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PROTOWISSENSCHAFT UND REKONSTRUKTION DIRK HARTMANN SUMMARY. Protoscience and Reconstruction. A central concept of the constmctivist phi- losophy of science is the term 'protoscience'. From an orthodox point of view, protosciences are bound to give the so called 'measurement-theoretical Apriori' ('megtheoretisches Aprio- ri') for a science. Protophysics for example (operationally) defines the quantities 'length', 'time', and 'mass'. Thereby it yields some basic physical laws, which usually are regarded as "laws of nature", but in fact follow already from the definitions of the basic quantities. The attempt to establish other protodisciplines than protophysics is traditionally regar- ded as not very promising, because other sciences do not like physics build their main theories on certain basic quantities. Nevertheless such enterprises like "protochemistry", "protobiology" and "protopsychology" recently appeared on the scene. Does this mark a breakthrough in constructivist philosophy of science or is this multiplication of protos- ciences no more than a promotion strategy? In the article it is shown that the orthodox definition of 'protoscience' is in fact far to narrow. An alternative definition is proposed which on one hand preserves the classic tasks of protophysics but on the other hand allows for other protosciences as equally useful enterprises. A central concept within the complex topic "protoscience" is the one of 'reconstruction'. It can be shown that there is a certain ambiguity in the use of this critical concept. Therefore the article ends with a reconstruction of the term 'reconstruction'. Key words: Constructivist Philosophy of Science, Measurement-theoretical Apriori, Proto- geometry, Protologic, Protophysics, Protoscience, Prototheory. 0. VORBEMERKUNGEN Die Konstruktivisten unter den Wissenschaftstheoretikern sind daftir be- kannt, yon ihren Philosophenkollegen und von Fachwissenschaftlern un- ermtidlich zu fordern, sie sollten doch ihre Fachtermini auf methodisch nachvollziehbare Weise einftihren. Nur recht und billig ist es daher, wenn im Gegenzug von den Konstruktivisten verlangt wird, bei der Einftihrung ihrer eigenen terminologischen Arbeitsmittel ebenfalls methodische Sorg- far walten zu lassen. Wenn dies in der konstruktiven Wissenschaftstheorie auch stets beherzigt wird, so kommt es doch gelegentlich vor, dab ein wichtiger Terminus im Laufe der Jahre einer unbemerkten - und daher nicht von entsprechenden expliziten Vereinbarungen und Begrtindungen begleiteten - Veranderung in seiner Verwendung unterliegt, die - sobald Journal for General Philosophy of Science 27: 55-69, 1996. @ 1996 KluwerAcademic Publishers. Printed in the Netherlands.

Protowissenschaft Und Rekonstruktion

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P R O T O W I S S E N S C H A F T U N D R E K O N S T R U K T I O N

DIRK HARTMANN

SUMMARY. Protoscience and Reconstruction. A central concept of the constmctivist phi- losophy of science is the term 'protoscience'. From an orthodox point of view, protosciences are bound to give the so called 'measurement-theoretical Apriori' ('megtheoretisches Aprio- ri') for a science. Protophysics for example (operationally) defines the quantities 'length', 'time', and 'mass'. Thereby it yields some basic physical laws, which usually are regarded as "laws of nature", but in fact follow already from the definitions of the basic quantities.

The attempt to establish other protodisciplines than protophysics is traditionally regar- ded as not very promising, because other sciences do not like physics build their main theories on certain basic quantities. Nevertheless such enterprises like "protochemistry", "protobiology" and "protopsychology" recently appeared on the scene. Does this mark a breakthrough in constructivist philosophy of science or is this multiplication of protos- ciences no more than a promotion strategy?

In the article it is shown that the orthodox definition of 'protoscience' is in fact far to narrow. An alternative definition is proposed which on one hand preserves the classic tasks of protophysics but on the other hand allows for other protosciences as equally useful enterprises.

A central concept within the complex topic "protoscience" is the one of 'reconstruction'. It can be shown that there is a certain ambiguity in the use of this critical concept. Therefore the article ends with a reconstruction of the term 'reconstruction'.

Key words: Constructivist Philosophy of Science, Measurement-theoretical Apriori, Proto- geometry, Protologic, Protophysics, Protoscience, Prototheory.

0. VORBEMERKUNGEN

Die Konst rukt iv is ten unter den Wissenschaf ts theore t ikern sind daftir be-

kannt , y o n ihren Ph i losophenko l l egen und von Fachwissenschaf t l e rn un-

ermtidl ich zu fordern, sie sollten doch ihre Fachtermini auf me thod i sch

nachvo l l z i ehbare Weise einftihren. Nur recht und billig ist es daher, w e n n

im G e g e n z u g von den Konstrukt ivis ten ver langt wird, bei der Einf t ihrung

ihrer e igenen t e rmino log i schen Arbei tsmit te l ebenfal ls me thod i sche Sorg-

f a r wal ten zu lassen. W e n n dies in der konst rukt iven Wissenschaf ts theor ie

auch stets beherz ig t wird, so k o m m t es d o c h gelegent l ich vor, dab ein

wich t ige r Terminus im Laufe der Jahre einer unbemerk ten - und daher

nicht von en t sp rechenden explizi ten Vere inbarungen und Begr t indungen

begle i te ten - Veranderung in seiner Verwendung unterliegt, die - sobald

Journal for General Philosophy of Science 27: 55-69, 1996. @ 1996 KluwerAcademic Publishers. Printed in the Netherlands.

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diagnostiziert - nachtriiglich eine erneute methodische Reflexion auf den betreffenden Terminus erforderlich macht.

Ein aktuelles Beispiel hierffir liefert der Begriff ,Protowissenschaft'. Ungeffihr zwanzig Jahre lang wurde von ,,Protodisziplinen" und ,,Proto- theorien" fast ausschlieglich im Zusammenhang einer methodischen Phy- sikbegrfindung - der Protophysik - gesprochen. Erst seit relativ kurzer Zeit wird hingegen auch an anderen Protowissenschaften, insbesondere Protochemie, Protobiologie, Protopsychologie und Protosoziologie ernst- haft gearbeitet, und die ersten diesbeztiglichen Artikel und Monographien sind gerade erschienen bzw. erscheinen in Kfirze 1 . DaB es solange gedau- ert hat, bis man sich tiberhaupt einmal anderen Wissenschaften als der Physik in ,,prototheoretisierender Absicht" zuwandte, ist allerdings kein Zufall: Zusammen mit der Protophysik bildete sich n~imlich historisch- faktisch ein Verst~indnis der Bedeutung des Terminus ,Protowissenschaft' heraus, welches es als wenig sinnvoll erscheinen lieB, ein entsprechendes, protowissenschaftliches Programm auch ffir andere Wissenschaften als die Physik zu verfolgen. Dieses Verst~indnis - welches weiter unten noch genauer zu bestimmen sein wird - scheint mit der Herausbildung der neuen Protodisziplinen augenscheinlich tiberwunden. Die argumentative Ausein- andersetzung mit ihm fand aber offenbar nicht ,,6ffentlich" in Form yon Zeitschriftenartikeln, sonclern nur in den KOpfen einzelner Prototheoretiker oder bestenfalls in gelegentlichen, undokumentierten Gespr~ichen start 2. Der mit der Protophysik vertraute, kritische ,,AuBenbeobachter" k6nnte daher argw6hnen, dab hinter der neuerlichen Ausdehnung des Anwen- dungsbereiches des Wortes ,Proto' vielleicht weniger eine erfolgreiche Durchf~hrung konstruktiver Programmatik, als vielmehr blog ein billiger Etikettenschwindel steckt. Es ist daher in der Tat h6chste Zeit, dab sich die konstruktive Wissenschaftstheorie noch einmal expIizit der Frage zuwen- det, was Protodisziplinen sein und leisten sollen, und genau dies soll die Aufgabe des vorliegenden Beitrags sein.

