immer wieder auf die »Götter« zu sprechen kommt. Nichtnur das: In seinen Beiträgen zur Philosophie erscheint sogar einbesonderer »Gott«, der von Heidegger so genannte »letzteGott« (GA65, 405ff.). Da der Philosoph diese Bezugnahme aufdie »Götter« und den »letzten Gott« nicht als eine bloße Remi-niszenz an eine bildungsbürgerliche Mythenkenntnis verstan-den wissen will, sondern sie als ein veritables Element seinerPhilosophie betrachtet, müssen wir, bevor wir versuchen wol-len, diesen zunächst völlig unverständlichen Bezugnahmen ei-nen Sinn abzugewinnen, auf ihre Voraussetzung eingehen.

In dem berühmten Aphorismus 125 der Schrift Die fröhlicheWissenschaft lässt Nietzsche den »tollen Menschen« sagen:»Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?«8

8 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Sämtliche Werke,hg.v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Kritische Studienaus-gabe (KSA) 3, München, Berlin u. New York 1980, S.480.

Diese Mittei-lung steckt nach Heidegger den Rahmen ab, in welchem überGott zu sprechen erst sinnvoll sein kann. Ein Sprechen überGott, das Nietzsches Denken aus dem Weg geht, ist für Heideg-ger Hypokrisie.

Es ist wichtig zu sehen, wie Heidegger diese bittere Einsichtdes »tollen Menschen« versteht. Nietzsche meint zunächst un-bezweifelbar den christlichen Gott. Ihn haben wir, indem wirseine Frohe Botschaft nicht mehr zur verbindlichen Ordnungunseres Lebens machen, »getödtet«. Doch mit dem christlichenGott ist noch anderes gemeint. Für Nietzsche ist Gott »derName für den Bereich der Ideen und der Ideale« (GA 5, 216),für die seit Platon in der europäischen Philosophie nicht be-zweifelte Sphäre des »Übersinnlichen« schlechthin. Mit demAbsterben des christlichen Gottes und dieser Sphäre des Über-sinnlichen sind alle das Leben ordnenden moralisch-ethischen

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Kriterien unglaubwürdig geworden. Der höchste Maßstab, andem sich alle anderen Maßstäbe orientieren konnten, ist ver-schwunden: »Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irrenwir nicht wie durch ein unendliches Nichts?«, fragt der »tolleMensch«. Dieses Irren »durch ein unendliches Nichts« ist der»Nihilismus«. Mit dem Tode Gottes bricht der »Nihilismus«auf, in dem nichts mehr verbindlich und alles »jenseits von Gutund Böse« möglich ist.

Doch ist es nicht nur Nietzsche, der das Absterben des Gött-lichen in der europäischen Welt zur Sprache bringt. Auch Höl-derlin hat, wie in den zuvor zitierten Versen, die »Flucht derGötter«, wozu Hölderlin auch Jesus Christus zählt, konsta-tiert. Anders als Nietzsche hat Hölderlin aber die Möglichkeiteiner Rückkehr des Göttlichen in die Welt nicht aus den Augenverloren. In den zitierten Sätzen aus der Elegie Brod und Weinwird ja ausdrücklich festgestellt, dass die »Götter« jenseits derMenschen noch »leben«.

Einerseits hält Heidegger die Mitteilung des »tollen Men-schen« für unbezweifelbar. Wir können nicht mehr davon aus-gehen, dass der christliche Gott den Lauf der Dinge noch mitTrost und dem Versprechen auf ein rettendes Heil begleitet.Andererseits lässt er von dem Gedanken nicht ab, dass nachdem Verschwinden Gottes Göttliches in der Welt »noch ein-mal« erscheinen kann. Insofern ist Hölderlins Charakterisie-rung unserer Epoche als einer »Nacht« (GA75, 51), in welchersich die »Götter« uns entzogen haben, um an einem anderen»Morgen« wieder zu erscheinen, für Heidegger wegweisend.

Dennoch bedarf die Rede von den »Göttern« einer Erläute-rung. Hölderlin bezieht sich in seinen Gedichten auf die Götter-gestalten, die uns aus der europäischen Geschichte vertrautsind. Vor allem die griechischen Halbgötter und Götter wieHerakles, Apollon, Dionysos oder Jesus Christus werden in sei-nen Hymnen besungen. Sie sind für Hölderlin keine toten Bil-dungsgegenstände, sondern lebendige Gestalten, in deren Nähe

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der Dichter sich befindet. Doch es gibt in Hölderlins Dichtungnicht nur diese aus der europäischen Geschichte bekanntenNamen. So spricht Hölderlin manchmal einfach vom »Vater«oder von einer besonders geheimnisvollen Gestalt, vom »Gottder Götter« oder dem »Fürsten des Festes«. Sie lassen sich nichtin den Kanon der uns bekannten Götternamen einordnen.

Heidegger nimmt zunächst Hölderlins Charakterisierungennicht auf. Er versucht, seine Bezugnahme auf die »Götter«anders zu rechtfertigen. In den Beiträgen zur Philosophie stellter dar, was seine Gedanken über die »Götter« bedeuten sollen.Der Gebrauch des Plurals »Götter« solle nicht das »Vorhan-densein einer Vielzahl gegenüber einem Einzigen« behaupten.Vielmehr soll damit eine »Unentschiedenheit« (GA 65, 437)zum Ausdruck gebracht werden. »Unentschieden« soll sein, obwir »noch einmal« eine Anwesenheit von »Göttern« oder von»einem Gott« erfahren werden. Offen soll auch bleiben, wiediese »Götter« sein werden, wie »der Gott« sein wird. Diese»Unentschiedenheit« soll allerdings keine »leere Möglichkeit«sein. Aus ihr soll die »Entscheidung« kommen, ob eine Epipha-nie geschieht oder nicht.

Heidegger denkt durch die Betonung dieser »Unentschie-denheit« mit Nietzsche gegen Nietzsche an. Ja, die alten »Göt-ter« sind »tot«, doch wir dürfen diesen Verlust nicht als endgül-tig begreifen. Wenn der »Nihilismus« dadurch in die Weltgekommen ist, dass »wir Gott getödtet haben«, dann könnenwir möglicherweise eine Situation evozieren bzw. uns auf eineZeit vorbereiten, die den »Nihilismus« hinter sich gebracht ha-ben wird.

Bemerkenswerterweise ist Heidegger dabei nicht stehen ge-blieben. Er selbst hat sozusagen einen Schritt zur »Entschei-dung« getan. Wenn Hölderlin immer wieder in seinen Gedich-ten auf das Erscheinen eines noch »kommenden Gottes« (Brodund Wein, 10. Strophe) verweist, dann hat Heidegger dieseEigenart der Hölderlinschen Dichtung in sein Denken über-

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nommen. Am Schluss der Einleitung zur Besinnung, dieser grö-ßeren Abhandlung, die mit anderen die Nachbarschaft zu denBeiträgen zur Philosophie bildet, deutet Heidegger an, dasszum Geschehnis der Wahrheit, der »Lichtung des Sichverber-gens«, die der Mensch als »Dasein« zu »gründen« habe, not-wendig der »einmalige Dienst des noch nicht erschienenen aberverkündeten Gottes« (GA 66, 12) gehört. Dieser Gott ist, wieHeidegger in den Beiträgen zur Philosophie, aber nicht nurdort, ausführt, der »letzte Gott«. »Verkündet« wurde diesernoch unbekannte oder vielleicht immer unbekannt bleibendeGott in der Dichtung Hölderlins, in der an mehreren Stellenvon einer Göttergestalt die Rede ist, die noch »kommt« und diewir noch nicht kennen. Heidegger knüpft mit seinem Gedan-ken des »letzten Gottes« daran an.

Der Zustand des »Nihilismus« hat sich totalisiert. In diesemZustand gibt es nichts mehr, was den Willen zur Arbeit undzum Konsum an orientierender Kraft überragt. Aus dieser Situ-ation kann die »Eröffnung eines ganz anderen Zeit-Raumes«(GA65, 405) nicht mehr entspringen, da alles, was den wesent-lichen Orientierungen im »Nihilismus« widerspricht, fürungültig erklärt wird. Darum bleibt die einzige Möglichkeit,dass ein Gott, dass der »ganz Andere« (ebd., 402) einen Wandelder Geschichte bringen muss.

Ich hatte bereits in meinen Ausführungen zum »Ereignis«(Kapitel3.1) auf das Problem hingewiesen, dass es im DenkenHeideggers eine eigentümliche Spannung gibt, die der Phi-losoph möglicherweise absichtlich nie geklärt hat. TendiertHeideggers Philosophie dazu, eine »Endzeit« in Aussicht zustellen, in welcher die Menschen und Dinge zerstörenden Tota-lisierungen des 20. Jahrhunderts in einer »völlig anderen Ort-schaft« (GA 7, 133) verschwunden sein werden? Oder pochtder Philosoph »nur« auf die philosophische Notwendigkeit,den Gedanken an eine andere Möglichkeit des Menschseinsimmer wieder zu prüfen, sodass wir Heideggers Ausführungen

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über den »letzten Gott« als eine solche Möglichkeit verste-hen müssen? Ernst Jünger hat diesen zweideutigen Zug anHeideggers späterem Denken auf den Punkt gebracht: »Esbesteht ein Gemeinsames zwischen den Entwürfen populärerUtopisten und Heideggers Hoffnung auf eine neue Theopha-nie [. . .].«9

9 Ernst Jünger, Fassungen III, Sämtliche Werke, Bd. 19, Stuttgart1999, S.307 (Autor und Autorschaft).

Dieses »Gemeinsame« dürfte darin liegen, dass dieeinen wie die anderen Entwürfe nicht mehr an die Möglichkeitglauben, der Mensch könne aus eigener Kraft seine Lage ver-ändern.

Zumindest Folgendes möchte ich behaupten: Heidegger hatdie »Flucht der Götter« oder den »Tod Gottes« nicht als dieLegende einer romantisierenden Nostalgie aufgefasst. Er hatdie Geschichte seines Jahrhunderts mit dem Erscheinen einerallgemeinen Gottlosigkeit in Verbindung gebracht. Das zeigtein spätes Zeugnis. Im so genannten Spiegel-Gespräch aus demJahre 1966 fallen die berühmt gewordenen Worte: »Die Philo-sophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Welt-zustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philo-sophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen undTrachten. Nur noch ein Gott kann uns retten.« (GA 16, 671)Dieser Aussage liegt die Voraussetzung zu Grunde, dass der»Weltzustand«, in dem wir leben, einer »Veränderung« bedürf-tig sei. Und wirklich besteht von Anfang an (vgl. z. B. seineInterpretation des »Urchristentums«) eine Grundströmung desHeideggerschen Denkens darin, immer wieder die Möglichkeiteiner tiefgreifenden Umdeutung unseres Lebens zu reflektieren.Insofern ist die Äußerung im Spiegel-Interview nicht neu. Den-noch hat sich der Ton verschärft. Es geht nicht mehr um einebloße »Veränderung«, sondern um eine »Rettung«. Heideggerhat die ihm vor allem in Hölderlins Dichtung begegnendenLebensmöglichkeiten im Sinne eines von Totalitarismen freien

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Daseins niemals verloren gegeben. Er hat jedoch zugleich inden Verbrechen des 20.Jahrhunderts die Möglichkeit eines völ-ligen Verlustes positiver Existenzalternativen erkannt. Einedaraus entspringende Angst könnte die Bitterkeit bestimmterÄußerungen des späten Heidegger erklären.

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5 Welt und Technik

5.1 Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger

Das Hauptthema des späten Heideggerschen Denkens istdie Frage, wie der Mensch in einer total technisierten Weltleben kann. Die Initiation für die Wichtigkeit dieser Frageliegt in der Erfahrung der nationalsozialistischen Herr-schaft, die sich in einer bis dahin unvorstellbaren Art undWeise der Technik zur Durchsetzung kriegerischer undmassenmörderischer Ziele bediente. Wenn Heidegger imJahre 1933 Ernst Jüngers Essay Der Arbeiter. Herrschaftund Gestalt (1932) in einer Rede den deutschen Studentenals ihr Erziehungsbuch anpreist, so betrachtet er es in denfolgenden Jahren als das Grundbuch für seine Analysender technischen Praktiken in Krieg und Verbrechen. Jün-gers Buch wird von Heidegger als eine der Zeit gemäßeFortsetzung von Friedrich Nietzsches Lehre vom Willenzur Macht interpretiert.

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Als Anfang der fünfziger Jahre, wie Rüdiger Safranski schreibt,»Heideggers Ausdruck Gestell als Bezeichnung für die techni-sche Welt in Deutschland die Runde machte«1

1 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger undseine Zeit, München und Wien 1994, S.453.

, hatte Heideggersich bereits seit ungefähr zwanzig Jahren mit dem Phänomender Technik auseinandergesetzt.

In seinem Bericht Das Rektorat 1933/34 aus dem Jahre 1945weist Heidegger darauf hin, dass er bereits um das Jahr 1932Ernst Jüngers Schriften Die totale Mobilmachung (1930) undDer Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932) studiert und»durchgesprochen« (GA 16, 375) habe. Zudem gibt er zu ver-stehen, dass sich in diesen Texten »ein wesentliches Verständnisder Metaphysik Nietzsches ausspricht, insofern im Horizontdieser Metaphysik die Geschichte und Gegenwart des Abend-landes gesehen und vorausgesehen wird«. Wir müssen in die-sem Studium, in der Lektüre der Jüngerschen Essays vor demHintergrund der Philosophie Nietzsches die Grundlagen sehen,welche die spätere Interpretation der Technik als »Gestell« vor-bereiten.

Jüngers Essays versuchen zu durchschauen, wie in Folge derMaterialschlachten des Ersten Weltkriegs ein neuer »Typus«des Menschen erscheint. Dieser »Typus« hat die Zeichen derZeit insofern erkannt, als er die immer durchdringendere Tech-nisierung des alltäglichen Lebens ganz und gar bejaht undbetreibt. Diese Technisierung hat die Tendenz zur Totalität undwird deshalb in Anspielung auf militärisches Vokabular »totaleMobilmachung« genannt. In einer Welt der »totalen Mobilma-chung« bleibt nichts von der Dynamisierung und Technisie-rung unberührt, selbst die »Materie« wird in der Naturwissen-schaft als ein Modus von Energie und Bewegung aufgefasst.

