20

Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

  • Upload
    lylien

  • View
    216

  • Download
    1

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat
Page 2: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Platon (ca. 427 v.Chr. –347 v.Chr.) giltals »Vater der Philosophen«, der mitseinen Werken das Fundament derabendländischen Philosophie schuf. Erbemühte sich, seine Ideen nicht nur sei-nen Schülern, sondern einem breiterenKreis zu vermitteln, indem er Gesprächeaufschrieb, in deren Zentrum sein Leh-rer Sokrates steht. ›Der Staat‹ (›Poli-teia‹) behandelt die Idealvorstellung desPlatonismus von einem der Wahrheits-suche verpflichteten Leben in einem

durch Wissen und Weisheit stetig fortschreitenden Gemein-wesen, das von Philosophenkönigen geführt wird. Anschaulichund mit kritischem Blick zeichnet Simon Blackburn die Grund-gedanken Platons nach, erläutert den historischen Zusammen-hang und beschreibt die Wirkungsgeschichte. Dabei stellt er fest,dass die spätere Philosophie keineswegs nur eine »Reihe vonFußnoten zu Platon« bildet, wie Alfred North Whitehead mein-te, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch entschiedene Kri-tik an Platon übt.

Simon Blackburn, geboren 1944, ist Professor für Philosophiean der University of Cambridge und Fellow am Trinity College,Cambridge.Zahlreiche Veröffentlichungen, in deutscher Übersetzung u. a.:›Denken‹ (2001); ›Gut sein‹ (2004); ›Wahrheit‹ (2005).

Page 3: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Simon Blackburnüber

PlatonDer Staat

Aus dem Englischen vonAndreas Hetzel

Deutscher Taschenbuch Verlag

Page 4: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Die Reihe »Bücher, die die Welt veränderten«

Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008)Simon Blackburn über Platon, Der Staat (dtv 34430)Philipp Bobbitt über Machiavelli, Der Fürst (i.Vorb. für 2008)Janet Browne über Charles Darwin, Die Entstehung der Arten (dtv 34433)Christopher Hitchens über Thomas Paine, Die Rechte des Menschen (dtv 34432)Bruce Lawrence über den Koran (dtv 34431)Alberto Manguel über Homer, Ilias und Odyssee (i.Vorb. für 2008)Peter O’Rourke über Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen (dtv 34459)Hew Strachan über Carl von Clausewitz, Vom Kriege (dtv 34460)Francis Wheen über Karl Marx, Das Kapital (dtv 34458)

Deutsche ErstausgabeSeptember 2007Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, Münchenwww.dtv.de© Simon Blackburn 2006Titel der englischen Originalausgabe: ›Plato’s Republic. A Biography‹Erschienen bei Atlantic Books, an imprint of Grove Atlantic Ltd., London 2006© der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenFrontispiz: akg-imagesSatz: Greiner & Reichel, KölnGesetzt aus der Concorde 8,75/11,25˙

Druck und Bindung: Druckerei C.H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany · ISBN 978-3-423-34430-2

Page 5: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Eine Anmerkung zu den verwendeten Übersetzungen und Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Erstes KapitelKonvention und Amoralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Zweites KapitelMacht und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Drittes KapitelDer Ring des Gyges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Viertes KapitelEine Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

Fünftes KapitelHerrscher und Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Sechstes KapitelDisziplin, Selbstbeherrschung, Mut und Moral . . . . . . . . . . 70

Siebtes KapitelEin Mann von Mut und überschäumender Lebenskraft . . . 74

Achtes KapitelArbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

Page 6: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Neuntes KapitelWissen und Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Zehntes KapitelDas Höhlengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

Elftes KapitelDie religiöse Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Zwölftes KapitelDie poetische Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Dreizehntes KapitelDie mathematisch-wissenschaftliche Interpretation . . . . . . 114

Vierzehntes KapitelChaotische Städte, zügellose Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 123

Fünfzehntes KapitelDas Exil der Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Sechzehntes KapitelDer Abschlussmythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Lektüreempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Page 7: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

vorwort

Ich kann nicht gerade sagen, dass ich mich darum gerissenhätte, dieses Buch zu schreiben. Als ich die Anfrage erhielt,

fühlte ich mich zwar geehrt, wollte aber zunächst höflich ab-lehnen. Wie ich in der Einleitung näher ausführen werde, binich weder Altphilologe noch Althistoriker (und zwar noch nichteinmal auf einem Amateurniveau). Noch schwerer wiegt – wennsich denn in diesem Zusammenhang überhaupt noch schwer-wiegendere Punkte anführen lassen –, dass ich mich noch niesonderlich für Platon habe begeistern können. Wie aus demBuch hervorgehen wird, hat sich das in mancher Hinsicht bisheute nicht geändert. Auf der anderen Seite steht es einem Phi-losophen nicht gut an, sich einen blinden Fleck von der GrößePlatons zu leisten. Er ist zu bedeutend und zu tief in das west-liche (aber auch islamische) Denken eingegangen, als dass wirihn einfach ignorieren könnten. Wir müssen uns fragen, wie wirmit seinem Erbe und Einfluss umgehen sollen. Leser, die dieSpannung nicht aushalten und die Pointe vorab erfahren wollen,sollten zuerst den letzten Satz des Buches lesen.