Im folgenden, ersten Teil des Artikels soll zun~ichst das gfingige Pro- towissenschaftsverst~indnis kurz skizziert werden. Hieran wird sich in Teil Zwei eine Kritik des g~ingigen Verst~indnisses anschliegen. Teil Drei wird dann einen neuen Vorschlag zur Verwendung des Wortes ,Proto' in Kom- bination mit den Namen von Wissenschaften bringen, nach welchen Proto- disziplinen auch f/Jr andere Wissenschaften als die Physik sinnvoll werden. Teil Vier wird etwas n~iher auf die oft vernachl~issigte Unterscheidung der Termini ,Protowissenschaft' und ,Prototheorie' eingehen.

Ein herausragende Rolle bei der Bestimmung dessert, was Protodiszi- plinen leisten sollen, kommt dem Begriff der ,,Rekonstruktion" zu. Mittler- weile ist esja schon zur wissenschaftstheoretischen Binsenweisheit gewor-

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den, dab in den Protodisziplinen ,,rekonstruiert" wird. Sehr viel weniger trivial ist aber schon die Frage, was unter ,,Rekonstruktion" denn nun eigentlich genauer verstanden werden soll. Um nur eine Schwierigkeit zu nennen: in der wissenschaftstheoretischen Literatur wird sowohl yon der Rekonstruktion yon Begriffen, als auch yon der Rekonstruktion yon Theo- rien und sogar yon der Rekonstruktion von Wissenschaften gesprochen. Der Begriff der Rekonstruktion ist also offenbar selbst rekonstruktions- bedtirftig, und daher ist der fiinfte und letzte Teil des Artikels der Aufgabe der terminologischen Kl~irung dieses Begriffs gewidmet.

1. DAS GELAUFIGE PROTOWISSENSCHAFTSVERSTANDNIS

Es wurde schon gesagt, dag sich zusammen mit der bekanntesten und bis heute am besten ausgearbeiteten Protodisziplin- der Protophysik- ein Pro- towissenschaftsverst~indnis etabliert hat, welches es prima facie als wenig sinnvoll erscheinen l~igt, Protodisziplinen auch f~ir andere Wissenschaften vorzusehen. Die Protophysik und das sich aus ihr ergebende Protowissen- schaftsverst~indnis sollen nun zun~ichst kurz charakterisiert werden:

Der Ausdruck ,Protophysik' wurde innerhalb der konstruktiven Wis- senschaftstheorie zuerst yon Paul Lorenzen in seinem 1961er Artikel ,,Das Begriindungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der rgumlichen Ord- nung" benutzt, und zwar ftir die (euklidische) Geometrie, da diese (Zitat) ,,den ersten 3 Schritt darsteUt, der tiber die reine Mathematik hinaus zu einer Physik fiihrt ''4. Da sie durch physikalische Messungen nicht in Fra- ge gestellt werden kann, sondem vielmehr die physikalischen Messun- gen fiber die Explikation yon Ger~itefunktionsnormen 5 allerst erm/3glicht, erweist sich die ,,Geometrie als megtheoretisches Apriori der Physik" (so ein Aufsatztitel yon 1980) 6. Zum megtheoretischen Apriori geh/3rt selbst- verstfindlich mehr als nur eine Theorie der Lfingenmessung und so wird die Protophysik bald erweitert um apriorische Theorien ftir die weiteren phy- sikalischen Grundgr6gen Dauer und Masse: die Chronometrie (vertreten durch die ,,Protophysik der Zeit" yon R Janich) 7 liefert die Definition der Dauer, die Hylometrie (der erstmals durch B. Thtiring eine Monographie gewidmet wurde) 8, die Definition der Masse. Eine apriorische Theorie der Ladung und eine Kymometrie (Theorie der Welle) sind ebenfalls im Gespr~ich 9.

Protophysik als megtheoretisches Apriori der Physik - diese knappe Formulierung charakterisiert treffend das bis heute g~ingige Verst~indnis von Protophysik. Es ist verftihrerisch bis geradezu unwiderstehlich, die- ses Verstfindnis folgendermagen zu verallgemeinern: Protodisziplinen lie- fern das mefitheoretische Apriori der ihnen jeweils zugeordneten Wissen-

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schaften. Demnach ist eine Protowissenschaft sozusagen das materiale Pendant zur NoB an formalen Gesichtspunkten orientierten ,,Allgemei- nen Megtheorie": Sie ist eine ,,Spezielle Megtheorie ''1°, mit der Auf- gabe, die ftir eine bestimmte Wissenschaft einschl~igigen Grundgr6gen tats/~chlich (operational) einzuftihren. Den von einer Protodisziplin hier- zu aufgestellten Prototheorien kommt relativ zu den die einzuftihrenden Meggr613en benutzenden Wissenschaften deshalb ein apriorischer Status zu, weil sie ftir die zu den Meggr6gen geh6renden Meggeriite die jewei- ligen Geriitefunktionsnormen explizieren, deren gelungene Durchsetzung entsprechende Messungen tiberhaupt erst erm6glicht 11

Wird die Sache so gesehen, dann ergibt sich aber sofort, dab ftir vie- le Wissenschaflen wie z.B. Logik, Biologie oder Soziologie der Aufbau einer Protodisziplin ein wenig vielverspechendes Unternehmen sein muG, da in diesen Wissenschaften Meggr6gen und entsprechende Megger~ite entweder gar nicht auftreten, oder aber nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen 12.

