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Habermas und die Religion Klaus Viertbauer/ Franz Gruber (Hrsg.)

PR032851 Habermas-und-die-Religion RZ:148x225 12.09.2017 ... · Habermas seine Kritik an diesem in Kierkegaards Anfangspassage aus dessen HauptwerkDieKrankheitzumTode(1849)ein:„DasSubjekt,dassicherkennend

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  • Habermasund die Religion

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    Habermas und die Religion

    Jürgen Habermas zählt ohne Zweifel zu den bedeutendsten

    Intellektuellen der Gegenwart. Unnachahmlich schlüsselt er

    den Zusammenhang von Theorie und Praxis auf und gelangt

    auf diesem Weg zu fundierten Positionen. Nahm er Religion

    bis in die späten 1980er-Jahre hinein unter den Vorzeichen des

    Säkularisierungstheorems wahr, so lässt sich seit den 1990er-

    Jahren ein gesteigertes Interesse von Habermas an der Religion

    beobachten. Der vorliegende Band reagiert auf diesen Rezep-

    tionsprozess, indem er erstmals umfassend das Verhältnis

    von Habermas zur Religion analysiert.

    Mit Beiträgen von Maeve Cooke, Franz Gruber, Hans-JoachimHöhn, Ottmar John, Maureen Junker-Kenny, Klaus Müller, Ludwig Nagl, Walter Raberger, Michael Reder, Friedo Ricken,Andreas Telser, Florian Uhl und Klaus Viertbauer.

    Dr. Klaus Viertbauer, geb. 1985, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Christliche Philosophie der Universität Innsbruck. Bei der WBG erschien der von ihm gemeinsam mit Heinrich Schmidinger herausgegebene Sammelband »Glauben denken. Zur philosophischenDurchdringung der Gottrede im 21. Jahrhundert« (2016).

    Dr. Franz Gruber, geb. 1960, ist Professor der Dogmatik und Ökumenischen Theologie an der Katholischen Privatuniversität Linz.

    www.wbg-wissenverbindet.de

    ISBN 978-3-534-26888-7

    PR032851_Habermas-und-die-Religion_RZ:148x225 12.09.2017 12:10 Uhr Seite 1

  • Klaus Viertbauer, Franz Gruber (Hrsg.)

    Habermas und die Religion

  • Klaus Viertbauer, Franz Gruber (Hrsg.)

    Habermasund die Religion

  • Gedruckt mit freundlicher Unterstützung desBischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz

    sowie des Katholischen Pressvereins der Diözese Linz

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

    Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitungdurch elektronische Systeme.

    © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder

    der WBG ermöglicht.Satz: SatzWeise GmbH, Trier

    Einbandgestaltung: Peter Lohse, HeppenheimGedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

    Printed in Germany

    Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

    ISBN 978-3-534-26888-7

    Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74271-4eBook (epub): 978-3-534-74272-1

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Einleitung

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft . . . . 11Klaus Viertbauer

    Sektion I:Kontexte und Konstellationen

    Jürgen Habermas und Kants Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . 31Friedo Ricken

    Schleiermacher und Kierkegaard in der Sicht „nachmetaphysischen“Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Maureen Junker-Kenny

    Jürgen Habermas und die Kritische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Walter Raberger

    Habermas’ partielle Zuwendung zum Pragmatismus . . . . . . . . . . . . 82Ludwig Nagl

    Habermas und die neue MetaphysikKonvergenzen und Divergenzen mitDieter Henrich und Michael Theunissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104Klaus Müller

    Liberal, deliberativ oder dekonstruktivistisch?Rorty, Habermas und Derrida über das Verhältnis von Religion undGesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125Michael Reder

  • Sektion II:Diskurse und Rezeptionslinien

    Diskursethik und LeidenserfahrungenDie Auseinandersetzung mit dem Religionsbegriffdes späten Habermas aus der Perspektive der politischen Theologie . . . . 145Ottmar John

    Habermas und die Öffentliche Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182Andreas Telser

    Nicht zugänglich! Nicht verständlich! Nicht akzeptabel!Sind religiöse Wahrheitsansprüche ein Problem für denliberaldemokratischen Rechtsstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Maeve Cooke

    Kommunikatives Handeln und Glaubensbegründung . . . . . . . . . . . 211Franz Gruber

    Sozialethik postsäkular?Diskursethik und katholische Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234Hans-Joachim Höhn

    Vom Ritual zur Sprache – Von der Sprache zum Ritual.Jürgen Habermas’ Beitrag zur Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . 256Florian Uhl

    Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

    6 Inhalt

  • Vorwort

    Ohne Zweifel zählt Jürgen Habermas (*1929) zu den bedeutendsten Intellektu-ellen der Gegenwart. Mit seiner Diskurstheorie, in der er die moderne Sprech-akttheorie als Instrument für die Kritische Theorie in der Tradition Adornos,Benjamins oder Horkheimers heranzieht, setzte er neue Maßstäbe im sozialphi-losophischen Diskurs. Unnachahmlich schlüsselt Habermas den Zusammen-hang von Theorie und Praxis auf und gelangt auf diesem Weg zu fundiertenPositionen in tagesaktuellen Fragen von Gesellschaft über Politik bis hin zurWirtschaft. Nahm er Religion bis in die späten 1980er-Jahre hinein unter denVorzeichen des Säkularisierungstheorems war, so lässt sich seit den 1990er-Jah-ren ein gesteigertes Interesse von Habermas an der Religion beobachten, derenOrt in der säkularen-westlichen Gesellschaft er neu auszuloten versucht. Spätes-tens nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001, auf die Ha-bermas in seiner wegweisenden Friedenspreisrede über das Verhältnis von Glau-be und Vernunft einging, avancierte Religion zu einem Hauptthema seinesSpätwerkes. Vor diesem Hintergrund setzte eine breite Rezeption seitens derReligionsphilosophie und Theologie ein.

    Der vorliegende Band reagiert auf diesen Rezeptionsprozess, indem er erst-mals umfassend das Verhältnis von Habermas zur Religion analysiert. Dabeierfolgt die Bestimmung dieses Verhältnisses nicht nur in seiner historisch-genea-logischen Tiefe, sondern ordnet es auch in der Breite der gegenwärtigen Diskurs-landschaft modellhaft ein. Nach einem Überblick über den Diskursverlauf imAusgang seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) werden in einerersten Sektion die Kontexte und Konstellationen behandelt, in denen sichHabermas mit der Religion auseinandersetzt. Dem gegenüber thematisiert diezweite Sektion, die sich daraus ergebenen Diskurse und Rezeptionslinien.

    Der Dank der Herausgeber richtet sich zunächst an alle Kolleginnen undKollegen, die sich zur Mitarbeit bereiterklärten und in Form ihrer Beiträge einePerspektive von Habermas zur Religion näher ausleuchteten. Sodann gilt der

  • Dank Dr. Thomas Brockmann von der WBG. Das Projekt wäre ohne die finan-zielle Unterstützung des Bischöflichen Fonds zur Förderung der KatholischenPrivat-Universität Linz sowie des Katholischen Pressvereins der Diözese Linznicht oder zumindest nicht in dieser Form realisierbar gewesen.