Der Soldat der Materialschlachten ist nach Jünger ein neuer»Typus« des Menschen, weil dieser den Krieg als ein Gescheh-

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nis erfuhr, in welchem es nur darauf ankam, seine »Arbeit«möglichst perfekt auszuführen. Zugleich wusste der Soldat,dass es nicht auf ihn als Individuum ankam, wenn die Schlachtgewonnen oder verloren wurde. Worum es ging, war einzig undallein der optimale Einsatz des Materials, wozu der Soldatselbst gerechnet werden musste.

Für Jünger ist es keine Frage, dass sich eine solche Einstel-lung nach dem Ersten Weltkrieg als »typische« Lebensweiseetabliert hat. Der »Typus« dieser Lebensart ist aber nicht mehrder Soldat, sondern der »Arbeiter«. Er fasst das Leben nichtmehr als eine persönliche Möglichkeit zur Glückseligkeit auf,sondern als die Aufgabe, uneingeschränkt dem »Willen zurMacht« zu dienen und durch diesen ungebrochenen Dienst zurHerrschaft zu gelangen, um die Welt im Sinne der »totalenMobilmachung« einzurichten. Der »Typus« des »Arbeiters« istkeine ökonomische oder soziologische Erscheinung, sonderndie Phänomenalisierung einer metapyhysischen »Gestalt«. Mitdiesem Begriff steht Jünger in der Tradition des platonischenDenkens.

In diesem Zusammenhang sagt Jünger im Arbeiter: »DieTechnik ist die Art und Weise, in der die Gestalt des Arbeitersdie Welt mobilisiert.«2

2 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, SämtlicheWerke, Bd.8, Stuttgart 1981, S.160.

Die Phänomene, die Jünger dabei imBlick hat, liegen auf der Hand. Es handelt sich dabei vor allemum die Erfahrung einer allgegenwärtigen Beschleunigung vonMensch, Maschine und Information. Jünger durchkämmt beiseiner Zeit-Diagnose systematisch alle Weltbereiche (selbst derSport und die Freizeitgestaltung werden als »Arbeit« gedeutet),um überall den Zuwachs von Geschwindigkeit und erhöhtemEnergieverbrauch festzuhalten.

Sicherlich erweist sich Jünger in dieser Interpretation der ers-ten Nachkriegszeit als ein Schüler und Erbe Friedrich Nietz-

145Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger

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sches, auf den er an vielen Stellen verweist. Nietzsche ist fürJünger der Philosoph des »Willens zur Macht« bzw. des »Über-menschen«. Diese Hauptgedanken des späteren Nietzsche,dass das Leben im »Willen zur Macht« bestehe, infolgedessenderjenige Mensch an die »Macht« komme und dadurch überden bestehenden Menschen hinausgehe, der den »Willen zurMacht« am uneingeschränktesten bejaht, eben der »Über-mensch«, haben den Essay über den Arbeiter wesentlich beein-flusst. So ist es Nietzsche, der in einem Nachlassfragment imWillen zur Macht die Verbindung zwischen dem »Soldaten«und dem »Arbeiter« herstellt: »Arbeiter sollten wie Soldatenempfinden lernen.« Es gehe darum, »das Individuum, je nachseiner Art, so [zu] stellen, daß es das Höchste leisten kann«3

3 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1889, KSA12,S.350.

. Indiese Richtung zeigt auch Nietzsches frühere Apotheose der»Maschine« in Menschliches, Allzumenschliches:

»Die Maschine als Lehrerin. – Die Maschine lehrt durch sich selberdas Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Actionen, wo Jedernur Eins zu thun hat: sie giebt das Muster der Partei-Organisation undder Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherr-lichkeit: sie macht aus Vielen eine Maschine, und aus jedem einzelnenein Werkzeug zu einem Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist, denNutzen der Centralisation zu lehren.«4

4 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. II, KSA 2,S.653.

Von solchen Gedanken ausgehend konnte Jünger seine meta-physische Weltdeutung der »totalen Mobilmachung« und des»Arbeiters« in einer sehr originellen und suggestiven Art undWeise entwerfen.

Und lag Jünger mit seinen Thesen im Jahre 1932 wirklich sofalsch? Kündigte sich nicht in der Tat ein neuer »Typus« vonMenschen an, welche die Möglichkeiten der Technik in den

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nächsten 13 Jahren für ihre Organisation von Krieg und »Ver-waltungsmassenmord« (Hannah Arendt) hemmungslos nut-zen sollten? Jünger hat das Kommende im Arbeiter offenkun-dig nicht ohne Sympathie vorausgesehen. Es heißt dort: »Unddies ist unser Glaube: daß der Aufgang des Arbeiters mit einemneuen Aufgange Deutschlands gleichbedeutend ist.«5

5 Jünger 1981, S.31.

Auf-grund von solchen und auch anderen Äußerungen ist daraufhinzuweisen, dass Jüngers ungewöhnlich hellsichtiger undgedankenreicher Essay nicht nur Zeit-Diagnostik betreibt. Erist zudem eine Kampfschrift, die das Erscheinen des »Arbei-ters« als zwar unausweichlich, aber nicht als etwas, das manablehnen könnte, feiert. Ernst Jünger hat im weiteren Gang sei-nes Werkes diese Affirmation der »Gestalt des Arbeiters« im»heroischen Realismus« zurückgenommen, um zugleich den»Typus« des »Arbeiters« weiterhin als die bestimmende Größein der Technisierung der Welt aufzufassen. Dem Nationalsozia-lismus ist Jünger niemals verfallen.

Als Heidegger im Wintersemester 1936/37 seine erste Vorle-sung über Friedrich Nietzsche mit dem Titel Der Wille zurMacht als Kunst hält, ist er zu den Gedanken aus Jüngers Arbei-ter sowie zu Nietzsches Lehre vom »Willen zur Macht« auf Dis-tanz gegangen. Im Winter 1934/35 hielt er die Vorlesung überHölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein, die diese Dis-tanz öffentlich zum Ausdruck brachte. Doch diese Distanzie-rung betrifft nicht nur Nietzsches und Jüngers Texte, sie betrifftauch Heidegger selbst.

Im November 1933 hält Heidegger eine Rede zur Immatri-kulation der Freiburger Studenten. Heidegger bezieht sichemphatisch auf Ernst Jüngers Der Arbeiter. Zu den Studentengewandt erklärt er: »Dieser Schlag von Studenten ›studiert‹nicht mehr, d.h. er bleibt nicht irgendwo geborgen sitzen, umvon dort aus im Sitzen irgendwohin nur zu ›streben‹. Dieser

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neue Schlag der Wissenwollenden ist jederzeit unterwegs. Die-ser Student aber wird zum Arbeiter.« (GA16, 204) Im Zuge derrevolutionären Umbildungen in Deutschland kann sich Hei-degger positiv auf den Arbeiter beziehen. »Arbeit« ist das Seindes Volkes, der nationalsozialistische Staat ist der »Arbeits-staat« (ebd., 206).

Anfang des Jahres 1940 hat Heidegger noch einmal öffent-lich in einem »kleinen Kreis von Kollegen« Jüngers Arbeiterausgelegt. Nun äußert sich Heidegger kritisch und polemisch.Doch indem diese Kritik Jünger trifft, zielt sie zugleich auf diePosition, die der Denker um das Jahr 1933 selber einnahm.Heideggers Auseinandersetzung mit der »totalen Mobilma-chung« ist in sich eine mit seinem eigenen Votum für den Natio-nalsozialismus. Heideggers Hölderlin-Interpretation auf dereinen, seine Nietzsche- und Jünger-Auslegungen auf der ande-ren Seite stehen ganz im Dienst dieser kritischen Absetzung.

Diese Auseinandersetzung lässt keinen Zweifel aufkommen,dass Nietzsches und Jüngers Gedanken die Zeichen der Zeitam besten erfassen. Wenn Heidegger in jenem Vortrag vomNovember 1933 pointiert, dass Jünger »auf Grund der Erfah-rung der Materialschlacht im Weltkrieg die heraufkommendeSeinsart des Menschen des nächsten Zeitalters durch dieGestalt des Arbeiters schlechthin gedeutet« (ebd., 205) habe,dann sieht er auch später keinen Grund, diese Ansicht zu revi-dieren. Vielmehr fühlt er sich durch die Geschehnisse des Zwei-ten Weltkriegs bestätigt. Der »Mechanismus der Rüstung« sei»bestimmt durch die Leere der Seinsverlassenheit, innerhalbderen der Verbrauch des Seienden für das Machen der Technik,zu der auch die Kultur gehört, der einzige Ausweg ist, auf demder auf sich selbst erpichte Mensch noch die Subjektivität in dasÜbermenschentum retten kann« (GA 7, 90), schreibt Heideg-ger zur Jahreswende 1939/40. Hier versammeln sich die Ge-danken Nietzsches und Jüngers, um als die Ideen der allerletz-ten Phase eines sich im »Willen zur Macht« stabilisierenden

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Zeitalters interpretiert zu werden. Der Mensch ist das »arbei-tende Tier« (ebd., 71) geworden, das sich selbst den »Krieg«erklärt hat.

Wenn Jürgen Habermas in seinem Aufsatz Heidegger – Werkund Weltanschauung sicher nicht unvoreingenommen Heideg-gers politisches Engagement bedenkt, hat er dennoch Recht,Heideggers »Einstellungswechsel«6

6 Habermas 1989, S.27.

als einen Ablösungspro-zess im Zeitraum von 1934 bis 1936 zu beschreiben. Wenn erjedoch Heidegger jede Fähigkeit zu einer »Revision seinesSelbstverständnisses als eines Denkers mit priviligiertem Zu-gang zur Wahrheit«7

7 Ebd., S.33.

abspricht, hat er den Sachverhalt vernach-lässigt, dass Heideggers Auseinandersetzung mit Ernst Jüngerund durch diesen mit Nietzsche eine Selbstkritik darstellt, wel-che die Sache selbst, die Totalisierung der Technik im »DrittenReich«, nicht aus dem Blick lässt.

5.2 Zur Zweideutigkeit des »Gestells«

Getreu der aristotelischen Bestimmung deutet Heideggerdie Technik zunächst als ein spezifisches Wissen. DieTotalisierung der Technik aber, die er zunächst als Ma-chenschaft, dann als Gestell charakterisiert, zeigt ihm,dass die Technik kein bloßes Vermögen des Menschensein kann. Der Mensch ist nicht mehr der Beherrscher derTechnik, sondern der von ihr Beherrschte. Er stellt nichtnur bestimmte Produkte her, um diese zu verbrauchen.Vielmehr behandelt er inzwischen auch sich selbst wieeinen total verfügbaren Bestand. Doch so gefährlich die

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Technik für das Sein überhaupt ist, so erlaubt sie dochzugleich eine kreative Gestaltung der Welt. Diese Zwei-deutigkeit ist ein Merkmal dafür, dass die Technik demsich eröffnenden und entziehenden Sein verwandt ist.

Als Heidegger in einem Fernsehinterview im Jahre 1969 an-deutet, dass er nicht die Atombombe, sondern die Menschen»machende« »Biophysik« (GA 16, 706) für das gefährlichstePhänomen der Technik hält, bezeugt er einen bemerkenswertenWeitblick für die naturwissenschaftlichen Entwicklungen derkommenden Jahrzehnte. Zu diesem Zeitpunkt hat er sich überdreißig Jahre lang mit der Frage nach dem »Wesen der Tech-nik« beschäftigt. Heideggers Gedanken über die Technik habenin einer mehr oder weniger oberflächlichen Rezeption zu demMissverständnis geführt, der Philosoph würde die moderneTechnik ganz und gar ablehnen und ein provinzielles Landlebengegenüber einer jede neue Technologie integrierenden Groß-stadtexistenz favorisieren. Wenn Heideggers schwäbische Bio-graphie zwar Züge von Heimatverbundenheit und Bodenstän-digkeit zeigt, so ist die Meinung, der Denker würde die Techniknegieren, falsch.

Von Anfang an geht es Heidegger darum, zu bedenken, wases bedeutet, dass in der Neuzeit gemäß einer Wendung in Des-cartes’ Discours de la methode von 1637 der Mensch der »maı-tres et possesseur de la nature«8

8 Rene Descartes, Discours de la methode pour bien conduire sa rai-son, et chercher la verite dans les sciences, in: ders., PhilosophischeSchriften in einem Band, Hamburg 1996, S.100.

geworden ist. Bevor es zueinem Urteil über die technische Selbstauslegung des Menschenkommt, geht es darum, zu fragen, wie sich das Verhältnis desMenschen zur Technik verstehen lässt. Erst nach einer solchen

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grundsätzlichen Klärung können praktische Folgen erwogenwerden. Dass aber diese niemals in einem »Ausstieg« aus derTechnik bestehen können, liegt schon deshalb auf der Hand,weil dieser einen völlig unvorstellbaren Abbruch aller sich überJahrtausende etablierten Lebensformen bedeutete.