2. KRITIK DES GELAUFIGEN PROTOWISSENSCHAFTSVERSTANDNISSES

An dieser Stelle 1/igt sich durchaus schon Kritik am Verst/indnis von Proto- wissenschaften als speziellen MeStheorien anbringen: Es ist ja sehr wohl rechtfertigungsbedtirftig, dab eine Definition yon 'Protowissenschaft', wel- che ftir alle Disziplinen gleichermagen gelten soll, einzig auf der Betrach- rang dessen beruht, was Bedingung der M6glichkeit allein des Physik- treibens ist. DaB eine solche, auf die Bedtirfnisse der Physik hin magge- schneiderte Definition ftir andere Disziplinen nicht so recht passen will, dtirfte eigentlich von vornherein niemanden verwundern.

Wendet man hingegen den Blick nicht sofort auf die Physik, sondem versteht die Voranstellung des W6rtchens 'Proto' vor den Namen einer Wissenschaft erst einmal so, dab unter einer solchen Wortkombination Fra- gestellungen zusammengefaSt werden sollen, deren Klfirung dem Betrei- ben der betreffenden Wissenschaft methodisch vorherzugehen hat (und die in diesem Sinne ,,zuerst" zu beantworten sind), dann mug schon der physikalischen Theorienbildung methodisch sehr viel mehr vorangehen, als nur die Einfiihrung yon Meggr6gen. So mug man etwa wissen, welche erkenntnisleitenden Interessen mit dem Treiben yon Physik verfolgt wer- den, damit man tiber diese wiederum begrfinden kann, dab die Physik u.a. technisch verwertbare Verlaufsgesetze etablieren und nicht beispielsweise eine hermeutische Deumng des Naturgeschehens im Dienste eines besse- ren menschlichen Selbstverst~indnisses o.~i. bereitstellen soll. Was andere Wissenschaften als die Physik angeht, so besitzen auch deren Terminolo-

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gien selbstverst~indlich Grundbegriffe, deren Normierung Bedingung der MSglichkeit der Gewinnung entsprechenden fachwissenschaftlichen Wis- sens ist: Wie soll man beispielsweise Evolutionstheorien evaluieren, wenn man nicht weig, was eine biologische Art ist? Wie kann man die These, dab Frustration Aggression erzeugt, experimentell prtifen, wenn ftir jedes experimentelle Design prinzipiell unklar bleibt, ob geeignete Operationali- sierungen fiir die Termini ,Frustration' und ,Aggression' gew~hlt wurden? Auf dem Hintergrund einer nicht yon vornherein auf die Physik hin vor- genommenen Besfimmung der Aufgaben von Protodisziplinen erscheint es eher sekund~ir, dal3 es sich bei den yon der Protophysik zu kl~enden Grundbegfiffen physikalischer Theofien gerade um MeBgr6f3en handelt. Das heif3t wohlgemerkt nicht, dab die Protophysik nach einem solchen, allgemeineren Verst~indnis nicht das megtheorefische Apfiofi der Physik bereitstellen soll, sondern nur, dab es zur Wahrung des tradifionellen, pro- tophysikalischen Leistungsanspruches nicht n6fig ist, dab dieses Verh~ltnis der Protophysik zur Physik bereits aus der bloBen Definition yon 'Proto- wissenschaft' folgt.

Hierauf k6nnte ein Vertreter des gerade krifisierten Protowissenschafts- verst~indnisses entgegnen, dab es zwar wahr sei, dab vor dem Betrei- ben einer Fachwissenschaft methodisch mehr als nur die Einftihrung yon Mel3gr6ssen geleistet werden mug, dag man diese berechtigten Bemtihun- gen abet nicht unter dem Titel ,Protowissenschaft' zusammenfassen solle, weil das Wort ,Proto' n~imlich bereits vergeben sei und zwar genau im Sinne des g~ingigen Verst~indnisses yon Protowissenschaft als spezieller MeBtheofie. Neben der Protophysik auch noch yon einer Protobiologie, Protosoziologie oder Protopsychologie reden zu wollen, sei ungef~ihr so, wie wenn man der formalen Logik noch eine Seinslogik und eine Logik der Forschung an die Seite stellte - das ganze wRre nicht mehr als ein Verwirrung stiftender Etikettenschwindel.

Mit der Behauptung, das Wort ,Proto' sei bereits vergeben, er6ffnet der Vertreter des g~ingigen Verst~indnisses aber einen Disput um histo- rische Priorit~it, den er nur veflieren kann. Innerhalb der konstruktiven Wissenschaftstheofie feiert das Wort 'Proto' n~imlich bereits sechs Jahre vor Ver6ffenflichung des ersten Protophysikartikels seinen Einstand 13: In der 1955 vertiffenflichten Monographie ,,Einftihrung in die operative Logik und Mathematik ''14 hat Paul Lorenzen einem stattlichen, dreiBigseitigen Kapitel erstmals die 0berschrifl ,,Protologik" gegeben. Etwa um diesel- be Zeit erscheint von ihm auch ein gleichnamiger Artikel in den ,,Kant- Studien,,l 5.

Auf die Protologik soll hier nur ganz kurz eingegangen werden, soweit es ffir das bessere Verst~indnis von Protowissenschaften n6tig ist. Aus-

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gangspunkt war fiir Lorenzen, dag der wichtigste Grundbegriff der Logik, der des logischen Schlusses, noch immer einer ad~iquaten, terminolo- gischen Bestimmung bedarf, da die aus der - ftir diese Frage allge- mein als zust~indig erachteten- "semantischen" Theorie 16 stammende Definition ungentigend ist. Bei ihrer Anwendung zur Rechtfertigung der tiblicherweise als logisch angesehenen Regeln mug man n~imlich genau diese Regeln auf der Metasprachenebene bereits als gtiltig unterstellen. Lorenzen hat nun versucht, diese Schwierigkeiten dadurch zu umgehen, dal3 er, ausgehend vonder menschlichen F~ihigkeit des ,,Schematischen Operierens", der eigentlichen Logik ein Gebiet vorschaltete, welches man vielleicht auch als "allgemeine Theorie der Kalkiile" bezeichnen k6nnte. Weil diese Theorie eine nicht schon auf Logik zurtickgreifende Definition des logischen Schlusses und damit den ersten Schritt zu einer Logik hin erm6glicht, wurde sie von Lorenzen ,Protologik' genannt. Zwar wurde diese Protologik von ibm einige Jahre sp~iter 17 bereits wieder aufgegeben, da fiir die neu entstandene ,,Dialogische Logik" eine eigene Prototheorie entbehrlich schien, wie aber C. E Gethmann 1979 in seiner Kritik an den pragmatischen Defiziten der konstruktiven, insbesondere auch der dialogi- schen Logik gezeigt hat 18, bedarf es faktisch nach wie vor einer ,,pragma- tisch orientierten Protologik". Seit dieser Zeit besch~iftigt sich wieder eine Protodisziplin u.a. mit der Einfiihmng der Grundbegdffe ,logische Regel', ,logischer SchluB', ,logische Partikel' usw. und diese Bemtihungen sind auch in mehreren Monographien und Sammelb~inden dokumentier0 9.