Während ich zögerte, mich auf das Projekt einzulassen, hatteich das große Glück, von Julia Annas eingeladen zu werden,einer guten Freundin und hervorragenden Kennerin der antikenPhilosophie. Ihr Einfluss auf dieses Buch ist weit größer, als eszunächst scheinen könnte. Statt sich vor Lachen zu biegen, hatsie mir zu meiner Überraschung sofort Rat und Hilfe angeboten,mir etwa eigenhändig zahlreiche Aufsätze zur Platon-Forschungkopiert. Ihre Großzügigkeit ließ mich hoffen, dass ich das Buch-projekt vielleicht doch bewältigen könnte. Weitere Lektüren ha-ben mir, obwohl sie mich zunächst mit Ehrfurcht vor der bloßenMenge der über die Jahrhunderte angesammelten klassischenGelehrsamkeit erfüllten, auch gezeigt, dass die ›Politeia‹ (oder›Der Staat‹) einen ganzen Kosmos philosophischer, politischerund ethischer Ideen enthält und über die Jahrhunderte bewahrt

Page 8: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

hat, zu dem man etwas sagen sollte. Mir wurde also zunehmendklar, wie spannend diese Aufgabe sein könnte, und nachdem derEntschluss in mir gereift war, folgte der Rest von ganz allein.

Ich glaube, nicht nur Julia allein hätte mir über meine Angsthinweghelfen müssen, mich in diese ungewohnten Gefilde zubegeben, wenn ich hier in Cambridge oder an anderen Universi-täten an die einschlägigen Türen geklopft hätte, hinter denenausgezeichnete Fachleute ihr Leben der Platon-Forschung ge-widmet haben. Hätte ich dies getan, wäre das Buch ohne Zweifelbesser geworden. Aber auch dicker, so dass ich wohl die Nach-sicht meines Verlegers Toby Mundy noch mehr strapaziert hätte,als ich das ohnehin schon getan habe. Die Zweifel und Schwie-rigkeiten hätten sich vervielfacht, hätten zu Verzögerungen undÜberarbeitungen ohne Ende geführt. Schließlich habe ich mitzunehmender Begeisterung gelesen, was ich konnte, und bevordiese Begeisterung nachließ, schrieb ich das vorliegende Buch aneinem Stück herunter.

Ich danke vor allem Catherine Clarke vom Verlag, die mich inder Anfangszeit geschickt von der Durchführbarkeit des Projektsüberzeugte, und natürlich Julia Annas für das mir entgegenge-brachte Vertrauen, ohne das ich nicht hätte beginnen können.Alice Hunt las den ersten Entwurf mit beispielhafter Sorgfaltund schlug viele Verbesserungen vor, die ich weitgehend einge-arbeitet habe. Ferner danke ich der University of Cambridge unddem Trinity College für die Gewährung eines Freisemesters, dasmir den Raum gab, das Projekt zu realisieren, sowie meiner Ehe-frau und meiner Familie für die nötige Ruhe und Inspirationwährend der Zeit, in der ich mich, wie Generationen vor mir, mitdem bedeutendsten und einflussreichsten Buch im Kanon derabendländischen Philosophie auseinandersetzen konnte.

Simon Blackburn,Cambridge, Frühjahr 2006

8 vorwort

Page 9: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

eine anmerkung zu den verwendeten

übersetzungen und ausgaben

Mittelalterliche Autoren kannten Platon aus lateinischenÜbersetzungen, die nicht direkt auf das griechische Ori-

ginal, sondern auf arabische Fassungen zurückgingen. Diesewiederum wurden von arabischen Gelehrten auf der Grundlagegriechischer Texte erstellt, die im Byzantinischen Reich überlie-fert wurden. Die früheste maßgebliche Platon-Übersetzung, diein Westeuropa weite Verbreitung fand, ist die dreibändige Re-naissance-Ausgabe, die Henri Estienne (lateinisch: Stephanus)1578 in Genf veröffentlicht hat. Von dieser zweisprachigen Aus-gabe, die dem griechischen Text eine lateinische Übersetzung andie Seite stellt, leitet sich die auf den ersten Blick etwas umständ-lich wirkende Zählweise ab, nach der Platons Werke auch heutenoch zitiert werden. Die Zahlen, die sich am Seitenrand allereinschlägigen Ausgaben finden, werden als »Stephanus-Num-mern« bezeichnet. Sie stehen für die Seitenzahl der Estienne-Ausgabe, auf die die Buchstaben a–e folgen, die sich auf Ab-schnitte der Seite beziehen. Dieses System macht es einfach,Textpassagen einer modernen Ausgabe oder Übersetzung mitdem griechischen Original oder anderen Ausgaben bzw. Überset-zungen zu vergleichen. Im vorliegenden Essay zitiere ich Platons›Politeia‹ unter Verwendung der Stephanus-Nummer, der je-weils, in römischen Ziffern, die Nummer des Buches (von I bis X)vorangestellt wird. Die ›Politeia‹ wird traditionell, wenn auchetwas willkürlich, in zehn Bücher unterteilt.