    Salzburg/Linz, Dreikönig Klaus ViertbauerFranz Gruber

    8 Vorwort

  • Einleitung

  • Von der Säkularisierungsthesezu einer postsäkularen Gesellschaft

    Klaus Viertbauer

    Buchstäblich seit der ersten Zeile seines schriftstellerischen Wirkens, nämlichder bis heute unpublizierten Schelling-Dissertation Das Absolute und die Ge-schichte (1954), lässt sich Religion als Thema bei Jürgen Habermas nachweisen.Allerdings fällt der Religionsthematik sowohl in ihrer quantitativen Breite alsauch in ihrer qualitativen Tiefe seit seiner Rückkehr an die Goethe-Universitätim Jahr 1982 ein ungleich größeres Maß an Aufmerksamkeit zu. Dies betrifft diePhase im Anschluss an die Veröffentlichung seines Hauptwerkes Theorie deskommunikativen Handelns (1981), in dem Habermas nach rund zehnjährigerArbeit seinen gesellschaftstheoretischen Entwurf vorlegt. Verhandelte Habermasan dieser Stelle Religion noch vor dem Hintergrund der Säkularisierungsthese,die sich für eine Aufhebung der Religion in wissenschaftlich-kommunikativeRationalitätsformen ausspricht, so differenziert er im Laufe der letzten Dekadedes 20. Jahrhunderts seine Bewertung von Religion mehr und mehr aus. DenKontrapunkt zu seinen Überlegungen aus der Theorie des kommunikativen Han-delns (1981) markiert die Friedenspreiserede Glauben und Wissen (2001). Andieser Stelle modifiziert Habermas seine ursprüngliche Bewertung und ersetztsie durch eine Übersetzungstheorie. Der Umschwung von der Aufhebung zurÜbersetzung religiöser Inhalte lässt sich implizit bis in die späten 1980er-Jahrezurückverfolgen. Im Durchgang durch die entsprechenden Schriften, die in derRegel situativ, d.h. in Form von Vorträgen und Repliken abgefasst sind, lässt sichdas Bemühen, ja Ringen von Habermas erkennen, Religion in einer angemesse-nen Form in den Prozess der Aufklärung einzubinden. Die Aufgabe, die an denfolgenden Beitrag gerichtet ist, ist eine zweifache: Zum einen versucht er seinenLeserinnen und Lesern einen Überblick über die beschriebene Publikationsphasezu vermitteln. Zum anderen gedenkt er auf diesem Weg zugleich eine Grundlagefür die nachfolgenden Texte, die sich an einzelnen Problemen und Konstellatio-nen abarbeiten, zu bieten.

  • 1. Die Bestimmung der Religionim Kontext der Säkularisierungsthese

    Mit der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) gelang es Habermas end-gültig, sich einen Eintrag in den Geschichtsbüchern zu sichern. Dabei reagiertendie Rezensionen anfänglich wenig begeistert, doch schien dies überwiegend anKomplexität und Umfang der über 1.000 Druckseiten starken Schrift zu liegen.1Im Durchgang durch verschiedene Rationalitätskonzepte, der in Form von Ein-zeldarstellungen erfolgt, versucht Habermas eine Theorie der kommunikativenVernunft und des kommunikativen Handelns zu entwickeln. Die Religion wirdmit Blick auf Emil Durkheim, George Herbert Mead und Max Weber als Vor-stufe der Vernunft thematisiert. Im vorliegenden Abschnitt werde ich ausgehendvon der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) die Position herausstellenund deren Entwicklung u. a. in den Debatten mit Dieter Henrich (→1.2), derPolitischen Theologie der Vereinigten Staaten (→1.3) Johann Baptist Metz(→1.4) und der Diskussion über liberale Eugenik (→1.5) verfolgen.2

    1.1. Die Theorie des kommunikativen Handelns (1981)

    So groß die Bedeutung der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) an sichauch ist, darf dies nicht über deren religionskritische These hinwegtäuschen. VonInteresse ist neben den Passagen über das Religionsverständnis von Max Weberaus Kapitel 2 auch das Kapitel 5, das den Paradigmenwechseln bei Georg HerbertMead und Emil Durkheim gewidmet ist. Habermas versucht dabei auf rund ein-hundert Seiten die „Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs“3darzustellen, die das Rationalitätspotenzial des kommunikativen Handelns frei-setzt.

    12 Klaus Viertbauer

    1 Exemplarisch sei auf die harsche Kritik in der Besprechung von Karl Markus Michel,Habermas’ früherem Lektor im Suhrkamp Verlag verwiesen, der seine Rezension mit dem pole-mischen Kommentar im Spiegel von 22. März 1982 schloss: „Lieber Jürgen Habermas, mußte dassein? Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie ein akademisches Buch geschrieben haben, eher, daß Siedie Pforten zum Akademischen als ein enges Nadelöhr verstehen. Das höckrige Kamel, das Sie dahindurchtreiben, kommt drüben als ein endloser Bandwurm heraus“.

    2 Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die genannten fünf Diskussionskonstellationen.Einen Literaturbericht über die Aufnahme von Habermas seitens der Theologie bis zum Ende der1980er-Jahre bietet Arens, E. (1989) „Theologie nach Habermas: Eine Einführung“, in Ders. (Hg.)Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos, S. 9–38.

    3 Habermas, J. (1981) Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M.: Suhrkamp,Bd. II, 119.

  • Mit Durkheim bestimmt Habermas den Ritus als ursprünglichen Bestandteil vonReligion. Er geht phylogenetisch Glaubensüberzeugungen voran, weil der Ritusin seiner Form vorsprachlich strukturiert ist. Bereits im vorsprachlichen Me-dium religiöser Riten, so die vorgetragene These, lässt sich ein symbolisch ver-mittelter Konsens ausmachen, der im Kern Normativität beansprucht. Vor die-sem Hintergrund bemüht sich Habermas im Gespräch mit Durkheim zu zeigen,wie sich die in religiösen Riten erstmals greifbare Normativität Schritt für Schrittvon einer religiösen in eine moralische Überzeugung aufheben lässt. „Aus denstrukturellen Analogien des Heiligen und des Moralischen schließt Durkheim aufeine sakrale Grundlage der Moral […, die] ihre bindende Kraft letztlich aus derSphäre des Heiligen“ bezieht.4 Folglich lassen sich mittels einer Untersuchungüber das Heilige Erkenntnisse über das Moralische gewinnen. Der Ritus konser-viert nicht nur den normativen Konsens, sondern vergegenwärtigt diesen zu-gleich. Exemplarisch zeichnet Habermas dies entlang Durkheims Beispiel derRechtsentwicklung nach. Durkheim identifiziert das Strafrecht in seiner frühstenForm als Reaktion auf die Verletzung eines Tabus: „Das originäre Verbrechen istdas Sakrileg, die Berührung des Unberührbaren, die Profanisierung des Heili-gen.“5 Vor diesem Hintergrund wird Strafe als Sühne verstanden, in der es nichtum persönliche Rache geht, sondern um die Restitution einer höheren Ordnung.Erst mit dem Zivilrecht, wo der Schadenersatz das Sühnedenken beerbt, wird dieReferenz von einer höheren Ordnung auf ein konkretes Gegenüber gelenkt. In-dem sich „das moderne Recht […] um den Ausgleich privater Interessen“ kris-tallisiert, streift es „seinen sakralen Charakter“ ab.6 Im Anschluss an Mead deutetHabermas den Übergang vom Heiligen zur Moral in Form einer semantischenEmergenz. Diese besteht in der Umstellung von propositionalen Sprechakten zuillokutionären. Dazu schließt Habermas an Meads Subjektmodell aus Geist, Iden-tität und Gesellschaft (1934) an. Das Self konstituiert sich laut Mead aus denBestandteilen von I und Me. Im Me werden die Haltungen und Reaktionen derAnderen gegenüber der eigenen Person zusammengefasst. Da ein Self zumeist inunterschiedlichen (z.B. beruflichen, familiären …) sozialen Kontexten behei-matet ist und dabei wechselnde Rollen einnimmt, lassen sich mehrere Me’s von-einander unterscheiden. Die Aufgabe des I besteht darin, diese Me’s miteinanderin Übereinstimmung zu bringen, um auf diesem Weg ein Self auszubilden. Dasillokutionäre Moment besteht somit in der Internalisierung gesellschaftlicherVorgaben im Self. So wird die Interaktion des I mit seiner Umwelt als Me im Self