Es dtirfte ohne jede weitere Argumentation ganz klar sein, dab das Schlagwort vom ,megtheoretischen Apriori' der Protologik in keiner Wei- se gerecht wird. Der Verweis auf diese historisch frtihere Protodisziplin war aber selbstverst~indlich nicht dazu gedacht, nunmehr der Protophysik Etikettenschwindel vorzuwerfen und ihr dann den Titel ,Protodisziplin' abzusprechen. Es ist allerdings zu hoffen, dag durch die bisherigen Aus- ftihrungen auch diejenigen, welche bislang Protodisziplinen von vornher- ein nur als spezielle Megtheorien gelten lassen wollten, davon iiberzeugt werden konnten, dab eine nochmalige Reflexion dartiber not tut, was man unter ,Protowissenschaft' verstehen sollte.

3. EIN ALTERNATIVES VERST,~NDNIS VON PROTOWISSENSCHAFT

Bevor im folgenden ein Vorschlag fiir ein alternatives Protowissenschafts- verst~ndnis unterbreitet wird, sollen zunachst vierAddquatheitsbedingun- gen angeben werden, die sich aus dem bis jetzt Gesagten ergeben und denen jeder solche Vorschlag geniigen miigte:

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A1. Das Wort ,Proto' soll in Kombination mit den Namen yon Wissen- schaften so verwendet werden, daB nicht schon aufgrund bloger Deft- nitionen ausgeschlossen wird, dab bestimmte Wissenschaften Proto- disziplinen besitzen k6nnen.

A2. Das Wort ,Proto' soll in Kombination mit dem Namen einer jeden Wissenschaft in gleicher Weise verwendet werden 2°.

A3. Das Wort ,Proto' soll in Kombination mit dem Namen einer Wis- senschaft so verwendet werden, dab die Protodisziplin zu einer Wis- senschaft etwas zu leisten hat, was methodisch dem Betreiben der betreffenden Wissenschaft vorhergehen mug (und in diesem Sinne ,,zuerst" zu leisten ist).

A4. Das Wort ,Proto' soll in Kombination mit den Namen von Wissen- schaften so verwendet werden, dab die faktischen Aufgabenstellun- gender ,,traditionellen" Protodisziplinen Protologik und Protophysik erhalten bleiben 21.

Der nun folgende Vorschlag ist so gewfihlt, dab die Arbeitsgebiete der einzelnen Protodisziplinen relativ zu den Ad~iquatheitsbedingungen so weit wie m6glich gefaBt sind, ohne sich jedoch zu fiberschneiden.

Vorschlag :

Das Wort ,Proto' soll in Kombination mit dem Wort ,Wissenschaft' so verwendet werden, dab die Protodisziplin zu einer Wissenschaft all das zu leisten hat, was einerseits methodisch dem Betreiben der betreffenden Wissenschaft vorhergehen mug (und in diesem Sinne ,,zuerst" zu leisten ist), abet dabei andererseits nicht yon solcher Allgemeinheit ist, daf3 es zu den methodischen Grundlagen ganzer Groggruppen yon Wissenschaften bzw. aller Wissenschaften fiberhaupt geh6rt 22.

Zu den Hauptaufgaben der Protodisziplin zu einer Wissenschaft W sind nach obigem Vorschlag insbesondere (ohne Anspruch auf Vollst~indigkeit) die Beantwortung der folgenden Fragestellungen zu rechnen:

a) Welche erkenntnisleitenden Interessen I werden mit dem Treiben der Wissenschaft W veffolgt?

b) Welche Einteilung von W in Teildisziplinen Wu l~igt sich fiber die gefundenen Interessen I rechtfertigen?

c) Welche Methoden (ira weiteren Sinne) lassen sich fiber die Interes- sen I fiJr die Wissenschaft W bzw. die einzelnen Teildisziplinen W~ rechtfertigen?

d) Wie ordnet sich die Wissenschaft W systematisch in den Gesamtkor- pus der Wissenschaften ein, und wie ist insbesondere das systemati- sche Verh/altnis zu den jeweiligen ,,Nachbardisziplinen" zu beschrei- ben? Und schliel31ich (last but not least):

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e) Wie ist - falls n6tig - eine ad/iquate Rekonstruktion der Grundbegriffe und Theorien der Wissenschaft W zu leisten?

Aufgrund dieses Verst~indnisses k6nnte man sagen, dab die zu einer Wis- senschaft geh6rende Protodisziplin nichts anderes, als die spezielle Wissen- schaftstheorie zu dieser Wissenschaft ist 23. Eine solche ist sicher ffir alle Wissenschaften prinzipiell m6glich. Die Rekonstruktionsaufgabe (Punkt e)) liefert uns die traditionellen T~itigkeitsfelder von Protologik und Pro- tophysik. DaB die Protophysik das mel3theoretische Apriori zur Physik erbringt, ergibt sich faktisch daraus, dab es sich bei den zu rekonstruieren- den, physikalischen Grundbegriffen nun einmal um Mef3gr6Ben handelt.

Im Gegensatz zur weiter oben kritisierten Definition yon Protowis- senschaften als speziellen Mefltheorien kann das erweiterte Verst~indnis von Protowissenschaften als speziellen Wissenschafistheorien nachtr~iglich auch noch das ansonsten eher merkw~Jrdig anmutende Fakmm erkl~ren und rechtfertigen, dab die Prototheoretiker seit jeher in erster Linie Wis- senschaftsphilosophen waren und nicht etwa - wie man vielleicht erwartet h~itte - Fachwissenschaftler aus den jeweiligen Einzeldisziplinen.

4. PROTOWISSENSCHAFT UND PROTOTHEORIE

Allerdings ergibt sich aus dem neu vorgeschlagenen Protowissenschafts- verst~indnis auch ein Einwand, dem noch Rechnung zu tragen ist: Wie kann n~imlich hiernach z.B. die Geometrie, die doch mit Sicherheit nicht zur Wissenschaftstheorie geh6rt, fiberhaupt ein Teil der Protophysik sein? Bevor diese Frage einer zufriedenstellenden Beantwortung zugeffihrt wer- den kann, wird es an dieser Stelle erstmals n6tig, explizit zwischen Pro- towissenschaften einerseits, und Prototheorien andererseits zu unterschei- den. Die Geometrie wird ja genaugenommen nicht als Disziplin zur Proto- physik gez~ihlt, sondern vielmehr wird eine ganz bestimmte geometrische Theorie, nLmlich die axiomatisierte, synthetische, euklidische Geometrie als ,,protophysikalische Theorie" bezeichnet, insofern sie die Einffihrung des physikalischen Grundbegriffes ,,L~nge" erm6glicht. Das Wort ,inso- fern' ist hier wichtig, weil ja die Geometer ihre Theorie gew6hnlich gar nicht dazu heranziehen, die Gr6/3e ,,Lfinge" einzuffihren. Nur sofern der Wissenschaftstheoretiker diese Verbindung zwischen Geometrie und Phy- sik tats~ichlich herstellt, wird die synthetische, euklidische Geometrie zu einer Prototheorie der L~inge und in dieser Eigenschaft zu einem Teil der zur Wissenschaftstheorie geh6renden Protophysik. Da die Geometrie - wie die Physik - selbstverst~indlich ebenfalls Grundbegriffe besitzt (neben ,Punkt', ,Gerade', ,Ebene' insbesondere ,ahnlich' und ,kongruent'), fiber

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deren terminologische Normierung bis heute ebenfalls kein Einverst~indnis besteht 24, wiederholt sich bier im Obrigen die Rekonstruktionsaufgabe des Wissenschaftstheoretikers, so dab es zwar zun~ichst etwas verwirrend, aber doch gerechtfertigt ist, dab mittlerweile auch noch yon einer , ,Protogeo- metrie" gesprochen wird 25.