Ins Englische wurde Platon erst sehr viel später übersetzt. Dieerste weiter verbreitete Übertragung aus dem Griechischenstammt von Thomas Taylor und Floyer Sydenham und wurde1804 in London veröffentlicht. Nach dieser Ausgabe habenColeridge und die Romantiker Platon studiert. James Mill (derVater von John Stuart Mill) musste allerdings leider feststellen,dass Taylor »Platon nicht übersetzt, sondern in grausamer Wei-se entstellt hat. Er hat ihn nicht erschlossen, sondern ihn hinter

Page 10: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

einem undurchdringlichen Schleier von Dunkelheit verschwin-den lassen.«

Das sich im Viktorianischen Zeitalter verstärkende Interessean Platon führte zu einer Neuübersetzung durch Davis undVaughan im Jahr 1858 sowie zu der klassischen, von BenjaminJowett übersetzten Ausgabe, die immer noch als eine der am wei-testen verbreiteten englischsprachigen Fassungen der Dialogegelten kann und die erstmals 1871 bei Oxford University Presserschien. Allerdings geben sich Altphilologen in dieser Angele-genheit nicht leicht zufrieden; dem anspruchsvollen PhilologenA.E. Housman wird nachgesagt, er habe Jowetts Übersetzungals »die beste Übersetzung eines griechischen Philosophen« be-zeichnet, die von jemandem angefertigt wurde, »der weder Grie-chisch kann, noch etwas von Philosophie versteht«. AndereÜbersetzer haben sich nicht von dem Risiko entmutigen lassen,in ähnlicher Weise kritisiert zu werden, und so folgten auf Jowettzunächst Desmond Lee, dann Francis Cornford, Paul Shorey,I.A. Richards (in gut lesbares Englisch), A.D. Lindsay, AllanBloom und viele andere bis zum heutigen Tag. Ich selbst habedie von Robin Waterfield besorgte Ausgabe in der Worlds Clas-sics Edition benutzt, die einen klaren und gradlinigen Text liefertund hervorragend kommentiert ist.

Anmerkung des Übersetzers: Die Platon-Stellen in der deutschenAusgabe folgen der von Friedrich Schleiermacher von 1804 bis1810 erstellten Übersetzung, die das Platon-Bild im deutschenSprachraum entscheidend geprägt hat, die hier am weitestenverbreitet ist und die nach wie vor als unüberholt gelten kann.Zitiert wird aus der von Gunther Eigler herausgegebenen Aus-gabe: Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch.Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt(WBG) 1990. Die ›Politeia‹ findet sich in Band 4 dieser Ausgabe.Schleiermachers Übersetzung wird dabei gelegentlich leichtmodernisiert bzw., sofern der Argumentationsgang dies nötigmacht und das griechische Original es zulässt, dem englischenText der von Blackburn verwendeten Waterfield-Ausgabe ange-nähert.

10 übersetzungen und ausgaben

Page 11: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

einleitung

Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philo-sophischen Tradition Europas lautet, dass sie auseiner Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. Damitmeine ich nicht das systematische Denkmodell, dasseine Schüler in fragwürdiger Weise aus seinen Schrif-ten destilliert haben. Vielmehr spiele ich auf denReichtum an allgemeinen Ideen an, die sich überall indiesen Schriften finden.

Alfred North Whitehead, Prozess und Realität (1929)

Bevor wir darüber diskutieren können, wie Platons ›Politeia‹die Welt verändert hat, sollten wir uns fragen, ob Bücher

überhaupt den Lauf der Dinge beeinflussen können. Selbstver-ständlich ändert sich die Welt täglich, und viele wichtige Ent-wicklungen lassen sich auf den Aufstieg oder Niedergang vonIdeen zurückführen, nach denen die Menschen ihr Leben aus-richten: Ideen wie Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Rechtoder Wissen. So erschüttern etwa Religionen die Welt, und letzt-lich ist eine Religion nichts anderes als eine versteinerte Philo-sophie – eine Philosophie, deren drängendes Fragen unterdrücktwurde. Gleichwohl würden manche Autoren sagen, dass Platonselbst dann, wenn reale geschichtliche Veränderungen auf Ideenvon der Sorte zurückgeführt werden könnten, wie sie in der ›Po-liteia‹ entwickelt würden, nicht persönlich dafür verantwortlichgemacht werden könne. Der Philosoph folge selten direkt demSchlachtruf. Hegel schreibt in diesem Sinne: »Wenn die Philoso-phie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens altgeworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen,sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mitder einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«1 Ideen wären dannnur die Pfeife auf der Lokomotive der Geschichte, nicht die trei-