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 13

    4 Habermas (1981) II, 79 f.5 Habermas (1981) II, 120.6 Habermas (1981) II, 121.

  • eingeschrieben. Es handelt sich um Rollenbilder, in denen ein Subjekt wirksammit seiner Umwelt interagiert. Erst dadurch wird eine Ich-Identität eines Selfgeneriert und eine Person befähigt „sich unter Bedingungen autonomen Handelnsselbst zu verwirklichen.“7 Habermas verknüpft in diesem Prozess zwei nurscheinbar auseinanderfallende Stoßrichtungen: Individuierung und Vergesell-schaftung.8 Je mehr ein I seine Me’s in Einklang zu bringen vermag, desto mehrfindet es sich in den gesellschaftlichen Kontexten eingelassen. Dies bleibt nichtohne Folgewirkung für die Religion: Indem ein Subjekt durch kommunikativesInteragieren sein Selbst ausbildet, deutet es sein Dasein vor dem Hintergrunddieser Interaktionsprozesse und nicht länger vor dem eines religiösen oder me-taphysischen Abhängigkeitsgefühls.

    Damit ist der Beweisgang von Habermas hinreichend konturiert: „Die Entzau-berung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich auf dem Wegeiner Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grundverständnisses[,womit …] die Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Ratio-nalitätspotentials einher[geht]. Die Aura des Entzückens und Erschreckens, dievom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur bindendenKraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und veralltäglicht.“9Damit – so gilt es vorerst festzuhalten – wird Religion im kommunikativen Han-deln aufgehoben. Der Fortbestand von Religion an sich ist dadurch infrage ge-stellt.

    1.2. Habermas und die Frage nach dem Subjekt

    Die Dekade nach Habermas’ Rückkehr nach Frankfurt ist nicht zuletzt von sei-nen Debatten mit den Postmodernisten, später dann von seiner Kontroverse mitDieter Henrich geprägt. Beide Diskussionen verbindet die Frage nach der Be-stimmung des Subjekts. Da dieser Aspekt für Habermas’ nachfolgende Beschäf-tigung mit der Religionsthematik von zentraler Bedeutung ist, beschränke ichmich in der folgenden Darstellung darauf.

    14 Klaus Viertbauer

    7 Habermas (1981) II, 153.8 Diesen Zusammenhang stellt Habermas in Habermas, J. (1992) Nachmetaphysisches Den-

    ken, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Kap. 8: „Individuierung durch Vergesellschaftung“ nochmals imDetail heraus. Eine entwicklungspsychologische Interpretation legt er bereits in Habermas, J.(1976) Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Kap. 3: „Moral-entwicklung und Ich-Identität“ vor.

    9 Habermas (1981) II, 119.

  • Zeitlich wie auch mit Blick auf den Umfang des Publizierten gebührt der Debattemit den Postmodernisten eindeutig Vorrang. Als Auslöser lässt sich die Rede zurVerleihung des Adorno-Preises Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (1980)bestimmen. Christoph Menke charakterisiert diesen anspruchsvollen und argu-mentativ dicht gedrängten Text als „Blaupause der großen systematischen Bü-cher der beiden folgenden Jahrzehnte.“10 Die darin vorgezeichneten Pfade ent-wickelte Habermas in den folgenden Jahren in Vortragsreihen, die er in Boston,Frankfurt, New York und Paris hielt, weiter und veröffentlichte die gesammeltenErgebnisse in Der philosophische Diskurs der Moderne (1988). Habermas formu-liert in diesem Band seine Kritik an Michel Foucault, Jacques Derrida undGeorges Bataille vor dem Hintergrund der Entwicklung der Moderne, die er imAusgang von Hegel skizziert.11 Seine These hat dabei zwei Stoßrichtungen: Aufder einen Seite nimmt Habermas in Anschluss an Theodor Adornos und MaxHorkheimers Dialektik der Aufklärung (1944) die Moderne kritisch in den Blick.Auf der anderen Seite verschärft sich seines Erachtens das Ausgangsproblemlediglich, wenn man den Weg über die nietzscheanische Drehscheibe einschlägtund in „dekonstruktive Kritik“ verfällt. Mit der „methodologische[n] Vernunft-feindlichkeit [… bewegen] sich Untersuchungen dieses Typs heute im Nie-mandsland zwischen Argumentation, Erzählung und Fiktion [… und] ver-dräng[en] jenen bald zweihundertjährigen, der Moderne selbst innewohnendenGegendiskurs, an den ich mit dieser Vorlesung erinnern möchte.“12 Die Alterna-tive, die Habermas demgegenüber als Desiderat in Stellung bringen möchte, be-steht darin, die Moderne neu durchzubuchstabieren, indem man dem sich auf-tuenden Subjektivismus mit einem Intersubjektivismus begegnet. Dabei begreiftHabermas die „intersubjektive Verständigung als das der umgangssprachlichenKommunikation eingeschriebene Telos“, das er selbst mit seiner Diskurstheoriezu rekonstruieren versucht.13 Im Zuge seiner Sammelrezension Rückkehr zurMetaphysik? (1984) stößt sich Habermas an Henrichs gleichgültigem Verhalten

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 15

    10 Menke, C. (2009) „Aporien der kulturellen Moderne“, in Brunkhorst, H., Kreide, R., La-font, C. (Hg.) Habermas-Handbuch, Stuttgart: J. B. Metzler, 205–214.

    11 Im Vorwort erwähnt Habermas beiläufig, dass er u. a. durch die Lektüre von Jean-FrançoisLyotard (1979) La condition postmoderne, Paris: Editions de Minuit angeregt wurde. Welsch, W.(2008) Unsere Postmoderne Moderne, Siebte Auflage, Berlin: Akademie Verlag, 164 kritisierteallerdings den Umstand, dass Habermas sodann mit keiner Silbe auf Lyotard zu sprechen kam,woraufhin sich Manfred Frank 1988 in die Debatte mit den Band Die Grenzen der Verständigung:Ein Streitgespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/M.: Suhrkamp einschaltete und dieargumentativen Fronten zu klären versuchte.