Heidegger hat sich einer eigenen Aussage zufolge schon imJahre 1932 mit Ernst Jüngers Essay Der Arbeiter auseinander-gesetzt. In ihm beschreibt der Schriftsteller eine technisierteWelt, die er im »heroischen Realismus« zuweilen zynisch affir-miert. Nach einer ersten positiven Bezugnahme auf diesen Textgeht Heidegger zu ihm auf Distanz, um sich der Frage nach dem»Wesen der Technik«, d. h. nach der Art und Weise, wie dieTechnik das Leben durchdringt und gestaltet, fundamentalerals Jünger zuzuwenden. In einer Vorlesung aus dem Sommerse-mester 1935 kommt Heidegger auf eine Quelle zu sprechen, diesein gesamtes Denken über die Technik prägen sollte. Es han-delt sich dabei um das erste so genannte Standlied des Chores inSophokles’ Antigone. Dieses beginnt in Heideggers Überset-zung mit den Worten:

»Vielfältig das Unheimliche, nichts doch über den Menschen hinausUnheimlicheres ragend sich regt.« (GA40, 155)

Die Charakterisierung des Menschen als des »Unheimlichsten«schlechthin bezieht Sophokles auf die technischen Fähigkeitendes Menschen, sich die Natur nutzbar zu machen. Der Dich-ter spricht ihm eine unerwartete Technik (techne) zu, sowohlSchlechtes als auch Edles hervorbringen zu können. Sophoklesverwendet zur weiteren Beschreibung dieser Fähigkeit das grie-chische Wort to machanoen, was mit dem Adjektiv mechanikoszusammenhängt. Gemäß diesem Wort, welches »erfinderisch«,»geschickt« und »listig« bedeutet, spricht Heidegger von der»Machenschaft« (ebd.,168). Dieser Begriff, den der Philosophnicht abschätzig verstehen will, wird in den weiteren Jahren zurKennzeichnung des »Wesens der Technik« verwendet.

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Zum näheren Verständnis der Technik aber bezieht sich Hei-degger offenkundig auf einen anderen antiken Text. Indem erdas Wort techne einfach mit »Wissen« (GA 5, 46) übersetzt,bringt er in Erinnerung, dass Aristoteles im sechsten Buch derNikomachischen Ethik die techne als eine dianoetische (d. h.den Verstand betreffende) Tugend darstellt. Sie sei ein mit wah-rer Vernunft (logos) verbundenes hervorbringendes Verhalten(hexis) (1140 a 10), also ein »Wissen« darüber, wie etwas herzu-stellen ist.

Wenn Sophokles den Menschen als das »Unheimlichste«überhaupt bezeichnet, weil er über dieses Wissen verfügt, wirddas Wissen zweideutig aufgefasst. »Unheimlich« ist etwas Be-drohendes, das wir nicht recht fassen können. In einem un-heimlichen Wald kann uns etwas Schlimmes zustoßen, wir kön-nen aber auch heil davonkommen. Zudem scheinen wir demUnheimlichen nicht einfach gleichgültig ausweichen zu kön-nen, es hält uns wie gebannt fest, lässt uns nicht los. Wenn dieseAttribute auf den Menschen angewendet werden, wird deut-lich, dass Sophokles ihn als das tragische Wesen par excellencebegreift. Der Mensch kann auf Grund der techne Großes leis-ten, er kann aber auch hybrid das »Maß« verfehlen und schei-tern. Es ist diese Ambivalenz der Technik, die Heidegger bis inseine spätesten Texte hinein erörtern wird.

Im unmittelbaren Anschluss an diese erste öffentliche Aus-einandersetzung mit der Frage nach dem »Wesen der Technik«hat Heidegger den Begriff der »Machenschaft« beziehungs-weise der techne modifiziert. Diese Modifikation bezieht sichauf die phänomenale Konsistenz der Auffassung, die techne seiein verfügendes Wissen des Menschen. Aristoteles hat bei sei-ner Bestimmung des Begriffs als einer dianoetischen Tugend dieTätigkeit des Künstlers im Blick. Dieser besitzt, jedenfalls imgriechischen Verständnis, ein Know-how, auf dessen Basis erDinge wie Vasen oder Statuen herstellen kann. Offenbar be-steht das moderne Leben, das von allen Seiten mit technischen

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Geräten umgeben ist, jedoch keineswegs in einem solchen Wis-sen. Der Mensch der Massengesellschaft lebt technisch, ohnedass er jeweils selber alle technischen Geräte hergestellt hatund, was entscheidender ist, ohne dass er sie herstellen könnte.Der moderne Mensch weiß nur in den allerwenigsten Fällen,wie das jeweilige technische Gerät, das er gerade benutzt, funk-tioniert. Der Mensch lebt technisch, ohne über die Technik, dieihn umgibt, zu verfügen. Selbst wenn wir meinen, durch einmehr oder weniger entwickeltes Bedienungswissen die uns solebenswichtig gewordenen Computer zu beherrschen, sind wirbei seinen geringsten Defekten machtlos. Darum kann die mo-derne technische Lebensweise des Menschen nicht mehr als einWissen betrachtet werden. Im Horizont dieses Sachverhalts hatHeidegger die Verhältnisbestimmung, der Mensch verfüge überdie Technik, umgedreht. Nicht wir beherrschen die Technik,diese beherrscht vielmehr uns.

In seinen Abhandlungen aus der zweiten Hälfte der dreißigerJahre hat Heidegger diese Einsicht in seiner Erläuterung desBegriffs der »Machenschaft« entfaltet. In der »Machenschaft«betrachtet der Mensch alles Seiende unter dem Aspekt des»Machens« (GA65, 126). Alles, was ist, ist »machbar«. Damitscheint die »Machenschaft« zunächst wiederum als ein Verhal-ten des Menschen charakterisiert zu werden. Doch Heideggergeht es nun darum, darauf hinzuweisen, dass dieser Einstellungeine Voraussetzung zu Grunde liegt. Um zu meinen, Sachenseien »machbar«, müssen sie sich im Vorhinein in ihrem Seinso zeigen. Dass sie sich im Vorhinein so zeigen und gleichsamzum »Machen« und »Herstellen« anbieten, darüber kann derMensch nach Heidegger nicht verfügen. Vielmehr gerät er mehrund mehr in die Situation, dass er dieser Seinsweise der Dingenicht mehr ausweichen kann, um schließlich immer mehr dem»Machen« als einziger Umgangsmöglichkeit mit den Gegen-ständen zu verfallen. Ein wesentliches Element dieses Gesche-hens besteht in dem Phänomen, dass der Mensch bei diesem

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Vorgang weiterhin glaubt, Herr der Lage zu sein. Heideg-ger vermutet sogar eine Wechselwirkung: Je technischer derMensch sich und die Welt versteht, je mehr er sich zum Herrnüber die Welt erhebt, desto mehr verfällt er einer Abhängigkeit,die ihm kaum noch Raum übrig lässt, Dinge und Menschenanders als in der Perspektive der »Machbarkeit« zu betrach-ten. Jetzt ist die Technik kein »Wissen« mehr, sondern, als»Machenschaft« gedacht, ein epochales Schicksal der Mensch-heit. Damit ist zugleich die Vorstellung unmöglich geworden,die Technik sei eine Art von Instrument, mit dem der MenschGutes oder Böses »machen« könne.

Diese Totalisierung eines technischen Seinsverständnisseshat Heidegger Ende der vierziger Jahre in den so genannten vierBremer Vorträgen eindringlich dargestellt. Indem er ihnen dieÜberschrift »Einblick in das was ist« voranstellt, macht derPhilosoph unmissverständlich klar, wie er die Umstände, indenen sich der Mensch seiner Ansicht nach befindet, sieht.Inzwischen hat sich eine Begriffsverschiebung vom semanti-schen Feld des »Machens« zum »Stellen« ereignet. Das »Wesender Technik« wird nun als »Ge-Stell« (GA79, 24ff.) erläutert.Mit diesem Neologismus glaubt Heidegger, den verschiede-nen Bedeutungsmomenten der Technik genauer entsprechen zukönnen.

Diese Bedeutungsmomente lassen sich anhand des Produkti-onsvorgangs eines beliebigen Gegenstands erläutern. Um bei-spielsweise ein Flugzeug »herzustellen«, muss man es sich zu-nächst »vorstellen«. Indem man es sich »vorstellt«, vermag manes »darzustellen«. Weil es von einer Luftfahrtgesellschaft benö-tigt wird, wird es »bestellt«. Die Voraussetzung, dass das Seiendeals »herstellbares« erst erscheinen muss, um einen Produktions-prozess zu veranlassen, »stellt« den Menschen (im Sinne desHerausforderns), so wie dieser mitunter den Gegenständen ineiner bestimmten »Einstellung« »nachstellt«. Den gesamtenZusammenhang dieser Bezüge nennt Heidegger »Ge-Stell«.

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Für Heidegger ist die so gedachte Technik nicht mehr mitder griechischen techne, von der sie abstammt, zu identifizie-ren. Der Unterschied, der am Beginn der Neuzeit aufbricht, umerst im 20. Jahrhundert voll zur Geltung zu kommen, liegtdarin, dass sich die moderne Technik zu einem »planetari-schen« Phänomen totalisiert. Die Technik ist zur »totalen Mo-bilmachung« (E. Jünger) geworden, in welcher nichts mehrihrem Zugriff zu entrinnen scheint. Nun, so Heidegger, wirdausnahmslos alles zu einem auswechsel- und lieferbaren »Be-stand« (ebd., 26). Diese Totalisierung hat er in dem Vortrag»Das Ge-Stell« mit folgenden, auch heute noch provozierendenWorten erläutert:

»Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen dasSelbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernich-tungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Län-dern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.«(Ebd.,27)

Heidegger fasst die entsetzlichen Geschehnisse des Kriegesund des »Verwaltungsmassenmordes« am jüdischen Volk,die Ausbeutung von machtlosen Ländern sowie die indus-trielle Produktion von Lebensmitteln hinsichtlich des »Ge-Stells« als »das Selbe« auf. Dieser Gedanke musste die Zu-hörer nur knapp fünf Jahre nach dem Ende der nationalsozia-listischen Herrschaft brüskieren. Noch heute liest man denscheinbar mitleidlosen Satz mit gemischten Gefühlen. Wollteder Philosoph mit der rhetorisch-monotonen dreifachen Wie-derholung, dies alles sei »das Selbe«, einen Skandal inszenie-ren?

Heidegger möchte darauf aufmerksam machen, dass dieTotalisierung des »Wesens der Technik« im 20.Jahrhundert zueinem Punkt fortgeschritten ist, an dem die Auffassung, alleDinge seien ein verbrauchbarer »Bestand«, auch die Vernich-tung von Menschen impliziert. Bei dieser Beobachtung ist nicht

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das moralische Urteil entscheidend, gemäß dem, wie Heideggerim selben Vortrag betont, ein solches Tun »unmenschlich« sei,sondern der Hinweis darauf, dass zum ersten Mal in derGeschichte Menschen zu Gegenständen eines ökonomischenVorgangs gemacht worden sind, dessen Zweck es war, sie aus-zulöschen, und dass sich dieser Vorgang in seiner formalen undökonomischen Durchführung, d. h. in seiner Methode, vonanderen zweckrationalen Prozessen nicht unterscheiden lässt.Hinsichtlich der Planung und bürokratischen Organisation des»Verwaltungsmassenmords« in Auschwitz leistet er formal inder Tat »das Selbe« wie die Herstellung eines Produktes ineinem Industriekomplex. Gerade diese Tatsache verstärkt deneigentlichen Schrecken der Vernichtungslager ins Unerträgli-che.

Mit dieser Beobachtung befindet sich Heidegger in der Ge-folgschaft zum Beispiel von Theodor W. Adorno oder HannahArendt, die das Einzigartige der Shoah nicht darin erblicken,dass sie überhaupt, sondern wie sie stattgefunden hat. Mitihnen teilt Heidegger die Auffassung von einer in der Ge-schichte Europas lang angebahnten Totalisierung eines be-stimmten Weltverständnisses, in dessen Konsequenz der »Ver-waltungsmassenmord« erst möglich wurde. Und mit ihnen teilter auch die Ansicht, dass das Phänomen der Totalisierung des»Wesens der Technik« nur dann angemessen betrachtet werdenkann, wenn es in seinem Grauen erkannt wird. Deshalb hatHeidegger in seinem zweiten Bremer Vortrag mit dem Titel»Die Gefahr« darauf verwiesen, dass der Mensch vor demHintergrund dieses Grauens die Totalisierung des »Ge-Stells«nicht durch eine theoretische Anstrengung in den Griff bekom-men könne, sondern vielmehr erst durch ein Pathos, durcheinen »Schmerz« (ebd., 57) erleiden müsse. Denn nur was mit»Schmerz« »erfahren« wird, erlangt zwischen Menschen eineBedeutung.

Die Beobachtung eines sich als »Ge-Stell« stetig totalisieren-

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den »Wesens der Technik« führt notwendig zu der Frage, obund in welcher Weise der Mensch in dieser Katastrophe über-haupt noch vorkomme. Muss man nicht doch zugeben, dassHeideggers Denken an den zeitgenössischen Problemen einernicht mehr totalitär beherrschten Massendemokratie vorbei-geht? Dies würde der Fall sein, wäre Heidegger dazu überge-gangen, die moderne Technik als eine Inkorporation des Bösenaufzufassen (wie es neuerdings der französische PhilosophMichel Henry in seinem Buch Ich bin die Wahrheit. Für einePhilosophie des Christentums, Freiburg und München 1999,S.361 ff. tat). Im vierten seiner Bremer Vorträge mit dem Titel»Die Kehre« zitiert Heidegger folgenden berühmten Vers Höl-derlins aus seiner Hymne Patmos:

»Wo aber Gefahr ist, wächstDas Rettende auch.«

Die »Gefahr« und das »Rettende« werden von Heideggernicht als zwei verschiedene Phänomene aufgefasst. Das »We-sen der Technik« selbst ist die »Gefahr« und als solche das»Rettende«. Der Denker geht von der »Gefahr« aus, dass im»Ge-Stell« die Möglichkeit einer völligen Vereinseitigung vonTheorie und Praxis drohe. Im »Ge-Stell« herrsche, wie er einpaar Jahre später in seinem Vortrag Die Frage nach der Tech-nik ausführt, das »Rasende des Bestellens« (ebd.,34), von demder Mensch z.B. in Bezug auf sich ankündigende Konsequen-zen der »Biophysik« (vgl. Beginn des Kapitels) nicht mehr aus-genommen bleiben kann. Doch zugleich spricht er nun voneinem »zweideutigen Wesen der Technik«. Das »Ge-Stell« seinicht nur das »Unaufhaltsame des Bestellens«, sondern auchein »Gewährendes, das den Menschen darin währen läßt,unerfahren bislang, aber erfahrener vielleicht künftig, derGebrauchte zu sein zur Wahrnis des Wesens der Wahrheit«.Dieses »Gewährende«, das in nichts anderem zu finden sei alsim »Rasen des Bestellens« selbst, sei das »Rettende«, das uns

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vor der vollkommenen Technisierung von Welt und Menschbewahren könne. Das »Ge-Stell« erweist sich nicht nur als eineverstellende Produktion und Destruktion, sondern zugleich alseine sinnvoll-befreiende Umgangsmöglichkeit mit Dingen undMenschen.