Page 12: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

bende Kraft. Die Welt würde von den je besonderen geschichtli-chen Umständen erschüttert, von Land, Nahrung, Waffen,Geld, ökonomischen und sozialen Kräften: von Faktoren, derenZusammenspiel bestimmt, wie sich Völker in unterschiedlichenEpochen und Regionen politisch organisieren.

Der Urheber von Ideen macht aus dieser Perspektive nichtnur keine Geschichte, sondern schafft es kaum, etwas von ihrangemessen zu beschreiben. Glücklicherweise müssen wir dieseThese hier nicht auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, obwohl eswenig wahrscheinlich scheint, dass Ideen tatsächlich so kraftlossind, wie hier behauptet – als ob sich niemals jemand durch dieLektüre von Platons ›Politeia‹ oder irgendeines anderen Werkesder religiösen, moralischen oder politischen Literatur geänderthätte, einschließlich solcher Werke wie Hegels ›Vorlesungenüber die Philosophie der Geschichte‹ (1826) oder ›Die DeutscheIdeologie‹ von Karl Marx (1846), die die Idee der historischenWirkungslosigkeit von Ideen propagieren. Ideen beeinflussendas Bewusstsein. Das ist letztlich ihr einziger Zweck: Wir hättenuns nicht zu denkenden Wesen entwickelt, wenn Gedankenvöllig nutzlos wären. Eine Idee ist letztlich nichts anderes als einAusgangspunkt für Handlungen. Und obwohl Personen, die sichihrer nüchtern-wissenschaftlichen Sicht auf das menschlicheLeben rühmen, uns häufig nicht verstehen, wenn wir sagen, dassIdeen (und Kulturen) etwas bewirken bzw. verändern können,stellen wir damit natürlich nicht in Abrede, dass auch Nahrung,Land, Waffen und Geld den Lauf der Dinge beeinflussen. Wirunterstellen keine luftigen Feen-Schlösser und übernatürlichenKräfte, keinen Weltgeist, der über allen Wassern der gewöhn-lichen Wirklichkeit schwebt. Wir reden hier nur darüber, wieMenschen sich selbst und ihre Handlungen alltäglich interpre-tieren. Diese Interpretationen entscheiden neben anderen Fak-toren mit darüber, wer über das Land und die Nahrung verfügt,wer aus welchen Gründen zu den Waffen greift und wohin dasGeld fließt.

Wenn überhaupt irgendwelche Bücher die Welt verändern,dann kann die ›Politeia‹ mit gutem Recht den Anspruch erhe-ben, hier an erster Stelle zu stehen. Der Philosoph und Mathe-matiker Alfred North Whitehead, von dem das Motto dieser

12 einleitung

Page 13: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Einleitung stammt, steht mit seiner Einschätzung von PlatonsEinfluss nicht allein da. Der wortgewandte Essayist Ralph WaldoEmerson übertraf Whitehead ein Jahrhundert zuvor in seinerBewunderung für Platons Genie, in einem Abschnitt, der es wertist, vollständig zitiert zu werden:

Plato ist die Philosophie, und die Philosophie ist Plato – derRuhm zugleich und die Schande des Menschengeschlechtes,da weder Sachse noch Romane imstande gewesen sind, auchnur eine Idee zu seinen Kategorien hinzuzufügen. Er hattekein Weib, keine Kinder; aber die Denker aller zivilisiertenNationen sind seine Nachkommenschaft und von seinemGeiste durchdrungen und gefärbt. Wie viele große Männersendet uns die Natur unaufhörlich aus der Nacht empor, alleseine Männer, alle Platoniker! Da sind zuerst die Alexan-driner, eine ganze Konstellation von genialen Geistern, diegroßen Männer aus der Zeit Elisabeths, die nicht geringersind; Sir Thomas Morus, Henry More, John Hales, JohnSmith, Lord Bacon, Jeremy Taylor, Ralph Cudworth, Syden-ham, Thomas Taylor, Marsilius Ficinus und Pico della Miran-dola. Der Calvinismus ist bereits im ›Phaidon‹ enthalten, jadas ganze Christentum liegt darin. Der Islam entnimmt allseine Philosophie – im Handbuch der Moral, dem Ahlak-y-Jalaly – aus ihm. Der Mystizismus findet in Plato sein ganzesEvangelium. Dieser Bürger einer griechischen Stadt hat keinHeimatdorf und kein Vaterland: Der Engländer, der ihn liest,sagt: »Wie englisch!«, der Deutsche ruft aus: »Wie deutsch!«,der Italiener: »Wie römisch und wie griechisch!« So wie sievon der Helena von Argos sagen, dass sie jene allgemeineSchönheit besaß, dass jeder sich von ihr angezogen, jedersich zu ihr gehörig fühlte, so scheint Plato dem Leser in Neu-England ein amerikanischer Geist zu sein. Seine allum-fassende weite Menschlichkeit übersteigt alle partikulärenSchranken.2