    12 Habermas, J. (1988) Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp,S. 353.

    13 Habermas (1988) 362.

  • gegenüber den postmodernistischen Attacken: „Henrich macht keinen Versuch,das mit Kant zur Herrschaft gelangte Paradigma der Bewußtseinsphilosophiegegen eine seit Nietzsche immer wieder vorgetragene Kritik zu verteidigen. Erbeharrt auf der intuitiven Erfahrung des Selbstbewußtseins wie auf einer dis-kursfreien Gegenwart letzter Gründe.“14 Henrich scheint die Entwicklung desphilosophischen Diskurses seit Nietzsche deshalb nicht ernsthaft zu würdigen,weil sich diese Entwicklung selbst Schachmatt setzt. So vermittelt Henrich „denEindruck, daß sich nach Kuhn und Feyerabend, dem blinden kontextabhängigenAuf und Ab der Paradigmenwechsel wissenschaftsintern ein vernünftiger Sinnnicht mehr abgewinnen läßt“.15 Aus diesem Grund trägt Henrich „von außenVernunft an den Kulturprozeß der Wissenschaftsentwicklung“ heran.16 Henrich,der mehrmals umfangreich auf Habermas repliziert, lässt sich davon nicht beir-ren und hält rigide an seiner Position fest.17 Dabei spricht sich Henrich für einedem sprachlichen Diskurs vorausgehende Ebene des Mit-sich-Vertraut-Seinsaus. Denn, so Henrichs Position, wie kann ich mich mit der sprachlichen Äuße-rung „ich“ selbst identifizieren, wenn ich nicht bereits zuvor über ein implizitesBewusstsein dieses Ichs verfüge? In einer erneuten Replik auf Henrich bettetHabermas seine Kritik an diesem in Kierkegaards Anfangspassage aus dessenHauptwerk Die Krankheit zum Tode (1849) ein: „Das Subjekt, das sich erkennendauf sich bezieht, trifft das Selbst, das es als Objekt erfaßt, unter dieser Kategorieals ein bereits Abgeleitetes an und nicht als Es-Selbst in der Originalität desUrhebers der spontanen Selbstbeziehung. […] Das Selbst des performativ, durchdie vom Sprecher übernommene Perspektive des Hörers auf ihn, hergestelltenSelbstverhältnisses wird nämlich nicht wie im Reflexionsverhältnis als Gegen-stand der Erkenntnis eingeführt, sondern als ein in der Teilnahme an sprach-lichen Interaktionen sich bildendes, in Sprach- und Handlungsfähigkeit sich äu-ßerndes Subjekt.“18 Damit ist der argumentative Bogen zur Theorie deskommunikativen Handelns (1981) wieder hergestellt. Das Subjekt konstituiertsich gemäß den von George Herbert Mead beschriebenen Interaktionsprozessenvon I und Me’s, die sich in einem kommunikativ-sprachlichen Paradigma voll-ziehen.

    16 Klaus Viertbauer

    14 Habermas (1992) 275.15 Habermas (1992) 277.16 Habermas (1992) 277.17 Henrich, D. (1987) Konzepte, Frankfurt/M.: Suhrkamp, Kapitel 1: „Was ist Metaphysik –

    wasModerne? Zwölf Thesen gegen JürgenHabermas“; Henrich, D. (1989) „Die Anfänge der Theo-rie des Subjekts (1789)“, in Honneth, A. (Hg.) Zwischenbetrachtung, Frankfurt/M.: Suhrkamp,S. 106–170. Einen Überblick über die Debatte bietet Haider, P. (1999) Jürgen Habermas und DieterHenrich: Neue Perspektiven auf Identität und Wirklichkeit, Freiburg/Br.: Karl Alber, Kapitel 2.

    18 Habermas (1992) 34 f.

  • 1.3. Transzendenz von Innen (1988)

    Dank einer Initiative von Dan Browning und Francis Schüssler-Fiorenza stelltsich Habermas 1988 in Chicago erstmals im Rahmen einer eigenen Veranstal-tung dem Gespräch mit Vertretern der Politischen Theologie. Diese hatten schonlängst die Kritische Theorie, also Adorno, Benjamin und Horkheimer, für dieeigene Arbeit entdeckt und suchten nun das unmittelbare Gespräch mit JürgenHabermas. Habermas reagiert zögerlich und neigt dazu die Einladung aus-zuschlagen: Einerseits wäre eine Ablehnung „als Schweigen der Verlegenheit[…] sogar gerechtfertigt“, gesteht Habermas in einer Vorbemerkung zu seinerReplik ein, „ich bin nämlich mit der theologischen Diskussion nicht wirklichvertraut und bewege mich ungern auf einem unzureichend rekognoszierten Ge-lände. Andererseits haben mich Theologen sowohl in der Bundesrepublik wie inden USA seit Jahrzehnten in ihre Diskussion einbezogen. Sie haben sich all-gemein auf die Tradition der Kritischen Theorie bezogen und auch auf meineDinge reagiert. In dieser Situation wäre ein Schweigen die falsche Mitteilung.“19Im Anschluss an seine Theorie des kommunikativen Handelns (1981) erläutertHabermas sodann, dass die Aufhebung des Heiligen nicht an sich, sondern ledig-lich aus der Perspektive nachmetaphysischen Denkens Gültigkeit beanspruche.So tritt „unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens eine andere Differenzdeutlich hervor […]: der methodische Atheismus in der Art und Weise der phi-losophischen Bezugnahme auf die Gehalte religiöser Erfahrung.“20 Mit anderenWorten: Das Heilige wird nicht an sich aufgehoben, allerdings kann „die Phi-losophie […] sich das, wovon im religiösen Diskurs die Rede ist, nicht als reli-giöse Erfahrung zu eigen machen […, da Religion] als deren Erfahrungsbasis[erst] anerkannt werden [kann], wenn die Philosophie [… Religion] unter einerBeschreibung identifiziert, die nicht mehr einer bestimmten religiösen Traditionentlehnt ist, sondern dem Universum der vom Offenbarungsgeschehen entkop-pelten, begründeten Rede angehört.“21 Für den Philosophen verkommt dabei„der metaphorische Gebrauch von Vokabeln wie Erlösung, messianisches Licht,Restitution der Natur usw. […] zum bloßen Zitat“, ohne einen sichtbaren Bedeu-tungsgehalt aufzuweisen.22 Der Philosoph ist angehalten, wenn er „unter Bedin-gungen nachmetaphysischen Denkens […] einen Wahrheitsanspruch stellt […,]Erfahrungen, die im religiösen Diskurs ihren Sitz haben, [erst] in die Sprache

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 17

    19 Habermas (2009) Kritik der Vernunft. Philosophische Texte 5, Frankfurt/M.: Suhrkamp,S. 417.

    20 Habermas (2009) 427.21 Habermas (2009) 427 f.22 Habermas (2009) 428.

  • einer wissenschaftlichen Expertenkultur [zu] übersetzen.“23 Dasselbe gelte imÜbrigen auch für die religiösen Diskurse, die „ihre Identität [verlören], wennsie sich einer Art von Interpretation öffneten, die die religiösen Erfahrungennicht mehr als religiöse gelten läßt.“24 Damit vollzieht Habermas eine entschei-dende Wende: Indem er vom religiösen Diskurs spricht und dessen Eigenstän-digkeit gegenüber der Philosophie herausstellt, wird Theologie satisfaktions-fähig. In diesem Sinn korrigiert Habermas seine Äußerung aus der Theorieeines kommunikativen Handelns (1981) und bewegt sich von der These der Auf-hebung zu der einer Übersetzung.