Neben dem Verstandnis yon Prototheorien als Theorien, welche die Definition von Grundbegriffen weiterer Theorien eflauben, tfifft man das Wort ,Prototheorie' des 6fteren auch in einer etwas anderen Verwendung an, n~imlich wenn als Prototheorie zu einer empirischen Theorie diejenigen S~itze zusarnmengefagt werden, welche sich schon aus der Einftihrung der Grundbegriffe als analytisch wahr ergeben 26. Schon in seinem Artikel yon 1961 vermutet Lorenzen in diesem Sinne, dab (Zitat) ,,auch Teile der klassischen Mechanik noch zu einer solchen Protophysik zu rechnen sind", und in der Tat folgen einige physikalische S~itze bereits analytisch aus der Einffihrung der GrundgrNSen Lange, Dauer und Masse (welche, das h~ingt allerdings vom jeweils betrachteten Ansatz ab27). Man erh~ilt so ftir die klassische Mechanik eine apriorische Rumpftheorie, die man etwa unter dem Stichwort ,,Rationale Dynamik" ftihren k6nnte 28.

Bei der gerade angesprochenen Zweideutigkeit in der Verwendung des Wortes ,,Prototheorie" soUte man es selbstverst~indlich auf Dauer nicht einfach belassen. Da ein guter Vorschlag allerdings nicht gerade auf der Hand liegt, soil diese Frage hier vorerst often gelassen werden 29.

5. DIE REKONSTRUKTION DES TERMINUS ,REKONSTRUKTION'

Stattdessen soil nunmehr - wie angektindigt- auf den Rekonstruktionsbe- gfiff eingegangen werden: Die von den Wissenschaftstheorefikern themati- sierten Wissenschaften, deren Theofien und Terminologien werden in den Protodisziplinen nicht erfunden, sondern als histofisch iiberbrachte Kul- turgtiter zun~ichst einmal schlicht vorgefunden - die Protodisziplinen sind tats~ichlich nur im methodischen Sinn ,,erste" Wissenschaften. Im Rah- men der Aufgabenstellung e) wird das histofisch Vorgefundene 3° von den Protodisziplinen dann - mit dem Ziel der Sicherstellung des wissenschaft- lichen Anspruchs nach Lehr- und Lernbarkeit, Eindeutigkeit, Prtifbarkeit und Wahrheir - noch einmal Schritt ftir Schritt methodisch nachvollzogen - r ekons t ru ie r t - wie man gew6hnlich sagt 31.

Damit ist aber das Problem um den Begriff der Rekonstruktion nicht erledigt, sondern erst angerissen 32. Angerissen erst, weil Kriterien ben6tigt werden daftir, dag eine Rekonstruktion gelungen ist. Da in der wissen- schaftstheoretischen Literatur zudem wenigstens drei verschiedene Sorten von Rekonstruktionsobjekten auftauchen, n~imlich Termini, Theorien und

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Wissenschaften, mtissen diese Kriterien auch noch nach dem jeweiligen Typ des Rekonstruktionsobjektes spezifiziert werden.

Es sei hier zun~ichst die Rekonstruktion von Termini betrachtet: Die methodische Rekonstruktion eines schon gebriiuchlichen Terminus unter- scheidet sich vonde r methodischen Einfiihrung eines neuen Terminus dadurch, dab fur eine gelungene Rekonstruktion zus~itzlich zu den fiblichen Anforderungen an Methodizit~it (wie z.B. Zirkelfreiheit und Eindeutigkeit) noch eine Ad~iquatheitsbedingung zu erftillen ist: Der Terminus soil in seiner rekonstruierten Fassung so normiert sein, dab durch diese Normie- rung die mit seiner nichtnormierten Verwendung (in einschl~igigen Zusam- menh~ingen) immer schon verfolgte Unterscheidungsabsicht verwirklicht wird. Damit ist klar, dal3 zur Sicherstellung der Ad~iquatheit terminolo- gischer Rekonstruktionen u.a. wissenschaftshistorisches Wissen ben6tigt wird, und insbesondere auch Wissen um die Zwecke (erkenntnisleitenden Interessen), die der Verwendung der jeweils in Frage stehenden Termi- nologien sowie dem Betreiben der zugeh6rigen Wissenschaften zugrun- deliegen. Sicherlich lal3t sich zur Rekonstruktion yon wissenschaftlichen Termini im Einzelnen noch einiges mehr sagen, aber dag es sich im Prinzip so verh~ilt, wie gerade skizziert, wird wohl relativ unkontrovers sein.

Sehr viel gr6gere Schwierigkeiten wirft die Frage auf, was man unter dem Schlagwort ,Theorienrekonstruktion' vemtinftigerweise verstehen soll- te. Einverst~indnis dtirfte bier wohl gerade noch darfiber bestehen, dab die Rekonstruktion der zur Formulierung einer bestimmten Theorie ben6tigten Terminologie zur Rekonstruktion der betreffenden Theorie mit dazugeh6ren soll. Was geh6rt aber noch dazu? Man betrachte zun~ichst die Situation, wie sie sich dem Wissenschaftstheoretiker vor seinen Bemtihung darlegt. Zwei M6glichkeiten ergeben sich bier: Die zu rekonstruierende Theorie liegt in axiomatisierter Form vor oder nicht.

Ftir den ersten Fall wird seit jeher und auch ganz zu Recht zun~ichst die Untersuchung der logischen Struktur der Theorie (,,logische Analyse") empfohlen, um dann etwaige Inkonsistenzen oder Ableitungssprtinge ,,aus- btigeln" zu k6nnen. Zusammen mit der parallel durchzufiihrenden Rekon- struktion der Terminologie sollte sich so ffir nichtempirische - z.B. mathe- matische - Theorien eine Beg~ndung der Axiome 33 34, fiir empirische Theorien hingegen die Trennung des apriorischen vom empirisch sich zu bewahrenden Teil ergeben. Ftir diesen sollte (tiber die Durchsetzung der Forderung nach Eindeutigkeit der terminologischen Rekonstruktion) die Prtifbarkeit sichergestellt sein.