Diese scheinbar kryptischen Mitteilungen führen zunächstzu dem Problem, dass mit der Ambivalenz im »Wesen der Tech-nik« noch kein Hinweis gegeben wird, wie der Mensch in sei-nem Handeln der »Gefahr« des »Ge-Stells« begegnen kann.Die Ambivalenz der Technik ist nicht die zum Nutzen oder zumSchaden verwendete Eigenschaft eines Instruments. Bei dieserZweideutigkeit handelt es sich vielmehr um die Ambivalenzeines epochalen Geschicks. Schlägt aber Heidegger damit demMenschen nicht alle Handlungsmöglichkeiten aus der Hand,indem er ihn zu einem rein passiven Zuschauer seiner eigenenGeschichte macht?

Dass dem nicht so ist, lässt sich am besten verstehen, wennwir auf das anfangs erwähnte zweite Chorlied der Antigone desSophokles zurückkommen. Denn Heideggers späte Äußerun-gen über das »zweideutige Wesen der Technik« lässt sich amehesten verstehen, wenn wir die Dichtung und besonders diegriechische Tragödie berücksichtigen.

Wenn Sophokles den Menschen als das »Unheimlichste«oder gemäß der Übersetzung Hölderlins als das »Ungeheu-erste« betrachtet, dann hat er freilich nicht Heideggers Inter-pretation des »Wesens der Technik« als »Machenschaft« und»Ge-Stell« vorweggenommen. Doch Sophokles weiß anschei-nend, dass das dem Menschen durch die techne zugefallene Ver-mögen, sich über die Natur zu erheben, »zweideutig« ist. Mitden Mitteln, die er hat, kann er sich in der Welt (bzw. in derpolis) maßvoll einrichten, er kann jedoch im Verfehlen desMaßes auch scheitern. Für die Tragödie besteht dieses »Maß«(metron) in der Grenze zwischen den sterblichen Menschenund den unsterblichen Göttern. Sein Verfehlen ist der Frevel

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(hybris), die Erhebung über das dem Menschen von den Göt-tern zugeteilte »Maß« hinaus.

Diese entgrenzende, über jedes Maß hinausgehende Machtist das sich totalisierende »Ge-Stell«. In seiner Totalisierungs-tendenz ist es unendlich, entdeckt den subatomaren Elementar-teilchenbereich und dringt immer tiefer in das Weltall vor. Die-ser prinzipiell jede Grenze nur als überwindbar erscheinendenTendenz entspricht nach Heidegger ein ökonomisch kalkulie-rendes und forschendes Denken des »Willens zur Macht«, dassich vor allem in den Naturwissenschaften präsentiert. Dage-gen gebe es etwas in der Dichtung, und das heißt immer primärin der Dichtung Hölderlins, den er einmal als den »Bruder desSophokles« bezeichnet, das »Grenze« und »Maß«, kurz, das»Endliche« kenne und beachte. Dies nennt Heidegger das»Dichterische«. In seinem Hölderlin-Aufsatz »Andenken«bestimmt er es auf folgende Weise:

»[. . .] das Dichterische ist das Endliche, was sich in die Grenzen desSchicklichen fügt. Das Dichterische ist das Bündige, das Unangebun-denes bindet. Das Dichterische ist das in Band und Maß Gehaltene,das Maßvolle. Überallhin geht das Dichterische auf das Nicht-Verlas-sen der Grenze, der Ruhe, des Bandes, des Maßes.« (GA4, 127)

Anders als in der Philosophie oder in den Naturwissenschaftenhat sich seit Sophokles in der Dichtung die Erinnerung an dieEndlichkeit des Menschen und seines Handelns erhalten.Indem die Dichtung dieses Erinnern selbst ist, kennt sie nichtnur die vereinseitigende Tendenz des »Ge-Stells«, alles als»machbar« zu betrachten. Sie ist sich auch bewusst, wie wenig»machbar« die existenziellen Nöte und Quellen unseres Lebenssind. Indem sie um das »Maß« weiß, weiß sie um das »zweideu-tige Wesen der Technik«, dass es die »Gefahr« und das »Ret-tende« zugleich ist.

Heideggers Interpretation der Technik als »Machenschaft«und »Ge-Stell« spricht Probleme an, die im 20. Jahrhundert in

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den Konzentrationslagern und der Atombombe unübersehbarzum Vorschein kamen.9

9 Diese Technik-Interpretation hat Heideggers Schüler GüntherAnders durch eine Medienkritik erweitert in Die Antiquiertheitdes Menschen, Bd. I, München 1956, Bd. II, München 1980.

Das 21. Jahrhundert sieht sich vor dasvon Heidegger bereits erkannte Problem gestellt, wie es mit derMöglichkeit umgehen wird, den Menschen gentechnisch »de-signen« zu können. Heidegger hat keinen Hehl daraus ge-macht, dass er die Chancen, mit diesen Problemen fertig zuwerden, nicht besonders hoch eingeschätzt hat. Noch im Spie-gel-Interview bemerkt er: »Die Technik in ihrem Wesen istetwas, was der Mensch von sich aus nicht bewältigt.« (GA16,669) Worauf Heidegger hinzuweisen versucht, ist, dass es nocheine freie Lebendigkeit gibt, die sich den technisch totalisieren-den Bewegungen in Politik und Wissenschaft verweigern kann.Dazu brauchte er Hölderlins Dichtung. Sie war für ihn so etwaswie ein Riss in einer sich totalisierenden Technikwelt, ein Spaltals Durchblick in ein anderes freies Dasein. An einer einzigarti-gen Stelle ihres Totalitarismus-Buches hat auch Hannah Arendtbetont, »daß nur die Dichter, die unbeirrt von allen Theorienfür die ›Kinder der Welt‹ sprechen, dem wirklichen Lauf derWelt unfehlbar verhaftet sind«.10

10 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 1998,S.325.

Für diese im Totalitarismus-Buch nicht häufig zu findenden feierlichen Worte, spricht auchein Vers der Dichtung Hölderlins. In der Hymne Wie wenn amFeiertage . . . heißt es: »Denn sind nur reinen Herzens, /Wie Kin-der, wir, sind schuldlos unsere Hände«. Wer Heideggers Aus-führungen über das »Wesen der Technik« beurteilen will, musssich bewusst sein, dass diese Ausführungen von einem Ort jen-seits der Lager und Kriege ausgehen, vom Ort der Dichtung.

160 Welt und Technik

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5.3 Ankunft im »Geviert«?

Das Sein und sein Sinn kann als die Offenheit der Weltcharakterisiert werden. Die Welt ist jedoch kein abstrak-ter Raum, in dem Menschen und Dinge vorkommen. Siewird vielmehr von bestimmten Elementen strukturiert,wobei der Aufbau dieser Struktur auf die vollständigeKonstellation der Elemente angewiesen ist. Fehlt eines,gibt es auch die Struktur nicht. Die vier Elemente der Weltsind Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterbli-chen. Da die Welt die einheitliche Konstellation dieservier Elemente ist, nennt sie der Philosoph Geviert. DieseStruktur dient nicht zu einer kosmologischen überkultu-rell-invarianten Weltvorstellung, sondern geschieht oderentzieht sich in der Geschichte. Nach Heidegger ist es diesich totalisierende Technik, die den Menschen davonabhält, ein Element des Gevierts zu werden.

Von Anfang an hat sich Heidegger mit der Frage nach dem ein-heitlichen Zusammenhang, in welchem alles Seiende unddarunter als das hervorragende das »Dasein« zueinander in einVerhältnis kommen, auseinandergesetzt. Diese einheitliche,alles differenzierende Struktur ist für ihn die »Welt«, die er frühals »Umwelt«, »Mitwelt« und »Selbstwelt« unter verschiede-nen Hinsichten betrachten kann (vgl. Kap.1). In Sein und Zeitist das »Dasein« als »In-der-Welt-sein« charakterisiert. Die»Welt« ist das, »worin« das »Dasein« lebt.

Diese Andeutung über die spezifische Räumlichkeit der Weltlässt sofort erkennen, dass die Welt, die Alles in sich enthält,kein Seiendes sein kann. Würde sie so gedacht, müsste sie alseine Art von begrenztem und seinen Inhalt begrenzendenBehälter vorgestellt werden. Einen solchen Super-Gegenstand

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jedoch gibt es nicht. Mit dieser Einsicht von der Ungegenständ-lichkeit oder, um es mit einem Wort Heideggers zu sagen,»Nichtseiendheit« der Welt ist eine Verbindung zwischen der»Seinsfrage« und dem Weltproblem evident. So offenbar es hiereine Verbindung gibt, so wenig ist aber Heidegger bereit, Weltund »Sein« als dasselbe zu bezeichnen. Zuletzt schien ihm das»Sein« ein ursprünglicheres Phänomen darzustellen, was sichinsofern verstehen lässt, als die platonische und aristotelischePhilosophie die Bedeutung des Welt-Begriffs, wie er erst in derNeuzeit zum Beispiel bei Kant auftaucht, nicht kennt. Trotz-dem muss uns auf Grund des ontologischen Status’ von Welt,dass sie nichts »Seiendes« ist, Heideggers Interesse am Weltpro-blem deutlich werden.

Der Umstand, dass die Welt kein »Seiendes« ist, zugleichaber auch nicht mit dem »Sein« identifiziert werden darf,bringt uns in eine missliche Lage. Was können wir dann eigent-lich über die »Welt« noch sagen, wenn der Begriff weder etwasBesonderes im Verhältnis zu etwas Allgemeinem, noch etwasAllgemeines für ein Besonderes darstellt (der Plural »Welten«löst dieses Problem nicht, sondern wiederholt es auf einer ande-ren Ebene)? Aus dieser scheinbaren Aporie befreit sich Heideg-ger mit einer Tautologie: »Welt weltet« (GA5, 30). Das »Sein«der Welt ist, dass sie »weltet«.

Mit dieser Tautologie möchte Heidegger die ganz eigene»Seinsweise« der Welt zur Sprache bringen. Ohne Zweifel istsie ungewöhnlich, in der Alltagssprache gibt es kaum Vergleich-bares, auch wenn es ein gewöhnliches Phänomen ist, dass Sub-stantiven gleichlautende Verbformen entsprechen: Das »Grün«»grünt«, der »Tag« »tagt«, der »Schuster« »schustert« etc. Wirbenutzen diese Verben mit dem impersonalen »Es«, um dieunschönen Wiederholungen zu vermeiden. In der Sache spre-chen wir jeweils eine Tautologie aus. Worauf es Heidegger an-kommt, ist, die ganz eigentümliche Weise ausdrücken zu kön-nen, in welcher die Welt »seinsmäßig« geschieht, ohne doch das

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»Sein selbst« zu sein. Dass Welt und »Sein« sich in dieser Nähebefinden, bezeugt nämlich Heideggers Äußerung aus demKunstwerk-Vortrag: »Welt weltet und ist seiender als das Greif-bare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben.« Das»Welten« ist ein intensiveres »Sein« als das »Sein«, das dembloß »Seienden« zukommt, ohne doch wie dieses gegenständ-lich zu sein. Doch was ist ein intensiveres »Sein«?

Dieser Gedanke erinnert an die platonische Ontologie, nachder es möglich ist, einen intensiveren Seinszustand des ontoson, des seienden Seienden, von einem nicht seienden Seienden,dem me on zu differenzieren. Aber Heidegger denkt in eineandere Richtung, wenn er erläuternd schreibt: »Wo die wesen-haften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von unsübernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt wer-den, da weltet die Welt.« (ebd., 31) Das intensivere »Sein« im»Welten« besteht in einer Verdichtung von Sinn, die sich im-mer dann zeigt, wenn »wesenhafte Entscheidungen unsererGeschichte« anstehen. Eine solche Sinndichte konnte man am11. September 2001 – ein Datum, das inzwischen nicht mehrkommentiert werden muss – erfahren. Es geschah etwas, das»Entscheidungen« evozierte. Die Welt als der einheitliche Zu-sammenhang von Verschiedenem wurde »seiender«.

Eine solche Intensivierung von Sinn spricht auch aus denfolgenden Bestimmungen der »weltenden Welt«: »Im Weltenist jene Geräumigkeit versammelt, aus der sich die bewahren-de Huld der Götter verschenkt oder versagt. Auch das Ver-hängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Weltweltet.« Im »Welten« sind die »Götter« anwesend, indem sieden Menschen Wohlwollen entgegenbringen oder sie, wie dievor Troja von Hektor sich abwendende Athene, ins Unglückgehen lassen. Davon unterscheidet Heidegger den Fall, dass»der Gott« »ausbleibt«, indem dieses als ein »Verhängnis«erscheint. Die Intensität des Sinnes liegt in diesem Fall darin,dass die Abwesenheit »des Gottes« als ein »Verhängnis« erfah-

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ren wird und nicht in einer alltäglichen Gleichgültigkeit ver-schwindet.

Eine solche Auffassung von Welt enthält offenbar folgendeMomente. Wenn das »Welten der Welt« von einer spezifischenVerdichtung von Sinn abhängig ist, dann ist ein bloßer raum-zeitlicher Zusammenhang von verschiedenen Dingen nichtschon als Welt zu bezeichnen. Das »Welten der Welt« scheintvon der gewöhnlichen Auffassung der Welt insofern abzuwei-chen, als Heidegger nicht allem, was zwischen Menschen vor-kommt, den Status zuspricht, in einer Welt zu erscheinen. Die»weltende Welt« scheint ein endliches Geschehnis zu markie-ren, sie ist nicht mit dem ewigen Kosmos der Griechen zu ver-wechseln. Mit anderen Worten: Heideggers Welt wird nichtvon kosmologischen, sondern von geschichtlichen Bedeutun-gen bestimmt.