    1.4. Die Habermas-Metz-Debatte (1988–1996)

    Die Politische Theologie soll auch künftig der theologische Gesprächspartner fürHabermas bleiben. Diesseits des Atlantiks greift Johann Baptist Metz den Ge-sprächsfaden auf. In der von Axel Honneth verantworteten Festschrift zum60. Geburtstag findet sich ein schmaler, fünf Druckseiten umfassender BeitragAnamnetische Vernunft: Anmerkungen eines Theologen zur Krise der Geisteswis-senschaften (1988), in dem Metz die Hellenisierungs-These harsch attackiert.25Diese Kritik sei, so Metz’ These, paradigmatisch für den gegenwärtigen Gel-tungsverlust der Geisteswissenschaften. Worin lag die Brisanz von Metz’ Kritik?Metz vertrat die kühne These, dass mit der Hellenisierung des Christentumszugleich eine Halbierung des Geistes verbunden sei und das Christentum, als„die in Jesus Christus vermittelte Synthese zwischen dem Glauben Israels unddem griechischen Geist“, den Vernunftbegriff um eine wesentliche Komponenteberaubte.26 Diese Komponente identifiziert Metz mit der „anamnetischen Tie-fenstruktur des Geistes“, die in den Schriften jüdischer Denker, wie Adorno,Benjamin, Bloch, Jonas, Levinas oder Rosenzweig greifbar, ansonsten aber imokzidentalen Denken verschwunden sei.27 Die Hellenisierungsthese verfahre, so

    18 Klaus Viertbauer

    23 Habermas (2009) 429.24 Habermas (2009) 430.25 Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Habermas unter der Leitung von Edmund Arens

    parallel eine eigene Festschrift überreicht wurde, die genuin theologische Beiträge versammelt:Arens, E. (Hg.) (1989) Habermas und die Theologie, Düsseldorf: Patmos.

    26 Ratzinger, J. (1983) „Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen“, in König, F., Rahner,K. (Hg.) Europa: Horizont der Hoffnung, Graz, Wien, Köln, S. 68 – Besagtes Ratzinger-Zitat führtMetz regelmäßig als paradigmatischen Beleg an.

    27 Metz, J. B. (1988) „Anamnetische Vernunft: Anmerkungen eines Theologen zur Krise derGeisteswissenschaft“, in Honneth, A. (Hg.) Zwischenbetrachtung: Im Prozeß der Aufklärung,Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 733.

  • die Kritik, einseitig: Jerusalem schuldet Athen etwas, aber nicht umgekehrt. Dieanamnetische Vernunft, die „Denken als Andenken, als geschichtliches Einge-denken“ begreift, läuft der „zeit- und geschichtsenthobenen platonischen Anam-nesis“ entgegen.28 Es geht, so betont Metz mit Nachdruck, nicht um eine „ratio-nalisierende […] Einebnung der Diskontinuität und geschichtlichen Brüche imInteresse individueller und kollektiver Identitätssicherung der gegenwärtig Le-benden“, sondern um „Erinnerung qua Eingedenken […] nicht als Kompensa-tions-, sondern als Konstitutionskategorie des menschlichen Geistes.“29 Dieseseinseitige Vernunftverständnis färbt selbst noch auf die nachmetaphysische Dis-kurstheorie von Habermas ab. So fehlt es – wie bereits Helmut Peukert in seinerviel beachteten, bei Johann Baptist Metz eingereichten Dissertation Wissen-schaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie aus dem Jahr 1976herausstellte – der kommunikativen Vernunft an einer anamnetischen Tiefen-dimension.30

    Augenscheinlich hinterließen diese fünf Seiten auf Habermas einen bleiben-den Eindruck. Denn er sah sich seinerseits zu einer Gegendarstellung gefordert.Auf dem Abschiedssymposion 1993, das zur Emeritierung von Johann BaptistMetz in Münster veranstaltet wurde, ergriff Habermas die Initiative für eineReplik. „Die Geschichte der Philosophie“, so Habermas’ Kontra, „ist nicht nureine des Platonismus, sondern auch die des Protests gegen ihn.“31 Auf der einenSeite wäre der „Weg von der intellektuellen Anschauung des Kosmos über dieSelbstreflexion des erkennenden Subjekts zur sprachlich inkarnierten Ver-nunft“32 ohne antiplatonische Strömungen schlichtweg nicht denkbar. Auf deranderen Seite hätten wir „ohne diese Unterwanderung der griechischen Meta-physik durch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft […] jenesNetzwerk spezifisch moderner Begriffe, die im Begriff der kommunikativen undzugleich geschichtlich situierten Vernunft zusammen[fließen], nicht ausbildenkönnen.“33 Als Beispiele führt Habermas u. a. „den Begriff der subjektiven Frei-heit und die Forderung des gleichen Respekts für jeden“, „den Begriff der Auto-nomie, einer Selbstbindung des Willens aus moralischer Einsicht, die auf Ver-

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 19

    28 Metz (1988) 734 – Hervorhebung vom Verf.29 Metz (1988) 737.30 Eine Diskussion von Peukerts Arbeitet bietet der Band John, O., Striet, M. (Hg.) (2010)

    „… und nichts Menschliches ist mir fremd“: Theologische Grenzgänge, Regensburg: FriedrichPustet.

    31 Habermas, J. (1994) „Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft?“ inMetz, J. B. (Hg.) Diagnosen zur Zeit, Düsseldorf: Patmos, S. 54.

    32 Habermas (1994) 55.33 Habermas (1994) 56.

  • hältnisse reziproker Anerkennung angewiesen ist“ oder den „Einbruch des his-torischen Denkens in die Philosophie“ an.34 Damit ist die von Metz vorgetrageneThese einer Halbierung des Geistes widerlegt. Habermas’ Diskurstheorie wäreohne die anamnetische Komponente nicht denkbar.

    Im Gegensatz zu Habermas schien Metz von der Replik nur wenig bis garnicht beeindruckt. Drei Jahre später – Metz nahm zu dieser Zeit nach der Eme-ritierung in Münster eine Gastprofessur in Wien wahr – antwortete er nochmalsmit dem schmalen, zweiseitigen Artikel Athen versus Jerusalem? (1996) auf Ha-bermas. In diesem Beitrag untermauerte Metz erneut seine These einer Halbie-rung des Geistes: „Man berief sich zwar auf die Glaubenstradition Israels, denGeist aber holte man sich ausschließlich aus Athen oder genauer aus den helle-nistischen Traditionen, also aus einem subjektlosen und geschichtsfernen Seins-und Identitätsdenken, für das Ideen allemal fundierender sind als Erinnerun-gen.“35 Den Einwand von Habermas, gemäß dem „der anamnetische Geist derbiblischen Tradition inzwischen längst in das Vernunftdenken der europäischenPhilosophie eingedrungen sei“, kommentiert er mit den Worten: „ich zweifle“.36Seinen Zweifel begründete Metz mit Blick auf die Theorie eines kommunikativenHandelns (1981), in der „die Katastrophen von Ausschwitz […] mit keinemWort“37 Erwähnung finden, während Habermas im Zuge seiner Kleinen Politi-schen Schriften aber sehr wohl dazu Stellung bezog. Damit ist für Metz erwiesen,dass – wie er ironisch bemerkt – „die Kommunikationstheorie […] alle Wun-den“38 heilt, weil selbst Habermas noch in der Tradition eines westlich-okziden-talen Denkens verharrt, das aus der Halbierung des Geistes bzw. der Hellenisie-rung des Christentums hervorging.