Im Fall, dal3 die zu rekonstruierende Theorie nicht in einer axioma- tisierten Version vorliegt, ist es angezeigt, eine solche Axiomatisiemng nachzureichen, damit ~iberhaupt entscheidbar wird, was die zu rekonstru-

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ierende Theorie an S~itzen behauptet und was nicht. Sicherlich ist dies bereits selbst ein wichtiger Teil der Rekonstruktionsaufgabe und dement- spechend ist bier auch wieder eine Adaquatheitsforderung zu erftillen: Die nachgelieferte, axiomatisierte Version einer Theorie soll zus~itzlich beztiglich der als einschl~igig zu erachtenden S~itze vollstiindig sein 35. Zur Beurteilung der Einschl~igigkeit ist wieder (u.a. wissenschaftshisto- risch gesttitztes) Wissen um die Zwecke (erkenntnisleitenden Interessen) n6tig, die der Konstruktion tier fraglichen Theorie sowie dem Betreiben der zugeh6rigen Wissenschaft insgesamt zugrundeliegen.

Soll man sich aber bei der Theorienrekonstruktion die Konservierung des theoretischen Satzbestandes wirklich explizit zum Ziel setzen? Durch- aus 36. Zweck einer Rekonstruktion ist esja, das historisch Vorgefundene als verntinftig nachvollziehbar zu machen, und nicht etwa, es als unverntinftig hinzustellen 37. Das heiBt nun aber andererseits nicht, dab im Zusammen- hang der Rekonstruktion ,,Begrtindungen" tier Form ,,Ich definiere diesen Grundbegriff soundso, weil ich dann dieses und jenes Fundamentalgesetz erhalte", erlaubt waren. Beispielsweise ersch/Spft sichja die ,,immer schon" mit dem Begriff der Wahrscheinliehkeit verbundene Unterseheidungsab- sicht nicht im schwachen Gesetz der groBen Zahlen oder der Zweck der Massenmessung nicht im Impulserhaltungssatz oder gar im Gravitations- gesetz. Die explizite Rekonstruktionszielsetzung, den Satzbestand einer Theorie zu konservieren, impliziert auBerdem nicht, dab eine ,,kritische" Rekonstruktion von Theorien nicht mehr m6glich ist. Lassen sich n~imlich methodische Grtinde daftir angeben, dab bestimmte Theorien bzw. Theo- rieteile nicht bzw. nicht ohne tiefgreifende Anderungen des Satzbestandes rekonstruierbar sind, so sollte das Miglingen der Rekonstruktion selbst- verst~indlich auf die betreffenden Theorien zurtickfallen und nicht auf die Rekonstrukteure. Von einer ,,affirmativen Wissenschaftstheorie" l~if3t sich mit Recht nur dann sprechen, wenn das MiBlingen von Rekonstruktionen prinzipiell als ein Versagen der Wissenschaftstheoretiker gesehen wird.

Nun zum letzten Punkt, n~imlich der Frage, was man unter ,Rekon- struktion einer Wissenschaft' verstehen soll. Sicherlich spr~che einiges daftir, diese Redeweise nur als eine schlampige Formulierung des eben besprochenen Ausdrucks ,Rekonstruktion von Theorien' zu verstehen. Man begegnet ihr aber mitflerweile bis in Buchtitel hinein 38 so h~iufig, dab es doch besser ist, ihr wenigstens nachtr~iglieh noeh einen spezifischen Sinn zu geben. Es sei hier vorgeschlagen, eine Wissenschaft genau dann ,,rekonstruiert" zu nennen, wenn die weiter oben aufgeftihrten, protodis- ziplin~en Aufgaben a)-e) - von der Explikation der erkenntnisleitenden Interessen bis hin zur Rekonstruktion der Terminologien und Theorien - eine zufriedenstellende Antwort erhalten haben. Dieser Vorschlag erlaubt

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es zumindest, zum Abschlul3 die Antwort auf die Frage, was Protodiszipli- nen sein und leisten sollen, noch einmal schlagwortartig zusammenzufas- sen:

Die Protodisziplin zu einer Fachwissenschaft ist deren spezielle Wis- senschaftstheorie, und ihre Aufgabe besteht darin, eine Rekonstruktion der ihr zugeh6rigen Fachdisziplin zu leisten.

ANMERKUNGEN

1. Den vorl~iufigen H6hepunkt dieser Entwicklung stellt die Tagung ,,Technische und theoretische Voraussetzungen der Wissenschaften" dar, die vom 7. bis 9.4.1994 in Leipzig stattfand. Dort wurden erstmals Vortr~ige zu allen Protodisziplinen (vonder Protologik bis zur Protosoziologie) gehalten. Sie finden sich dokumentiert in Eva Jelden (Hrg.): ,,Prototheorien - Praxis und Erkenntnis?", Leipzig 1995. Auch der vorliegende Beitrag war urspriJnglich in der Absicht angefertigt worden, ihn auf der Leipziger Tagung vorzutragen (worauf der Autor dann aber zugunsten eines Vortrags fiber eine andere Fragestellung verzichtet hat).

2. Auch auf der schon erwahnten Leipziger Tagung wurde diese Auseinandersetzung nicht gefiihrt. Es wurde stattdessen unwidersprochen hingenommen, dal3 mehr als einmal die pauschale Forderung erhoben wurde, die neuen Protodisziplinen sollten sich ,,an der Protophysik orientieren".

3. Das griechische Wort ,protos' bedeutet w6rtlich ,der erste'. 4. Siehe Paul Lorenzen, ,,Das Begrfindungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der

raumlichen Ordnung": Philosophia Naturalis, 1961, Band 6, Heft 4, S.415-431. 5. Siehe hierzu z.B. Peter Janich/Holm Tetens, ,,Protophysik. Eine Einffihrung": Phi-

losophia Naturalis, 1985, Band 22, Heft 4, S.8., wo Protophysik geradezu definiert wird tiber die Aufgabe, Gefiitefunktionsnormen zu explizieren: ,,Die Protophysik nun expliziert Ger~itefunktionsnormen, die der Herstellung yon Megger~ten orientierend zugrundeliegen".

6. Siehe Paul Lorenzen, ,,Geometrie als mel3theoretisches Apriori der Physik": Physik und Didaktik, 1980, 4, S:291-299.

7. Siehe Peter Janich, ,,Die Protophysik der Zeit", Mannheim 1969. 8. Siehe Bruno Thtiring, ,,Die Gravitation und die philosophischen Grundlagen der

Physik", Berlin 1967. 9. Auch die Wahrscheinlichkeitstheorie wird von Lorenzen ab und an zur Protophysik

gez~ihlt (siehe etwa seinen Aufsatz ,,Die drei mathematischen Grunddisziplinen der Physik", abgedruckt in Paul Lorenzen, ,,Theorie der technischen und politischen Ver- nunft", Stuttgart 1978). Welche Gr6gen im Einzelnen zu den Grundgr6Ben und damit zu den Gegenst~inden der Protophysik zu rechnen sind, ist unter den Protophysikern noch umstritten.