Dieser Gedanke scheint unhaltbar zu werden, wenn wir unsder letzten wichtigen Auslegung des Weltproblems im Denkendes späten Heidegger zuwenden. Nun tritt im Kontext der »Ge-Stell«-Analysen ein weiterer Neologismus auf, der Aufsehenerregte. Heidegger erklärt, die »weltende Welt« sei das »Ge-viert«. So eigenartig auch dieses Wort zunächst erscheint, so istdoch aus seiner Erläuterung zu erkennen, wie genau es denSachverhalt trifft, den es bedeuten soll.

Das »Geviert« nennt vier Elemente, die in einer einheitlichenStruktur zusammenfinden: Es handelt sich um die zwei Paare»Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen« (GA79, 17). Das Präfix »Ge-« charakterisiert im Deutschen die Ver-sammlung von Verschiedenem, das zusammengehört. So ist einGebirge die Versammlung von verschiedenen miteinanderzusammenhängenden Bergen in einer Gesamtstruktur. Die vierElemente »Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterbli-chen« bezeichnet Heidegger dementsprechend als die »einigenVier«, die »sich in der Einfalt ihres aus sich her einigen Ge-vierts« versammeln.

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Eine so gedachte Struktur der Welt basiert auf einer Vielfaltvon Verhältnissen. Heidegger nimmt den Gedanken sehr ernst,dass das »Geviert« »weder durch Anderes erklärbar noch ausAnderem ergründbar« sei: Die Gesamtheit der Beziehungenund Verhältnisse kann nur in ihrer Vielfalt gemeinsam gegebensein oder eben nicht. Die Welt als »Geviert« hat keinen Grundin Gott oder im Subjekt, es gibt sie nur aus sich selbst herausoder nicht.

Doch die Strukturiertheit des »Gevierts« ist komplexer. Hei-degger betont wiederholt, dass jedes Element zwar einzelnbetrachtet, nicht aber isoliert »gedacht« werden könne. Bezüg-lich der Erde lautet dieser Gedanke folgendermaßen: »Sagenwir Erde, dann denken wir schon, falls wir denken, die anderenDrei mit aus der Einfalt des Gevierts.« Die Erde ist nur sieselbst, wenn sie sich mit dem »Himmel, den Göttlichen und denSterblichen« in einem Verhältnis befindet. Dies ist ein phäno-menologischer Hinweis, der an der Erde selbst sichtbar ge-macht werden kann. Die Erde kann nur, wie der Philosoph sagt,die »Fruchtende« sein, wenn sie vom Himmel den Regen emp-fängt. Mit der Fruchtbarkeit der Erde verbinden sich Geschich-ten von den »Göttlichen«. In der zuweilen auch heute nochgängigen Redensart von der »Mutter Erde« hat sich ein mythi-scher Rest von ihnen erhalten. Die »Sterblichen« werden(jedenfalls im christlichen Kulturkreis) in der Erde bestattet.Diese Beziehung, dass sich in jeweils einem »der Vier« »dieanderen Drei« zur Erscheinung bringen, gilt für alle Struktur-elemente. Da sich im »Geviert« auf diese Weise immer vier invier zugleich zeigen, sich vielfach gegenseitig spiegeln, nenntHeidegger die Gesamtheit dieser Beziehungen »Spiegel-Spiel«(ebd.,18).

Es wurde schon gesagt, dass sich das »Geviert« nicht als einkosmologischer Weltbegriff interpretieren lässt. Kosmologischist ein Weltbegriff, der eine invariante und überkulturelleStruktur der Welt behauptet. So könnte man behaupten, dass

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sich »die Vier« »Erde und Himmel, die Göttlichen und dieSterblichen« in jeder nur möglichen Welt, unabhängig von allerkulturellen Eigenart finden lassen. Wenn sich zwar empirischeine allgemeine Invarianz dieser Strukturelemente in allen Kul-turen ausmachen lässt, so trifft eine solche Anwendung des»Gevierts« doch nicht Heideggers Intention.

Warum das »Geviert« keine invariante, überkulturelle Welt-struktur ist, lässt sich am besten hinsichtlich des Paares »derGöttlichen und der Sterblichen« zeigen. Heidegger charakte-risiert »die Göttlichen« näher als »die winkenden Boten derGottheit« (ebd., 17). In dieser Bestimmung orientiert sich derPhilosoph einerseits an der Gestalt des Engels. Die Engel(angelloı) sind die »Boten«, die sich nach christlicher Auffas-sung im Raum zwischen Gott und Mensch befinden und Got-tes Ratschluss verkünden (z. B. die Empfängnis und GeburtChristi). Heidegger aber bezeichnet sie als »winkende Boten«.Ein »Wink« ist ein Hinweis auf etwas, das verborgen ist undmöglicherweise noch kommt. Dies ist nach Heidegger die»Gottheit«. Sie jedoch ist nicht schon »der Gott« selbst, son-dern so etwas wie eine Dimension, in welche sich »der Gott«erst einfinden kann. So schreibt er: »Aus dem verborgenen Wal-ten dieser [der Gottheit, P. T.] erscheint der Gott in sein Wesen,das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht.« Die»Göttlichen« sind noch nicht »der Gott«. Sie bereiten erst seinKommen vor. Damit bezieht sich Heidegger auf seinen früherausgeführten (vgl. Kapitel 4.3), in der zweiten Hälfte der drei-ßiger Jahre von Hölderlin angeregten Gedanken von einem»letzten Gott«, vom »Gott der Götter«.

Eine ähnliche philosophische Spezifikation finden wir imBegriff der »Sterblichen«. Ohne Zweifel bezieht sich Heideggerauf die bereits in der Ethik des Delphischen Orakels aufgekom-mene Bestimmung des Menschen als des »Sterblichen« (thne-ton). Diese ist dann in der griechischen Tragödie wichtiggeworden. Der Mensch ist der »Sterbliche« im Unterschied zu

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den unsterblichen Göttern. Vergisst er in der Hybris dieses Kri-terium, wird er von den Göttern streng daran erinnert. In derPhilosophie Platons und Aristoteles’, also am Anfang derabendländischen Metaphysik, wird dieser Gedanke abgewie-sen. Die Unsterblichkeit der Seele gilt bis in die neuzeitliche Phi-losophie hinein als ein Hauptproblem. Indem Heidegger sichauf diese vormetaphysische Auffassung des Menschseins zu-rückbezieht, versteht er dieses grundsätzlich im Kontext einerMeditation über die Geschichte.

Dass der Mensch der »Sterbliche« ist, bedeutet für Heideg-ger nämlich nicht, dass der Mensch so oder so sterben muss.Vielmehr seien sie die »Sterblichen«, »weil sie den Tod als Todvermögen«. Mit diesem Gedanken wird der Tod wie schonin Sein und Zeit als eine positive existenzielle Möglichkeitbetrachtet. Anders als die Tiere »können« wir sterben, indemwir den Tod als den Maßstab unseres Daseins übernehmen.

Für Heidegger ist entscheidend, dass der Mensch dieses»Vermögen« in den geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahr-hunderts immer wieder verraten hat. An diesem Punkt berührtsich Heideggers Erläuterung des »Gevierts« mit derjenigen des»Ge-Stells«. Vor dem Hintergrund totalitärer Phänomene derGewalt, die zu Millionen Toten führte und führt, lässt sich nichtsagen, dass der Mensch der »Sterbliche« sei:

»Hunderttausende sterben in Massen. Sterben sie? Sie kommen um.Sie werden umgelegt. Sterben sie? Sie werden Bestandstücke einesBestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Ver-nichtungslagern unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches – Mil-lionen verelenden jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden.«(Ebd.,56)

Der (»unauffällige«?) »Verwaltungsmassenmord« ist das Para-digma einer Auffassung vom Menschen, die Heideggers Be-stimmung, dass die Menschen die »Sterblichen« sind, wider-spricht und sie als eine mögliche Selbstauffassung des Men-

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schen verhindert. Für den Philosophen ist dieser Tod »in Mas-sen« ein »grausig ungestorbener Tod«, ein Verbrechen, dasdarin besteht, nicht nur das Leben, sondern darüber hinausauch den Tod der Menschen zu vernichten. Wie schon an ande-ren Stellen von Heideggers Bezugnahmen auf den Tod in den»Vernichtungslagern«, können wir auch hier eine verblüffendeÄhnlichkeit zu Hannah Arendts Totalitarismus-Analyse be-merken, schreibt sie doch:

»Indem die Konzentrationslager den Tod selbst anonym machten [. . .],nahmen sie dem Sterben den Sinn, den es immer hatte haben kön-nen. Sie schlugen gewissermaßen dem einzelnen seinen Tod aus derHand, zum Beweise, daß ihm nichts mehr und er niemandem mehrgehörte.«11

11 Ebd., S.930.

So gesehen hat Heidegger die »irrsinnige Massenfabrikationvon Leichen«12

12 Ebd., S.921.

in den Konzentrationslagern als denjenigenSachverhalt betrachtet, der es unmöglich macht, den Menschenals den »Sterblichen« zu charakterisieren. Dass er auch Hun-gerkatastrophen in Dritte-Welt-Ländern dabei berücksichtigte,ist möglicherweise ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Kritikan Heideggers ethisch-politischem Denken häufig zu weit geht.

Im Rahmen solcher Phänomene ist für Heidegger der Mensch»noch nicht der Sterbliche« (ebd., 56). Dies hat gewichtigeKonsequenzen für das »Geviert«. Seine Struktur ist, indem esden »Sterblichen« »noch nicht« gibt, unvollständig und dasheißt gar nicht gegeben. Eine spezifische Totalisierung des »Ge-Stells« »verstellt« das »Geviert«, hält es zurück, lässt es nichtzur Erscheinung kommen. Die »Welt weltet« nicht. Doch dasist nicht das letzte Wort. Es gehört zu den Grundgedanken vonHeideggers Philosophie, dass Absenz als solche dem geradebetrachteten Phänomen nicht widersprechen muss. Gemäß dervollen Struktur der »Wahrheit des Seyns« gehört dasjenige, was

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sich verbirgt, dieser Wahrheit selbst an. Wenn das »Geviert«nicht faktisch gegeben ist, bedeutet das nicht, dass dasjenige,was als seine Struktur ausgeführt wird, das Zusammengehörenvon »Erde und Himmel, den Göttlichen und den Sterblichen«,Unsinn ist. Was verweigert wird, ist nicht unmöglich. Insofernkann es nicht verwundern, dass Heidegger darauf hinweist,»jäh vermutlich« könne doch einmal die »Welt welten«(ebd.,21).

Diese Aussage am Schluss des Vortrags Das Ding lässt frei-lich wieder das Problem aufkommen, inwiefern ein solchesErscheinen des »Gevierts« bloß prophetisch in Aussicht gestelltoder ob dem Menschen eine Möglichkeit gezeigt wird, wie ersich in seiner Praxis zu diesem möglichen Erscheinen des»Gevierts« oder seiner Verhinderung verhalten kann. Bleibtuns nur ein »Warten auf Godot«? Mir scheint Heideggers Hin-weis auf die entsetzlichen Geschehnisse in den »Vernichtungs-lagern« eine mögliche Antwort zu enthalten. Nach dieser mussjeder normativ-moralischen Kriteriologie eine aufmerksameAnalyse der Totalisierungen, die sich in den totalitären Herr-schaftsgebilden des 20. Jahrhunderts offen gezeigt haben, dieaber keineswegs auf diese zu beschränken sind, vorangehen.Eine zeitgemäße Ethik müsste aus dieser Analyse unkorrum-pierbare Schlüsse ziehen. In dieser Hinsicht scheint mir wenigerdie formalistisch bleibende »Diskursethik« von Jürgen Haber-mas aus dieser Analyse gelernt zu haben als die nicht-normativeEthik des Emmanuel Levinas, die auch dann einer innerenMotivation von Heideggers Denken treu bleibt, wenn sie dieseszuweilen erbittert bekämpft.

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6 Rezeption und Wirkung

Die Auswirkungen von Heideggers Philosophie auf dasgeistige Klima Europas und darüber hinaus der ganzenWelt sind unübersehbar. Die aktuelle französische Philo-sophie ist ohne sie nicht zu verstehen. Keine Geisteswis-senschaft konnte sich ihrem Einfluss entziehen, wenn sichauch die eine, wie die Literaturwissenschaft, mehr, dieandere, wie die Soziologie, weniger beeindruckt zeigte.Allerdings liegt der Höhepunkt dieser Wirkung ungefährein halbes Jahrhundert zurück. Es kann festgestellt wer-den, dass Heidegger einer der am meisten übersetztendeutschen Philosophen ist. Sowohl in Asien als auchAmerika hat sein Denken unübersehbare Spuren hinter-lassen. Dagegen lässt sich in der gegenwärtigen akademi-schen Philosophie Deutschlands seine Verdrängung kon-statieren.

Für die europäische Philosophie ist Heideggers Denken in viel-fältiger Weise wichtig geworden. Ihr größter Einfluss ist herme-neutischer Natur. Sie hat das Lesen revolutioniert. Hans-GeorgGadamers »Hermeneutik« und Jacques Derridas »Dekonstruk-tivismus« haben von Heideggers »destruktiver« Interpretation

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der metaphysischen Philosophietradition sichtlich gelernt. Da-neben hat Heideggers Denken mit seiner Betonung eines dialo-gischen Verhältnisses von »Sein« und »Seiendem« Philosopheninspiriert, welche die »Ethik« in die Mitte ihrer Überlegungensetzen, wobei Peter Sloterdijk und vor allem Emmanuel Levi-nas zu nennen wären. Eine weitere wichtige transformierendeFortsetzung von Heideggers Philosophie stellt die »politischeEthik« Hannah Arendts dar.

Heideggers Philosophieren hat immer wieder auch kritischeoder polemische Auseinandersetzungen hervorgerufen. Ich wer-de hier paradigmatisch lediglich auf die Kritiken von RudolfCarnap, Theodor W. Adorno und Günther Anders verweisen.