Emerson selbst ist ein gutes Beispiel für den Einfluss, den er hierbeschreibt: Seine Philosophie, die als New England Transcen-dentalism bekannt ist, kombiniert einen romantischen Persön-

einleitung 13

Page 14: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

lichkeitskult mit einer vagen Beschwörung einer höheren Welthinter den Dingen, die vom Platonismus abgeleitet ist.

Nichtsdestotrotz ist Whiteheads berühmt gewordene Thesefalsch. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der europäischen Philo-sophie besteht eher aus Zurückweisungen Platons als aus Fuß-noten zu ihm. Wir können kaum behaupten, dass die großenMaterialisten und wissenschaftsverbundenen Philosophen vonBacon über Hobbes und Locke bis zu Hume und Nietzsche ein-fach nur Fußnoten zu einem Platon schreiben, den sie als Quelleallen Übels betrachten. Wenn wir also den Grad von Allgemein-heit anstreben, den Whitehead mit seiner Bemerkung suggeriert,dann sollten wir nach einer vorsichtigeren Formulierung suchen.Zumindest ein Quäntchen Wahrheit liegt darin, dass die euro-päischen (sowie die byzantinischen und arabischen) philosophi-schen Traditionen aus einer Reihe von Antworten auf Platonbestehen. Sogar diejenigen, die alle Thesen, die sie mit Platonverbinden, ablehnen, antworten ihm häufig und bewegen sichdamit noch in seinem Schatten. Andere halten ihnen entgegen,dass ihre Ablehnung am Ziel vorbeischießt, dass sie bereits vonPlaton selbst vorweggenommen wurde oder einfach nur auf einerFehllektüre fußt, auf mangelndem Verständnis oder auf einer un-zulässigen Vereinfachung der Gedanken des Meisters.

Solche Verteidigungen werden nicht nur, wie es zunächstscheinen könnte, unternommen, um weiter an einer geheiligtenAutorität festhalten zu können, der man sich nun einmal ver-schrieben hat. Platon legt seine Philosophie in Dialogen nieder,eine literarische Form, die unterschiedliche Stimmen erklingenlässt und den Austausch von sich widerstreitenden Argumentenvoraussetzt. Bereits in der Antike wurde bemerkt, dass Sokrates,der Held dieser Dialoge, und Platon, ihr Erzähler, schwer zu fas-sende, teilweise kaum voneinander zu unterscheidende Figurensind: »Denn da er die bekannte Gewohnheit seines MeistersSokrates […], sein Wissen oder seine Ansichten zu verbergen,beizubehalten trachtet […], ist auch Platos eigene Meinung inwichtigen Fragen nicht leicht zu ergründen«, schreibt etwa Au-gustinus.3 Dies können wir unter anderem so interpretieren, dassPlaton und vermutlich auch Sokrates bestimmte Lehren hatten,dass sie es aber aus irgendwelchen schwer nachvollziehbaren

14 einleitung

Page 15: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Gründen vorzogen, sie nur zum Teil und nach und nach zu ent-hüllen, gleichsam in einer Art von geistigem Striptease. DieseDeutungsmöglichkeit wird gewöhnlich von einigen weniger ori-ginellen Interpreten bevorzugt, die von der Idee esoterischer Ge-heimlehren fasziniert sind, zu denen nur Eingeweihte Zuganghaben, wobei sie sich dann selbst zu diesen Eingeweihten rech-nen. An späterer Stelle diskutieren wir Leo Strauss als Vertretereiner solchen Deutung.

Eine angemessenere Lesart von Augustinus’ Bemerkung säheanders aus. Sie würde hervorheben, dass Philosophie für Platoneher eine gemeinsame und suchende Aktivität darstellt als einSystem von starren Dogmen, das vom Lehrer in fertiger Gestaltan die Schüler weitergegeben wird. Sie ist eher der Prozess alsdas Ergebnis. Sokrates wäre dann in erster Linie ein großer Er-zieher. Jene, die zu ihm kommen, sind Zuhörer, Fragesteller undGesprächsteilnehmer, die sich als aktiv Suchende mit in die Ge-dankenlabyrinthe begeben. Das passive Aufnehmen von fertigenLehrinhalten würde nichts zählen – dies wird von Platons Wi-dersachern, den Sophisten, übersehen, die Honorare für die vonihnen vermittelten praktischen Lebensweisheiten in Rechnungstellen. Man fühlt sich an die Stapel geistloser Ratgeber- undLebensführungsliteratur erinnert, die heute unsere Buchlädenfüllen.4 Am Ende von Platons Dialog ›Phaidros‹ hält Sokrateseine kurze Rede, in der er seine Verachtung gegenüber denje-nigen ausdrückt, die Philosophie als einen billigen Ersatz fürTherapie oder Lebenshilfe interpretieren. Viele spätere Autorenhaben in die gleiche Richtung argumentiert. Für Arthur Scho-penhauer vermag die bloß passive Lektüre das Selbstdenkennicht wirklich zu ersetzen; er zitiert in diesem Sinne Goethe:»Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb’ es, um es zu be-sitzen.«5