10. Zeitweise hat Lorenzen entsprechend fiir die Protophysik den Terminus ,Metrologie' benutzt (siehe Paul Lorenzen und Oswald Schwemmer, ,,Konstmktive, Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie", Mannheim u.a. 19752, S 224ff).

11. Hieraus liel3e sich sogar eine noch weitergehende Spezifizierung des Wortes ,Pro- towissenschaft' herleiten, n~imlich dann, wenn man in der Definition explizit berticksichtigt, d ~ MeBger~itefunktionsnormen explizierende Theorien trivialerweise idealwissenschaftliche Theorien sein miJssen, die - zumindest nach einem gel~iufigen

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Verstandnis von ,Idealwissenschaft' - immer sogenannte ,,Homogenit~itsprinzipien" beniitzen (siehe hierzu die beiden Eintr~ige ,Homogenit~'tsprinzip' und ,Ideation' in Jiirgen MittelstraB (Hrg.), ,,Enzyklop~idie Philosophie und Wissenschaftstheorie", Bd. 2, Mannheim u.a. 1984).

12. Fiir die Chemie gilt, dab sie, auch wenn sie nicht anf Physik reduzierbar ist, jedenfalls, was die verwendeten MeBgr~Ben angeht, relativ zur Physik nichts wesentlich Neues zu bieten hat. Auch fiJr die Psychologie erhalt man unter Zugrundelegung eines solchen Verstiindnisses bloB die eher langweilige Titelvergabe ,,Protopsychologie" fiir die Konstruktion von Testverfahren fiir Intelligenz, Konzentration, Kreativit/it etc., die zudem eher in Anwendungs- denn in Theoriebezogener Hinsicht Verwendung finden.

13. Zwar wird das Wort ,Protophysik' bereits 1927 von Friedrich R. Lipsius zur Bezeich- nung des Dinglerschen Ansatzes gebraucht, Dingler selbst hat diese Bezeichnung jedoch nicht verwendet. Siehe Friedrich R. Lipsius ,,Wahrheit und Irrtum der Rela- tiv~itstheorie", Tiibingen 1927.

14. Siehe Paul Lorenzen, ,,Einfiihrung in die operative Logik und Mathematik", Berlin u.a. 1955.

15. Siehe Paul Lorenzen, ,,Protologik. Ein Beitrag zum Begriindungsproblem der Logik": Kant-Studien, 1955-56, Band 47, Heft 4, S. 350-358.

16. Das ist diejenige Theorie, die heute auch unter den Namen ,modelltheoretische Semantik' bzw. ,Modelltheorie' bekannt ist. Zum von Lorenzen kritisierten Folge- rungsbegriff siehe z.B. Alfred Tarski, , , ~e r den Begriff der logischen Folgerung": Act. Congr. Phil. Sci. (Pads), 1936, Band 7, 1-11.

17. Der 1958 auf dem internationalen Kongress fiir Philosophie in Venedig gehaltene Vortrag ,,Logik und Agon" bringt erstmals dialogische Elemente in die Protologik ein (siehe Paul Lorenzen, ,,Logik und Agon": Atti del XII Congresso Intemazionale de Filosofia, 1960, Bd.4, S. 187-194). Der 1959 in Warschau gehaltende Vortrag ,,Ein dialogisches Konstruktivit~itskriterium" markiert dann endgiiltig den Obergang vonder ,,operativen" zur dialogischen Logik (siehe Paul Lorenzen, ,,Ein dialogisches Konstruktivit~itskriterium": Infinitistic Methods, 1961, 193-200.).

18. Siehe Carl Friedrich Gethmann, ,,Protologik. Untersuchungen zur formalen Pragma- fik von Begriindungsdiskursen", Frankfurt a. M. 1979.

19. Zu den einschl~igigen Monographien zu rechnen sind neben Gethmanns Buch anch Peter Zahn, ,,Ein argumentativer Weg zur Logik", Darmstadt 1982 und (in Teilen) Dirk Hartmann, ,,Konstruktive Fragelogik. Vom Elementarsatz zur Logik yon Frage und Antwort", Mannheim u.a. 1990. Die Diskussionsbande sind: Carl Friedrich Gethmann (Hrg.), ,,Logik und Pragmatik. Zur Rechtfertigung logischer Sprachregeln", Frankfurt a. M. 1982, und Carl Frieddch Gethmann (Hrg.), ,,Theorie des wissenschaftlichen Argumentierens", Frankfurt a. M. 1980.

20. D.h. die Gemeinsamkeiten der Protodisziplinen sollen sich nicht - wie im Beispiel ,Formale Logik', ,Seinslogik', ,Logik der Forschung' - mehr oder weniger in der Verwendung des Wortes ,Proto' ersch/Spfen.

21. Daraber diJrfte wohl Einverst'~indnis bestehen, dab man es als schlagendes Argument fiir die mangelnde Ad~iquatheit eines Neuvorschlags beziiglich der Verwendung des Wortes ,Protophysik' ans~,ihe, wenn sich aus diesem erg~ibe, dab sich die Protophysiker bislang nur mit irrelevanten Fragestellungen abgegeben haben.

22. D.h., dab z.B. die Kl~.rung des Theoriebegriffs, obwohl dem Treiben von Physik ganz offenbar methodisch vorg~ingig, kein Teil der Protophysik ist.

23. Entsprechend obliegt die Kl~xung der ,,allgemeineren" methodischen Grundlagenfra- gender ,,Allgemeinen Wissenschaftstheorie".

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24. Seit Hilbert (siehe David Hilbert, ,,Grundlagen der Geometrie", Leipzig 1899) haben die meisten Geometer aus der Not eine Tugend gemacht und verstehen ihre Theorie von vornherein nur noch als ein uninterpretiertes, formales System, wozu sich jeder, der will, seine ,,Modelle" selbst suchen mag.

25. Das Wort ,Protogeometrie' wird wieder zuerst von Paul Lorenzen verwendet, und zwar in seinem bereits in anderem Zusammenhang erw~nten, 1977 an der Univer- sit,it Erlangen gehaltenen Vortrag ,,Die drei mathematischen Grunddisziplinen der Physik". Noch 1975 wird hingegen nur von einer ,,Vor-Geometrie als Basis der Geo- metrie" gesprochen (siehe Paul Lorenzen und Oswald Schwemmer, ,,Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie", Mannheim u.a. 19752, S.225).