    Der Austausch und die Diskussion mit Metz hinterließen bei Habermassichtbare Spuren. Es war ein katholischer Theologieprofessor, der ihm gegenübermit Nachdruck das Erbe Adornos, Benjamins oder Horkheimers einklagte. Drei-zehn Jahr später bekundete Habermas in einem Gespräch mit Eduardo Men-dieta, dass „Johann Baptist Metz […] das große Verdienst [hat], die Zeitemp-findlichkeit nachmetaphysischen Denkens jenseits aller kontextualistischenKurzschlüsse zu einem Thema gemacht zu haben, das eine Brücke zur zeitgenös-

    20 Klaus Viertbauer

    34 Habermas (1994) 56.35 Metz, J. B. (1996) „Athen versus Jerusalem? Was das Christentum dem europäischen Geist

    schuldig geblieben ist“, in Orientierung, Nr. 60, S. 59.36 Metz (1996) 59.37 Metz (1996) 59 f.38 Metz (1996) 60.

  • sischen Theologie bilden kann.“39 Die Frage nach der Aneignung der Geschichtebildet den gemeinsamen Nenner.

    1.5. Der Mensch als Person: Liberale Eugenik

    Die Fortschritte in den Biowissenschaften erreichten am Ende des 20. Jahrhun-derts die ethische, rechtsphilosophische und politische Debatte in Deutsch-land.40 Die damit gegebene Möglichkeit einer Modellierung des Embryos setztedas ethische Problem, den Personenstatus des Embryos zu begründen, auf dieAgenda. Dabei verzweigten sich mehrere, für den Laien nur schwer zu unter-scheidende Debatten und Fragestellungen in einer richtungsweisenden Frage,die Habermas als Die Zukunft der menschlichen Natur (2001) kennzeichnete.Der Vorschlag von Habermas bestand darin, aus reziproken Anerkennungsver-hältnissen, die sich Menschen im kommunikativen Handeln implizit zuschrei-ben, eine moralische Vorrangstellung des menschlichen Individuums zu begrün-den und damit auch den Embryo als Person im Diskurs zu berücksichtigen. Miteiner auf den formalen Prinzipien kommunikativen Handelns basierenden Gat-tungsethik versuchte Habermas, den Proponenten einer liberalen Eugenik ent-gegenzutreten. Aufschlussreich ist ein Interview, das Jürgen Habermas ThomasAssheuer und Jens Jensen unter dem Titel Auf schiefer Ebene (2002) gab. Anentscheidender Stelle erklärte Habermas sehr eindringlich seine Sorgen ange-sichts einer möglichen Liberalisierung der Eugenik: „Nehmen wir einmal an,dass sich Eltern eines Tages genetische Designs aussuchen können, um für ihrgeplantes Kind bestimmte Eigenschaften, Dispositionen oder Fähigkeiten präna-tal festzulegen. Der Heranwachsende, der von einer solchen Programmierungerfährt, begegnet dann unter Umständen genetisch fixierten Absichten, die ersich nicht als Bestandteil seiner Identität zu Eigen machen möchte. Der musika-lisch Begabte, der lieber Hochleistungssportler werden möchte, kann seinen El-tern vorwerfen, ihn nicht mit athletischen Fähigkeiten ausgestattet zu haben.Niemand kann Entscheidungen, die unwiderruflich durch das Sozialisations-

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 21

    39 Habermas, J. (2012) „Ein neues Interesse der Philosophie an Religion“, in Ders. Nach-metaphysisches Denken II, Berlin: Suhrkamp, S. 119.

    40 Auf den Streit mit Peter Sloterdijk gehe ich an dieser Stelle ebenso wenig ein wie auf dieweitverzweigten ethischen und rechtsphilosophischen Debatten, die Habermas u. a. mit DieterBirnbacher, Ronald Dworkin, Thomas McCarthy, Reinhard Merkel, Thomas Nagel, Ludwig Siepoder Robert Spaemann führte. Einen Überblick über den Argumentationsgang bietet Schmidt,T. M. (2009) „Menschliche Natur und genetische Manipulation“, in Brunkhorst, H., Kreide, R.,Lafont, C. (Hg.) Habermas-Handbuch, Stuttgart: J. B. Metzler, S. 282–291.

  • schicksal einer anderen Person hindurchgreifen rechtfertigen. Niemand vermagvorauszusehen, was sich im lebensgeschichtlichen Kontext eines anderen alsFluch und Segen erweisen wird – selbst wenn es sich um ‚genetische Grundgüter‘wie ein gutes Gedächtnis oder Intelligenz handelt. In manchen Kontexten mageinem Kind gar eine leichtere körperliche Behinderung zum Vorteil gereichen.Die Folgen sind unkalkulierbar, weil die Verteilung genetischer RessourcenSpielräume mitbestimmt, innerhalb derer eine andere Person einmal von ihrerethischen Freiheit Gebrauch machen wird, um ihr Leben in eigener Regie zugestalten. In Konfliktfällen würde sich eine programmierte Person nicht mehrals ungeteilte Autorin ihres Lebens verstehen können. Und wenn diese Art vonFremdbestimmung nicht auszuschließen ist, ist auch die grundsätzliche Gleich-stellung berührt. Angesichts einer kumulativen Verdichtung vergangener euge-nischer Entscheidungen würden sich die Nachgeborenen gegenüber früherenGenerationen nicht mehr als ebenbürtig betrachten können.“41 Das Damm-bruchargument, das Habermas den Proponenten entgegenhält, besteht in derWarnung vor einer Destruktion des Selbstverständnisses der menschlichen Gat-tung: Wenn man ohne die Möglichkeit einer diskursiven Einbindung des Betrof-fenen aktiv in dessen genetische Konfiguration eingreift, dann bringt man daskommunikative Band, das auch zwischen den Generationen, zwischen Gebore-nen und Ungeborenen besteht, zum Reißen. Der Betroffene würde von der Kon-sensfindung suspendiert und seine Interessen durch die Dritter ersetzt. Vor die-sem Hintergrund sperrt sich Habermas gegen jede Form einer Liberalisierungder Eugenik.