Der Akzent liegt hier nicht so sehr auf dem Gegensatz zwi-schen Lesen und Hören, sondern auf dem Unterschied zwischenpassivem Aufnehmen und aktivem Selbstdenken. Ob die Ausei-nandersetzung mit Lehrinhalten schriftlich oder mündlich er-folgt, ist dabei eher nebensächlich. Platon wäre allerdings darinzuzustimmen, dass mit dem Medium der Schrift bestimmte Ge-fahren einhergehen, denen sich der mündliche Disput nicht aus-

einleitung 15

Page 16: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

setzt. Das verschriftlichte Wort verwandelt sich schnell in einenFetisch, der immer wieder zitiert werden muss und somit einemgeistlosen Fundamentalismus Vorschub leistet. Der SchriftstellerRobert Louis Stevenson bringt dies auf den Punkt, wenn er Lite-ratur als den »Schatten eines guten Gesprächs« bezeichnet.»Das Gespräch ist flüssig, tastend, ständig weiter auf der Sucheund in permanenter Entwicklung begriffen; schriftlich niederge-legte Wörter erstarren demgegenüber; sie werden sogar für denSchriftsteller selbst zu Idolen, führen zu knöchernen Dogmenund schließen die Eintagsfliegen offensichtlicher Fehler im Bern-stein ewiger Wahrheit ein.«6

Dem Einklagen der Unhintergehbarkeit des Selbstdenkenskorrespondiert Platons Verwendung der – der Tragödienlitera-tur seiner Zeit entlehnten – Dialogform, in der sich unter-schiedliche Stimmen Gehör verschaffen. Bei der Lektüre seinerDialoge helfen eher die Drehungen und Wendungen des Argu-mentationsgangs, unseren geistigen Horizont zu erweitern, alsvermeintliche Ergebnisse, die am Ende herauskommen. Aus die-ser Perspektive entdeckt die Philosophie alles Wesentliche imdialogischen (oder »dialektischen«) und argumentativen Vorge-hen; alles, was uns dann vielleicht später als eine Art Resultatoder Auflösung präsentiert wird, kann allenfalls an das, was wirin diesem Prozess gelernt haben, erinnern.7

Die dramatische Anlage seiner Schriften macht es nicht ge-rade einfacher, Platon zu kritisieren. Man kann eine bestimmteSchlussfolgerung ablehnen, aber es wäre viel schwieriger, eingemeinsames Gedankenexperiment abzulehnen; wenn wir dieBeziehung zum Drama ernst nehmen, könnte das so albern er-scheinen wie ›König Lear‹ oder ›Hamlet‹ abzulehnen. Letztlichschließt dieser Einwand aber nicht jede Kritik aus, sondern er-mutigt gerade dazu. In Platons Dramen werden Thesen vorge-bracht und verteidigt, Argumente entwickelt und Gesprächs-partner überzeugt. Genau darin liegt ihr Clou. Manchmal stehtam Ende eines solchen Dramas eine vermeintliche Lösung – inletzter Konsequenz wäre die These der Überlegenheit dialek-tischer Praxis über ein passives Aufnehmen nach Art der einsa-men Lektüre selbst eine solche Lösung.8 Doch in allen diesenFällen bleibt es angemessen zu fragen, ob die Thesen, Argumente

16 einleitung

Page 17: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

und Schlüsse, die als Lösung präsentiert werden, wirklich akzep-tabel sind. Dies zu tun bedeutet nichts anderes, als im Dramamitzuspielen oder die Arena der dialektischen Auseinanderset-zungen zu betreten, sich also auf genau diejenige Aktivität ein-zulassen, die Sokrates und Platon empfehlen. Und dies gilt ins-besondere für die ›Politeia‹, die weit von einem beschaulichenPingpong-Spiel solcher Argumente entfernt ist, die nicht wirk-lich ernst genommen werden müssten. Wir können den Textunmöglich lesen, ohne zu spüren, dass wir es hier mit tiefen undernstgemeinten Argumenten zu tun haben. Dabei ist es, außervielleicht für Platon-Biografen, von geringer Bedeutung, ob wires hier mit Platons eigenen Lehren zu tun haben. Sie stehen indiesem Buch und für Philosophen und Historiker reicht diesvollkommen aus.9