Zum Abschluss soll ein anderer Rezeptionstyp des Heideg-gerschen Denkens berücksichtigt werden. Heideggers Philoso-phie ist nicht nur von Geisteswissenschaftlern und Philoso-phen, sondern auch von Schriftstellern und Dichtern entdecktworden. So ist bekannt, dass Ingeborg Bachmann über einThema aus Heideggers Sein und Zeit promovierte und PaulCelan schon in den fünfziger Jahren aufmerksam die ihm vonHeidegger nach Paris zugesandten Texte las. Ich will mit knap-pen Hinweisen auf die Anwesenheit Heideggerscher Denkat-mosphäre in den Werken von Botho Strauß und Peter Handkemeine Einführung in das Denken Martin Heideggers beschlie-ßen.

Hans-Georg Gadamer ist ein Schüler Heideggers aus derMarburger Zeit. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode.Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik von 1960 isteine Fortsetzung der »phänomenologischen Hermeneutik«, dieHeidegger noch in Sein und Zeit als den Kern seiner Methodedarstellt. Dieses Werk beeinflusste in den sechziger Jahren dieGeisteswissenschaften insgesamt. In Gadamers »Hermeneu-tik« wird das Auslegen von Texten jedoch nicht mehr bloßals Methode verstanden. Für Gadamer ist das Philosophierenselbst ein Sprechen-lassen der »Überlieferung«. »Überliefe-

171Rezeption und Wirkung

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rung« bringt sich nicht als ein reiner Textcorpus zur Erschei-nung, sie muss vielmehr – und auch hier folgt er einem Heideg-gerschen Gedanken – »hermeneutisch erfahren«1

1 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einerphilosophischen Hermeneutik, Tübingen 6/1990, S.363.

werden. Indem Gedanken einer »eigentlichen Erfahrung« als »Erfahrungder eigenen Geschichtlichkeit« kehrt Heideggers Auslegungeiner in der »Eigentlichkeit« durchsichtig gewordenen »Fakti-zität des Lebens« wieder.

Derridas Rezeption der Heideggerschen Philosophie ist inseinen Texten allgegenwärtig, ohne als solche immer eindeutigerkennbar zu sein. Im Spannungsfeld von »Schrift«, »Text«und »Sprache« erhellt Derrida einen von der Vorherrschaft desmetaphysischen Denkens hervorgetriebenen »Logozentrismus«und »Phonozentrismus«, der die ursprünglichere Bedeutungder »Schrift« und des »Textes« verstellt.2

2 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S.16f.

Diese ursprünglichereBedeutung der »Schrift« kann nicht als Grund oder Prinzipverstanden werden. Sie bleibt vielmehr von der »differance«,einem Differieren im doppelten Sinne als »aufschieben« und»verschieden sein«, das heißt von einem Grund verweigerndenGrund bestimmt. Obwohl Heideggers Denken einerseits in derGeschichte des »Logozentrismus« verbleibt, beschreibt seinePhilosophie den »Abschluss (cloture)« einer Epoche, aus derdas Denken nicht herauszutreten vermag, indem es sie gleich-zeitig verlassen hat. Die Auseinandersetzung mit dieser Epocheist für Derrida ein Projekt der »Dekonstruktion«, eines Abbausvon Bedeutungen, die die »differance« verstellen, der zugleicheinen anderen Sinn oder, was im Werke Derridas immer deut-licher wird, eine andere Ethik entfaltet.

Heideggers Philosophie bildet einen nicht zu unterschätzen-den Einfluss auf die Texte Peter Sloterdijks. Dies zeigt sichnatürlich vor allem in seiner letzten veröffentlichten Aufsatz-

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sammlung Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. In einerVorbemerkung schreibt er:

»Die Leistung Heideggers – und ihretwegen die Unentbehrlichkeit sei-ner Stimme im Gespräch der gegenwärtigen mit den künftigen Zeiten– besteht nach meinem Dafürhalten darin, daß er unter dem Titel derFrage nach dem Sein zeitlebens an einer Logik der Verbindlichkeitgearbeitet hat, die, noch vor der Trennung zwischen Ontologie undEthik, dem Widerspiel von losreißenden und verpflichtenden Tenden-zen im Dasein der Sterblichen und Geburtlichen auf der Spur blieb.«3

3 Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frank-furt/M. 2001, S.8f.

Möglich, dass der Titel »Logik der Verbindlichkeit« Heideg-gers Intentionen nicht klar erfasst. Trotzdem verweist er auf einElement von Heideggers Denken, das in der Tat von epochalerBedeutung zu sein scheint. Heidegger ist von Anfang an daraninteressiert, die Möglichkeit eines Verhältnisses zwischen zwei-en als die eigentliche Sache des Denkens zu erörtern. DieseMöglichkeit lässt sich wohl als potentielle »Verbindlichkeit«charakterisieren, nicht aber in einer »Logik« lokalisieren. Viel-mehr ist ihr Heidegger auf verschiedenen Wegen und Abwegenzur »Sprache« auf der Spur.

Emmanuel Levinas hat einmal in einem Interview seine»Bewunderung und Enttäuschung«4

4 Emmanuel Levinas, »Bewunderung und Enttäuschung«, in: Gün-ther Neske u. Emil Kettering (Hg.), Antwort. Martin Heidegger imGespräch, a.a.O., S.163ff.

gegenüber HeideggersDenken ausgedrückt. So betont er, dass mit Heidegger »die›Verbalität‹ des Wortes Sein wiedererweckt worden« sei. DieseGeschehnishaftigkeit des »Seins« habe Heidegger als »Ereig-nis« gedacht. Die spezifische Verbindung zwischen der »Bedeu-tung von Sein als Verb« und dem Denken von Levinas liegtdarin, dass mit Heideggers Denken die Phänomenologie ausdem »transzendentalen Programm« Husserls ausschwenkte,um mit der Zeitlichkeit des »Seins« den Boden zu entdecken,

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auf dem praktische Fragen und Erfahrungen bedeutsam wer-den konnten. Der hervorragende Gedanke von Levinas, dasssich das »Selbst« des Subjekts durch den Anspruch des »Ande-ren« erst konstituiert, scheint mit Heideggers ständigen Denk-versuchen, das »Ereignis« aus dem Entgegenkommen zweierRelata zu erklären, zusammenzuhängen. Darüber hinaus teiltLevinas mit Heidegger die Ansicht, dass nach der Shoah dasDenken sich grundlegend ändern müsse, auch dann, wenn bei-de diese Ansicht auf verschiedenen Wegen verwirklicht haben.

Dieser Anstoß treibt auch das Denken Hannah Arendts. DieMarburger Schülerin und Geliebte Heideggers denkt in allihren Arbeiten in dessen Nähe, auch wenn sie die »Seinsfrage«nicht thematisiert. So wird in ihrem überaus wichtigen WerkElemente und Ursprünge totaler Herrschaft5

5 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.Imperialismus, Antisemitismus, totale Herrschaft, München 1998,S.913.

von 1951 bzw.1955 bereits der Einfluss eines gründlichen Studiums von Seinund Zeit deutlich. Auch Arendts bedeutsame Studie Vita activaoder Vom tätigen Leben aus dem Jahre 1960 ist vor allem in denletzten Paragraphen unübersehbar von Heideggers Technik-Analyse inspiriert.6

6 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart1960, S.244ff.

Wenn Hannah Arendts »politische Ethik«von Heideggers Denken mitbestimmt wird, ließe sich auch vonArendt aus eine »politischere« Heidegger-Interpretation insLeben rufen.

Ein besonderes Kapitel der aktuellen Diskussion um Heideg-gers Denken stellt das Verhältnis der sprachanalytischen Phi-losophie zu diesem Denktypus und seinen Nachfolgern dar.Ein Beispiel für die auf beiden Seiten bestehenden immensenSchwierigkeiten einer Annäherung ist Rudolf Carnaps 1932 er-schienener Aufsatz The Overcoming of Metaphysics throughLogical Analysis of Language (Überwindung der Metaphysik

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durch Logische Analyse der Sprache). In diesem Text zeigtCarnap anhand einiger Sätze von Heidegger und Hegel, in-wiefern diese Art und Weise des Denkens »meaningless«7

7 Rudolf Carnap, »The Overcoming of Metaphysics through LogicalAnalysis of Language«, in: Michael Murray (Hg.), Heidegger andModern Philosophy, Yale University Press: New Haven and Lon-don 1978, S.26f., 27f., 32, 33.

(»be-deutungslos«) ist. Die Sätze dieser Denker verfangen sich im-mer wieder in eigentümlichen Fallen der Sprache, denen keinevon den »empirical sciences« (»Erfahrungswissenschaften«)erforschbaren »empirical facts« (»Erfahrungstatsachen«) ent-sprechen. Darum bezeichnet Carnap einen solchen Denktypusnoch nicht einmal als »mere speculation« (»pure Spekulation«)oder »fairy tales« (»Märchen«), sondern als »phraseology«und »pseudostatement«. Sie dürfen lediglich als »expression ofthe general attitude of a person toward life«, also als der Aus-druck eines »Lebensgefühls« gelten. In diesem Sinne charakte-risiert er Denker wie Heidegger, Hegel oder auch Nietzsche als»musicians without musical ability« (»Musiker ohne musikali-sches Talent«). Der philosophische Graben, der zwischen einersolchen Kritik und dem Heideggerschen Denken besteht, istdeutlich.

Im Jahre 1964 erscheint Theodor W. Adornos kritischer TextJargon der Eigentlichkeit. Der Titel erinnert an HeideggersErörterung der »Eigentlichkeit« in Sein und Zeit. Mahnendschreibt Adorno: »In Deutschland wird ein Jargon der Eigent-lichkeit gesprochen, mehr noch geschrieben, Kennmarke ver-gesellschafteten Erwähltseins, edel und anheimelnd in eins;Untersprache als Obersprache.« Was Adorno Heidegger vor-wirft, ist der »Provinzialismus« seines Denkens und ein ihmunterstellter Glaube an das »Unmittelbare«, eine »Ideologie alsSprache, unter Absehung von allem besonderen Inhalt«.8

8 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M.1964, S.9, 44ff., 65, 132.

Der

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in typisch Adornoscher Manier stilisierte Text stellte zweifels-ohne eine Kampfansage dar. Heidegger selbst reagiert nicht,schreibt kein Wort über Adorno. Das Urteil, ob Adorno mit sei-nen kritischen Invektiven das Zentrum der HeideggerschenPhilosophie trifft, die Frage, ob sich von diesen Angriffen etwasüber Heideggers oder Adornos Theorien lernen lässt, möchteich der individuellen Lektüre zur Klärung überlassen.

Günther Anders war zwischen 1921 und 1924 ein SchülerHeideggers. Erst im Jahre 2001 erschienen kritische scharfsin-nige Aufzeichnungen, die belegen, dass Anders sich über Jahr-zehnte intensiv mit dem Denken seines Lehrers auseinander-setzte. Ähnlich wie Levinas moniert er, dass Heidegger zwareinerseits die Philosophie des 20. Jahrhunderts entscheidendvitalisiert, andererseits aber ethisch-politische Merkmale dermenschlichen Existenz stark vernachlässigt habe. So habe Hei-degger durch ein starres Festhalten an »dem Dasein« die Plura-lität des freien Menschseins nicht berücksichtigt.9

9 Günther Anders, Über Heidegger, hg. v. G. Oberschlick, München2001, S.61ff., 278ff.

Zudem mar-kiert der Kritiker an Heideggers Philosophie eine Blindheit fürdie basal-menschliche Bedürftigkeit des Leibes. Warum sprecheHeidegger in Sein und Zeit abstrakt von der »Geworfenheit«,wenn alles »Dasein« zum Beispiel von »Hunger« geleitet wer-de? Heideggers Spätwerk wird als »Sprach-Esoterik« und»Frömmigkeitsphilosophie« dekuvriert.

Als im Jahre 1993 Botho Strauß’ Essay AnschwellenderBocksgesang erschien, schlug in den Feuilletons genauso schnellEmpörung hoch, wie sie wieder abflaute. Mit diesem Text stelltStrauß eine Verbindung zu Heideggers und Ernst Jüngers Den-ken her, indem er schreibt: »Sie haben Heidegger verpönt undJünger verketzert – sie müssen jetzt dulden, daß neben dem gro-ßen Schritt dieser Autoren, Dichter-Philosophen, ihr braverInsurgenteneifer wie eine trockene Distel übrigbleibt am

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Wegesrand.«10

10 Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemer-kungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München u. Wien1999, S.66.

Strauß’ Annäherung an Heidegger in seinenTheaterstücken und Romanen bezieht sich vor allem auf dievom Denker wach gehaltene Frage, wie der Mensch in einersich technisch vergegenständlichenden Welt mit den Anderenund sich selbst jenseits dieser Verhärtungen existieren kann.

In einem Interview von 1986 bekennt Peter Handke, dass esihm darum gehe, »das Wort ›Welt‹ wieder an einer Stelle einfü-gen oder anfügen. . . eine Stelle für es finden« zu können, »wo esaus dem Schatten wieder heraustritt ans Licht«. Diese Intentionfühle er auch bei Heidegger, der es »ja [. . .] ungeheuer versucht«habe.11

11 Peter Handke, Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. EinGespräch geführt von Herbert Gamper, Zürich 1987, S.206.

Zugleich jedoch distanziert er sich von der zu »dichtenFügung« der Worte in Heideggers Sätzen. Doch ist nicht nur eininhaltlicher Anklang an Heideggers Denken zu hören, wennHandke bis hin zu identischem Wortlaut an den Philosophenerinnernd schreibt:

»Ein Flußübergang ließ sich spüren als Brücke; eine Wasserflächewurde zum See; der Gehende fühlte sich immer wieder von einemHügelzug, einer Häuserreihe, einem Obstgarten begleitet, der Innehal-tende dann von etwas Leibhaftigem umgeben, wobei das Gemeinsameall dieser Dinge die gewisse herzhafte Unscheinbarkeit gewesen ist,eine Allerwelthaftigkeit: eben das Wirkliche, welches wie wohl nichtssonst jenes Zuhause-Gefühl des ›Das ist es, jetzt bin ich endlich hier!‹ermöglicht.«12

12 Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land. EineWirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerungen an Slowenien,Frankfurt/M. 1991, S.13f.