26. Es ist wichtig zu sehen, dab dies tatsiichlich eine andere Verwendung des Wortes ,Pro- totheorie' ist: Prototheorien im zuerst geschilderten Sinne erm~3glichen die Definition von Grundbegriffen weiterer Theorien, d.h. die definierten Begriffe selbst und die mit ihnen formulierten S~itze geh~Sren schon den zu rekonstruierenden Theorien und nicht mehr den (im ersten Sinne verstandenen) Prototheorien an. Prototheorien im zwei- ten Sinne beinhalten hingegen diejenigen S~itze einer (empirischen) Theorie, welche bereits aus der mit Hilfe von Prototheorien im ersten Sinne erfolgten Einfiahrung der Grundbegriffe analytisch folgen, und damit die Grundbegriffe schon enthalten. Sie beinhalten hingegen gerade nicht (auBer selbstverst~indlich als Lehns~itze) die eigentlichen Siitze der Prototheorien im ersten Sinne.

27. Gew6hnlich ist man sich darfiber einig, dab der Impulserhaltungssatz noch zur Pro- tophysik zu rechnen ist. Hugo Dingier und Bruno Thtiring gehen sogar soweit, auch noch das Gravitationsgesetz in das prototheoretische Apriori der Physik einzusch- liegen. Siehe hierzu etwa Hugo Dingier, ,,Aufbau der exakten Fundamentalwissen- schaft", Mtinchen 1967 und Bruno Thfiring, ,,Die Gravitation und die philosophischen Grundlagen der Physik", Berlin 1967.

28. So der Titel eines Artikels yon Holm Tetens. Siehe Holm Tetens, ,,Rationale Dyna- mik": Philosophia Naturalis, 1985, Band 22, Heft 4, S. 61-86.

29. Am ehesten w~e wohl ein neuer Terminus fiir den aus der Definition der Grundbe- griffe folgenden apriorischen Teil einer im Ganzen empirischen Theorie angebracht.

30. Diese Darstellung ist selbstverstandlich stark vereinfacht, da sie suggeriert, dab die jeweils zu rekonstruierenden Wissenschaften bzw. Theorien und Terminologi- en als wohlunterschiedene Gegenst~de schon vor der Rekonstruktion abgrenzbar sind. Tats~ichlich ist es aber gerade eines der die Rekonstruktionsbemiihungen mit motivierenden Probleme, dab zun~ichst oftmals gar nicht klar ist, was iiberhaupt der Gegenstandsbereich und Ansprueh einer bestimmmten Wissenschaft bzw. Theorie ist bzw. sein soll, welche S~itze und Termini tats~ichlich einschl~igig sind, und auf welche verzichtet werden kiinnte bzw. sollte usw.

31. Der Begriff der Rekonstmktion wird in dieser Bedeutung meines Wissens zuerst yon Rudolf Carnap 1928 in seinem Buch,,Der logische Aufbau der Welt" gebraucht (siehe Rudolf Carnap, ,,Der logische Aufbau der Welt", Wien 1928, S143), und zwar im Sinne der Rekonstruktion yon Termini. Im Vorwort zur zweiten Auflage 1961 schreibt Carnap: ,,Das Hauptproblem betrifft die M/Sglichkeit der rationalen Nachkonstruktion von Begriffen aller Erkenntnisgebiete ... Unter rationaler Nachkonstruktion ist hier das Aufsuchen neuer Bestimmungen fiir alte Begriffe verstanden. Die alten Begriffe sind gewfhnlich nicht durch fiberlegte Formung, sondern durch spontane Entwicklung mehr oder weniger unbewugt enstanden. Die neuen Bestimmungen sollen den alten in Klarheit und Exaktheit tiberlegen sein und sich vor allem besser in ein systematisches Begriffsgeb~iude einffigen.

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32. Obwohl Rekonstruktionen innerhalb der konstruktiven Wissenschaftstheorie eine so groBe Rolte spielen, wird der Rekonstruktionsbegriff selbst dort seltsamerweise bis- lang kanm thematisiert. Als einzige Veriiffenflichung, die sich (im Rahmen der Rekon- struktion der Wissensehaftsgeschichte) exptizit der Klgxung des Rekonstruktionsbe- griffes widmet, ist dem Autor bekannt: Jtirgen MittelstraB, ,,Rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte", in Peter Janich (Hrg.), ,,Wissenschaftstheorie und Wis- senschaftsforschung", Mtinchen 1981.

33. D.h. aus der Einfiihrung der Grundbegriffe sollen sich die Axiome analytisch ergeben. 34. Selbstverst~indlich nur im Falle des Gelingens der terminologischen Rekonstruktion:

So ist ja etwa bislang eine rekonstruktive Begriindung der sog. ,,transfiniten Mengen- lehre" nicht gelungen und wahrscheinlich ist eine solche Rekonstruktion - wie leider mit Grtinden zu vermuten ist - auch gar nicht leistbar.

35. Ansonsten gilt selbstverstS_ndlich all das, was schon im Zusammenhang mit bereits axiomatisiert vorliegenden Theorien gesagt wurde (die axiomatisierte Theorie soll konsistent sein etc.).

36. Gew~Shnlich unterscheidet man bei (naturwissenschaftlichen, empirischen) Theori- en den ,,Theoriekern" mit den ,,Fundamentalgesetzen" von den iibrigen, weniger wichtigen S~itzen. Der Erhalt des Theoriekerns bildet im historischen Wandel das Identitatskriterium ftir Theorien: Wird der Kern ver'~indert, so spricht man nicht mehr von ,,derselben" Theorie. Ftir eine Rekonstruktion dieser (auf Lakatos und Dingier zurtickgehenden) Unterscheidungen siehe Dirk Hartmann, ,,Naturwissenschaftliche Theorien", Mannheim u.a. 1993, 3.3. Dort wird insbesondere erl~iutert, wie es m6glich ist, die Auszeichnung bestimmter Gesetze als ,,fundamental" mit Grtinden, also nicht willkiirlich, vorzunehmen. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidungen 1/iBt sich die Forderung jedenfalls fiir die Rekonstruktion naturwissenschaftlicher Theorien etwas liberaler so formulieren, dab man sich bei der Theorienrekonstruktion die Kon- servierung wenigstens der Fundamentalgesetze explizit zum Ziel machen soil.

37. Dieses ,,Rekonstruktionsprinzip" entspricht dem hermeneutischen Prinzip, jeden systematischen Text m6glichst so zu interpretieren, dab sich eine nachvollziehba- re, konsistente und zustimmungsffihige Argumentation ergibt. Tats~ichlich liiBt sich die methodische Interpretation eines Textes ja anch durchaus als eine ,,Textrekon- struktion" verstehen.

38. Siehe insbesondere Wolfgang Stegmtiller, ,,Rationale Rekonstruktion yon Wissen- schaft und ihrem Wandel", Stuttgart 1979.

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