Die ›Politeia‹ wird üblicherweise als Gipfelpunkt von Platonsphilosophischer und schriftstellerischer Leistung betrachtet; sieist perfekt ausbalanciert zwischen den fragenden und offenenfrühen Dialogen und den weniger imponierenden kosmologi-schen Spekulationen in den Spätschriften. Im Laufe der Jahr-hunderte wurde die ›Politeia‹ häufiger kommentiert und zumGegenstand von heftigeren und leidenschaftlicheren Auseinan-dersetzungen als die großen Schlüsseltexte der Neuzeit. Die Re-zeptionsgeschichte des Buches wäre eine eigene akademischeDisziplin mit speziellen Teildisziplinen, die sämtliche Epochender Literatur- und Religionsgeschichte der vergangenen beidenJahrtausende zu behandeln hätten. Um nur die bedeutendstenenglischsprachigen Dichter zu erwähnen, so finden sich in unse-ren Bibliotheken Studien über den Platonismus von Chaucer,Spenser, Shakespeare, Milton, Blake, Shelley und Coleridge, umnur einige wenige zu nennen. Natürlich beziehen sich viele Stu-dien auch auf ganze Denkrichtungen und Epochen: Platon unddas Christentum, Platon und die Renaissance, Platon und dieViktorianer, Platon und die Nazis, Platon heute usw.10

Die Geschichte von Platons direktem Einfluss auf die Philo-sophie wäre ein anderes, ganz eigenes Forschungsfeld, auf demman mit Namen zugeschüttet würde, die heute allenfalls nocheinigen Spezialisten etwas sagen: Philo von Alexandrien, Macro-bius, Porphyrius, Pseudo-Dionysius, Eriugena; daneben finden

einleitung 17

Page 18: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

sich aber auch bekanntere Autoren wie Plotin, Augustinus oderDante. In den Wirkungsgeschichten Platons stehen häufig ande-re Texte wie das inspirierende ›Symposion‹ und der theologischambitionierte ›Timaios‹ im Mittelpunkt. Aber die ›Politeia‹ istselten weit entfernt.

Jeder, der viel Zeit in den riesigen und stillen Mausoleen ver-bringt, die mit Werken über Platon und seine Wirkungsgeschich-te gefüllt sind, droht von dieser Last erdrückt zu werden. Wer et-was zu diesen Themen beitragen möchte, muss sich darüber imKlaren sein, dass er auf eine große kritische Leserschaft stoßenwird, schwindelerregende Konzentrationen von Kompetenz,die alle Nachlässigkeiten und Vereinfachungen sofort erkennen.Diese Kompetenz ist auf die brillantesten Sprachwissenschaft-ler, Gelehrten, Philosophen, Theologen und Historiker verteilt,die eine Epoche jeweils zu bieten hat. Sie nehmen es nicht ge-rade freundlich auf, wenn der Garten, dessen Pflege sie als ihreLebensaufgabe begreifen, von Außenseitern und Ungläubigenplatt getrampelt wird. Die ›Politeia‹ steht als Schrein im Zen-trum des Heiligtums; seit Jahrhunderten ist sie von keinem Lehr-plan der Philosophie fortzudenken, so dass sie zu einem zentra-len Gegenstand der Erziehung großer Gelehrter wurde, die sichihr hingebungsvoll gewidmet haben. Und diese Aufmerksamkeitwurde ihr nicht nur in früheren Zeiten zuteil. Ein gebildetermoderner Platoniker sagt zu Recht, dass die Sonne über Platonniemals untergehe, »dass immer irgendwo irgendjemand den›Staat‹ liest«.11

Aber wie bereits angedeutet: Platon und die ›Politeia‹ erntenauch Kritik – so viel Kritik, dass wir all die ihnen zuteil wer-dende Aufmerksamkeit als unangemessen empfinden können.Auf Raphaels berühmtem, im Vatikan ausgestelltem Gemälde,das unter dem Titel ›Die Schule von Athen‹ bekannt gewordenist, stehen Platon und Aristoteles im Rampenlicht; aber währendAristoteles auf die Erde schaut, ist Platons Blick nach oben, zumHimmel, gerichtet.12

Der Dichter Samuel Taylor Coleridge bemüht den gleichenGegensatz, wenn er schreibt, dass jeder Mensch entweder alsPlatoniker oder als Aristoteliker geboren wird; dabei wird im-pliziert, dass Platon von einem anderen Stern stammt und uns