    Was diese Debatte für die Religionsthematik interessant macht, ist der Um-stand, dass Habermas Religion als Gesprächspartner in die Diskussion einzube-ziehen versucht. Ganz deutlich wird dies in seinem Bezug auf die Genesisperiko-pe 1,27. Diese Aussage empfiehlt Habermas als genuinen Beitrag von Seitenchristlicher und jüdischer Gläubiger in die diskursive Konsensfindung einzube-ziehen. In seiner Friedenspreisrede Glauben und Wissen (2001), auf die wir nochim Detail zu sprechen kommen, knüpft Habermas an die Debatte an und führtvor, wie eine derartige Beteiligung von Gläubigen aussehen könnte. Er zerlegt diePerikope aus Gen 1,27 (nach der Einheitsübersetzung: „Gott schuf also den Men-schen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf ersie“) in zwei Komponenten und bietet eine Übersetzung im Sinn einer Entsakra-lisierung an:

    22 Klaus Viertbauer

    41 Assheuer, T., Jenssen, J. (2002) „Auf schiefer Ebene. Ein Interview mit Jürgen Habermas“,in Die Zeit, Nr. 5, S. 33.

  • Sakrale Form Nachmetaphysische Form

    Aussage I Der Mensch ist Ebenbild Gottes Der Mensch ist ein mit Freiheit begabtesund zur Freiheit verpflichtetes Wesen

    Aussage II Der Mensch ist Geschöpf Gottes Der Mensch verdankt sein natürlichesSosein nicht einem anderen Menschen

    Diese Aussagen können nun von Seiten christlicher und jüdischer Gläubiger mitGeltungsanspruch in den öffentlichen Diskurs über die Liberalisierung von Eu-genik eingespeist werden: Da der Mensch sein natürliches Sosein nicht einemanderen Menschen verdankt (Aussage II) und er zugleich zur Achtung der eige-nen Freiheit und der jedes anderen Menschen verpflichtet ist (Aussage I), ist eslaut christlicher und jüdischer Tradition illegitim, in die genetische Konfigura-tion eines Embryos einzugreifen. Damit streift Habermas endgültig die Säkula-risierungsthese ab und lädt Religion ein, wenngleich unter Verpflichtung auf dieDiskursregeln, sich am Diskurs öffentlicher Meinungsfindung zu beteiligen.

    2. Postsäkulare Gesellschaft

    Die Friedenspreisrede gilt gemeinhin als der Wendepunkt in Habermas’ Behand-lung der Religionsthematik. Als entscheidendes Indiz dafür lässt sich der vonHabermas erstmals verwendete und in weiterer Folge vielfach zitierte Terminusder postsäkularen Gesellschaft anführen. Vor diesem Hintergrund setzt der zwei-te Teil des Aufsatzes mit der Erörterung der Friedenspreisrede an und verfolgtderen Rezeption in der Debatte mit Joseph Ratzinger und den Jesuiten an derHochschule für Philosophie in München.42

    2.1. Die Friedenspreisrede als Wendepunkt:Eine postsäkulare Konstellation

    Der 11. September 2001 hat sich in das kulturelle Gedächtnis nicht nur der ame-rikanischen Bevölkerung, sondern des gesamten westlich-okzidentalen Kultur-kreises eingebrannt. Die terroristischen Anschläge auf die Twin Towers in New

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 23

    42 Ich beschränke mich in meiner Darstellung auf diese drei Vorträge von Habermas. Wei-terführend sei auf Habermas’ Aufsatzsammlungen Habermas, J. (2005) Zwischen Naturalismusund Religion, Frankfurt/M.: Suhrkamp und Habermas, J. (2012) Nachmetaphysisches Denken II,Berlin: Suhrkamp verwiesen.

  • York und das Pentagon in Arlington sowie die missglückten auf das Weiße Hausin Washington D.C. sorgten für weltweite Betroffenheit und rückten die Fragenach dem Verhältnis von Glaube und Vernunft in den Fokus. Jürgen Habermas,der zu eben diesen Zeitpunkt an der New York University weilte, um im Rahmeneines Kolloquiums u. a. mit Ronald Dworkin und Thomas Nagel über die Risikeneiner Liberalisierung der Eugenik zu diskutieren, scheute die ihm zugesprocheneVerantwortung nicht und passte das Thema seiner Dankesrede zur Entgegen-nahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit Glauben und Wissen(2001) dem aktuellen Tagesgeschehen an. Der Ordnungsversuch von Habermasbestand in einer Rekonstruktion des Säkularisierungsprozesses: „Wer einen Kriegder Kulturen vermeiden will“, so Habermas, „muss sich die unabgeschlosseneDialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerungrufen.“43 Der Begriff der Säkularisierung wurde ursprünglich auf die „erzwunge-ne Übereignung von Kirchengütern an die säkulare Staatsgewalt“ bezogen undbald auf die Moderne insgesamt übertragen: Seitdem verbinden sich mit Säkula-risierung mit der „erfolgreiche[n] Zähmung der kirchlichen Autorität“ und „derwiderrechtlichen Aneignung“ kirchlichen Eigentums entgegengesetzte Bewer-tungen.44 Diese Dialektik beschreibt ein Nullsummenspiel, in dem Gläubigeund Nichtgläubige, in ihren Standpunkten festgefahren, einander sprachlos ge-genüberstehen. Wo aber die Möglichkeit zu einer gemeinsamen Verständigungfehlt, dort droht die Gewalt das Ruder zu übernehmen. Vor diesem Hintergrundhat Säkularisierung als Deutungskategorie ausgedient. „Das Fortbestehen reli-giöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umge-bung“45 ist nach Habermas symptomatisch für die gesellschaftliche Situation zuBeginn des 21. Jahrhunderts. Deshalb gilt es Gläubige kooperativ in den Prozessder öffentlichen Konsensfindung miteinzubeziehen. Diese neue Form von Ko-operation bezeichnet Habermas als postsäkular. Sie basiert auf drei Grundregeln:„Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mitanderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zwei-tens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftlicheMonopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissendes Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begrün-den.“46 So sind gläubige Bürger aufgefordert, sich nicht abzukoppeln, sondernam Prozess der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen, indem sie ihre Tra-

    24 Klaus Viertbauer

    43 Habermas, J. (2001) Glauben und Wissen, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 11.44 Habermas (2001) 12.45 Habermas (2001) 10.46 Habermas (2001) 14.

  • ditionen diskursiv aufarbeiten und als Geltungsansprüche in den Diskurs ein-bringen.