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Literatur

Ausgewählte Schriften von Martin Heidegger

Sein und Zeit. Erste Hälfte, Halle an der Saale 1927Unbestritten Heideggers bisher einflussreichster Text. Das Studiumder Ausführungen über die Frage nach dem »Sinn von Sein«, der»Daseinsanalytik« und des Verhältnisses von »Zeitlichkeit« und»Geschichtlichkeit« ist die Voraussetzung für jedes Verständnis derHeideggerschen Philosophie.

Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/M. 1929Heideggers Kant-Interpretation rühmt sich einer gewissen »Ge-waltsamkeit« (Heidegger), führt damit jedoch in die Problematikder »Interpretation« erst ein.

Holzwege, Frankfurt/M. 1950Heidegger stellt zum ersten Mal eine Anzahl von Aufsätzen undVorträgen zusammen, die zwischen 1935 und 1946 entstandensind. Zu ihnen gehört der Text über den »Ursprung des Kunstwer-kes« (1935/36) oder »Hegels Begriff der Erfahrung«. Sie gebeneinen Einblick in das spätere Denken des Philosophen.

Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953Formal leicht veränderte Freiburger Vorlesung aus dem Sommer1935. Enthält eine wichtige Betrachtung über die »Beschränkungdes Seins« in den alltäglichen Wendungen »Sein und Werden; Seinund Schein; Sein und Denken; Sein und Sollen«.

Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 1954Komponierte Sammlung einiger sehr verdichteter Sprüche. Andersals in Heideggers Gedichten gelingt die vieldeutige Besinnung.

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Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954Enthält Texte aus den vierziger und fünfziger Jahren. Lediglich die»Überwindung der Metaphysik« geht auf Aufzeichnungen aus dendreißiger Jahren zurück. Eine der wichtigsten Intentionen des Den-kers findet in diesen Aufzeichnungen eine für den gesamten Heideg-gerschen Textcorpus gültige Gestalt.

Was heißt Denken?, Tübingen 1954In den Jahren 1951 und 1952 gehaltene Vorlesung des Philosophen.Sie dokumentiert Heideggers einzigartige, nachgerade dramaturgi-sche Begabung, eine Vorlesung zu entwickeln.

Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1956/57. Heideggerhat seinen Alterston gefunden. Im Vergleich zu früheren Textenmacht sich eine gelassene Könnerschaft vor polarisierender Kraftgeltend.

Identität und Differenz, Pfullingen 1957Besteht aus den Vorträgen »Der Satz der Identität« und »Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik«. Diese sind wesentlich,um Heideggers gegenüber der großen Philosophietradition (hierbesonders Hegel) modifiziertes Verhältnis von »Differenz« und»Identität« zu verstehen.

Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959Enthält unter anderem die Interpretationen von Gedichten GeorgTrakls und Stefan Georges aus den fünfziger Jahren. Für mich dasschönste Buch des Philosophen.

Nietzsche I/II, Pfullingen 1961Bringt die Texte von zwischen 1936 und 1940 gehaltenen Nietzsche-Vorlesungen mit anderen kleineren Zusätzen. Sie bilden den Kern der»Nihilismus«-Analysen, die den Rahmen für Heideggers Technik-Deutung abgeben. Heideggers Nietzsche-Interpretation wird unteranderem von Derrida als einseitig gekennzeichnet, doch klüger alsandere Kritiker dieser Interpretation ist er sich der Notwendigkeitder Einseitigkeit einer philosophischen Auslegung von Texten be-wusst. So bin ich der Ansicht, dass jede Beschäftigung mit Nietzschenach wie vor an Heideggers Interpretationen nicht vorbeikommt.

Wegmarken, Frankfurt/M. 1967Heideggers vierte und letzte größere Sammlung von Vorträgen undAufsätzen, die Texte aus dem Zeitraum 1919 bis 1961 enthält.

179Literatur

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Unter ihnen befindet sich zum Beispiel »Vom Wesen des Grundes«(1929), »Vom Wesen der Wahrheit« (1930) und ein offener Brief anErnst Jünger mit dem Titel »Zur Seinsfrage« (1955).

Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969Enthält die überaus wichtigen späten Vorträge »Zeit und Sein«sowie »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«.In ihnen befinden sich die spätesten Modifikationen der Heidegger-schen Philosophie von Belang.

Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit»1809«, hg.v. Hildegard Feick, Tübingen 1971Bringt die Freiburger Vorlesung über Schelling aus dem Sommerse-mester 1936. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Heidegger inSchellings Text einführt, ohne den eigenen philosophischen Stand-punkt gegen ihn auszuspielen.

Frühe Schriften, Frankfurt/M. 1972Enthält unter anderem die Dissertation und die HabilitationsschriftHeideggers sowie den Aufsatz »Der Zeitbegriff in der Geschichts-wissenschaft«.

Vier Seminare, Frankfurt/M. 1977Versammelt die Protokolle aus den Seminaren, die Heidegger zwi-schen 1966 und 1973 in Le Thor und Zähringen abgehalten hat. Siesind für die französische Rezeption von Heideggers Denken vongrößter Bedeutung.

Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/M. 5/1981Enthält Aufsätze und Vorträge über Hölderlins Dichtung aus denJahren zwischen 1936 und 1968. Heideggers Philosophie ist ohneein Studium dieser Texte nicht zu verstehen.

Heraklit, GA55, hg.v. Manfred S.Frings, Frankfurt/M. 2/1987Der Band der Gesamtausgabe bringt zwei Vorlesungen aus denSommern 1943 und 1944. Sie belegen Heideggers inspirierten Um-gang mit den Sprüchen des vorsokratischen Philosophen. Heraklitwird zu einem Zeitgenossen.

Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA65, hg.v. Friedrich-Wil-helm von Herrmann, Frankfurt/M. 1989Wohl zwischen 1936 und 1938 entstandene kurze und längere sehrdichte Aufzeichnungen, die in einen systemähnlichen Zusammen-hang gebracht werden. Sie sind in ihrer Bedeutung mit Sein undZeit zu vergleichen.

180 Literatur

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Bremer und Freiburger Vorträge, GA79, hg.v. Petra Jaeger, Frankfurt/M. 1994Vorträge, die Heidegger 1949 und 1957 gehalten hat. Vor allem die»Bremer Vorträge« sind für die Beschäftigung mit HeideggersTechnik-Analyse einschlägig.

Feldweg-Gespräche, GA77, hg.v. Ingrid Schüßler, Frankfurt/M. 1995Enthält drei Texte – unter anderem das Gespräch über die »Gelas-senheit« – in Dialogform aus der Nachkriegszeit. Vielleicht findetHeideggers Denken hier seine ihm angemessenste Form. Die Textegehören zum Schönsten, was Heidegger geschrieben hat.

Phänomenologie des religiösen Lebens, GA60, hg. v. Matthias Jung,Thomas Regehly und Claudius Strube, Frankfurt/M. 1995Die Vorlesungs-Texte stammen aus der frühen Zeit von 1918 bis1921. Sie sind wichtig, weil sie die Bedeutung des Christentums fürdas Heideggersche Denken belegen.

Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, GA 16, hg. v. Her-mann Heidegger, Frankfurt/M. 2000Der voluminöse Band (842 S.) versammelt Texte aus dem Zeitraumzwischen 1910 und 1976. Er enthält unter anderem alle Texte, dieim Zusammenhang von Heideggers politischem Engagement fürdie Nationalsozialisten von Bedeutung sind. Wer sich mit diesemProblem auseinandersetzt, muss auf diesen Band zurückgreifen.

Ausgewählte Schriften zu Martin Heidegger

Beaufret, Jean, Wege zu Heidegger, Frankfurt/M. 1976 (frz. Dialogueavec Heidegger. I. Philosophie Grecque, Paris 1973)

Bernasconi, Robert, The question of language in Heidegger’s historyof being, Humanities Press Inc.: New Jersey 1985

Bourdieu, Pierre, Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frank-furt/M. 1976 (frz. L’ontologie politique de Martin Heidegger,1975)

Derrida, Jacques, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972(frz. L’ecriture et la differance, Paris 1967)

Figal, Günter, Martin Heidegger zur Einführung, Hamburg 4/2003

181Literatur

Page 183: Peter Trawny Martin Heidegger

Gadamer, Hans-Georg, Heideggers Wege. Studien zum Spätwerk,Tübingen 1983

Löwith, Karl, Heidegger – Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt/M.1953

Ott, Hugo, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frank-furt/New York 1988

Pöggeler, Otto, Heidegger in seiner Zeit, München 1999Habermas, Jürgen, »Martin Heidegger – Werk und Weltanschauung«,

in: ders.: Texte und Kontexte, Frankfurt/M. 1991, S.49–83Heidegger und die praktische Philosophie, hg. v. Annemarie Geth-

mann-Siefert und Otto Pöggeler, Frankfurt/M. 1988von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers

Beiträgen zur Philosophie, Frankfurt/M. 1994Janicaud, Dominique, Heidegger en France, 2 Bände, Paris 2001Mörchen, Hermann, Adorno und Heidegger. Untersuchungen einer

philosophischen Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981Safranski, Rüdiger, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine

Zeit, München und Wien 1994Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Frankfurt/M.

1991ff.Schürmann, Rainer, Le Principe d’Anarchie. Heidegger et la Question

de l’Agir, Paris 1982Sloterdijk, Peter, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frank-

furt/M. 2001Thomä, Dieter, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach. Zur Kritik der

Textgedichte Martin Heideggers 1910–1976, Frankfurt/M. 1990Trawny, Peter, Heidegger und Hölderlin oder Der Europäische Mor-

gen, Würzburg 2003

182 Literatur

Page 184: Peter Trawny Martin Heidegger

Glossar

Dasein Der Mensch ist ein »Seiendes«, das »terminologisch alsDasein« (GA2, 16) gefasst wird. Dabei ist es insofern ein besonderes»Seiendes«, als »es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Seinselbst geht«. Das »Dasein« vermag die Frage nach dem »Sinn vonSein« zu stellen, wozu Pflanzen und Tiere nicht in der Lage sind. In derAussage, der Mensch ist »Dasein«, wird nicht einfach das zweite alseine Eigenschaft des ersten betrachtet. Das »Dasein« ist die »Erschlos-senheit« des »Seins«, eine »Offenheit«, von der aus das »Dasein« dasandere »Seiende« und das »Sein selbst« erfahren und bedenken kann.Deshalb kann Heidegger einfach sagen, das »Dasein« sei das »Sein desDa«.

Differenz Zwischen dem »Sein« und dem »Seienden« gibt es eine»Differenz«. Diese besteht darin, dass das »Seiende« im weitestetenSinne gegenständlich gegeben ist, das »Sein« jedoch nicht. Diese»ontologische Differenz« (GA 24, 322 ff.) ist ein vielfach bedachtesund modifiziertes Grundphänomen im Denken Heideggers. Es stehtmit der Frage nach der »Welt« und der »Transzendenz« in einer engenBeziehung. Diese »Differenz« ist für die Geschichte der gegenwärtigenPhilosophie besonders wichtig geworden, weil es eine »Differenz« ist,die nicht in einer übergeordneten »Identität« aufgehoben und darumauch nicht angeeignet werden kann.

Ereignis Das »Ereignis« ist ungefähr seit dem Jahre 1936 (GA65) das»Grundwort« im Denken Heideggers. Das »Ereignis« ist eine einheit-liche, in sich differenzierte zeitlich-geschichtliche Struktur, in der ver-

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schiedene Elemente (»Da-sein«, »Götter«, »Welt«, »Erde«) in einejeweils bestimmte Konstellation gelangen (ebd.,470ff.). Dabei ist ent-scheidend, dass es nicht ein gegenständlich zu fassendes historischesGeschehnis ist. Es kennzeichnet vielmehr die Weise, wie Geschichte imZusammenspiel ihrer wichtigsten Strukturelemente (z. B. handelndeMenschen und Götter) geschieht.

Faktizität des Lebens Die »Faktizität des Lebens« (GA58, 102ff.) istdas Hauptphänomen für Heideggers Denken am Beginn der zwanzi-ger Jahre. »Leben« wird hier als eine Selbstbezüglichkeit der Existenzverstanden. Im »Leben« geht es bei allem, was wir tun und denken, umuns. Seine »Faktizität« besteht in dieser unmittelbaren Bedeutung undBeziehung der Erscheinungen auf unsere jeweilige Existenz. Insofernist die Wendung »Faktizität des Lebens« eigentlich ein Pleonasmus.

Fundamentalontologie Als »Ontologie« wird seit dem frühen17. Jahrhundert eine auf Platon und Aristoteles zurückgehende Theo-rie des »Seins« bezeichnet. In ihr werden verschiedene »Regionalonto-logien«, das sind verschiedene Bereiche des »Seins« (z. B. Natur,Kunst) unterschieden. Heidegger verweist in Sein und Zeit darauf,dass die »Ontologie« auf der »fundamentaleren« Frage nach dem»Sinn von Sein« begründet werden muss. So kann sich eine »Funda-mentalontologie« bilden, die als »Fundament« für alle mit den Gegen-ständen der »Regionalontologien« beschäftigten Wissenschaften die-nen kann (GA2, 12ff.).

Geschichte Die Gesamtheit der Existenzmöglichkeiten des Men-schen befinden sich in einem spezifischen Milieu der »Geschichte«.Die alltägliche Praxis und auch die wissenschaftliche Theorie hatgewisse Bedingungen, über die sie nicht verfügen kann. Darum kannHeidegger sagen, dass der Mensch »geschichtlich« existiert (GA 2,492 ff.). Die »Geschichte« ist nicht zu verwechseln mit der »Ge-schichtswissenschaft«. Immer wieder macht Heidegger darauf auf-merksam, dass selbst noch die theoretisch-methodischen Überein-künfte dieser Wissenschaft »geschichtlich« sind, sich aus der »Ge-schichte« ergeben. Heideggers späteres Denken versucht zu zeigen,inwiefern die Bedingungen von Theorie und Praxis aus dem »Seinselbst« »geschichtlich« entspringen. Hier wird die »Geschichte« als»Seinsgeschichte« gedacht (GA65, 494).