18 einleitung

Page 19: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

Abstraktionen verkauft, während Aristoteles für den einfachenempiristischen Menschen steht, der die Dinge so betrachtet, wiesie sind und wie wir sie in der Welt vorfinden. Coleridge fährtfort: »Ich halte es nicht für möglich, dass jemand, der als Aristo-teliker geboren wurde, zu einem Platoniker werden kann, undich bin sicher, dass kein gebürtiger Platoniker zum Aristotelismuskonvertieren kann.«13 In dieser Gegenüberstellung verkörpertAristoteles in etwa jene »realitätsgestützte Gemeinschaft«, aufdie sich das Weiße Haus unter George W. Bush beruft. Die ak-tuelle amerikanische Regierung ist davon überzeugt, dass alle»Probleme durch das umsichtige Studium einer nachweisbarenRealität gelöst werden können«. Platon kann demgegenüber alsder Schutzheilige derjenigen gelten, die sich über diese realitäts-gestützte Gemeinschaft erheben. Zu Platons Lebzeiten paro-dierte der Komödiendichter Aristophanes den Helden der Dia-loge, Sokrates, indem er ihn zwischen die Wolken versetzte.

Wenn uns nur diese beiden Möglichkeiten zur Verfügung ste-hen, dann könnte man von den Mitgliedern der realitätsgestütz-ten Gemeinschaft, die sich an die Erfahrung halten, erwarten,dass sie bessere Antworten parat haben als die Bewohner derWolkenkuckucksheime. In einem darwinistischen Universumwürden wir erwarten, dass die Aristoteliker nach und nach allePlatoniker verdrängen. Träumereien sind von zweifelhaftemNutzen; im Hier und Jetzt zur Sache zu kommen, hilft dagegenin der Regel weiter. Und wir leben nun einmal in einer prak-tisch, wissenschaftlich und empiristisch eingestellten Zivilisa-tion, die Träumern mit wenig Wohlwollen begegnet. Vor diesemHintergrund überrascht es, dass Platon nicht einfach ignoriertwird; wir könnten uns ernsthaft fragen, ob sich seine Anzie-hungskraft nur den konspirativen Aktivitäten von staubtrocke-nen Gelehrten, verrückten Visionären und Theologen verdankt.

Dies behauptet Francis Bacon, der große Verfechter der wis-senschaftlichen Revolution zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ineiner noch weitgehend von einem vorwissenschaftlichen Geistgeprägten Welt, die noch nichts von Chemie und Mechanik undnur sehr wenig von Botanik und Biologie weiß, ist es Bacon einAnliegen, eine Grundlage für die wissenschaftliche Begriffsbil-dung zu finden. In seinem Versuch, alle Erkenntnisgegenstände

einleitung 19

Page 20: Platon - dtv | Gesamtverzeichnis · PDF fileDie Reihe »Bücher, die die Welt veränderten« Karen Armstrong über die Bibel (i.Vorb. für 2008) Simon Blackburn über Platon, Der Staat

unter handhabbare Kategorien zu bringen, zollt er Platon aller-dings auch widerwillig ein wenig Anerkennung. Bacon lobt So-krates, der gegenüber seinen Gesprächspartnern auf klaren De-finitionen und präzisen Bedeutungen beharrt. Aber primär siehtBacon in Platon und allen anderen griechischen Philosophenein schlagendes Beispiel für einen »voreiligen Geist«; für Baconist Platon selbst ein Sophist, wenn nicht sogar etwas weit Schlim-meres:

Die streitsüchtige und sophistische Art der Philosophie bindetund fesselt den Verstand; jene phantastische, schwülstige undgleichsam poetisierende Art aber umschmeichelt und verblen-det ihn. Es steckt nun einmal der Ehrgeiz der Erkenntnis unddes Willens im Menschen, besonders in großen und hervorra-genden Geistern. Musterbeispiel unter den Griechen ist hier-für Pythagoras. Sein Aberglaube ist indes mehr massiv undgrobschlächtig. Gefährlicher und feiner aber zeigt sich diesbei Platon und seiner Schule.14

Für Bacon lässt sich die griechische Philosophie generell miteinem Ausspruch charakterisieren, der auf Dionysius I., denHerrscher von Syrakus, zurückgeht: »Worte, mit denen müßigealte Männer die unreife Jugend verführen«. Dies war auch diedurchaus handfeste Meinung des 18. Jahrhunderts zu Platon,wie sie exemplarisch von Alexander Pope ausgedrückt wird:

Ersteig, mit Plato, alle Sphären des Himmels, zu dem höchsten Gut,

Zur ersten Vollkommenheit und Schönheit; oder tritt ins Rund,

Von seiner Folger Labyrinth, und nenne, wenn du Band und Bund,

Mit Geist Verstand und Sinnen, brichst, es einer Gottheit gleiche Weise.15

Die Formulierung »mit Verstand und Sinnen brechen [quittingsense]« ist herrlich zweideutig: Sie erhebt sowohl einen An-spruch darauf, die gewöhnliche Welt, wie wir sie sinnlich erfah-

20 einleitung