    2.2. Vorpolitische Grundlagen: Habermas und Ratzinger

    Am 19. Januar 2004 gelang der Katholischen Akademie München mit einer Dis-kussion zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger ein Schachzug derExtraklasse. Erstmals standen sich der als konservativ geltende Kurienkardinalund der linke Vorzeigedenker unmittelbar in einer Diskussion gegenüber. AlsThema wurde den Diskutanten die Frage nach den vorpolitischen Grundlagendes demokratischen Staats vorgegeben. Zur allgemeinen Überraschung stimm-ten beide in großen Teilen überein, allerdings mit erheblichen Unterschieden inder Begründung. Habermas, auf dem ich mich im Folgenden konzentrieren wer-de, wählte als Ausgangspunkt für sein Referat das Böckenförde-Diktum, gemäßdem der freiheitlich säkulare Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die erselbst nicht mehr garantieren kann. Dies gestattet Habermas, die dritte Regel ausder Friedenspreisrede, gemäß der sich das religiöse Bewusstsein auf die Prämis-sen des Verfassungsstaats einzulassen hat, nochmals präzise herauszuarbeiten. Inder Interpretation des Böckenförde-Diktums stehen sich zwei Modelle gegen-über: Eine substanzielle Auslegung und eine methodische. Habermas schließtsich der zweiten an, während Positivisten wie etwa Hans Kelsen oder NiklasLuhmann die erste Variante vertreten. Es geht Habermas um „eine Methodezur Erzeugung von Legitimität aus Legalität.“47 Bürger „sollen ihre Kommuni-kations- und Teilnahmerechte aktiv, und zwar nicht nur im wohlverstandeneneigenen Interesse, sondern auch Gemeinwohlorientiert wahrnehmen […, was]einen kostspieligen Motivationsaufwand, der legal nicht erzwungen werdenkann“48 verlangt. Habermas attestiert der demokratischen Verfassung an sich,entsprechende Dynamiken freizusetzen, sodass „mit der Entbindung kommuni-kativer Freiheit […] auch die Teilnahme der Staatsbürger am öffentlichenStreit“49 gewährleistet ist. Was ist aber zu tun, wenn das soziale Band reißt, Poli-tikverdrossenheit sich breitmacht und eine „Verwandlung der Bürger wohl-habender und friedlicher liberaler Gesellschaften in vereinzelte, selbstinteressierthandelnde Monaden [droht], die ihre subjektiven Rechte nur noch wie Waffengegeneinander richten“? Diese Situation nimmt Habermas mit Böckenförde in

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 25

    47 Habermas, J. (2005) „Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?“, inHabermas, J., Ratzinger, J. Dialektik der Säkularisierung, Freiburg/Br.: Herder, S. 20.

    48 Habermas (2005) 22.49 Habermas (2005) 23.

  • den Blick: Er hält am Projekt der Aufklärung fest und spricht sich mit Nachdruckgegen eine voraufklärerische Bezugnahme auf metaphysische oder religiöse Ele-mente aus. Bereits in seiner Adorno-Preis-Rede diagnostizierte Habermas dasProjekt der Aufklärung als ein unvollendetes. An dieser Stelle bezieht sich Ha-bermas im Anschluss an die Friedenspreisrede erneut auf die Religion: „Im Ge-meindeleben der Religionsgemeinschaften [… kann] etwas intakt bleiben, wasandernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Ex-perten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann.“50 So innovierte die Re-ligion schon im Zuge der Hellenisierung des Christentums das philosophischeDenken mit folgenreicher Wirkung. Auch im 21. Jahrhundert ist eine „säkulari-sierende […] Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotentiale“51 zur Auf-rechterhaltung und Stabilisierung des liberalen Staatswesens notwendig. Diesgeschieht damals wie heute nicht in Form eines unmittelbaren Bezugs, sondernals rettende Übersetzung. Die Rahmenbedingungen, in denen die umschriebeneAufgabe einer übersetzenden Aneignung von semantischen Potenzialen gelingenkann, gewährleistet die postsäkulare Gesellschaft, die auf den säkularen Prin-zipien des liberalen Verfassungsstaates basiert.

    2.3. Ein Bewusstsein von dem, was fehlt:Habermas zu Besuch bei den Jesuiten

    Im Jahr 2007 folgte Jürgen Habermas einer von Michael Reder und JosefSchmidt angeregten Initiative zu einem Austausch über das Verhältnis von Glau-ben und Vernunft. An der Hochschule für Philosophie in München stellte er sichder Diskussion mit Norbert Brieskorn, Michael Reder, Friedo Ricken und JosefSchmidt. Sein Referat, auf das ich mich hier beziehe, überschrieb Habermas mit„Ein Bewußtsein von dem, was fehlt“. Im Gegensatz zur Wahrnehmung des Ge-spräches von Habermas mit Ratzinger wurde seine Diskussion mit den Jesuitenkritisch kommentiert. Ein genauerer Blick zeigt allerdings, dass solche Einschät-zungen alleine an einzelnen Formulierungen ansetzen und nicht die Aussage desTextes im Ganzen in den Blick nehmen. Für Irritation sorgte vor allem der Be-griff, den Habermas für die Bestimmung des Verhältnisses von Glauben undVernunft einführte, nämlich jener des Opaken. Es handelt sich um die Substanti-vierung des Adjektivs opak, das die Undurchsichtigkeit bzw. Lichtundurchlässig-keit eines Stoffes beschreibt. Was will Habermas damit ausdrücken? Habermas

    26 Klaus Viertbauer

    50 Habermas (2005) 31.51 Habermas (2005) 32.

  • grenzt sich gegen die Interpretation seiner Thesen als Fundamentaltheologieoder Philosophische Theologie ab: „Fides quaerens intellectum – so begrüßens-wert die Suche nach der Vernünftigkeit des Glaubens ist, so wenig hilfreichscheint es mir zu sein, jene drei Enthellenisierungsschübe, die zum modernenSelbstverständnis der säkularen Vernunft beigetragen haben, aus der Genealogieder ‚gemeinsamen Vernunft‘ von Gläubigen, Ungläubigen und Andersgläubigenauszublenden.“52 Mit dem Begriff des Opaken versucht er die Differenz vonGlauben und Vernunft zu veranschaulichen: „Der Glaube behält für das Wissenetwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf.“53Entscheidend ist bei dieser Formulierung, dass der Ausdruck opak nicht auf dieReligion an sich, sondern, so die Pointe von Habermas, auf die Wahrnehmungder Religion von Seiten der säkularen Vernunft bezogen wird. Mit anderen Wor-ten: Bei der Attribuierung von Religion als opak handelt es sich um eine Art vonGeschmacksurteil im Kant’schen Sinn, das seiner Form entsprechend Auskunftüber die säkulare Vernunft und somit gerade nicht über die Religion gibt. Ha-bermas äußert sich nicht zur Religion an sich, sondern thematisiert das Verhält-nis moderner Gesellschaftsformen zu ihr. Diese Gesellschaftsformen drohen zuentgleisen, wenn sie ihre Beziehung zur Religion nicht angemessen bestimmen.Zwar lässt sich „der Riß zwischen Weltwissen und Offenbarungswissen […]nicht wieder kitten“, aber die Sinngehalte der religiösen Tradition können vonder modernen Gesellschaft positiv aufgenommen werden, wenn die Kommuni-kation nicht in Form „eines Filters [erfolgt], der die Traditionsgehalte ausschei-det“, sondern „in Form eines Transformators, der den Strom der Tradition um-wandelt“54. Deutlich grenzt sich Habermas dabei von seinem ehemaligenGesprächspartner Joseph Ratzinger, mittlerweile Papst Benedikt XVI., und des-sen Regensburger Rede ab. „Der Papst beruft sich auf die von Augustin bis Tho-mas gestiftete Synthese aus griechischer Metaphysik und biblischem Glaubenund bestreitet implizit, daß es für die in der europäischen Neuzeit faktisch ein-getretene Polarisierung von Glauben und Wissen gute Gründe gibt.“55 Damitarbeitet Ratzinger an einer Gegenaufklärung, die nicht gewillt ist, sich auf ihrsäkulares Gegenüber einzulassen.

    Von der Säkularisierungsthese zu einer postsäkularen Gesellschaft 27

    52 Habermas (2009) 416.53 Habermas (2009) 411.54 Habermas (2009) 410 f.55 Habermas (2009) 415 f.