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Gestell Der Begriff des »Gestells« oder »Ge-Stells« dient ungefährseit dem Ende der vierziger Jahre dazu, das »Wesen der Technik« zucharakterisieren (vgl. GA79). Die Technik wird als ein in vielen Hin-sichten differenziertes »Stellen« (herstellen, bestellen, hinstellen, ein-stellen, darstellen, vorstellen, aufstellen, ausstellen etc.) betrachtet.

Geviert »Geviert« ist die Bezeichnung für eine in spezifischer Weiseinterpretierte Struktur der »Welt« (vgl. GA 79). Es besteht aus der»Konstellation« der vier Elemente »Erde und Himmel, die Göttlichenund die Sterblichen«. Es ist wichtig, zu berücksichtigen, dass das»Geviert« keine interkulturell invariante Weltstruktur ist, sondernselbst vom »Ereignis« aus gesehen »geschichtlich« geschieht odernicht geschieht.

Grundstimmung Im Rahmen seiner »Daseinsanalytik« von Sein undZeit machte Heidegger darauf aufmerksam, dass jedes Handeln und»Verstehen« von bestimmten »Stimmungen« begleitet wird (GA 2,178 ff.). Diese »Stimmungen« sind keine nebensächlichen Merkmaledes »Daseins«, sondern sie eröffnen oder verstellen bestimmte Ver-stehensvollzüge, die wiederum das Handeln leiten. Dieses Eröffnenund Verstellen betrifft auch theoretische Erkenntnisakte. Indem die»Stimmungen« eine tiefere »geschichtliche« Bedeutung bekommen,bezeichnet Heidegger sie als »Grundstimmungen«. Die »Grundstim-mungen« stammen auf nicht kausale Weise aus der »Geschichte« undder sie strukturierenden Instanz, dem »Ereignis« (GA 65, 256). Mitdieser Phänomenologie der »Grundstimmungen« ist Heidegger (wo-möglich neben Max Scheler) der einzige Philosoph des 20. Jahrhun-derts, der das in der griechischen Philosophie sehr wichtige Phänomendes Pathos wirklich ernstgenommen hat.

Metaphysik »Metaphysik« ist die Bezeichnung für die Geschichte derPhilosophie seit Platon und Aristoteles. Sie wird nach Heidegger durchwenige verschiedene fundamentale Merkmale wie dem Unterschiedzwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen oder der durchgängigenVergegenständlichung aller Phänomene (z. B. selbst des Göttlichen)bestimmt. Die Unmöglichkeit der »Metaphysik«, ihre eigenen durchdiese Merkmale abgesteckten Grenzen zu reflektieren und zu über-schreiten, sowie eine ihr entspringende Prägung der »Geschichte« inKrieg und technischer Ausbeutung hat Heidegger Mitte der dreißiger

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Jahre dazu gebracht, an eine »Überwindung der Metaphysik« (GA7,67ff.) zu denken.

Nihilismus Der »Nihilismus« ist eine Geschichtsepoche, die in demvon Nietzsche zur Sprache gebrachten »Tod Gottes« kulminiert, ihnaber in den Augen Heideggers nicht voraussetzt. Vielmehr »bedeutetdas nihil des Nihilismus, daß es mit dem Sein nichts ist« (GA5, 264).Dieser Entzug des »Sinns von Sein« geschieht dort, wo bei Platon undAristoteles die »Metaphysik« ihren Anfang nimmt. In diesem Sinnekann die Geschichte der »Metaphysik« überhaupt als »Nihilismus«bezeichnet werden.

Seiendes Das im Deutschen ungewöhnliche Wort »Seiendes« ist dieÜbersetzung des griechischen, in der Philosophie Platons und Aristo-teles’ gängigen Begriffs to on. Es kennzeichnet alle Dinge, die sind.Heidegger unterscheidet es vom »Sein selbst« und zeigt, dass Platonund Aristoteles diesen Unterschied nicht kennen.

Sein/Seyn Grammatisch betrachtet handelt es sich bei dem Wort»Sein« um eine in den indo-europäischen Sprachen mögliche Substan-tivierung des Verbums »sein« (französisch etre, englisch be bzw.being). Das »Sein« wurde namentlich zu einem philosophischenGegenstand bei Platon und Aristoteles. Heidegger nimmt für sich inAnspruch, die Frage nach dem »Sinn von Sein« (GA2, 1) im Rückgangauf die platonische und aristotelische Philosophie wieder geweckt zuhaben. Dieser »Sinn« ist in der Richtung des Phänomens der »Zeit« zusuchen (ebd.,577). Ungefähr seit der Mitte der dreißiger Jahre schreibtHeidegger modifiziert »Seyn«, um später wieder zu der gewöhnlichenSchreibweise zurückzufinden. Diese Veränderung der Schreibweisehängt mit einer Modifikation in der Auffassung der Frage nach dem»Sinn von Sein« zur Frage nach der »Wahrheit des Seyns« (GA65, 10)zusammen.

Seinsverlassenheit/Seinsvergessenheit Die »Seinsverlassenheit«besteht darin, dass das »Seiende« vom »Sein« »verlassen« ist. Das»Sein« hat sich aus dem ursprünglichen Konnex mit dem »Seienden«zurückgezogen, sodass es keine Möglichkeit mehr gibt, über das reingegenständliche »Seiende« hinaus noch etwas anderes für relevant zuerachten. Alles, was ist, wird als zu bearbeitender Gegenstand einersich totalisierenden Technik betrachtet. Das sich in die »Seinsverlas-

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Page 188: Peter Trawny Martin Heidegger

senheit« entziehende »Sein« eröffnet zugleich die Möglichkeit einerhyperbolischen »Seinsvergessenheit«, die in einer »Vergessenheit derVergessenheit« besteht (GA65, 115ff.). Somit ist die »Seinsvergessen-heit« kein defizitäres Vermögen des Menschen, sondern ein vom »Seinselbst« ausgehendes Merkmal der Epoche der »Metaphysik«.

Wahrheit Anders als die von Platon und Aristoteles ausgehende Tra-dition der europäischen Philosophie versucht Heidegger, die »Wahr-heit« nicht als eine Eigenschaft der Aussage oder des Urteils, sondernals eine Voraussetzung des Aussagens zu bestimmen. Die Vorausset-zung, dass über Erscheinendes Urteile gefällt werden können, bestehtdarin, dass überhaupt ein Erscheinen stattfindet. Diese Offenheit desErscheinens nennt der Philosoph seit Sein und Zeit »Lichtung« (GA2,177). Da aber diese »Lichtung« kein reines Licht ist, sondern stets anihre Herkunft aus der Dunkelheit gebunden bleibt, gehört zu ihr dieDimension der »Verbergung«. Das Erscheinen von Gegenständenerscheint nicht wie diese selbst, sondern entzieht sich simultan, indemes erscheint. Der volle Begriff der »Wahrheit« ist darum als »Lichtungfür das Sichverbergen« (GA65, 341) zu verstehen. Bereits in Sein undZeit macht Heidegger darauf aufmerksam, dass im griechischen Wortfür »Wahrheit« (aletheia) diese gegenzügige Bewegung enthalten ist:»Wahrheit« ist »Unverborgenheit« (GA2, 294).

187Glossar

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Biographische Daten

26.9.1889 Martin Heidegger wird in der badischen Kleinstadt Meß-kirch geboren. Zu dieser Stadt am südöstlichen Rand derSchwäbischen Alb und oberhalb des Bodensees wird Hei-degger zeit seines Lebens eine innige Beziehung aufrecht-erhalten.

1909–1911 Studium der Theologie und Philosophie an der Universi-tät Freiburg.

1911–1913 Studium der Philosophie, der Geistes- und Naturwissen-schaften an der Universität Freiburg.

1913 Promotion bei Arthur Schneider in Freiburg.1914 Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Heideggers Dissertation

Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Ein kritisch-positiver Beitrag zur Logik erscheint. Militärdienst, da-von von Ende 1915 bis Anfang 1918 bei der militärischenPostüberwachungsstelle in Freiburg, von Ende Augustbis Anfang November bei der Frontwetterwarte 414 (3.Armee). Im November 1918 zum Gefreiten befördert.

1915 Habilitation bei Heinrich Rickert über Die Kategorien-und Bedeutungslehre des Duns Scotus (erscheint 1916).

1916 Heidegger veröffentlicht den Aufsatz Der Zeitbegriff inder Geschichtswissenschaft.

1917 Heirat mit Elfride Petri.1919 Privatassistent bei Edmund Husserl an der Universität

Freiburg.1922 Bezug der von Elfride Heidegger geplanten Hütte in Todt-

nauberg/Südschwarzwald.

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1923 Ordentlicher Professor ad personam auf einem außeror-dentlichen Lehrstuhl in Marburg.

1924 Hannah Arendt nimmt ihr Studium bei Heidegger inMarburg auf.

1927 Sein und Zeit erscheint im Rahmen des »Jahrbuchs fürPhilosophie und phänomenologische Forschung« inHalle. Umsetzung auf den ordentlichen Lehrstuhl für Phi-losophie in Marburg.

1928 Nachfolger Husserls auf dem Lehrstuhl für Philosophie Iin Freiburg. Einzug in das von Elfride Heidegger gebauteHaus auf dem Rötebuck in Freiburg-Zähringen.

1929 Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, die im selbenJahr veröffentlicht wird. Zugleich erscheint Kant und dasProblem der Metaphysik und der Aufsatz Vom Wesen desGrundes in der Festschrift für Edmund Husserl zum 70.Geburtstag.

1930 Heidegger lehnt zum ersten Mal einen Ruf nach Berlin ab.1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt. Heidegger wird fast

einstimmig zum Rektor der Freiburger Universität be-stellt. Eintritt in die NSDAP. Am 27. Mai des Jahres hältHeidegger seine Rektoratsrede mit dem Titel Die Selbst-behauptung der deutschen Universität. Seine Vorlesungim Sommer 1933 behandelt Die Grundfrage der Philoso-phie, in ihr geht es vorzüglich um die »Theo-Logik«Hegels. Ablehnung des zweiten Rufs nach Berlin sowieeines Rufs nach München.

1934 Rücktritt vom Rektorat. Vorlesung im Winter 1934/35Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«

1936 Veröffentlichung von Hölderlin und das Wesen der Dich-tung. Erste Vorlesung über Nietzsche: Der Wille zurMacht als Kunst im Winter 1936/37. Heidegger arbeitetan den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis). Sieerscheinen erst im Jahre 1989.

1939 Der Zweite Weltkrieg beginnt.1940 Heidegger hält in einem kleinen Kollegenkreis an der

Freiburger Universität Vorträge über Ernst Jüngers DerArbeiter. Herrschaft und Gestalt.

1941 Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage. . ..

189Biographische Daten

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1942 Platons Lehre von der Wahrheit.1943 Der Vortrag und Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit er-

scheint.1944 Heidegger wird im November zum Volkssturm eingezo-

gen, im Dezember wieder entlassen. Der größte Teil derFreiburger Altstadt wird durch Luftangriffe vernichtet.Es erscheinen die Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung.

1945 Hitlers Tod. Unbedingte Kapitulation Deutschlands. Derpolitische Bereinigungsausschuss empfiehlt, Heideggermit der »Möglichkeit beschränkter Lehrtätigkeit« zuemeritieren. Die Wohnung der Familie Heidegger wirdbeschlagnahmt. Die Söhne Hermann und Jörg befindensich in russischer Gefangenschaft.

1946 Der Senat der Universität Freiburg schlägt eine Emeritie-rung Heideggers vor und erteilt keine Lehrerlaubnis.Auch die französische Besatzungsmacht verbietet Hei-degger die Lehre. Heidegger begegnet zum ersten MalJean Beaufret.

1947 Es erscheint der so genannte Brief über den Humanismusgemeinsam mit dem schon älteren Aufsatz Platons Lehrevon der Wahrheit. Der jüngere Sohn Hermann kehrt ausrussischer Gefangenschaft zurück.

1949 Das französische Lehrverbot wird aufgehoben. Heideg-ger hält seine Bremer Vorträge. Der Sohn Jörg kehrt eben-falls aus russischer Gefangenschaft zurück.

1950 Pensionierung. Wiederbegegnung mit Hannah Arendt.Die Holzwege werden veröffentlicht.

1951 Emeritierung. Im Wintersemester 1951/52 und im darauffolgenden Sommer hält er seine letzte große Vorlesungmit dem Titel Was heißt Denken?, die im Jahre 1954 pub-liziert wird.

1954 Vorträge und Aufsätze.1955 Heidegger hält einen Vortrag Qu’est-ce que la Philoso-

phie? in Cerisy-la-Salle in der Normandie, der ein Jahrdarauf veröffentlicht wird.

1959 Unterwegs zur Sprache und Gelassenheit erscheint. Hei-degger hält seinen letzten großen Hölderlin-Vortrag Höl-derlins Erde und Himmel in München.

190 Biographische Daten

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1961 Nietzsche I/II.1962 Heidegger hält in Freiburg seinen Vortrag Zeit und Sein,

der im Jahre 1969 in Zur Sache des Denkens veröffent-licht wird. Das Ehepaar Heidegger macht seine ersteGriechenlandreise. Die erste englische Übersetzung vonSein und Zeit in der Übersetzung von John Macquarrieund Edward Robinson erscheint in New York.

1966 Heidegger hält das für die französische Rezeption seinesDenkens enorm wichtige erste Seminar in Le Thor ab.

1967 Heidegger spricht über Die Herkunft der Kunst und dieBestimmung des Denkens in Athen. Er begegnet PaulCelan in Freiburg und Todtnauberg.

1975 Die »Gesamtausgabe« beginnt zu erscheinen.26. 5. 1976 Heidegger stirbt in Freiburg-Zähringen im eigenen Haus.

191Biographische Daten

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